Die Frau im Beton - Michael Connelly - E-Book

Die Frau im Beton E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Harry Bosch steht vor Gericht. Vor vier Jahren hat er den berüchtigten »Puppenmacher« Norman Church erschossen, der seine Opfer - stets Frauen - brutal hinrichtete, um sie anschließend mit Make-up zu verschönern. Bosch ist überzeugt, dass er damals den Richtigen erwischt hat. Doch dann wird in einem abgebrannten Gebäude eine Frauenleiche gefunden. Und alles deutet darauf hin, dass auch dieser Mord die Tat des Puppenmachers war. Hat Bosch den Falschen erschossen? Oder handelt es sich um einen Nachahmungstäter? Für Bosch beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Er beginnt, auf eigene Faust zu recherchieren, um zu beweisen, dass er keinen Fehler gemacht hat.

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Michael Connelly

Die Frau im Beton

Der dritte Fall für Harry Bosch

Aus dem amerikanischen Englisch von Norbert Puszkar

Kampa

Das Haus in Silverlake war dunkel, seine Fenster so leer wie die Augen eines Toten. Es war ein altes kalifornisches Holzhaus mit einer breiten Veranda an der Vorderseite und zwei Mansardenfenstern, die aus der langen Dachschräge hervorragten. Kein Licht leuchtete jedoch hinter den Fensterscheiben, selbst nicht über dem Türeingang. Stattdessen verbreitete das Haus eine unheimliche Dunkelheit um sich, in die nicht einmal das Licht der Straßenbeleuchtung eindrang. Jemand könnte auf der Veranda stehen, ohne dass Bosch ihn sehen würde.

»Sind Sie sicher, das ist es?«, fragte er sie.

»Nicht das Haus«, sagte sie. »Dahinter. Die Garage. Fahren Sie etwas vor, damit Sie in die Auffahrt sehen können.«

Bosch tippte das Gaspedal an, und der Caprice rollte vorwärts zur Einfahrt.

»Dort«, sagte sie.

Bosch stoppte den Wagen. Hinter dem Haus stand eine Garage, über der sich ein Apartment befand. An der Seite eine Holztreppe, die nach oben führte; über der Tür eine Lampe. Zwei Fenster, aus denen Licht drang.

»Okay«, sagte Bosch.

Sie starrten die Garage ein paar Momente an. Bosch war sich nicht klar, was er zu sehen erwartete. Vielleicht nichts. Das Parfum der Hure erfüllte den Wagen, und er kurbelte sein Fenster herunter. Er wusste nicht, ob er ihrer Behauptung glauben sollte oder nicht. Sicher war nur, dass er keine Verstärkung anfordern konnte. Er hatte kein Funkgerät dabei, und sein Auto war nicht mit einem Telefon ausgerüstet.

»Was werden Sie … Da ist er!«, rief sie aufgeregt.

Bosch hatte es mitbekommen. Der Schatten einer Person hatte sich hinter dem kleineren Fenster vorbeibewegt. Das Badezimmer, nahm er an. »Er ist im Bad«, sagte sie. »Dort habe ich das ganze Zeug gesehen.«

Bosch wandte seinen Blick vom Fenster ab und sah sie an.

»Was für Zeug?«

»Ich, mhm, habe das Schränkchen durchsucht. Als ich drin war. Nur um zu sehen, was er so alles hat. Als Frau muss man vorsichtig sein. Und dann sah ich das ganze Zeug. Make-up. Mascara, Lippenstifte, Puderdosen, der ganze Scheiß. Deshalb wusste ich, dass er es ist. Das benutzt er alles, um sie hinterher anzumalen – nachdem er sie umgebracht hat.«

»Warum haben Sie mir das nicht am Telefon gesagt?«

»Sie haben nicht gefragt.«

Er sah, wie die Gestalt hinter den Vorhängen des anderen Fensters vorbeiging. Seine Gedanken überstürzten sich jetzt, sein Herz lief auf Hochtouren.

»Wie lang ist das her, dass Sie dort rausgerannt sind.«

»Mann, ich weiß nicht. Ich musste bis zur Franklin Avenue latschen, um ein Auto anzuhalten. Die Fahrt zum Hollywood Boulevard hat ungefähr zehn Minuten gedauert. Wie lang es insgesamt war, weiß ich nicht.«

»Schätzen Sie. Es ist wichtig.«

»Ich weiß nicht. Es ist mehr als eine Stunde her.«

Verdammt, dachte Bosch. Sie hatte unterwegs noch einen Kunden bedient, bevor sie die Nummer der Fahndungsgruppe angerufen hatte. Sie bewies wirklich, wie besorgt sie war. Inzwischen hat sich der Typ eventuell Ersatz geholt, und ich sitze hier und gaffe.

Er ließ den Wagen nach vorne schießen und fand einen Parkplatz vor einem Hydranten. Dann stellte er den Motor ab, ließ den Schlüssel jedoch in der Zündung. Nachdem er aus dem Wagen gesprungen war, steckte er seinen Kopf wieder durchs offene Fenster hinein.

»Passen Sie auf. Ich geh hin. Sie bleiben hier. Falls Sie Schüsse hören oder wenn ich in zehn Minuten nicht zurück bin, klopfen Sie hier an den Haustüren und holen Polizei her. Sagen Sie, dass ein Polizist Hilfe braucht. Auf dem Armaturenbrett ist eine Uhr. Zehn Minuten.«

»Zehn Minuten, Baby. Geh und spiel den Helden. Aber ich kriege die Belohnung.«

Bosch zog seine Waffe, während er die Auffahrt hinaufeilte. Die Treppe an der Seite der Garage war alt und das Holz verzogen. So leise wie möglich nahm er drei Stufen auf einmal. Trotzdem kam es ihm vor, als würde er sein Eintreffen mit Fanfaren ankündigen. Oben angekommen, zerschlug er mit dem Revolver die nackte Glühbirne über der Tür. Dann lehnte er sich in der Dunkelheit nach hinten gegen das Geländer. Er hob seinen linken Fuß, legte sein ganzes Gewicht hinter seinen Absatz und traf die Tür über dem Knauf.

Mit einem lauten Bersten schlug die Tür auf. Bosch nahm Kampfpositur ein und bewegte sich in der Hocke über die Schwelle. Sofort erblickte er den Mann, der am anderen Ende des Raums hinter einem Bett stand. Er war nackt, nicht nur sein Kopf war unbehaart, sondern sein ganzer Körper. Bosch sah, wie sich die Augen des Mannes mit Schrecken füllten, und schrie mit hoher, greller Stimme.

»Polizei! Keine Bewegung!«

Der Mann erstarrte, allerdings nur kurz, dann beugte er sich nach unten und griff mit dem rechten Arm nach dem Kissen. Er zögerte und streckte dann seinen Arm weiter aus. Bosch konnte es nicht glauben. Verdammt noch mal, was tat er? Die Zeit blieb stehen. Das Adrenalin, das ihm durch den Körper schoss, dehnte seine Wahrnehmung ins Zeitlupentempo. Bosch wusste, entweder griff der Mann zum Kissen, um sich damit zu bedecken, oder er …

Die Hand fuhr unters Kissen.

