Glutnacht - Michael Connelly - E-Book

Glutnacht E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Seit vier Jahren ist Harry Bosch im Ruhestand. Nun muss der ehemalige Detective des LAPD seinen einstigen Mentor John Jack Thompson zu Grabe tragen. Von ihm hat Bosch zu Beginn seiner Karriere gelernt, dass jedes Leben zählt, dass es keine Toten erster und zweiter Klasse gibt. Ein Credo, das Bosch immer beherzigt hat. Thompsons Witwe übergibt Bosch eine Akte, die ihr Mann offensichtlich entwendet und zwanzig Jahre unter Verschluss gehalten hat: Sie dokumentiert die Ermittlungen im Mordfall eines schwulen Junkies, der als Polizeispitzel tätig war. Warum hat Thompson die Akte an sich genommen, als er das LAPD verließ? Da Bosch offiziell nicht mehr selbst ermitteln darf, bittet er Detective Renée Ballard um Hilfe. Gemeinsam machen sich der pensionierte Cop und die junge ehrgeizige Polizistin an die Arbeit, und zum ersten Mal kommen Bosch Zweifel an der Integrität seines verstorbenen Mentors: Hat Thompson die Akte gestohlen, um im Ruhestand an dem Fall weiterzuarbeiten? Oder im Gegenteil: Wollte er, dass der Mord niemals aufgeklärt wird?

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Michael Connelly

Glutnacht

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Für Titus Welliver,

der Harry Bosch Leben eingehaucht hat.

Halt die Ohren steif.

BOSCH

1

Bosch war spät dran und musste ein gutes Stück vom Grab entfernt parken. Sein Gehstock versank tief im weichen Untergrund, als er, sorgsam darauf bedacht, auf kein Grab zu treten, über den Friedhof humpelte. Als er endlich die Trauergäste von John Jack Thompsons Beerdigung sah, merkte er, dass man am Grab des ehemaligen Detective nur stehen konnte, und das wollte er seinem Knie sechs Wochen nach der OP noch nicht zumuten. Deshalb zog er sich in den nahen Garden of Legends zurück und setzte sich auf eine Betonbank, die Teil von Tyrone Powers Grab war. Weil es eindeutig eine Bank war, hielt er das für okay. Er musste daran denken, wie ihn seine Mutter als Kind ab und zu ins Kino mitgenommen hatte, um Tyrone Power zu sehen. Alte Filme, die jetzt in den Programmkinos am Beverly Boulevard gezeigt wurden. Der gut aussehende Schauspieler, den Bosch als Zorro und als den verdächtigten Amerikaner in Zeugin der Anklage in Erinnerung hatte, war sozusagen im Dienst gestorben, als er in Spanien beim Dreh einer Fechtszene einen Herzinfarkt erlitt. Bosch war das immer schon als guter Abgang erschienen – bei einer Sache, die man gern tat.

Thompsons Begräbnis dauerte eine halbe Stunde. Bosch war zu weit vom Grab entfernt, um hören zu können, was gesagt wurde. Aber er konnte es sich denken. John Jack – so hatten ihn alle genannt – war ein guter Mann gewesen und hatte dem Los Angeles Police Department vierzig Jahre lang gedient, erst als Streifenpolizist, dann als Detective. Er hatte viele Übeltäter aus dem Verkehr gezogen und Generationen von Detectives beigebracht, wie man das machte.

Einer von ihnen war Bosch, der dieser Legende vor mehr als drei Jahrzehnten als frischgebackener Mordermittler der Hollywood Division als Partner zugeteilt worden war. Unter anderem hatte ihm John Jack beigebracht, wie man beim Verhör einen Lügner durchschaute. John Jack hatte immer gemerkt, wenn jemand log. Einmal verriet er Bosch, dass nur ein Lügner einen Lügner erkennen konnte. Wie er zu dieser Einsicht gelangt war, hatte er ihm allerdings nie gesagt.

Die beiden waren lediglich zwei Jahre lang ein Team, denn Bosch lernte rasch, und John Jack wurde gebraucht, um den nächsten neuen Mordermittler auszubilden. Lehrer und Schüler waren jedoch über die Jahre hinweg in Verbindung geblieben. Bosch hatte auf Thompsons Abschiedsfeier eine Rede gehalten, in der er erzählte, wie John Jack bei ihren Ermittlungen einmal den Lieferwagen einer Bäckerei anhielt, weil dieser an einer roten Ampel rechts abgebogen war, ohne vorher vollständig angehalten zu haben. Auf Boschs Frage, warum sie wegen eines derart läppischen Verkehrsverstoßes die Suche nach einem Mordverdächtigen unterbrächen, erklärte ihm John Jack, dass er und seine Frau Margaret zum Abendessen Gäste hätten und er sich um den Nachtisch kümmern müsse. Er stieg aus ihrem zivilen Streifenwagen, ging zu dem Lieferwagen, zückte seine Dienstmarke und erklärte dem Fahrer, er habe gerade einen Zwei-Kuchen-Verstoß begangen. Da er es aber nicht übertreiben wollte, gab sich John Jack mit einem Kirschkuchen zufrieden und kam damit zum Auto zurück.

Auch wenn John Jack Thompsons legendärer Ruf in den zwanzig Jahren seit seiner Pensionierung zunehmend verblasst war, konnte sich die Trauergemeinde sehen lassen. Viele der Anwesenden kannte Bosch persönlich, weil er in seiner langen Dienstzeit beim LAPD selbst mit ihnen zusammengearbeitet hatte. Er vermutete, dass es beim anschließenden Empfang in John Jacks Haus ähnlich voll sein und sich die Zusammenkunft bis spät in den Abend hineinziehen würde.

Bosch, dessen Generation den Abnutzungskrieg mehr und mehr verlor, hatte an zu vielen Beerdigungen pensionierter Detectives teilgenommen, um sich an alle erinnern zu können. Diese stach jedoch insofern heraus, als die LAPD-Ehrengarde mitsamt der Dudelsackpfeifer teilnahm. Das war eine Verneigung vor John Jacks einstigem Ansehen bei der Polizei. Mit feierlichem Ernst schallte »Amazing Grace« über den Friedhof und über die Mauer, die ihn von den Paramount Studios trennte.

Als der Sarg ins Grab hinabgelassen war und die ersten Trauergäste zu ihren Autos aufbrachen, ging Bosch zu Margaret, die immer noch mit einer gefalteten Flagge im Schoß dasaß. Sie lächelte Bosch an.

»Harry, also hast du meine Nachricht bekommen«, begrüßte sie ihn. »Danke, dass du gekommen bist.«

»Das wäre ja noch schöner«, sagte Bosch.

Er beugte sich zu ihr hinab, küsste sie auf die Wange und drückte ihr die Hand.

»Er war ein guter Mann, Margaret«, sagte er. »Ich habe viel von ihm gelernt.«

»Ja, das war er«, sagte sie. »Und du warst einer seiner Lieblinge. Er war sehr stolz darauf, dass du so viele Fälle gelöst hast.«

Bosch wandte sich von ihr ab und schaute ins Grab hinunter. John Jacks Sarg schien aus Edelstahl zu sein.

»Er hat ihn selbst ausgesucht«, sagte Margaret. »Er fand, er sieht aus wie eine Kugel.«

Bosch grinste.

»Tut mir leid, dass ich ihn nicht mehr besucht habe«, sagte er. »Bevor es mit ihm zu Ende gegangen ist.«

»Mach dir deswegen bloß keine Gedanken, Harry«, sagte sie. »Du hattest doch die Probleme mit deinem Knie. Wie geht es dir eigentlich damit?«

»Es wird von Tag zu Tag besser. Lange werde ich den Stock nicht mehr brauchen.«

»Als sich John Jack sein Knie hat machen lassen, war das wie ein neues Leben für ihn. Das war vor fünfzehn Jahren.«

Bosch nickte nur. Ein neues Leben hielt er für ziemlich optimistisch.

»Kommst du nachher noch vorbei?«, fragte Margaret. »Ich habe nämlich was für dich. Von ihm.«

Bosch sah sie an.

»Von ihm?«

»Du wirst schon sehen. Etwas, das ich nur dir geben würde.«

Nicht weit vom Grab entfernt sah Bosch zwei Stretchlimousinen, vor denen mehrere Angehörige warteten.

»Soll ich dich zur Limo rüber begleiten?«, fragte Bosch.

»Das wäre nett, Harry«, sagte Margaret.

2

Am Vormittag hatte Bosch bei Gelson’s einen Kirschkuchen abgeholt und sich deshalb zur Beerdigung verspätet. Jetzt trug er ihn in den Bungalow in der Orange Grove Avenue, wo John Jack und Margaret über fünfzig Jahre lang gelebt hatten. Er stellte ihn zu den anderen Platten und Schüsseln auf den Esszimmertisch.

Im Haus herrschte großes Gedränge. Nach allen Seiten grüßend und ein paar Hände schüttelnd, schob sich Bosch auf der Suche nach Margaret zwischen den Gästen hindurch. Er fand sie in der Küche, wo sie gerade mit Topflappen eine heiße Kasserolle aus dem Ofen holte. Um sich zu beschäftigen.

»Harry«, sagte sie, »hast du den Kuchen mitgebracht?«

»Ja«, sagte er. »Ich habe ihn auf den Tisch gestellt.«

Sie öffnete eine Schublade und reichte Bosch einen Tortenheber und ein Messer.

»Was wolltest du mir geben?«, fragte Bosch.

»Jetzt sei doch nicht so ungeduldig«, sagte Margaret. »Erst mal schneidest du den Kuchen, und dann gehst du in John Jacks Arbeitszimmer hinter. Den Flur runter links. Es ist auf dem Schreibtisch. Du kannst es nicht übersehen.«

Bosch ging ins Esszimmer und teilte den Kuchen mit dem Messer in acht Stücke. Dann bahnte er sich wieder einen Weg durch das Gedränge im Wohnzimmer in den Flur, der zu John Jacks Arbeitszimmer führte. Dort war er früher oft gewesen. In den Jahren, als sie gemeinsam ermittelt hatten, war Bosch nach einer langen Schicht nicht selten noch zu einem von Margaret zubereiteten späten Abendessen und einer Strategiebesprechung zu John Jack mitgekommen. Manchmal hatte er danach auch noch ein paar Stunden auf der Couch in John Jacks Arbeitszimmer geschlafen, bevor er sich wieder an die Arbeit machte. Sogar ein paar frische Sachen zum Wechseln hatte er dort deponiert. Und Margaret hatte ihm immer ein frisches Handtuch ins Gästebad gelegt.