»Tu’s nicht!«

Unter dem Kissen hatte die Hand etwas gefunden. Seine Augen hatte der Mann die ganze Zeit nicht von ihm abgewendet. Jetzt begriff Bosch. Nicht Schrecken erfüllte seinen Blick. Es war etwas anderes. Zorn? Hass? Die Hand kam wieder unter dem Kissen hervor.

»Nein!«

Bosch feuerte einen Schuss, die Waffe schlug in seinen Händen nach oben. Der nackte Mann wurde hochgeschleudert und fiel nach hinten. Er krachte gegen die holzgetäfelte Wand, prallte ab und fiel, um sich schlagend und würgend, quer übers Bett. Bosch bewegte sich schnell weiter ins Zimmer vor und zum Bett.

Die linke Hand des Mannes griff wieder nach dem Kissen. Bosch hob sein linkes Bein und drückte ihn mit dem Knie aufs Bett. Er nahm die Handschellen vom Gürtel und fesselte zuerst die ausgestreckte linke Hand, danach die rechte hinterm Rücken. Der nackte Mann würgte und stöhnte.

»Ich kann nicht … Ich kann nicht«, versuchte der Mann unter Husten und Würgen von Blut herauszubringen.

»Du kannst nicht tun, was ich dir gesagt habe«, sagte Bosch. »Ich hab dir gesagt, du sollst dich nicht bewegen.«

Gib einfach den Löffel ab, dachte Bosch, ohne es auszusprechen. Das wäre für uns alle am besten.

Er ging ums Bett herum und hob das Kissen auf. Ein paar Augenblicke starrte er auf das, was daruntergelegen hatte, dann ließ er es wieder fallen und schloss die Augen.

»Gott verdammt!«, schrie er dem nackten Mann in den Rücken. »Was hast du bloß getan? Ich hatte eine verdammte Kanone und du, du greifst … Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich nicht bewegen!«

Bosch ging wieder ums Bett, um das Gesicht des Mannes zu sehen. Blut floss aus dem Mund auf das schmuddelige weiße Bettlaken. Seine Kugel hatte die Lunge getroffen. Der nackte Mann war jetzt ein sterbender Mann.

»Du hättest nicht sterben müssen«, sagte Bosch zu ihm.

Dann war der Mann tot.

Bosch sah sich im Zimmer um. Es war niemand sonst da. Kein Ersatz für die Hure, die geflüchtet war. In der Hinsicht hatte er sich geirrt. Er ging ins Bad und öffnete das Schränkchen unter dem Waschbecken. Wie die Nutte erzählt hatte, befand sich Make-up darin. Bosch erkannte einige der Marken: Max Factor, L’Oreal, Cover Girl, Revlon. Es schien alles zusammenzupassen.

Durch die Badezimmertür sah er zurück zur Leiche auf dem Bett. Der Geruch von Schießpulver hing noch in der Luft. Er steckte sich eine Zigarette an. Um ihn herum war es so still, dass er das Knistern des brennenden Tabaks hören konnte, wenn er den beruhigenden Rauch in die Lungen sog.

Im Apartment gab es kein Telefon. Bosch saß auf einem Stuhl in der Kochnische und wartete. Er starrte quer durchs Zimmer auf die Leiche und bemerkte, dass er benommen war und dass sein Herz immer noch pochte. Er stellte auch fest, dass er nichts fühlte – weder Mitleid, noch Schuld, noch Trauer – angesichts des Mannes auf dem Bett. Rein gar nichts.

Stattdessen versuchte er, sich auf das Geräusch der Sirene zu konzentrieren, die jetzt in der Ferne zu vernehmen war. Nach einer Weile nahm er wahr, dass es mehr als eine Sirene war. Es waren viele.

1

In den Gängen des U.S.-District-Gerichts von Los Angeles in Downtown stehen keine Bänke. Keine Sitzgelegenheiten. Wer an der Wand herunterrutscht, um auf dem kühlen Marmorboden zu sitzen, wird von dem ersten Deputy Marshal, der vorbeikommt, wieder aufgescheucht. Und die Marshals sind ständig auf den Gängen, gehen hin und her.

Dieser Mangel an Gastfreundlichkeit existiert, weil die Bundesregierung nicht den Eindruck entstehen lassen will, dass die Mühlen des Gesetzes langsam mahlen oder gar nicht. Sie möchte nicht, dass Leute sich in den Korridoren auf Bänken oder auf dem Boden niederlassen und mit glasigen Augen darauf warten, dass sich die Türen der Gerichtssäle öffnen und ihre Verfahren, oder die ihrer eingekerkerten Familienangehörigen, aufgerufen werden. Dieses Schauspiel wird zur Genüge auf der anderen Seite der Spring Street im County-Gerichtsgebäude geboten. Tagaus, tagein zwängen sich dort die Wartenden in allen Etagen auf die Bänke, welche die Gänge säumen. Meistens sind es Frauen und Kinder, deren Ehemänner, Väter oder Lovers in Untersuchungshaft sitzen. Meistens sind es Schwarze oder Lateinamerikaner. Und meistens sehen die Bänke wie überfüllte Rettungsboote aus – Frauen und Kinder zuerst –, in denen die Menschen zusammengezwängt und verschollen umherdriften. Warten und warten, dass man gefunden wird. Boat People nennen die Witzbolde im Gericht sie.

Während Harry Bosch auf den Stufen vor dem U.S.-District-Gericht stand und rauchte, ging ihm dieser Kontrast durch den Kopf. Das war ein weiterer Unterschied. Hier war Rauchen in den Gängen verboten. Während der Verhandlungspausen musste er mit dem Aufzug nach unten fahren und hinausgehen. Draußen war ein mit Sand gefüllter Kübel hinter dem Betonsockel platziert, auf dem eine Frauenstatue mit verbundenen Augen die Waage der Gerechtigkeit in die Höhe hielt. Bosch sah zur Statue auf; er konnte nie ihren Namen behalten. Die Göttin der Justiz. Irgendetwas Griechisches, dachte er, war sich aber nicht sicher. Sein Blick kehrte wieder zu der gefalteten Zeitung in seinen Händen zurück, und er las den Artikel noch einmal.

In der letzten Zeit hatte er morgens nur den Sportteil gelesen und sich auf die Seiten mit den Tabellen und den Statistiken der Baseballspiele konzentriert. Irgendwie spendeten ihm die Spalten mit Zahlen und Prozenten etwas Trost. Sie waren klar und präzise, sie symbolisierten absolute Ordnung in einer ungeordneten Welt. Zu wissen, wer von den Dodgers die meisten Home Runs geschlagen hatte, gab ihm das Gefühl mit der Stadt und mit seinem Leben noch irgendeine Verbindung zu haben.

Aber heute hatte er den Sportteil zusammengefaltet in seiner Aktentasche gelassen, die unter seinem Stuhl im Gerichtssaal lag. In seinen Händen hielt er den Lokalteil der Los Angeles Times, den er fein säuberlich zweimal gefaltet hatte, so wie es die Pendler auf dem Freeway machten, damit sie die Zeitung beim Fahren lesen konnten. Der Artikel über den Prozess war rechts unten auf der ersten Seite. Er las ihn wieder und wieder und fühlte, wie es ihm beim Lesen seiner Geschichte unter dem Kragen heiß wurde.

PROZESSBEGINNFÜRPOLIZISTENIMTOUPET-FALL

Joel Bremmer, Los Angeles Times

In einem ungewöhnlichen Bürgerrechtsprozess, der heute eröffnet wird, ist ein Detective der Polizei von Los Angeles angeklagt, unverhältnismäßig gehandelt zu haben, als er vor vier Jahren einen mutmaßlichen Serienmörder erschoss, von dem er annahm, dass er nach einer Pistole griff.

Tatsächlich hatte der Mann jedoch nach seinem Toupet gegriffen.

Detective Bosch, 43, wird vor dem U.S.-District-Gericht von der Witwe Norman Churchs verklagt, eines Angestellten der Luftfahrtindustrie, der auf dem Höhepunkt der Jagd nach dem sogenannten Puppenmacher-Mörder von Bosch erschossen wurde.

Die Polizei hatte zu diesem Zeitpunkt fast ein Jahr nach dem Serienmörder gefahndet, dem die Medien seinen Namen gaben, weil er die Gesichter seiner 11 Opfer mit Make-up bemalt hatte. Die von der Öffentlichkeit mit großem Interesse verfolgte Jagd zeichnete sich durch die Gedichte aus, die der Mörder an Bosch und die Times sandte.

Nachdem Church erschossen wurde, gab die Polizei bekannt, dass sie unwiderlegbare Beweise habe, dass der Maschinenbauingenieur der Mörder sei.

Bosch wurde vom Dienst suspendiert und später von der Einheit für spezielle Mordfälle beim Raub-Mord-Dezernat der Polizei von Los Angeles zur Mordkommission der Hollywood Division versetzt. Die Polizei unterstrich, dass die Degradierung wegen Verstöße gegen die Dienstverordnung erfolgt sei – u.a. weil er unterlassen hatte, Unterstützung zum Apartment in Silverlake zu rufen, in dem Church erschossen wurde.

Die Polizeiführung stufte den Fall als »guten« Schusswaffengebrauch ein – was im polizeilichen Sprachgebrauch bedeutet, dass kein unkorrektes Handeln vorlag.

Da es wegen Churchs Tod nicht zu einem Prozess kam, sind viele der von der Polizei gesammelten Beweise nie der Öffentlichkeit unter Eid präsentiert worden. Das wird sich wahrscheinlich mit diesem Prozess ändern. Die seit einer Woche stattfindende Auswahl der Jurymitglieder sollte heute abgeschlossen werden, sodass mit den Eröffnungsplädoyers der Anwälte begonnen werden kann.

 

Um den Artikel auf einer Innenseite weiterlesen zu können, musste Bosch die Zeitung wieder umfalten. Für einen Moment wurde er von seinem Foto abgelenkt, das dort abgedruckt war. Es war ein altes Bild von ihm, das aus einem Verbrecheralbum hätte stammen können. Das gleiche Foto zierte seinen Dienstausweis. Irgendwie ärgerte ihn das Bild mehr als der Artikel. Es war eine Verletzung seiner Privatsphäre, sein Foto zu veröffentlichen. Dann versuchte er sich wieder auf die Zeilen zu konzentrieren.

 

Die Rechtsabteilung der Stadt hat die Verteidigung von Bosch übernommen, da er in Ausübung seines Dienstes geschossen hat. Falls der Klägerseite ein Schadenersatz zuerkannt werden sollte, wird dies von den Steuerzahlern der Stadt getragen werden müssen, nicht von Bosch.

Churchs Gattin, Deborah, wird von der Bürgerrechtsanwältin Honey Chandler vertreten, die sich auf polizeilichen Amtsmissbrauch spezialisiert hat. Chandler erklärte, dass sie vor der Jury den Beweis dafür erbringen werde, dass Bosch derartig fahrlässig gehandelt habe, dass der tragische Tod Churchs unvermeidbar war.

»Detective Bosch hat sich wie ein Cowboy aufgeführt, und ein Mann musste deshalb sterben«, sagte Chandler. »Ich bin mir noch nicht darüber im Klaren, ob es nur Fahrlässigkeit war oder ob dahinter etwas Bösartigeres steckt; das wird sich im Prozess herausstellen.«

 

Den letzten Satz hatte Bosch mindestens sechs Mal gelesen, seit er die Zeitung in der ersten Gerichtspause bekommen hatte. Bösartig. Was meinte sie damit? Er bemühte sich, sich nicht davon beunruhigen zu lassen. Es war klar, dass Chandler auch ein Zeitungsinterview dazu benutzen würde, um ihn psychologisch zu treffen. Trotzdem glaubte er, dass es ein Warnschuss war. Er wusste, es würde noch mehr kommen.

 

Chandler sagte weiterhin, sie würde die Stichhaltigkeit der von der Polizei gesammelten Beweise, dass Church der Puppenmacher war, widerlegen. Sie erklärte, Church, Vater von zwei Töchtern, sei nicht der von der Polizei gesuchte Serienmörder gewesen. Die Polizei habe ihn nur als solchen gebrandmarkt, um das Fehlverhalten von Bosch zu vertuschen.

»Detective Bosch tötete kaltblütig einen unschuldigen Menschen«, sagte Chandler. »Mit dieser Bürgerrechtsklage tun wir das, was die Polizei und die Staatsanwaltschaft unterließen: die Wahrheit ans Licht bringen und Norman Churchs Familie Gerechtigkeit widerfahren lassen.«

Bosch und der ihn verteidigende Anwalt der Stadt Rodney Belk verweigerten jeden Kommentar für diesen Artikel. Außer Bosch werden folgende Zeugen in dem ein bis zwei Wochen dauernden Prozess aussagen …

»Kleingeld, Kumpel?«

Bosch blickte von der Zeitung auf und sah das verschmutzte, aber bekannte Gesicht des Obdachlosen, dessen Revier die Stufen vor dem Gericht waren. Jeden Tag während der Auswahl der Geschworenen hatte Bosch ihn hier beobachtet, wie er seine Runde machte und um Geld oder Zigaretten bettelte. Er trug ein abgewetztes Tweedjackett über zwei Pullovern und Cordhosen. In einem Plastiksack schleppte er seine Habseligkeiten mit sich und einen riesigen Pappbecher, den er bei der Kollekte den Leuten unter die Nase hielt. Außerdem hatte er einen Block mit gelbem Papier bei sich, wie sie von Anwälten benutzt werden, der voller Notizen war.

Instinktiv klopfte Bosch seine Taschen ab und zuckte mit den Schultern. Er hatte kein Kleingeld.

»Ich würde auch einen Dollar nehmen.«

»Ich hab keinen Extradollar.«

Der Obdachlose wandte sich ab und schaute in die Tonne. Gelbe Zigarettenkippen bedeckten den Sand wie Krebsgewächse. Er klemmte den gelben Schreibblock unter den Arm und begann das Angebot zu sichten. Wenn die Kippen noch einen Zentimeter Tabak enthielten, steckte er sie ein. Ab und zu fand er noch fast ganze Zigaretten und machte ein klickendes Geräusch mit dem Mund, um seiner Freude über den Fund Ausdruck zu geben. Die Früchte der Kippenernte warf er dann in den Pappbecher.