Die Tür des Arbeitszimmers war zu, und obwohl er wusste, dass es leer war, klopfte er.

Er öffnete die Tür und betrat ein kleines, vollgestopftes Arbeitszimmer mit Regalen an den zwei Seitenwänden und einem Schreibtisch unter dem Fenster. Die Couch an der Wand gegenüber dem Fenster war immer noch da. Auf der grünen Schreibtischunterlage lag ein zehn Zentimeter dicker blauer Plastikordner.

Ein Mordbuch.

BALLARD

3

Ungerührt betrachtete Ballard, was von den Überresten noch zu sehen war. Aus dieser Nähe war der Geruch von Petroleum und verbranntem Fleisch kaum auszuhalten, aber das schreckte sie nicht ab. Bis zum Eintreffen der Brandermittler war sie für den Tatort verantwortlich. Die Nylonplane des Zelts war von der Hitze geschmolzen und dann auf das Opfer gefallen. An den Stellen, wo sich die Flammen nicht ganz durchgefressen hatten, umhüllte die Plane die Leiche. Der Tote wirkte vollkommen ruhig und gelöst, und Ballard fragte sich, wie er unter diesen Umständen hatte weiterschlafen können. Aber sie wusste, dass bei der Obduktion der Alkohol- und Drogengehalt in seinem Blut bestimmt würde. Vielleicht hatte er nicht das Geringste gespürt.

Obwohl sie wusste, dass nicht sie für die weiteren Ermittlungen zuständig sein würde, holte sie ihr Handy heraus und machte Fotos von der Leiche und vom Tatort, einschließlich mehrerer Nahaufnahmen des umgekippten Campingheizstrahlers, des mutmaßlichen Brandauslösers. Dann öffnete sie die Wetter-App ihres Handys und stellte fest, dass für Hollywood 11 Grad Celsius als aktuelle Außentemperatur angegeben waren. Das würde sie in ihrem Bericht vermerken und an die Brandermittler des Fire Department weiterleiten.

Sie machte einen Schritt zurück und blickte sich um. Es war 3:15 Uhr morgens, und die Cole Avenue war wie ausgestorben, sah man von den Obdachlosen ab, die aus den Zelten und Pappkartonhütten gekommen waren, die den Gehsteig entlang dem Hollywood Recreation Center säumten. Mit großen Augen verfolgten sie die Ermittlungen, die über den Tod eines der Ihren angestellt wurden.

»Wieso ist das bei uns gelandet?«, fragte Ballard.

Stan Dvorek, der Sergeant der Streifenpolizei, der sie angefordert hatte, kam zu ihr. Er war schon länger bei der Late Show, der Nachtschicht, als sonst jemand in der Hollywood Division – über zehn Jahre. Andere in der Schicht nannten ihn deshalb »The Relic«, das Relikt, allerdings nie in seinem Beisein.

»Das FD hat uns angerufen«, sagte er. »Sie hatten es von ihrer Notrufzentrale. Ein Autofahrer hat das Feuer gesehen und bei ihnen gemeldet.«

»Haben sie den Namen des Anrufers?«, fragte Ballard.

»Hat er nicht angegeben. Er hat es nur gemeldet und ist einfach weitergefahren.«

»Na, super.«

Zwei Feuerwehrautos waren noch da. Sie waren aus der nur drei Straßen entfernten Station 27 angerückt, um das brennende Zelt zu löschen. Die Löschteams warteten darauf, zu dem Vorfall befragt zu werden.

»Die Feuerwehrleute übernehme ich«, sagte Ballard. »Kannst du mit deinen Leuten vielleicht mit einigen der anderen Leute hier reden, fragen, ob jemand was gesehen hat?«

»Ist das nicht Sache der Brandermittler?«, fragte Dvorek. »Wenn wir jemanden finden, der was Brauchbares beizusteuern hat, müssen die doch nur noch mal mit ihm reden.«

»Wir waren als Erste am Tatort, Devo. Wir müssen es korrekt durchziehen.«

Ballard ging einfach weg und beendete damit die Debatte. Dvorek war zwar der Leiter der Streife, aber für den Tatort war sie verantwortlich. Solange nicht feststand, dass es sich bei dem tödlichen Brand um einen Unfall handelte, war die Brandstelle für sie ein Tatort.

Sie ging zu den wartenden Feuerwehrmännern und fragte, welches der beiden Teams zuerst eingetroffen war. Dann fragte sie die sechsköpfige Besatzung des ersten Feuerwehrautos, was sie gesehen hatten. Sie hatten wenig brauchbare Informationen für sie. Das Feuer, das das Zelt zerstört hatte, war bei ihrer Ankunft schon fast von selbst ausgegangen. Niemand hatte in der Umgebung des brennenden Zelts oder im angrenzenden Park jemanden gesehen. Keine Zeugen, keine Verdächtigen. Um die letzten Flammen zu löschen, hatte ein Feuerlöscher aus dem Einsatzfahrzeug genügt, und da das Opfer eindeutig tot gewesen war, wurde es nicht mehr ins Krankenhaus gebracht.

Danach ging Ballard ein Stück die Straße hinauf und hinunter und hielt nach Überwachungskameras Ausschau. Das Obdachlosenlager verlief entlang der Basketballplätze des öffentlichen Parks, auf denen es keine Kameras gab. Auf der Westseite der Cole Avenue standen einstöckige Lagerhallen von Firmen, die Requisiten und Kameraequipment an Film- und Fernsehstudios verliehen. Ballard sah zwar ein paar Überwachungskameras, aber die waren entweder Attrappen, oder sie waren so angebracht, dass die von ihnen erfassten Bereiche für die Ermittlungen nicht hilfreich waren.

Als sie an die Brandstelle zurückkehrte, sah sie Dvorek mit zwei seiner Streifenpolizisten reden. Ballard kannte sie vom Morgenappell in der Hollywood Division.

»Irgendwas Brauchbares?«, fragte sie.

»Das Übliche«, sagte Dvorek. »›Nichts gesehen‹, ›Nichts gehört‹, ›Ich weiß von nichts‹. Reine Zeitverschwendung.«

Ballard nickte. »Es musste trotzdem sein.«

»Wo bleiben eigentlich die Brandermittler?«, maulte Dvorek. »Wir haben auch noch anderes zu tun.«

»Letzter Stand ist, dass sie unterwegs sind. Sie sind nicht rund um die Uhr besetzt. Deshalb mussten sie erst ein Team aus den Betten holen.«

»Na, super. Sollen wir etwa die ganze Nacht hier rumstehen? Hast du den Rechtsmediziner schon rausgetrommelt?«

»Ebenfalls schon unterwegs. Wahrscheinlich kannst du mit der Hälfte deiner Leute schon mal abziehen. Aber lass einen Wagen hier.«

»Alles klar.«

Dvorek entfernte sich, um seinen Leuten neue Anweisungen zu erteilen. Ballard ging zur Brandstelle zurück und betrachtete das Zelt, das wie ein Leichentuch über den Toten geschmolzen war. Dabei bemerkte sie aus dem Augenwinkel, wie eine Frau und ein Mädchen aus einem Unterschlupf krochen, der aus einer an der Umzäunung eines Basketballplatzes befestigten blauen Plastikplane bestand. Ballard ging rasch auf sie zu und lotste sie von der Leiche fort.

»Das willst du sicher nicht sehen«, sagte sie zu dem Mädchen. »Komm lieber hier rüber.«

Sie führte die beiden auf dem Gehsteig ans Ende des Lagers.

»Wieso? Was ist passiert?«, fragte die Frau.

Ballard behielt das Mädchen im Auge, als sie antwortete.

»Jemand ist in seinem Zelt verbrannt«, sagte sie. »Haben Sie was gesehen? Es ist vor etwa einer Stunde passiert.«

»Wir haben geschlafen«, sagte die Frau und deutete auf das Mädchen. »Sie muss am Morgen in die Schule.«

Das Mädchen sagte noch immmer nichts.

»Warum sind Sie nicht in einem Heim?«, fragte Ballard. »Hier ist es doch nicht sicher. Das Feuer hätte sich ausbreiten können.«

Sie schaute von der Mutter zur Tochter.

»Wie alt bist du?«

Das Mädchen hatte große braune Augen und braunes Haar und war leicht übergewichtig. Die Frau stellte sich vor das Mädchen und antwortete an seiner Stelle.

»Bitte, nehmen Sie sie mir nicht weg.«

Ballard sah den flehentlichen Blick in den braunen Augen der Frau.

»Das ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Ich will nur, dass ihr nichts passiert. Sind Sie ihre Mutter?«

»Ja. Sie ist meine Tochter.«

»Wie heißt sie?«

»Amanda – Mandy.«

»Wie alt?«

»Vierzehn.«

Ballard beugte sich zu dem Mädchen hinab, um mit ihm zu reden. Es hatte den Blick gesenkt.

»Mandy? Bei dir alles okay?«

Das Mädchen nickte.

»Möchtest du, dass ich versuche, für dich und deine Mutter einen Platz in einem Heim für Frauen und Kinder zu bekommen? Dort hättet ihr es besser als hier.«

Mandy blickte zu ihrer Mutter hoch, als sie antwortete.

»Nein. Ich will mit meiner Mutter hierbleiben.«

»Ich werde euch nicht trennen. Ich würde dich und deine Mutter dort unterbringen, wenn du möchtest.«

Das Mädchen schaute Rat suchend zu seiner Mutter hoch.