Glücklich über seinen Fund, trat der Mann von dem Kübel zurück und blickte zur Statue hinauf. Dann schaute er zu Bosch hinüber, zwinkerte mit den Augen und begann seine Hüften in der obszönen Pantomime eines Geschlechtsakts zu wiegen.

»Wie findest du mein Mädchen?«, fragte er. Dann küsste er seine Hand und streckte sie nach oben, um die Statue zu streicheln.

Bevor Bosch eine Antwort einfiel, meldete sich sein Piepser am Gürtel. Der Obdachlose machte zwei Schritte zurück und hob seine Hände, als wolle er etwas Böses abwehren. Ein entsetzter Ausdruck debiler Panik breitete sich über sein Gesicht aus. Er sah aus wie jemand, dessen Gehirnsynapsen Wackelkontakt hatten. Der Mann machte eine Kehrtwendung und hastete mit seinem Pappbecher Zigarettenkippen davon, nach unten zur Spring Street.

Bosch sah ihm nach, bis er verschwunden war, und zog dann den Piepser vom Gürtel. Er erkannte die Nummer auf dem Anzeigefeld. Es war die Direktleitung von Lieutenant Harvey »Achtundneunzig« Pounds von der Hollywood Division. Nachdem er den Rest seiner Zigarette im Sand der Tonne ausgedrückt hatte, ging er ins Gericht. Wo die Rolltreppe im ersten Stock endete, befanden sich mehrere Münzfernsprecher.

»Harry, wie läuft’s im Gericht?«, fragte Pounds.

»Das Übliche. Rumsitzen und Warten. Die Jury ist komplett, die Anwälte hocken jetzt beim Richter und besprechen die Eröffnung des Prozesses. Belk meinte, ich müsste nicht dabei sein, also häng ich hier rum.«

Er sah auf seine Uhr. Es war zehn vor zwölf.

»Sie werden wohl bald Mittagspause machen«, fügte er hinzu.

»Gut, ich brauche dich.«

Bosch antwortete nicht. Pounds hatte versprochen, ihm keine Fälle zuzuteilen, bis der Prozess vorbei war. Noch eine Woche oder höchstens zwei. Im Grunde hatte Pounds keine andere Wahl. Er wusste sehr gut, dass Bosch keine Mordermittlungen durchführen konnte, solange er vier Tage die Woche vor einem Bundesgericht erscheinen musste.

»Was ist los? Ich dachte, du hättest mich von der Einsatzliste genommen?«

»Habe ich. Aber wir haben möglicherweise ein Problem – dich betreffend.«

Bosch zögerte wieder. Bei Pounds musste man sich vorsehen. Harry würde eher einem Spitzel trauen als Pounds. Hinter den erklärten Gründen steckte immer ein verborgenes Motiv. Pounds schien wieder eine seiner Lieblingsnummern abzuziehen: sich in vagen Andeutungen ergehen, um Bosch zu ködern.

»Ein Problem?«, fragte Bosch schließlich. Ein cleverer Zug, der ihn nicht festlegte.

»Nun, ich nehme an, du hast heute die Zeitung gesehen – den Times-Artikel über deinen Fall.«

»Ja, ich war gerade beim Durchlesen.«

»Nun, wir haben einen neuen Brief bekommen.«

»Einen Brief? Wovon redest du?«

»Ich rede davon, dass jemand eine Nachricht am Eingangsschalter hinterlassen hat. Adressiert an dich. Und er ähnelt verdammt den Briefen, die du vom Puppenmacher bekommen hast, als die ganze Geschichte ablief.«

Bosch spürte, wie Pounds es genoss, das Ganze in die Länge zu ziehen.

»Wenn der Brief an mich adressiert war, wie kommt es, dass du ihn gelesen hast?«

»Er kam nicht per Post. Kein Umschlag. Einfach ein Blatt, einmal gefaltet. Mit deinem Namen drauf. Jemand hat es am Schalter abgegeben. Dort hat es jemand gelesen, den Rest kannst du dir selbst ausmalen.«

»Was steht drin?«

»Es wird dir nicht gefallen, Harry; der Brief kommt zu einem peinlichen Zeitpunkt. Kurz gesagt, er erklärt, du hättest den falschen Typ erwischt. Dass der Puppenmacher noch frei herumläuft. Der Schreiber behauptet, dass er der wahre Puppenmacher sei und dass das Leichenzählen weitergeht. Er sagt, du hättest den Falschen erschossen.«

»Quatsch. Die Briefe des Puppenmachers waren in der Zeitung und in Bremmers Buch über den Fall abgedruckt. Jeder kann den Stil imitieren und ein Briefchen schreiben. Du …«

»Hältst du mich für total blöde, Bosch? Ich weiß, dass jeder das hätte schreiben können. Und der Schreiber auch. Also hat er zum Beweis eine kleine – nennen wir’s mal – Schatzkarte beigelegt. Wo wir die Leiche eines weiteren Opfers finden können.«

Ein langes Schweigen trat ein, während Bosch nachdachte und Pounds wartete.

»Und dann?«, sagte Bosch endlich.

»Und dann habe ich Edgar heute Morgen zum angegebenen Ort geschickt. Erinnerst du dich an Bing’s auf der Western Avenue?«

»Bing’s? Klar, südlich vom Boulevard. Eine Billardhalle. War das nicht eines der Gebäude, die während der Rassenkrawalle abbrannten?«

»Genau«, sagte Pounds. »Total ausgebrannt. Sie haben den Laden geplündert und dann Feuer gelegt. Nur noch das Betonfundament und drei Wände sind übrig geblieben. Die Stadt hat eine Abrissverfügung erwirkt, aber der Besitzer hat noch nichts getan. Auf alle Fälle sagt der Brief, dort ist es. Sie sei unter der Bodenbetonplatte begraben. Edgar ist hin – mit ein paar Arbeitern von der Stadt, Presslufthämmern, das ganze Arsenal …«

Pounds zog es in die Länge. Was für ein blödes Arschloch, dachte Bosch. Diesmal würde er länger warten. Als das Schweigen endlich nicht mehr auszuhalten war, sprach Pounds weiter.

»Er fand eine Leiche. Wie es in dem Brief stand. Unter dem Beton. Eine Leiche. Das ist …«

»Wie alt ist sie?«

»Wissen wir noch nicht. Aber sie ist alt. Deshalb rufe ich dich an. Du musst in der Mittagspause hinfahren und sehen, was du davon hältst. Du weißt schon – ist es wirklich ein Opfer des Puppenmachers oder spielt irgendein anderer Perverser an unseren Eiern? Du bist der Fachmann. Du könntest rausfahren, wenn der Richter Mittagspause macht. Ich treffe dich dort. Zur Prozesseröffnung bist du rechtzeitig zurück.«

Bosch war wie betäubt. Am liebsten hätte er sich wieder eine Zigarette angesteckt. Er versuchte logisch einzuordnen, was Pounds ihm erzählt hatte. Der Puppenmacher, Norman Church, war seit vier Jahren tot. Daran bestand kein Zweifel. Das wusste Bosch – im Kopf wie im Bauch. Church war der Puppenmacher.

»Und dieser Brief ist jetzt einfach so eingetroffen.«

»Der Sergeant vom Dienst hat ihn vor vier Stunden am Eingangsschalter gefunden. Niemand hat gesehen, wer ihn abgegeben hat. Du weißt, wie viele Leute morgens durch den Vordereingang kommen, außerdem hatten wir Schichtwechsel. Ich habe Meehan nach oben geschickt, damit er mit denen am Schalter spricht. Niemand kann sich an was erinnern, bevor sie ihn gefunden haben.«

»Scheiße. Lies ihn mal vor.«

»Geht nicht. Die Spurensicherung hat ihn. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Fingerabdrücke finden wird, aber wir dürfen nichts auslassen. Ich besorge eine Kopie und bringe sie mit, okay?«

Bosch antwortete nicht.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte Pounds. »Aber am besten bewahren wir erst mal die Ruhe und sehen, was dort vergraben wurde. Es besteht noch keine Veranlassung zur Beunruhigung. Vielleicht ist es ein Streich, den sich die Anwältin, Chandler, ausgedacht hat. Ich würde ihr so etwas zutrauen. Die würde alles tun, um sich noch einen Polizistenskalp an die Wand zu nageln. Sie sieht ihren Namen gern in der Zeitung.«

»Was ist mit den Medien. Haben die schon davon gehört?«

»Wir hatten ein paar Anrufe wegen eines Leichenfundes. Sie müssen auf der Einsatzfrequenz der Gerichtsmedizin mitgehört haben. Wir haben in der Sache Funkstille eingehalten. Auf alle Fälle weiß niemand von dem Brief oder von der Verbindung zum Puppenmacher. Sie wissen nur von der Leiche. Ich nehme an, die Vorstellung, dass eine Leiche unter dem Fußboden eines der bei den Krawallen abgebrannten Gebäude gefunden wurde, macht sie irgendwie an.

In jedem Fall müssen wir im Moment die Beziehung zum Puppenmacher geheim halten. Es sei denn, der Schreiber hat Kopien an die Medien verschickt. Wenn das der Fall ist, werden wir es sicher bis heute Abend hören.«

»Wie konnte er sie unter der Betonplatte einer Billardhalle begraben?«

»Nicht das ganze Gebäude war ein Billardsaloon. Auf der Rückseite waren Lagerräume. Bevor Bing’s eingezogen ist, war das Gebäude der Requisitenfundus eines Filmstudios. Bing’s hat dann die hinteren Räume als Lager vermietet. Das habe ich alles von Edgar; er hat den Besitzer antanzen lassen.

Der Mörder muss einen der Räume gemietet haben, die Betonplatte durchschlagen und die Leiche der Frau hineingelegt haben. Während der Krawalle brannte dann alles ab, aber der Beton wurde nicht zerstört. Die Leiche der armen Frau hat die ganze Zeit dort gelegen. Edgar sagt, sie sieht aus wie eine Mumie oder so was.«

Bosch sah, wie sich die Tür zum Gerichtssaal 4 öffnete und die Mitglieder der Familie Church, gefolgt von ihrer Anwältin, herauskamen. Sie machten Mittagspause. Deborah Church und ihre zwei Töchter im Teenager-Alter sahen ihn nicht an. Aber Honey Chandler, die bei vielen Polizisten und anderen Personen im Gericht unter dem Namen Money Chandler bekannt war, fixierte ihn im Vorbeigehen mit Killeraugen. Sie hatten die Farbe von dunklem Mahagoni und wurden von einem sonnengebräunten Gesicht und einer energischen Kinnlade eingerahmt. Sie war eine attraktive Frau mit glattem, goldenem Haar. Der konservative Schnitt ihres Kostüms verbarg ihre Figur. Bosch fühlte die feindseligen Gefühle der Gruppe wie eine Welle über sich zusammenschlagen.

»Bosch, bist du noch da?«, fragte Pounds.

»Ja, sieht so aus, als ob die Mittagspause anfängt.«

»Gut. Dann mach dich auf, ich werde dich dort treffen. Ich kann’s selbst nicht glauben; und ich hoffe, es ist irgendein anderes perverses Monster. Aber für dich wär’s das Beste.«

»Ja.«

Als Bosch auflegen wollte, hörte er Pounds’ Stimme und nahm den Hörer wieder ans Ohr.

»Noch eins. Falls Reporter dort auftauchen, überlass sie mir. Egal wie sich die Sache entwickelt, du solltest formell nichts mit dem neuen Fall zu tun haben. Wegen des schwebenden Verfahrens aufgrund des alten Falls. Du bist nur in deiner Rolle als Experte da.«

»Okay.«

»Bis gleich.«

2

Bosch verließ Downtown auf dem Wilshire Boulevard und fuhr dann zur Third Street hinauf, nachdem er die Überreste des MacArthur Parks durchquert hatte. Als er nördlich auf die Western Avenue abbog, sah er schon auf der linken Seite eine Ansammlung von Streifenwagen, Zivilfahrzeugen von Detectives sowie die Transportwagen der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin. In der Ferne war das Hollywood Sign im Norden nur schwach durch den Smog zu erkennen.

Bing’s bestand aus drei verkohlten Wänden, die einen Haufen verbrannter Trümmer umgaben. Ein Dach war nicht mehr vorhanden, aber die Polizisten hatten eine blaue Plastikplane oben auf der Rückwand befestigt und sie bis zum Maschendrahtzaun an der Vorderseite des Grundstücks gespannt. Bosch begriff, dass dies nicht geschehen war, weil die Polizeikräfte im Schatten arbeiten wollten. Er beugte sich nach vorne und blickte durch die Windschutzscheibe nach oben. Dort oben kreisten sie. Die Aasgeier der Stadt: die Hubschrauber von Radio, Fernsehen und Zeitung.

Als Bosch am Bordstein parkte, bemerkte er einige städtische Arbeiter neben einem Lkw mit Arbeitsgeräten. Sie sahen ziemlich grün im Gesicht aus und inhalierten tief und angestrengt den Rauch ihrer Zigaretten. Ihre Presslufthämmer lagen auf dem Boden am Ende des Lkws. Sie warteten und hofften, dass ihre Arbeit getan war.

Auf der anderen Seite des Lkws stand Pounds neben dem blauen Transportwagen der Gerichtsmedizin. Er sah aus, als bemühte er sich, seine Fassung wiederzugewinnen. Sein Gesichtsausdruck glich dem der Arbeiter. Obwohl Pounds Commander der Detectives-Abteilung von Hollywood war, einschließlich des Mord-Dezernats, hatte er selbst nie Morde untersucht. Wie viele Vorgesetzte bei der Polizei verdankte er seinen Aufstieg Examensresultaten und Arschkriecherei – nicht Erfahrung. Es machte Bosch immer Freude zu erleben, wenn jemand wie Pounds auch etwas davon abbekam, womit richtige Cops jeden Tag konfrontiert wurden.