»Wenn Sie mich da reinstecken, nehmen sie sie mir weg«, sagte die Mutter. »Das weiß ich ganz genau.«

»Nein, ich will hierbleiben«, sagte das Mädchen rasch.

»Na schön«, sagte Ballard. »Dann werde ich nichts unternehmen, aber ich finde nicht, dass Sie hier leben sollten. Das ist für Sie beide nicht sicher.«

»In den Heimen ist man auch nicht sicher«, sagte die Mutter. »Dort stehlen sie einem alles.«

Ballard zog eine Visitenkarte heraus und gab sie ihr.

»Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie Hilfe brauchen«, sagte sie. »Ich habe die Schicht nach Mitternacht. Ich bin hier, wenn Sie mich brauchen.«

Die Mutter nahm die Karte und nickte. Ballards Gedanken kehrten zu dem Fall zurück. Sie drehte sich um und deutete auf die Brandstelle.

»Haben Sie ihn gekannt?«, fragte sie.

»Flüchtig«, sagte die Mutter. »Er war die meiste Zeit für sich.«

»Wissen Sie, wie er heißt?«

»Ed, glaube ich. Eddie, hat er gesagt.«

»Okay. War er schon lange hier?«

»Ein paar Monate. Er hat gesagt, vorher war er drüben in der Blessed Sacrament Church, aber dann ist es ihm dort zu voll geworden.«

Ballard wusste, dass die Blessed Sacrament Church am Sunset Boulevard die Obdachlosen in der Säulenhalle vor dem Eingang campieren ließ. Sie fuhr oft daran vorbei und wusste, dass es dort nachts immer sehr voll war. Aber nach Tagesanbruch, bevor die Gottesdienste begannen, waren alle Zelte und provisorischen Unterschlüpfe wieder verschwunden.

Nachts, wenn die Neonreklamen und der Glitter erloschen, war Hollywood ein anderer Ort. Diese Veränderung konnte Ballard jeden Abend beobachten. Dann wurde es ein Ort für Raubtiere und ihre Beute und nichts dazwischen, ein Ort, wo die Besitzenden hinter ihren verriegelten Türen in Sicherheit waren und die Habenichtse frei herumstreiften. Ballard kamen dann immer die Worte eines Nachtschichtpoeten in den Sinn. Er nannte sie »menschliche Steppenläufer, vom Wind des Schicksals verweht«.

»Hatte er hier mit irgendwem Ärger?«, fragte sie.

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte die Mutter.

»Haben Sie ihn gestern Abend gesehen?«

»Nein, ich glaube nicht. Er war nicht hier, als wir uns schlafen gelegt haben.«

Ballard beobachtete Amanda, ob sie vielleicht eine Reaktion zeigte. Aber sie wurde von einer Stimme gestört.

»Detective?«

Ballard drehte sich um. Es war einer von Dvoreks Streifenpolizisten. Er hieß Rollins. Er war neu bei der Hollywood Division, sonst hätte er sie nicht so förmlich angesprochen.

»Was ist?«

»Die Brandermittler sind jetzt hier. Sie …«

»Okay. Komme gleich.«

Sie wandte sich wieder der Frau und ihrer Tochter zu.

»Danke«, sagte sie. »Und denken Sie dran, Sie können mich jederzeit anrufen.«

Als Ballard zu der Leiche und den Brandermittlern zurückging, musste sie an den Spruch von den Steppenläufern denken. Er stand auf der Field-Interview-Karte eines Officer, von dem Ballard später erfuhr, dass er zu viele von den deprimierenden dunklen Stunden Hollywoods mitbekommen hatte. Er hatte sich das Leben genommen.

4

Die Brandermittler der Feuerwehr hießen Nuccio und Spellman. Vorschriftsmäßig trugen sie blaue Overalls mit dem LAFD-Logo auf der Brusttasche und dem Schriftzug BRANDURSACHENERMITTLUNG auf dem Rücken. Nuccio war der ranghöhere der beiden und erklärte Ballard, dass er die Ermittlungen leitete. Beide Männer schüttelten ihr die Hand, bevor Nuccio erklärte, dass von jetzt an sie die Ermittlungen übernähmen. Darauf setzte Ballard sie darüber in Kenntnis, dass sie bei einer vorläufigen Inaugenscheinnahme des Obdachlosenlagers keine Zeugen aufgetan und in der Cole Avenue keine auf die Brandstelle gerichteten Überwachungskameras entdeckt hatte. Außerdem wies sie die Brandermittler darauf hin, dass bereits ein Team der Rechtsmedizin sowie ein Kriminaltechniker des LAPD-Labors zur Brandstelle unterwegs waren.

Das schien Nuccio nicht groß zu interessieren. Er reichte Ballard eine Visitenkarte mit seiner E-Mail-Adresse und bat sie, ihm den Totenschein zu schicken, sobald sie ihn nach ihrer Rückkehr in die Hollywood Station ausgestellt hatte.

»Mehr nicht?«, fragte Ballard. »Ist das alles, was Sie brauchen?«

Sie wusste, dass die Brandermittler des LAFD eine gründliche polizeiliche Ausbildung durchlaufen hatten und bei jedem Todesfall in Verbindung mit einem Brand vollwertige Ermittlungen anstellen konnten. Sie wusste aber auch, dass sie in ähnlicher Konkurrenz mit dem LAPD standen, wie ein kleiner Bruder häufig mit seinem größeren. Die Brandermittler standen nicht gern im Schatten des LAPD.

»Das ist alles«, sagte Nuccio. »Schicken Sie mir Ihren Bericht, dann habe ich Ihre Mailadresse und kann Ihnen Bescheid geben, was bei der Sache herauskommt.«

»Kriegen Sie noch heute Morgen«, sagte Ballard. »Sollen die Streifenpolizisten noch bleiben?«

»Klar. Einer oder zwei wären sicher hilfreich. Damit sie uns den Rücken freihalten.«

Ballard ging zu Rollins und seinem Partner Randolph, die an ihrem Wagen auf weitere Anweisungen warteten. Sie sagte ihnen, sie sollten hierbleiben und den Tatort während der Ermittlungen des LAFD sichern.

Dann rief Ballard mit ihrem Handy im Büro des Schichtleiters der Hollywood Division an und gab durch, dass sie in die Station zurückfahren wollte. Der Lieutenant hieß Washington und war erst vor Kurzem von der Wilshire Division nach Hollywood versetzt worden. Obwohl er auch davor schon in Schicht drei gearbeitet hatte, wie die Nachtschicht offiziell hieß, musste er sich noch an die Abläufe in der Hollywood Division gewöhnen. In den meisten Divisions war nach Mitternacht nicht mehr viel los. Das war in Hollywood anders. Deshalb hieß die Nachtschicht hier die Late Show.

»Das LAFD braucht mich nicht mehr, L.T.«, sagte Ballard.

»Wonach sieht das Ganze aus?«, fragte Washington.

»Als ob der Typ im Schlaf seinen Heizstrahler umgestoßen hätte. Aber wir haben keine Zeugen oder Kameras in der Nähe. Jedenfalls haben wir bis jetzt noch keine gefunden, und die Typen vom Fire Department machen nicht den Eindruck, als würden sie allzu genau suchen.«

Washington schwieg eine Weile, dann traf er eine Entscheidung.

»Gut, dann kommen Sie zurück und schreiben Ihren Bericht, Ballard. Wenn sie meinen, alles allein machen zu müssen, sollen sie eben.«

»Alles klar«, sagte Ballard. »Dann fahre ich jetzt los.«

Sie legte auf und ging zu Rollins und Randolph, um ihnen zu sagen, dass sie in die Station zurückfuhr und sie ihr Bescheid geben sollten, wenn sich etwas Neues ergab.

Um vier Uhr morgens brauchte sie nur fünf Minuten zurück in die Station. Der Parkplatz war verlassen, als sie ausstieg und zum Hintereingang ging. Sie schloss ihn mit ihrem Kartenschlüssel auf und nahm den längeren Weg zum Bereitschaftsraum der Detectives, um vorher im Büro des Schichtleiters vorbeizuschauen und sich bei Washington zu melden. Das war erst seine zweite Stationierung, und er war noch dabei, sich einzuleben. Um sich mit ihm vertraut zu machen, ging Ballard in jeder Schicht ganz bewusst zwei-, dreimal durch das Büro des Schichtleiters. Genau genommen war ihr Chef Terry McAdams, der Detective Lieutenant der Division, aber weil er tagsüber Dienst hatte, bekam sie ihn so gut wie nie zu sehen. Infolgedessen war eigentlich Washington ihr Vorgesetzter, und deshalb wollte sie eine gute Beziehung zu ihm aufbauen.

Washington saß an seinem Schreibtisch und schaute auf den Einsatz-Monitor, auf dem die GPS-Standorte sämtlicher Polizeieinheiten der Division zu sehen waren. Er war ein großer Afroamerikaner mit glatt rasiertem Schädel.

»Wie läuft’s?«, fragte Ballard.

»Alles ruhig so weit«, sagte Washington.

Er starrte mit zusammengekniffenen Augen auf einen bestimmten Punkt des Bildschirms. Ballard stellte sich an die Seite seines Schreibtischs, damit auch sie darauf schauen konnte.

»Was gibt’s?«, fragte sie.

»Da sind drei Streifenwagen an der Ecke Seward/Santa Monica«, sagte Washington. »Und keiner meldet sich.«

Ballard deutete auf den Monitor. Die Division war in 35 Zonen unterteilt, die wiederum sieben festen Fahrzeugbezirken zugeordnet waren. Das hieß in der Praxis, dass in jedem Fahrzeugbezirk immer mindestens ein Streifenwagen im Einsatz sein musste. Zusätzlich dazu gab es Wagen von Supervisoren wie Sergeant Dvorek, die im gesamten Divisionsgebiet Überwachungsaufgaben nachkamen. »An dieser Stelle grenzen drei Fahrzeugbezirke aneinander«, sagte sie. »Und außerdem steht dort rund um die Uhr ein Seafood-Truck. Deshalb können dort alle Code sieben machen, ohne ihre Zonen verlassen zu müssen.«

»Ach so«, sagte Washington. »Danke, Ballard. Gut zu wissen.«

»Kein Problem. Ich wollte mir im Aufenthaltsraum Kaffee machen. Möchten Sie auch einen?«

»Ich wusste zwar nichts von diesem Seafood-Truck, Ballard, aber ich weiß über Sie Bescheid. Sie brauchen mir keinen Kaffee zu holen. Das kann ich auch selber machen.«

Die Antwort überraschte Ballard, und am liebsten hätte sie Washington gefragt, was er über sie wusste, tat es dann aber doch nicht.