Bosch sah auf die Uhr, bevor er aus dem Caprice stieg. Er hatte noch eine Stunde, bis er wieder im Gericht sein musste.

»Harry«, begrüßte ihn Pounds und kam zu ihm. »Gut, dass du kommen konntest.«

»Es ist mir immer eine Ehre, eine Leiche zu untersuchen, Lieutenant.«

Bosch zog seine Anzugjacke aus und legte sie auf den Sitz im Wagen. Dann holte er aus dem Kofferraum einen weiten, blauen Overall und zog ihn über seine Kleidung. Ihm würde warm werden, aber er wollte nicht vor Gericht mit staubigen und schmutzigen Kleidern erscheinen.

»Gute Idee«, sagte Pounds. »Ich wünschte, ich hätte meine Sachen mitgebracht.«

Aber Bosch wusste, dass Pounds keine »Sachen« hatte. Pounds ließ sich nur dann an einem Tatort sehen, wenn das Fernsehen wahrscheinlich dort sein würde und er ein, zwei Sätze ins Mikrophon sprechen konnte. Nur das Fernsehen interessierte ihn. Keine Zeitungen. Man musste mehr als zwei zusammenhängende und sinnvolle Sätze zusammenbringen, wenn man mit einem Zeitungsreporter sprach. Und danach waren die Sätze in Papierform den ganzen nächsten Tag und eventuell für ewige Zeiten präsent, um einen zu verfolgen. Es war einer Karriere bei der Polizei nicht sehr dienlich, mit Zeitungsreportern zu sprechen. TV war dagegen ein flüchtiger und wenig gefährlicher Kitzel.

Bosch ging zur blauen Plane hinüber. Unter ihr entdeckte er die übliche Versammlung von Fahndungskräften. Sie standen neben einem Haufen Betonschutt und einem Graben, der in die Bodenplatte geschlagen worden war, die das Fundament des Gebäudes gebildet hatte. Als einer der Fernsehhelikopter im Tiefflug über sie hinwegging, richtete sich Bosch auf. Wegen der Plane würden sie sicher keine guten Aufnahmen machen können. Wahrscheinlich hatten sie inzwischen schon Bodenteams angefordert.

Innerhalb der Außenwände lag immer noch eine Menge Schutt. Verkohlte Deckenbalken und Bauholz, zerborstene Betonbrocken und andere Trümmer. Pounds hatte Bosch wieder eingeholt, und zusammen bewegten sie sich vorsichtig zur Gruppe unter der Plane hin.

»Das wird planiert, und dann gibt es einen Parkplatz mehr«, sagte Pounds. »Das ist das Einzige, was die Krawalle für die Stadt erreicht haben. Ungefähr tausend neue Parkplätze. Wenn du heutzutage in South Central parken willst, kein Problem. Falls du aber eine Flasche Limonade willst oder Benzin für dein Auto, hast du ein Problem. Sie haben jeden Laden in Flammen aufgehen lassen. Bist du schon mal vor Weihnachten durch den Süden der Stadt gefahren? Auf jedem Block kann man Tannenbäume kaufen – jede Menge leerer Grundstücke dort unten. Ich begreif immer noch nicht, warum diese Menschen ihre eigenen Wohnbezirke in Brand setzen.«

Bosch wusste, der Umstand, dass so Leute wie Pounds nicht verstanden, warum »diese Menschen« taten, was sie taten, war ein Grund, warum sie es taten und irgendwann wieder tun würden. Es war eine Art Zyklus. Alle fünfundzwanzig Jahre wurde die Seele der Stadt von der Realität angesengt. Aber dann fuhr sie weiter. Schnell, ohne sich umzusehen, flüchtete man vom Unfallort.

Plötzlich fiel Pounds hin, nachdem er auf losem Schutt ausgerutscht war. Er fing seinen Fall mit den Händen ab und sprang schnell wieder auf. Es war ihm peinlich.

»Verdammt!«, murmelte er, und obwohl Bosch nicht gefragt hatte, fügte er hinzu. »Ich bin okay, ich bin okay.«

Mit der Hand schob er eilig die Haarsträhnen wieder nach oben, die von seinem halb kahlen Schädel gerutscht waren. Er merkte nicht, dass er sich dabei mit der Hand schwarze Striemen über die Stirn zog, und Bosch wies ihn nicht darauf hin.

Endlich hatten sie sich ihren Weg zu der Gruppe gebahnt. Bosch ging sofort zu seinem ehemaligen Partner Jerry Edgar, der mit einigen Leuten zusammenstand, die Harry kannte, und zwei Frauen, die ihm unbekannt waren. Die Frauen trugen grüne Overalls, die Uniform der Leichenträger von der Gerichtsmedizin. Sie verdienten den Minimallohn und wurden von einem Tatort zum anderen geschickt, um die Leichen abzuholen und ins Kühlhaus zu bringen.

»Wo stehste, Harry?«, sagte Edgar.

»Genau hier.«

Edgar war gerade vom Blues Festival in New Orleans zurückgekommen und hatte dort diesen Gruß aufgeschnappt. Er verwandte ihn so oft, dass es einem allmählich auf die Nerven ging. Edgar war der Einzige auf dem Revier, der das noch nicht gemerkt hatte.

Edgar stach aus der Gruppe hervor. Er trug keinen Overall wie Bosch – er trug nie einen, weil seine feinen Anzüge Falten bekommen könnten –, hatte es jedoch irgendwie geschafft, zum Fundort zu gelangen, ohne auch nur ein Staubkorn auf die Hosenaufschläge seines grauen Doppelreihers zu bekommen. Der Immobilienmarkt – Edgars ehemals lukrativer Nebenjob – war seit drei Jahren total im Eimer, aber er war immer noch der eleganteste Cop in Hollywood. Bosch sah sich Edgars blassblaue Seidenkrawatte an, die unter der Kehle des schwarzen Detective straff geknotet war, und schätzte, dass sie wohl mehr gekostet hatte als sein Hemd und seine Krawatte zusammen.

Bosch sah hinüber und nickte Art Donovan zu, dem Technischen Assistenten von der Spurensicherung, sagte aber nichts zu den anderen. Er hielt sich ans Protokoll. Wie bei jedem Mord gab es am Tatort ein kompliziertes und inzestuöses Kastensystem. Die Detectives sprachen meist nur miteinander oder mit den kriminalwissenschaftlichen Assistenten. Die Bullen sagten nichts, außer sie wurden angesprochen. Die Leichenträger, die den untersten Rang einnahmen, sprachen nur mit den MTAs von der Gerichtsmedizin. Die MTAs wechselten nur wenige Worte mit den Cops. Sie verachteten sie. Ihrer Ansicht nach waren sie nervtötend, weil sie ständig um etwas bettelten, eine Autopsie, einen toxikologischen Test – und alles spätestens bis gestern.