»Alles klar«, sagte sie stattdessen nur.

Sie ging den Hauptgang hinunter und blickte nach links in den Flur, der zum Bereitschaftsraum der Detectives führte. Wie erwartet war er leer. Sie schaute auf die Wanduhr. Noch über zwei Stunden bis Schichtende. Damit blieb ihr reichlich Zeit, um den Bericht über den verbrannten Obdachlosen zu schreiben. Sie steuerte auf das Abteil in der rechten hinteren Ecke zu, das sie normalerweise benutzte. Von dort hatte sie den ganzen Raum im Blick und konnte sofort sehen, wenn jemand hereinkam.

Als sie zu dem Zeltbrand gerufen wurde, hatte sie ihren Laptop offen auf dem Schreibtisch stehen gelassen. Sie schaute sich eine Weile um, bevor sie sich setzte. Jemand hatte die Einstellung an dem kleinen Radio verändert, das sie normalerweise an ihrem Arbeitsplatz stehen hatte. Es war nicht wie üblich auf den Nachrichtensender KNX1070 gestellt, den sie meistens hörte, sondern auf KJAZ88.1. Außerdem hatte jemand den Laptop auf die Seite geschoben und einen verblichenen blauen Ordner – ein Mordbuch – auf den Schreibtisch gelegt. Sie schlug es auf. An der Inhaltsangabe klebte eine Haftnotiz.

Sag bloß nicht, du kriegst nie was von mir.

B

PS: Jazz ist besser für dich als Nachrichten.

Ballard entfernte die Haftnotiz, denn sie verdeckte den Namen des Opfers.

 

John Hilton – geb. 17.1.66; gest. 3.8.90

 

Sie brauchte die Inhaltsangabe nicht, um den Abschnitt mit den Fotos zu finden. Sie schlug mehrere Kategorien von Berichten auf den Stahlbügeln des Ordners um, bis sie zu den Fotos in ihren Sichthüllen kam. Sie zeigten die Leiche eines jungen Mannes mit einer Schusswunde hinter dem rechten Ohr, der über den Vordersitz eines Autos gesunken war.

Nachdem sie die Fotos eine Weile studiert hatte, klappte sie den Ordner wieder zu. Dann holte sie ihr Handy heraus, sah eine Nummer nach, rief sie an und schaute auf die Uhr, während sie wartete. Fast sofort ging ein Mann dran, und er hörte sich nicht so an, als hätte sie ihn gerade aus tiefstem Schlaf gerissen.

»Hier Ballard«, sagte sie. »Warst du heute Nacht hier in der Station?«

»Ähm, ja«, sagte Bosch. »Ich habe vor etwa einer Stunde vorbeigeschaut. Du warst nicht da.«

»Ich war auf einem Einsatz. Und woher kommt dieses Mordbuch?«

»Man könnte vermutlich sagen, es war vermisst. Gestern war ich auf einer Beerdigung – mein erster Partner als Mordermittler. Er hat mich damals angelernt. Ist also schon ein paar Jahre her. Und jetzt ist er gestorben, und ich war auf seiner Beerdigung, und danach, bei ihm zu Hause, hat mir seine Frau – seine Witwe – das Buch gegeben. Sie wollte, dass ich es zurückgebe. Deshalb habe ich das getan. Ich habe es dir zurückgegeben.«

Ballard klappte den Ordner wieder auf und las die Zusammenfassung über der Inhaltsangabe.

»George Hunter war dein Partner?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Bosch. »Mein Partner war John Jack Thompson. Es war ursprünglich gar kein Fall von ihm.«

»Es war kein Fall von ihm, aber als er in Rente gegangen ist, hat er das Mordbuch gestohlen.«

»Also, ich weiß nicht, ob ich hier gleich von ›stehlen‹ reden würde.«

»Wie würdest du es denn nennen?«

»Ich würde sagen, er hat die Ermittlungen zu einem Fall übernommen, an dem niemand mehr gearbeitet hat. Lies einfach mal die Chrono. Dann wirst du sehen, dass sich einiger Staub darauf angesammelt hat. Der Detective, der den Fall ursprünglich hatte, ist wahrscheinlich in Rente gegangen, und dann hat sich niemand mehr dafür interessiert.«

»Wann ist Thompson in Rente gegangen?«

»Im Januar 2000.«

»Also echt, so lange hatte er das Mordbuch bei sich rumliegen? Fast zwanzig Jahre?«

»Sieht ganz so aus.«

»Das finde ich aber ganz schön scheiße.«

»Ich will John Jack keineswegs verteidigen, aber wahrscheinlich hat er sich eingehender mit dem Fall befasst, als das in der Einheit Offen-Ungelöst jemals jemand getan hätte. Dort machen sie fast ausschließlich DNA-Fälle, und bei diesem spielt DNA keine Rolle. Folglich hätten sie diesen hier einfach verstauben lassen, wenn John Jack das Mordbuch nicht mitgenommen hätte.«

»Du weißt also, dass es keine DNA gibt? Und die Chrono hast du dir auch schon angesehen?«

»Ja, hab ich. Ich habe mir das Buch sofort vorgenommen, als ich von der Beerdigung nach Hause gekommen bin, und sobald ich es durchhatte, habe ich es dir vorbeigebracht.«

»Und warum hast du es mir gebracht?«

»Weil wir eine Abmachung haben. Oder hast du das schon wieder vergessen? Wir wollten gemeinsam an Fällen arbeiten.«

»Und jetzt willst du den hier mit mir machen?«

»Gewissermaßen.«

»Was soll das heißen?«

»Bei mir tut sich gerade einiges. Gesundheitlich, meine ich. Und ich weiß nicht, wie viel …«

»Was tut sich bei dir gesundheitlich?«

»Ich habe gerade ein neues Kniegelenk bekommen, und jetzt stecke ich gerade mitten in der Reha, und es könnte zu Komplikationen kommen. Deshalb weiß ich nicht, wie weit ich mich aktiv an den Ermittlungen beteiligen kann.«

»Und deshalb kippst du den Fall jetzt mir über. Du verstellst mein Radio und kippst mir diesen Fall über.«

»Nein. Ich will dir natürlich helfen, und ich werde dir auch helfen. John Jack war mein Lehrmeister. Er war derjenige, der mir die Grundregel beigebracht hat.«

»Und was ist das für eine Grundregel?«

»Man muss jeden Fall persönlich nehmen.«

»Wie bitte?«

»Wenn du jeden Fall persönlich nimmst, wirst du stinksauer. Das entfacht ein Feuer in dir. Es verschafft dir den Biss, den du brauchst, um jedes Mal von Neuem bis zum Schluss durchzuhalten.«

Ballard dachte darüber nach. Sie verstand, was er sagen wollte, wusste aber auch, dass es nicht ganz ungefährlich war, nach diesem Motto zu leben und zu arbeiten.

»Hat er wirklich gesagt ›jeden Fall‹?«, fragte sie.

»›Jeden Fall‹«, sagte Bosch.

»Dann hast du also gerade alles von Anfang bis Ende gelesen?«

»Ja. Hat etwa sechs Stunden gedauert. Mit ein paar Unterbrechungen. Ich muss immer wieder ein bisschen rumgehen, mein Knie bewegen.«

»Und wieso hat John Jack genau diesen Fall persönlich genommen?«

»Keine Ahnung. Das hat sich mir bisher nicht erschlossen. Aber ich weiß, dass er es irgendwie geschafft hat, jeden Fall persönlich zu nehmen. Wenn du herausfindest, was es war, gelingt es dir vielleicht, den Fall zu lösen.«

»Wenn ich es finde?«

»Na ja, wenn wir es finden. Aber wie gesagt, ich habe bereits gesucht.«

Ballard schlug wieder die einzelnen Abschnitte um, bis sie zu den Fotos in den Klarsichthüllen kam.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Kommt mir alles ein bisschen arg unwahrscheinlich vor. Wenn George Hunter den Fall nicht lösen konnte und dann auch John Jack Thompson nicht, weshalb soll es uns dann plötzlich gelingen?«

»Weil du das gewisse Etwas hast«, sagte Bosch. »Dieses Feuer. Wir haben es im Kreuz, diesem Jungen endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

»Komm mir bloß nicht mit deiner blöden Gerechtigkeitsnummer. Verarschen kann ich mich auch alleine, Bosch.«

»Okay, dann eben nicht. Aber würdest du wenigstens die Chrono mal lesen und in das Buch reinschauen, bevor du eine endgültige Entscheidung triffst? Wenn du das tust und dann sagst, dass du nicht weitermachen willst, kein Problem. Liefere das Buch meinetwegen ab oder gib es mir zurück. Dann arbeite ich allein daran. Wenn ich die Zeit dazu finde.«

Zunächst antwortete Ballard nicht. Sie musste erst überlegen. Sie wusste, die korrekte Vorgehensweise wäre, das Mordbuch der Einheit Offen-Ungelöst zu überstellen, ihnen zu erklären, wie es nach Thompsons Tod in ihren Besitz gelangt war, und es dabei zu belassen. Aber wie Bosch gesagt hatte, hatte das höchstwahrscheinlich zur Folge, dass der Fall ins Archiv wanderte und dort verstaubte.

Sie sah sich wieder die Fotos an. Ihr erster Eindruck war, dass es sich um einen aus dem Ruder gelaufenen Drogendeal handelte. Das Opfer fährt vor, zahlt und bekommt statt einem Ballon Heroin – oder was sonst die Droge seiner Wahl war – eine Kugel in den Kopf.

»Eine Sache wäre da allerdings noch«, sagte Bosch.

»Und die wäre?«, fragte Ballard.

»Die Kugel. Falls sie noch bei den Beweismitteln ist. Du musst sie in NIBIN eingeben und sehen, was dabei herauskommt. Diese Ballistik-Datenbank hat es 1990 noch nicht gegeben.«

»Trotzdem, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas dabei herauskommt?«

Sie wusste, dass in dieser nationalen Datenbank die unverwechselbaren Eigenschaften von Geschossen und Patronenhülsen gespeichert waren, die an Tatorten gefunden worden waren, aber sie war alles andere als ein vollständiges Archiv. Um einen Vergleich vornehmen zu können, mussten Daten zu einem bestimmten Projektil unter Verweis auf dieses Projektil eingegeben werden. Allerdings hinkten die meisten Polizeibehörden, darunter auch das LAPD, bei diesem Archivierungsprozess noch gewaltig hinterher. Dennoch gab es dieses Archiv für Projektile seit Beginn des Jahrtausends, und der Umfang der gespeicherten Daten nahm beständig zu.

»Besser als nichts ist es trotzdem«, sagte Bosch.

Ballard erwiderte nichts. Sie betrachtete das Mordbuch und fuhr mit einem Fingernagel über den Rand der Dokumente, sodass ein scharfes schnarrendes Geräusch entstand.

»Okay«, sagte sie schließlich. »Ich werde mal reinschauen.«

»Gut«, sagte Bosch. »Sag mir Bescheid, was du davon hältst.«

BOSCH

5

Als Bosch leise in die letzte Reihe von Gerichtssaal 106 schlüpfte, nahm nur der Richter mit einem knappen Nicken von seinem Erscheinen Notiz. Es war zwar schon einige Jahre her, aber Bosch war an mehreren von Judge Paul Falcone verhandelten Fällen beteiligt gewesen. Außerdem hatte er den Richter mehr als einmal aus dem Bett geholt, um sich von ihm mitten in der Nacht einen Durchsuchungsbeschluss ausstellen zu lassen.

An dem Pult neben den Tischen von Verteidigung und Anklage stand Boschs Halbbruder Mickey Haller, der gerade einen seiner Zeugen befragte. Bosch hatte den Prozess in Internet und Presse aufmerksam verfolgt und wusste, dass an diesem Tag die Verteidigung an der Reihe war, den scheinbar nicht zu gewinnenden Fall aus ihrer Sicht zu präsentieren. Haller vertrat einen Mann, der beschuldigt wurde, in einem Park in unmittelbarer Nähe des Gerichts, in dem der Fall gerade verhandelt wurde, den Supreme-Court-Richter Walter Montgomery ermordet zu haben. Der Angeklagte, Jeffrey Herstadt, konnte nicht nur mittels DNA-Spuren mit der Straftat in Verbindung gebracht werden, sondern hatte den Mord auch noch in einem auf Video aufgezeichneten Verhör gestanden.

»Habe ich Sie da eben richtig verstanden, Herr Doktor?«, fragte Haller den links vom Richter sitzenden Zeugen. »Sie behaupten, Jeffrey wurde infolge seiner psychischen Probleme in einen paranoiden Zustand versetzt, in dem er körperliche Schäden für sich befürchtete, wenn er die Straftat nicht gestehen würde?«

Der ältere Herr im Zeugenstand hatte weißes Haar und seltsamerweise einen dunklen Vollbart. Bosch hatte seine Vereidigung verpasst und wusste nicht, wie er hieß. Sein Äußeres und sein professoraler Habitus ließen ihn unwillkürlich an Freud denken.

»Genau das ist bei einer schizoaffektiven Störung der Fall«, antwortete Freud. »Man hat einerseits alle Symptome einer Schizophrenie, wie zum Beispiel Halluzinationen, und zugleich affektive Störungen wie Manie, Depressionen und Paranoia. Letzteres Symptom veranlasst die Psyche zu Schutzmaßnahmen wie dem Nicken und Zustimmen, das auf der Videoaufnahme des Geständnisses zu sehen ist.«

»Als Jeffrey bei der Vernehmung durch Detective Gustafson ständig nickte und zustimmte, wollte er damit also nur – wie soll ich sagen? – körperlichen Schaden von sich abwenden?«, fragte Haller.

Bosch entging nicht, dass Haller ständig den Vornamen des Angeklagten verwendete, ein geschickter Schachzug, um ihm den Geschworenen gegenüber menschlichere Züge zu verleihen.

»Ganz richtig«, sagte Freud. »Er wollte das Verhör unbeschadet überstehen. Detective Gustafson war eine Autoritätsperson, in deren Händen Jeffreys Wohlergehen lag. Das war Jeffrey nur zu gut bewusst, und entsprechend deutlich ist seine Angst in dem Video zu sehen. Seiner Ansicht nach drohte ihm Gefahr, und die wollte er umgehen.«

»Und das hat ihn dazu veranlasst, alles zu sagen, was Detective Gustafson von ihm hören wollte?«, fragte Haller, obwohl es mehr eine Feststellung war als eine Frage.

»Ganz richtig«, antwortete Freud. »Es fing alles ganz harmlos an, mit scheinbar unverfänglichen Fragen. ›Kennen Sie den Park?‹ ›Waren Sie im Park?‹ Und dann folgten selbstverständlich wesentlich folgenschwerere Fragen wie: ›Haben Sie Judge Montgomery getötet?‹ Zu diesem Zeitpunkt war Jeffrey längst in einem ganz bestimmten Fahrwasser und sagte ohne Zögern: ›Ja, ich war’s.‹ Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Aussage, die als freiwilliges Geständnis gedeutet werden kann. Infolge der besonderen Umstände wurde dieses Geständnis weder willentlich und aus freien Stücken noch bei klarem Verstand abgelegt.«

Das ließ Haller eine Weile so stehen und tat so, als zöge er irgendwelche Notizen zu Rate. Dann wechselte er das Thema.

»Herr Doktor, was ist katatone Schizophrenie?«

»Es ist eine Unterform der Gruppe der Schizophrenien, bei der die betroffene Person in Stresssituationen den Anschein erwecken kann, als erlitte sie einen Anfall von sogenanntem Negativismus oder Spastik«, sagte Freud. »Das findet Ausdruck in heftigem Widerstand gegen jegliche Anweisungen oder Versuche, den Betroffenen von der Stelle zu bewegen.«

»Wann kommt es dazu, Herr Doktor?«

»In Phasen von hohem Stress.«

»Sehen Sie eine solche am Ende des Verhörs durch Detective Gustafson gegeben?«

»Ja, meiner ärztlichen Meinung nach erlitt der Angeklagte einen Anfall, ohne dass dies für den Detective ersichtlich war.«

Haller bat Richter Falcone um die Erlaubnis, diesen Teil von Herstadts Verhör abspielen zu dürfen. Bosch hatte die Aufnahme bereits vollständig gesehen. Sie war, für jeden zugänglich, ins Internet gestellt worden, nachdem die Anklage sie vor Gericht als Beweismittel eingeführt hatte.

Haller spielte den bei Minute 20 beginnenden Teil ab, als sich Herstadt sowohl körperlich als auch mental vollständig in sich zurückzog. Er saß reglos, vollkommen katatonisch da und starrte auf den Tisch, ohne auf Gustafsons Fragen zu reagieren. Der Detective merkte rasch, dass etwas nicht mit ihm stimmte.

Die zwei Rettungssanitäter, die Gustafson daraufhin rief, checkten Herstadts Puls, Blutdruck und Blut-Sauerstoff-Sättigung und diagnostizierten einen Anfall, worauf Herstadt ins County-USC Medical Center gebracht und nach einer ersten Behandlung in die Gefangenenstation eingeliefert wurde. Die Vernehmung wurde nie fortgeführt. Gustafson hatte bereits, was er brauchte. Herstadt, wie er auf Video sagte: »Ich war’s.« Als eine Woche später eine Übereinstimmung zwischen Herstadts DNA und genetischem Material, das sich unter Judge Montgomerys Fingernägeln befunden hatte, festgestellt wurde, stützte das Herstadts Geständnis zusätzlich.

Nach dem Abspielen der Videoaufnahme setzte Haller die Befragung des psychiatrischen Gutachters fort.

»Was haben Sie da eben gesehen, Herr Doktor?«

»Einen Mann mit einem katatonen Anfall.«

»Ausgelöst wodurch?«

»Ganz offensichtlich wurde der Anfall durch eine Stresssituation ausgelöst. Jeffrey wurde zu einem Mord befragt, den er zugegeben, aber meiner Meinung nach nicht begangen hat. Das wäre für jeden mit enormem Stress verbunden, aber ganz besonders für jemanden mit paranoider Schizophrenie.«

»Und ist bei der Durchsicht der Akte zu diesem Fall zu Ihrer Kenntnis gelangt, Herr Doktor, dass Jeffrey nur wenige Stunden vor dem Mord an Judge Montgomery einen Anfall erlitten hat?«

»Ja, das ging aus den Berichten über einen Vorfall hervor, der sich etwa neunzig Minuten vor dem Mord ereignete und bei dem Jeffrey wegen eines Anfalls in einem Coffeeshop behandelt wurde.«

»Kennen Sie die näheren Umstände dieses Vorfalls, Herr Doktor?«

»Ja. Anscheinend bestellte Jeffrey in einem Starbucks ein Kaffeegetränk, das er dann jedoch nicht bezahlen konnte. Er hatte sein Geld und seine Kreditkarten in seiner Wohngruppe vergessen. Als ihn der Kassierer deswegen zur Rede stellte, fühlte er sich sofort bedroht und bekam einen Anfall. Die daraufhin gerufenen Rettungssanitäter diagnostizierten einen Anfall.«

»Wurde er in ein Krankenhaus eingeliefert?«

»Nein. Sein Zustand normalisierte sich von selbst, und Jeffrey verweigerte jede weitere Behandlung. Er ging einfach weg.«

»Demnach haben wir zwei Anfälle, einen neunzig Minuten vor und einen zwei Stunden nach dem fraglichen Mord. Beide Anfälle wurden Ihren Aussagen zufolge durch Stress ausgelöst. Ist das richtig?«

»Das ist richtig.«

»Herr Doktor, wäre Ihrer Meinung nach ein Mord, bei dem man mit einem Messer dreimal auf das Opfer einsticht, mit Stress verbunden?«

»Sogar mit extremem Stress.«

»Mit mehr Stress, als eine Tasse Kaffee zu kaufen und zu merken, dass man sein Geld vergessen hat?«

»Ja, mit erheblich mehr Stress.«

»Ist es Ihrer Meinung nach mit mehr Stress verbunden, einen Mord zu begehen, als zu einem solchen Mord verhört zu werden?«

Der Ankläger erhob Einspruch, mit der Begründung, Hallers Frage überstiege mit ihren hypothetischen Annahmen die Kompetenz des Gutachters. Der Richter gab dem Antrag statt und strich Hallers Frage. Doch die hatte ihren Zweck bereits erfüllt.