Bosch sah hinunter in den Graben, an dem sie standen. Die Arbeiter waren mit den Presslufthämmern durch die Betonplatte gedrungen und hatten ein Loch gegraben, das zweieinhalb Meter lang und mehr als einen Meter tief war. Von dort hatten sie seitlich das Betonfundament ausgehöhlt, das sich von der Betonplatte aus einen Meter nach unten erstreckte. Im Fundament befand sich eine Öffnung. Bosch hockte sich nieder und sah, dass sie die Form einer Frauenleiche hatte. Als ob es eine Form wäre, in die man Gips gießen könnte, um einen Abguss zu machen – vielleicht, um eine Schaufensterpuppe herzustellen. Aber sie war leer.

»Wo ist die Leiche?«, fragte Bosch.

»Was noch da war, haben sie rausgenommen«, sagte Edgar. »Es ist im Sack im Transporter. Wir überlegen gerade, wie wir den Betonklotz hier in einem Stück herauskriegen.«

Ein paar Augenblicke sah Bosch schweigend hinab zur ausgehöhlten Öffnung, dann stand er auf und verließ das Ruinengrundstück wieder. Larry Sakai, der gerichtsmedizinische Assistent folgte ihm zum blauen Transportwagen und schloss die Hecktür auf. Die Hitze im Inneren war drückend und Sakais Atem roch stärker als das Desinfektionsmittel.

»Ich hab mir gedacht, dass sie dich herholen«, sagte Sakai.

»So? Und warum?«

»Weil’s nach dem verdammten Puppenmacher aussieht.«

Bosch erwiderte nichts, um Sakai keinerlei Bestätigung zu geben. Sakai hatte vor vier Jahren an den Puppenmacher-Morden gearbeitet, und Bosch hatte ihn in Verdacht, für den Spitznamen des Serienmörders in den Medien verantwortlich zu sein. Jemand hatte Details, die das Anbringen von Make-up an den Leichen betrafen, an einen der Nachrichtensprecher von Kanal 4 durchsickern lassen, der dann den Mörder auf den Namen Puppenmacher taufte. Danach wurde er von allen so genannt, sogar von den Cops.

Bosch hatte den Namen allerdings immer gehasst. Er stempelte nicht nur den Mörder ab, sondern auch die Opfer. Sie waren nicht mehr Menschen, die gelebt hatten. So konnte man die entsetzlichen Nachrichten als unterhaltende Puppenmacher-Storys unter die Leute bringen.

Bosch sah sich im Wagen um. Es gab zwei Bahren und zwei Leichen. Die eine füllte den schwarzen Sack ganz: Entweder hatte sie zu Lebzeiten Übergewicht gehabt, oder war nach dem Tod aufgedunsen. Er wandte sich zum anderen Sack, der von den Überresten kaum gefüllt wurde. Dies musste die Leiche sein, die man aus dem Beton befreit hatte.

»Ja, das ist sie«, sagte Sakai. »Die andere ist eine Messerstecherei auf dem Lankershim Boulevard. North Hollywood hat den Fall. Wir waren auf dem Rückweg, als wir hier hinbeordert wurden.«

Das erklärte, warum die Medien so schnell Wind von der Sache bekommen hatten. Die Funkfrequenz der Gerichtsmedizin wurde in allen Redaktionen der Stadt abgehört.

Einen Moment lang betrachtete er den kleineren Leichensack und riss dann, ohne darauf zu warten, dass Sakai es tun würde, den Reißverschluss des schweren, schwarzen Plastikmaterials auf. Ein scharfer, modriger Geruch drang heraus, der wohl schlimmer gewesen wäre, hätte man die Leiche früher gefunden. Sakai schlug den Sack auf, und Bosch blickte auf die Überreste eines menschlichen Körpers. Die Haut war dunkel und spannte sich wie Leder über die Knochen. Bosch ekelte sich nicht, weil er sich an solche Anblicke gewöhnt hatte und sich davon innerlich lösen konnte. Manchmal glaubte er, sein Leben bestand darin, Leichen zu beschauen. Als er noch nicht einmal zwölf Jahre alt gewesen war, hatte er die Leiche seiner Mutter für die Polizei identifiziert. Während seiner Vietnamzeit hatte er unzählige Tote gesehen, und in seinen zwanzig Berufsjahren war die Anzahl der Leichen ins Unermessliche gestiegen. Seine Anteilnahme hatte sich auf die Rolle einer Kamera reduziert. Er war so losgelöst wie ein Psychopath.

Es war zu erkennen, dass die Frau klein gewesen war, und der Verfall des Gewebes sowie der Schrumpfprozess ließen sie noch kleiner erscheinen als im Leben. Was vom Haar übrig geblieben war, war schulterlang und blond gebleicht. Bosch konnte die staubförmigen Überreste des Make-ups auf ihrem Gesicht erkennen. Sein Blick wurde von den Brüsten angezogen, die im Vergleich zu dem geschrumpften Körper immens groß waren. Sie waren voll und rund, und die Haut war straff. Es war das Groteskeste an der Leiche, weil es anders war, als man erwartet hätte.

»Implantate«, erklärte Sakai. »Verwesen nicht. Wir könnten sie rausnehmen und an die nächste Tussi verkaufen, die sie haben will. Man könnte ein Recycling-Programm starten.«

Bosch sagte nichts. Der Gedanke an die Frau – wer immer sie war –, die das mit ihrem Körper angestellt hatte, um attraktiver zu sein, und die dann so geendet hatte, deprimierte ihn. War es ihr am Ende nur gelungen, ihrem Mörder zu gefallen?

Sakai unterbrach seine Gedanken.

»Wenn das der Puppenmacher war, heißt das, sie war wenigstens vier Jahre einbetoniert. Hab ich recht? In dem Fall ist die Verwesung gar nicht so weit fortgeschritten. Wir haben immer noch Haare, Augen, etwas inneres Gewebe. Damit lässt sich was anfangen. Letzte Woche habe ich vielleicht einen Kunden bekommen – einen Wanderer, der im Soledad Canyon gefunden wurde. Sie nehmen an, es war ein Typ, der im letzten Sommer vermisst gemeldet wurde. Der bestand nur aus Knochen. Natürlich gibt es da draußen Tiere. Du weißt, sie graben sich durchs Arschloch rein, dort ist es am weichsten, und die Tiere …«

»Ich weiß, Sakai. Bleiben wir bei der hier.«

»Okay, also bei dieser Frau hat der Beton anscheinend den Prozess verlangsamt. Nicht aufgehalten, aber verlangsamt. Es war wie eine luftdichte Gruft.«

»Könnt ihr feststellen, wie lang sie schon tot ist?«

»Wahrscheinlich nicht anhand der Leiche. Wir finden heraus, wer sie war, und dann müsst ihr ermitteln, seit wann sie vermisst wird. So wird es wohl laufen.«

Bosch sah sich die Finger an. Sie ähnelten dunklen Stäbchen, fast so dünn wie Bleistifte.

»Wie steht’s mit Fingerabdrücken?«

»Werden wir kriegen, aber nicht von denen da.«

Bosch blickte auf und sah Sakai lächeln.

»Was? Sie hat welche im Beton zurückgelassen?«

Sakais besserwisserisches Lächeln platzte wie ein Luftballon. Bosch hatte ihm die Pointe ruiniert.