»Na schön, dann lassen Sie uns weitermachen, Herr Doktor«, wandte sich Haller wieder dem Gutachter zu. »Meine nächste Frage ist: Sind Sie bei Ihrer Beschäftigung mit diesem Fall auf irgendwelche Hinweise gestoßen, dass Jeffrey Herstadt einen Anfall erlitt, als er diesen Mord beging.«

»Nein.«

»Hatte er Ihres Wissens einen Anfall, als er im Grand Park in der Nähe des Tatorts von der Polizei angehalten und zur Vernehmung auf die Station gebracht wurde?«

»Nein, meines Wissens nicht.«

»Danke, Herr Doktor.«

Haller machte den Richter darauf aufmerksam, dass er sich das Recht vorbehielt, den Gutachter noch einmal in den Zeugenstand zu rufen. Dann stellte er seinen Zeugen der Anklage zur Verfügung. Eigentlich wollte Judge Falcone die Verhandlung vertagen und erst nach der Mittagspause mit dem Kreuzverhör beginnen, aber die Staatsanwältin, Deputy District Attorney Susan Saldano, versicherte ihm, nicht länger als zehn Minuten für die Befragung des Doktors zu benötigen. Daraufhin ließ sie der Richter fortfahren.

»Guten Morgen, Dr. Stein«, wandte sie sich an den Psychiater, dessen Nachnamen Bosch nun endlich erfuhr.

»Guten Morgen«, antwortete Stein misstrauisch.

»Ich würde gern auf einen anderen den Angeklagten betreffenden Punkt zu sprechen kommen. Wissen Sie, ob bei seiner Festnahme und anschließenden Behandlung im County-USC eine Blutprobe von ihm entnommen und auf Spuren von Drogen und Alkohol untersucht wurde?«

»Ja, das war der Fall. Das wird routinemäßig gemacht.«

»Und haben Sie sich auch mit den Ergebnissen dieses Bluttests befasst, als Sie im Auftrag der Verteidigung die Unterlagen zu diesem Fall durchgesehen haben?«

»Ja, habe ich.«

»Können Sie den Geschworenen erklären, was, wenn überhaupt etwas, diese Untersuchung ergeben hat?«

»Jeffrey Herstadts Blut hat geringfügige Spuren des Medikaments Paliperidon aufgewiesen.«

»Sind Sie mit diesem Mittel vertraut?«

»Ja, ich habe es Mr. Herstadt verschrieben.«

»Was ist Paliperidon?«

»Es ist ein Dopaminantagonist. Eine psychotrope Substanz, die zur Behandlung von Schizophrenie und schizoaffektiven Störungen eingesetzt wird. In vielen Fällen ermöglicht dieses Mittel, richtig verabreicht, den unter einer solchen Störung Leidenden, ein normales Leben zu führen.«

»Und hat es irgendwelche Nebenwirkungen?«

»Es kann alle möglichen Nebenwirkungen auslösen. Aber jeder Fall ist anders, und es gibt medikamentöse Therapien, die für bestimmte Patienten gut geeignet sind, auch wenn sie Nebenwirkungen haben.«

»Wissen Sie, dass der Hersteller von Paliperidon davor warnt, dass das Mittel unter anderem zu Reizbarkeit und Aggressivität führen kann?«

»Selbstverständlich, aber in Jeffreys …«

»Bitte nur Ja- oder Nein-Antworten, Dr. Stein. Sind Sie sich dieser Nebenwirkungen bewusst, ja oder nein?«

»Ja.«

»Danke, Herr Doktor. Als Sie uns eben die Wirkung des Medikaments Paliperidon beschrieben haben, haben Sie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es ›richtig verabreicht‹ werden muss. Können Sie sich erinnern, das gesagt zu haben?«

»Ja.«

»Wissen Sie, wo Jeffrey Herstadt zum Zeitpunkt des Mordes gelebt hat?«

»Ja, in einer Wohngruppe in Angelino Heights.«

»Und er hat das Paliperidon von Ihnen verschrieben bekommen, richtig?«

»Ja.«

»Und wer war in dieser Wohngruppe dafür verantwortlich, dass ihm das Medikament in der richtigen Dosierung verabreicht wurde?«

»Der Wohngruppe ist ein Sozialarbeiter zugeteilt, der den Patienten die Medikamente verabreicht.«

»Wissen Sie demnach aus erster Hand, dass das Medikament Mr. Herstadt korrekt verabreicht wurde?«

»Ich verstehe diese Frage nicht. Ich habe die Bluttests gesehen, die nach seiner Festnahme gemacht wurden, und sie zeigten die angemessenen Paliperidonwerte. Daher kann man davon ausgehen, dass er die richtige Dosis erhalten und eingenommen hat.«

»Können Sie den Geschworenen garantieren, dass Mr. Herstadt seine tägliche Dosis nicht vielleicht erst nach dem Mord, wenn auch vor der Blutentnahme im Krankenhaus eingenommen hat?«

»Das kann ich natürlich nicht, aber …«

»Können Sie den Geschworenen garantieren, dass er seine Pillen nicht gehortet und vor dem Mord mehrere auf einmal genommen hat?«

»Auch das kann ich nicht garantieren, aber was Sie hier andeuten wollen …«

»Keine weiteren Fragen.«

Saldano ging zum Tisch der Anklage und setzte sich. Bosch sah, dass Haller sofort aufstand und dem Richter sagte, er bräuchte nicht lange für seine weiterführende Befragung. Der Richter nickte als Zeichen seiner Zustimmung.

»Herr Doktor, möchten Sie Ihre Antwort auf Ms. Saldanos letzte Frage zu Ende bringen?«, fragte Haller.

»Ja, sehr gern«, antwortete Stein. »Ich wollte nur sagen, dass der Bluttest aus dem Krankenhaus den korrekten Gehalt des Medikaments im Blut des Angeklagten gezeigt hat. Nichts in dem Befund deutet darauf hin, dass das Medikament nicht korrekt verabreicht worden war. Hätte Mr. Herstadt das Paliperidon gehortet und eine erhöhte Dosis eingenommen oder seine Pille erst nach dem Mord eingenommen, hätte sich das an den Werten des Bluttests ablesen lassen.«

»Danke, Herr Doktor. Wie lange war Jeffrey bei Ihnen in Behandlung, bevor es zu diesem Vorfall kam?«

»Vier Jahre.«

»Seit wann behandeln Sie ihn mit Paliperidon?«

»Seit vier Jahren.«

»Haben Sie jemals Kenntnis davon erhalten, dass er anderen gegenüber aggressiv geworden ist?«

»Vor diesem … Vorfall, nein. Das war nie der Fall.«

»Haben Sie von der Leitung der Wohngruppe, in der er gelebt hat, regelmäßige Berichte über sein Verhalten erhalten?«

»Ja, habe ich.«

»War in einem dieser Berichte jemals die Rede davon, dass Jeffrey gewalttätig geworden ist?«

»Nein, kein einziges Mal.«

»Haben Sie jemals befürchtet, er könnte gegen Sie oder sonst jemanden gewalttätig werden?«

»Nein. Wäre das der Fall gewesen, hätte ich ihm ein anderes Medikament verschrieben.«

»Eine andere Frage: Als Psychiater sind Sie doch auch als Arzt ausgebildet, ist das richtig?«

»Ja.«

»Haben Sie sich den Obduktionsbefund von Judge Montgomery angesehen, als Sie sich mit diesem Fall befasst haben?«

»Ja, habe ich.«

»Und haben Sie in diesem Zusammenhang gesehen, dass er unter der Achselhöhle aus nächster Nähe drei Stiche zugefügt bekommen hat?«

»Ja, das habe ich gesehen.«

Saldano stand auf und erhob Einspruch.

»Euer Ehren, worauf will er damit hinaus?«, fragte sie. »Das geht über den Umfang meines Kreuzverhörs hinaus.«

Falcone sah Haller an.

»Das habe auch ich mich schon zu fragen begonnen, Mr. Haller.«

»Das geht zwar etwas über das aktuelle Thema hinaus, Judge, aber ich habe mir das Recht vorbehalten, Dr. Stein noch einmal in den Zeugenstand zu rufen. Wenn die Anklage das möchte, können wir jetzt gern Mittagspause machen, dann rufe ich ihn heute Nachmittag noch einmal auf. Wir können es aber auch jetzt gleich hinter uns bringen. Es wird nicht lange dauern.«

»Dem Einspruch wird nicht stattgegeben«, erklärte der Richter. »Fahren Sie fort, Mr. Haller.«

»Danke, Judge«, sagte Haller.

Er wandte sich wieder dem Gutachter zu.

»Herr Doktor, an der Körperstelle, wo Judge Montgomery die Stiche beigebracht wurden, befinden sich lebenswichtige Blutgefäße, ist das richtig?«

»Ja, Blutgefäße, die direkt zum Herz und von ihm fort führen.«

»Liegt Ihnen Mr. Herstadts Personalakte vor?«

»Ja.«

»War er jemals beim Militär?«

»Nein.«

»Hatte er eine medizinische Ausbildung?«

»Meines Wissens nicht.«

»Woher hätte er wissen sollen, den Richter an dieser besonders verletzlichen Stelle unter seiner Achselhöhle …«

»Einspruch!«

Saldano war wieder aufgesprungen.

»Judge, dieser Zeuge verfügt nicht über die Fachkenntnisse, die ihm ermöglichen würden, auch nur eine grobe Vermutung zu der Frage zu äußern, die der Verteidiger ihm stellen will.«

Der Richter gab ihrem Einspruch statt.

»Wenn Sie dieses Thema weiterverfolgen wollen, Mr. Haller, ziehen Sie einen Experten für Stichverletzungen hinzu«, sagte Falcone. »Ein solcher ist dieser Zeuge nicht.«

»Euer Ehren«, sagte Haller. »Sie haben dem Einspruch stattgegeben, ohne meinen Standpunkt zu hören.«

»Das habe ich getan und würde es wieder tun, Mr. Haller. Haben Sie noch andere Fragen an den Zeugen?«

»Nein.«

»Ms. Saldano?«

Die Staatsanwältin überlegte kurz, bevor sie erklärte, sie habe keine weiteren Fragen. Bevor der Richter die Geschworenen in die Mittagspause entlassen konnte, richtete sich Haller noch einmal an ihn.

»Euer Ehren, ich habe damit gerechnet, dass Ms. Saldano fast den ganzen Nachmittag für Dr. Steins Kreuzverhör benötigen würde. Und ich bin davon ausgegangen, dass mir der Rest der Zeit für eine weitere Einvernahme des Zeugen zur Verfügung stünde. Deshalb kommt diese Entwicklung sehr überraschend für mich.«

»Was wollen Sie damit sagen, Mr. Haller?«, fragte der Richter mit ersten Anzeichen von Besorgnis.

»Mein nächster Zeuge ist eine DNA-Expertin. Sie kommt aus New York, und ihre Maschine landet erst um vier Uhr.«

»Haben Sie einen Zeugen, den Sie außerplanmäßig nach der Mittagspause einbestellen können?«

»Nein, Euer Ehren, einen solchen habe ich nicht.«

»Na schön.«

Alles andere als begeistert, wandte sich der Richter den Geschworenen zu und erklärte ihnen, sie seien für den Rest des Tages entlassen. Er wies sie an, sich nach Hause zu begeben, keinerlei Medienberichte über den Prozess zu lesen oder anzusehen und sich am nächsten Morgen, Punkt neun Uhr, wieder im Gericht einzufinden. Des Weiteren versicherte er ihnen mit einem finsteren Blick zu Haller, dass sie, um die zeitliche Verzögerung wiedergutzumachen, die Zeugenaussagen schon vor dem üblichen Verhandlungsbeginn um zehn Uhr zu hören bekommen würden.

Der Richter wartete, bis die Geschworenen den Saal verlassen hatten. Erst dann kippte er Haller mehr von seinem Ärger über.

»Mr. Haller, ich glaube, Sie wissen, dass ich es nicht mag, schon nach der Mittagspause Schluss zu machen, wenn ich einen ganzen Verhandlungstag angesetzt habe.«

»Ja, Euer Ehren. Das mag auch ich nicht.«

»Sie hätten Ihre Zeugin schon gestern herbestellen sollen, damit sie, unabhängig vom Verlauf der heutigen Verhandlung, zur Verfügung gestanden hätte.«

»Ja, Euer Ehren. Aber das hätte eine zusätzliche Übernachtung in einem Hotel bedeutet, und wie das Gericht weiß, ist mein Mandant mittellos, und mir wurde der Fall zu einem deutlich reduzierten Honorar zugeteilt. Mein Ersuchen, meine Gutachterin einen Tag früher einzubestellen, wurde von der Verwaltungsabteilung aus finanziellen Gründen abgelehnt.«

»Mr. Haller, das ist alles schön und gut, aber es gibt auch in Los Angeles hoch qualifizierte DNA-Experten. Warum müssen Sie da eine Gutachterin aus New York kommen lassen?«

Das war die erste Frage, die auch Bosch in den Sinn gekommen war.

»Mit Verlaub, Judge, ich glaube nicht, dass es fair wäre, wenn ich der Anklage meine Verteidigungsstrategie verraten müsste«, entgegnete Haller. »Dennoch kann ich schon so viel sagen, dass meine Gutachterin eine Koryphäe auf dem Gebiet der DNA-Analyse ist und dass sich das bei ihrem morgigen Auftritt vor Gericht bestätigen wird.«

Der Richter sah Haller scharf an. Nur zu offensichtlich überlegte er, ob er sich auf diese Diskussion einlassen sollte. Schließlich lenkte er ein.

»Also gut«, erklärte er. »Die Verhandlung ist bis morgen neun Uhr vertagt. Sollte Ihre Gutachterin dann allerdings nicht zur Verfügung stehen, Mr. Haller, wird das Konsequenzen haben.«

»Ja, Euer Ehren.«

Der Richter stand auf und verließ die Bank.

6

»Wo würdest du gern hingehen?«

Sie saßen auf dem Rücksitz von Hallers Lincoln.

»Egal«, sagte Bosch. »Wo man sich ungestört unterhalten kann.«

»Hast du mitbekommen, dass das Traxx dichtgemacht hat?«, fragte Haller.

»Nein! Wirklich schade. Ich war immer gern in der Union Station.«

»Ich vermisse es jetzt schon. Bei Prozessen war es mein erklärtes Lieblingslokal. Es hat sich zwanzig Jahre gehalten – das will in Los Angeles was heißen.«

Haller beugte sich vor und sagte zu seiner Fahrerin: »Fahr uns nach Chinatown rüber, Stace. Zum Little Jewel.«

»Alles klar«, sagte die Fahrerin.

Dass sich Haller von einer Frau fahren ließ, war für Bosch etwas völlig Neues. Bisher hatte Haller immer ehemalige Mandanten als Fahrer seines Lincoln angestellt. Männer, die damit ihre Anwaltskosten abstotterten. Bosch fragte sich, was Stace abbezahlte. Sie war Mitte vierzig, schwarz und sah aus wie eine Lehrerin, nicht wie jemand, den Haller, wie sonst üblich, von der Straße aufgegabelt hatte.

»Und wie fandst du’s?«, fragte Haller.

»Was? Den Prozess?«, sagte Bosch. »Was das Geständnis angeht, hast du gepunktet. Wird deine DNA-Expertin tatsächlich so gut sein? ›Eine Koryphäe auf dem Gebiet der DNA-Analyse‹ – wie viel ist da wirklich dran?«

»Eine ganze Menge. Aber das wird sich zeigen. Sie ist gut, aber ich weiß nicht, ob sie gut genug ist.«

»Und sie kommt tatsächlich aus New York?«

»Ich sag dir doch. Hat alles Hand und Fuß.«

»Und was will sie morgen machen? Die Schuld beim Labor suchen? Sagen, dass sie Mist gebaut haben?«

Von dieser Verteidigungsstrategie hatte Bosch die Nase gründlich voll. Sie hatte vielleicht bei O.J. Simpson funktioniert, aber das war schon lange her, und in diesem Fall spielten viele andere Faktoren eine Rolle. Wichtige Faktoren. An den DNA-Befunden gab es nichts zu rütteln. Eine Übereinstimmung war eine Übereinstimmung. Um sie auszuhebeln, war mehr nötig, als die ihnen zugrunde liegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse anzufechten.

»Ich weiß nicht, welche Argumente sie vorbringen wird«, sagte Haller. »So ist es abgemacht. Sie wird nicht versuchen, irgendwas zu meinen Gunsten hinzudrehen. Sie nennt die Dinge beim Namen.«

»Na ja, jedenfalls habe ich das Verfahren verfolgt«, sagte Bosch. »Das Geständnis anzufechten, ist eine Sache. Die DNA eine andere. Hast du die Prozessakte dabei?«

»Das meiste davon – die ganze Prozessvorbereitung. Im Kofferraum. Warum?«

»Ich dachte, ich könnte mal für dich reinschauen. Natürlich nur, wenn du willst. Versprechen kann ich dir selbstverständlich nichts. Aber irgendwas ist mir vorhin bei der Verhandlung ein bisschen spanisch vorgekommen. Ich kann nur noch nicht den Finger drauflegen.«

»Bei der Aussage des Gutachters? Oder wo?«

»Ich weiß auch nicht. Irgendwas hat nicht zusammengepasst.«

»Jedenfalls bleibt mir nur noch bis morgen Zeit. Dann ist Schluss. Keine weiteren Zeugen. Wenn du also der Sache nachgehen willst, dann möglichst heute noch.«

»Schon klar. Gleich nach dem Mittagessen mache ich mich an die Arbeit.«

»Na gut. Wie geht’s übrigens deinem Knie?«

»Gut. Es wird von Tag zu Tag besser.«

»Schmerzen?«

»Nein.«

»Du bist nicht hergekommen, weil der Arzt einen Kunstfehler gemacht hat, oder?«

»Nein, das ist nicht der Grund.«

»Was dann?«

Bosch beobachtete im Rückspiegel die Augen der Fahrerin. Sie konnte gar nicht anders, als alles mitzuhören. In ihrer Anwesenheit wollte er nicht damit herausrücken.

»Das erzähle ich dir beim Essen«, sagte er deshalb.

»Klar«, sagte Haller.

Das Little Jewel war zwar in Chinatown, aber chinesisches Essen hatten sie dort nicht. Es war Cajun-Küche in Reinkultur. Sie bestellten an der Theke und bekamen einen Tisch in einer halbwegs ruhigen Ecke. Bosch nahm ein Krabben-Po’boy, Haller entschied sich für einen frittierten Austern-Po’boy und zahlte für beides.

»Neue Fahrerin?«, fragte Bosch.

»Schon drei Monate«, sagte Haller. »Nein, vier. Sie ist gut.«

»Eine Mandantin?«

»Die Mutter eines Mandanten. Ihr Sohn sitzt wegen Besitz ein Jahr ein. Wir haben eine Verkaufsabsichtsklage abgeschmettert, was nicht die schlechteste Leistung meinerseits war. Und dann hat mir Mom angeboten, mein Honorar als Fahrerin abzuarbeiten.«

»Wie immer die Güte in Person.«

»Von irgendwas muss ich schließlich leben. Nicht jeder führt so ein unbeschwertes Rentnerdasein wie du.«

»Dank dir.«

Haller grinste. Er hatte Bosch vor ein paar Jahren erfolgreich vor Gericht vertreten, als ihm die Stadt seine Pensionsansprüche abzuerkennen versucht hatte.

»Und dieser Fall?«, sagte Bosch. »Herstadt. Wie bist du an den gekommen? Ich dachte, du machst keine Mordfälle mehr.«

»Mache ich auch nicht mehr«, sagte Haller. »Aber der Richter hat ihn mir einfach aufgedrückt. Ich war wegen eines anderen Falls im Gericht und dachte mir nichts Böses, als er ankam und ihn mir einfach zuteilte. Darauf ich: ›Ich übernehme keine Mordfälle mehr, Judge, vor allem nicht so heikle wie diesen.‹ Und er: ›Jetzt schon, Mr. Haller.‹ Und jetzt habe ich diesen aussichtslosen Fall an der Backe und kriege dafür einen Hamburger gezahlt, wo ich sonst ein Steak bekomme.«

»Wieso hat den Fall kein Pflichtverteidiger übernommen?«

»Interessenkonflikt. Judge Montgomery, das Opfer, war ursprünglich Pflichtverteidiger, weißt du nicht mehr?«

»Ach ja, stimmt. Hab ich ganz vergessen.«

Als ihre Nummern aufgerufen wurden, ging Bosch an die Theke, um ihre Sandwiches und Getränke zu holen. Sobald er alles auf den Tisch gestellt hatte, kam Haller auf den Grund ihres Treffens zu sprechen.

»Aber jetzt, du kommst mitten in einem Prozess an und sagst, du musst mit mir reden. Dann rede. Hast du Ärger?«

»Nein, nicht, was du denkst.«

Bosch überlegte kurz, bevor er fortfuhr. Er hatte um das Treffen gebeten, und jetzt wusste er nicht, wie er es angehen sollte. Er beschloss, ganz von vorne anzufangen.

»Vor zwölf Jahren hatte ich einen Fall«, begann er. »Ein Typ oben am Aussichtspunkt über dem Mulholland Dam. Zwei Kugeln in den Hinterkopf, wie eine Hinrichtung. Er war Arzt. Medizinphysiker, spezialisiert auf gynäkologische Tumoren. Wie sich herausgestellt hat, ist er zum St. Agatha’s oben im Valley hochgefahren und hat aus einem Bleisafe sämtliche Cäsiumvorräte abgestaubt, die sie dort zu Behandlungszwecken gelagert hatten. Sie sind spurlos verschwunden.«

»Vage erinnere ich mich an diese Geschichte«, sagte Haller. »Das FBI hat sich sofort darauf gestürzt. Sie sind von einem Terroranschlag ausgegangen. Eine schmutzige Bombe oder irgendwas in der Richtung.«

»Genau. Aber es ging um was völlig anderes. Ich war an den Ermittlungen beteiligt, und wir haben das Cäsium wiederbeschafft. Allerdings bin ich dabei verstrahlt worden. Ich wurde deswegen behandelt und musste mich fünf Jahre lang regelmäßig durchchecken lassen – Röntgenuntersuchungen und was sonst alles dazugehört. Sie haben nie was bei mir gefunden, und nach fünf Jahren meinten sie, ich wäre aus dem Schneider.«

Haller nickte, als ahnte er bereits, was jetzt kommen würde.

»Alles schien also in Butter«, fuhr Bosch fort. »Und dann lasse ich mir vor einem Monat das Knie machen, und sie nehmen mir Blut ab. An sich eine reine Routinemaßnahme, aber dann wird die Probe ausgewertet, und es stellt sich heraus, dass ich was habe, das sich CML nennt – chronische myeloische Leukämie.«

»Ach, du Scheiße«, sagte Haller.

»Ist zum Glück nicht so schlimm, wie es sich anhört. Ich werde behandelt, aber …«

»Womit?«

»Ich bekomme Chemotherapie. Die moderne Art Chemo. Im Grunde nehme ich jeden Tag eine Pille, und damit hat es sich. In sechs Monaten sehen wir, ob die Therapie anschlägt oder ob sie drastischere Maßnahmen ergreifen müssen.«

»Scheiße.«

»Das hast du gesagt. Das Zeug hat zwar ein paar Nebenwirkungen, aber sie halten sich in Grenzen. Vor allem werde ich davon schnell müde. Doch jetzt zu dem Grund, weshalb ich damit zu dir komme: Ich wüsste gern, ob ich deswegen irgendwelche Ansprüche auf Entschädigung geltend machen kann. Ich denke dabei vor allem an meine Tochter. Falls diese Chemo nicht wirkt, möchte ich sichergehen, dass für sie alles geregelt ist, wenn du weißt, was ich meine. Dass sie versorgt ist.«

»Hast du mit ihr schon darüber gesprochen?«

»Nein. Bisher bist du der Einzige, der davon weiß.«

»Scheiße.«

»Das sagst du schon die ganze Zeit. Aber was glaubst du? Steht mir dafür irgendeine Entschädigung seitens des LAPD zu? Oder auch seitens der Klinik? Dieser Typ marschiert einfach in einem weißen Kittel mit einem Namensschild dran bei ihnen rein und hinterher mit einem Bleibehälter mit zweiunddreißig Portionen Cäsium wieder raus. Wegen des Vorfalls sind die laxen Sicherheitsvorkehrungen in der Onkologie ans Licht gekommen. Sie wurden danach deutlich verschärft.«

»Für dich aber leider zu spät. Mit einer Berufsunfallversicherung würde ich hier allerdings gar nicht erst anfangen. Ich würde sofort gesalzene Schadenersatzansprüche geltend machen.«

»Und was ist mit der Verjährung? Das Ganze liegt schon zwölf Jahre zurück.«

»Bei so etwas beginnt die Uhr erst zu ticken, wenn der gesundheitliche Schaden diagnostiziert wird. Da hast du also nichts zu befürchten. Der Deal, den wir bei deinem Ausscheiden bei der Polizei ausgehandelt haben, beinhaltet für deine Krankenversicherung eine Obergrenze von einer Million.«

»Ja, und die ist in Nullkommanix weg, wenn ich krank werde – richtig krank, meine ich. Aber meine Altersvorsorge werde ich dafür nicht anzapfen. Die bekommt Maddie.«

»Schon klar. Beim LAPD werden wir ein Schiedsgericht anrufen und wahrscheinlich eine Abfindung zugesprochen bekommen. Aber ansetzen müssen wir vor allem beim Krankenhaus. Ihre mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen haben zu diesem Schlamassel geführt, dessentwegen du verstrahlt worden bist. Da ist für uns am meisten zu holen.«

Sie begannen zu essen, und Haller fuhr mit vollem Mund fort:

»Also, erst mal bringe ich diesen Prozess zum Abschluss – die Entscheidung der Jury wird in einem, maximal zwei Tagen fallen –, und dann reichen wir eine Zahlungsaufforderung ein. Dafür benötige ich von dir ein Video, in dem du eine eidesstattliche Versicherung abgibst. Damit können wir dann weitermachen.«

»Wozu ein Video? Für den Fall, dass ich sterbe oder was?«

»Unter anderem. Aber hauptsächlich möchte ich, dass sie dich sehen, wie du deine Geschichte erzählst. Wenn sie die Geschichte von dir hören, statt sie in einem Schriftsatz oder einem Protokoll deiner eidesstattlichen Versicherung zu lesen, scheißen sie sich bestimmt in die Hose. Dann merken sie sofort, dass sie auf verlorenem Posten stehen.«

»Okay, und du kümmerst dich um alles?«

»Ja, ich habe Leute an der Hand, die so was ständig machen.«

Bosch hatte noch kaum einen Bissen von seinem Sandwich geschafft, während Haller schon halb fertig war. Bosch vermutete, dass ihn der Vormittag im Gericht hungrig gemacht hatte.

»Ich möchte auf keinen Fall, dass etwas davon an die Öffentlichkeit dringt«, sagte Bosch. »Weißt du, was ich meine? Keine Medien.«

»Das kann ich dir leider nicht versprechen«, sagte Haller. »Manchmal lassen sich die Medien dafür einspannen, Druck auszuüben. Du bist derjenige, der in Ausübung seines Diensts mit diesem Zeug verstrahlt worden ist. Glaub mir, die Sympathien der Öffentlichkeit werden zehn zu eins auf deiner Seite sein. Und das kann ein wichtiges Hilfsmittel sein.«

»Na schön, wenn du unbedingt meinst. Aber lass es mich vorher wissen, wenn du die Medien einbeziehst. Damit ich zuerst mit Maddie reden kann.«

»Das kann ich dir versprechen. Aber jetzt, hast du noch irgendwelche Unterlagen zu dem Fall? Irgendwas, das ich mir ansehen kann?«

»Wenn du mich nachher an meinem Wagen absetzt. Die Chrono und die meisten wichtigen Berichte habe ich dabei. Habe ich mir damals alles kopiert. Für alle Fälle. Ist alles im Auto.«

»Okay, dann tauschen wir Akten, wenn wir zurückfahren. Du gibst mir deine Unterlagen, ich gebe dir, was ich über Herstadt habe. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

»Allerdings musst du dich mit Herstadt beeilen. Mir läuft die Zeit davon.«

BALLARD

7

In ihrem Zelt war es warm und gemütlich, und sie fühlte sich geborgen. Doch auf einmal drangen ihr Kerosindämpfe in Mund, Nase und Lunge, und es wurde plötzlich furchtbar heiß, und dann schmolz die Plane um sie herum und brannte.