»Genau. Man könnte sagen, sie hat Eindruck gemacht. Wir werden Abdrücke sicherstellen und eventuell ihre Totenmaske, falls wir den Rest des Betonklotzes herausbekommen. Die Person, die den Beton gemischt hat, hat zu viel Wasser verwendet. Dadurch wurde die Masse sehr fein. Glück für uns. So kriegen wir Fingerabdrücke.«

Bosch beugte sich über die Bahre, um den Lederstreifen zu untersuchen, der um den Hals der Leiche geknotet war. Das Leder war dünn und schwarz, und Bosch entdeckte die Herstellungsnaht am Rand. Es war der Riemen einer Handtasche – wie die anderen vorher. Als er sich tiefer beugte, stach ihm der Geruch des Kadavers in die Nase. Der Umfang des Lederriemens am Hals war gering und entsprach ungefähr dem einer Weinflasche. Eng genug, um tödlich zu sein. Er sah, wo der Knoten in die jetzt dunkle Haut geschnitten und die Luft zum Leben abgewürgt hatte. Es war ein Schlingenknoten, der auf der rechten Seite mit der linken Hand zusammengezogen worden war. Wie bei den anderen. Church war Linkshänder gewesen.

Eine Sache war noch zu überprüfen. Die Signatur hatten sie es genannt.

»Keine Kleidung? Schuhe?«

»Nichts – wie bei den anderen. Erinnerst du dich?«

»Öffne den Sack ganz. Ich will den Rest sehen.«

Sakai zog den Reißverschluss vollständig nach unten. Bosch war sich nicht sicher, ob Sakai von der Signatur wusste, wollte es aber nicht erwähnen. Er beugte sich über die Leiche, sah nach unten und tat so, als ob er alles genau studieren würde, obwohl er eigentlich nur an den Zehennägeln interessiert war. Die Zehen waren verschrumpelt, schwarz und hatten Risse. Die Nägel hatten ebenfalls Risse und einige fehlten. An den Zehen, die noch Nägel hatten, konnte Bosch die Farbe erkennen. Hot Pink, das durch die bei der Verwesung entstandenen Flüssigkeiten, durch Staub und Zeit matt geworden war. Auf dem rechten großen Zeh entdeckte er die Signatur – oder das, was noch übrig geblieben war. Ein winziges, weißes Kreuz war sorgfältig auf den Nagel gemalt worden. Das Zeichen des Puppenmachers. Alle Leichen hatten es an dieser Stelle getragen.

Bosch fühlte sein Herz laut pochen. Er sah sich im Transportwagen um und begann klaustrophobisch zu werden. Die ersten Anzeichen von Paranoia begannen sich in seinem Verstand einzunisten. Sein Gehirn überschlug die Möglichkeiten. Wenn diese Leiche in allen Merkmalen mit den Opfern des Puppenmachers übereinstimmte, dann war Church der Mörder. Falls Church der Mörder dieser Frau war und inzwischen selbst tot, wer hatte dann den Brief am Eingangsschalter der Hollywood Division zurückgelassen?

Er richtete sich auf und betrachtete zum ersten Mal die Leiche im Ganzen. Nackt, zusammengeschrumpft und vergessen. Gab es andere dort im Beton, die darauf warteten, entdeckt zu werden?

»Mach zu«, sagte er zu Sakai.

»Er war’s, nicht wahr? Der Puppenmacher.«

Bosch antwortete nicht. Er stieg aus dem Wagen und zog den Reißverschluss an seinem Overall etwas auf, um frische Luft zu bekommen.

»He, Bosch«, rief Sakai aus dem Wagen heraus. »Reine Neugier. Wie habt ihr die hier gefunden? Wenn der Puppenmacher tot ist, wer hat euch dann erzählt, wo man suchen muss?«

Bosch gab auch darauf keine Antwort. Langsam ging er zurück unter die Plane. Es sah so aus, als ob die anderen noch immer nicht geklärt hatten, wie man den Beton, der die Leiche umschlossen hatte, herausholen konnte. Edgar stand herum und bemühte sich, nicht dreckig zu werden. Bosch gab ihm und Pounds ein Zeichen, und sie gingen zu einer Stelle links vom Graben, wo sie sprechen konnten, ohne gehört zu werden.

»Nun?«, fragte Pounds. »Was haben wir vor uns?«

»Es sieht nach Churchs Handschrift aus«, sagte Bosch.

»Scheiße«, fluchte Edgar.

»Weshalb bist du dir so sicher?«, wollte Pounds wissen.

»Soweit ich sehen kann, stimmt es in jedem Detail mit der Vorgehensweise des Puppenmachers überein. Einschließlich der Signatur. Sie ist da.«

»Die Signatur?«, fragte Edgar.

»Das weiße Kreuz auf dem Zehennagel. Dieses Detail haben wir während der Fahndung zurückgehalten, mit den Reportern konnten wir eine Vereinbarung treffen.«

»Ein Nachahmungstäter?«, schlug Edgar vor.

»Möglicherweise. Die Öffentlichkeit erfuhr erst von dem weißen Kreuz, als wir die Akte schlossen. Danach hat Bremmer von der Times das Buch über den Fall geschrieben. Darin wurde es erwähnt.«

»Also haben wir es mit einem Nachahmungstäter zu tun.«

»Das hängt davon ab, wann sie starb«, erwiderte Bosch. »Das Buch erschien ein Jahr nach Churchs Tod. Wenn sie danach starb, ist jemand in seine Fußstapfen getreten. Wenn sie vorher einbetoniert wurde, dann weiß ich nicht …«

»Scheiße«, sagte Edgar.

Bosch dachte einen Moment nach, bevor er wieder sprach.

»Wir haben es mit verschiedenen Möglichkeiten zu tun. Vielleicht ist es ein Nachahmungstäter oder Church hatte einen Komplizen, und wir haben’s übersehen. Oder – möglicherweise habe ich den falschen Typ umgelegt. Egal wer den Brief geschrieben hat, vielleicht sagt er die Wahrheit.«

Die letzten Worte riefen in der folgenden Stille die gleiche Reaktion hervor wie Hundescheiße auf dem Bürgersteig. Jeder weicht ihr vorsichtig aus, ohne sie allzu genau zu betrachten.

»Wo hast du den Brief?«, fragte Bosch endlich Pounds.

»In meinem Wagen. Ich hol ihn. Aber was meinst du damit, dass er eventuell einen Komplizen hatte?«

»Ich meine, falls Church für diese Leiche verantwortlich ist, von wem kommt dann der Brief? Er ist ja schließlich tot. Es kann nur jemand sein, der weiß, dass er der Täter war und wo er sie versteckte. In dem Fall ist die Frage, wer ist diese zweite Person? Ein Partner? Hatte Church bei seinen Morden einen Helfer, von dem wir nichts wussten?«

»Erinnerst du dich an den Hillside-Würger?«, warf Edgar ein. »Am Ende stellte sich heraus, dass es zwei waren. Vettern mit dem gemeinsamen Hang, junge Frauen zu töten.«

Pounds machte einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf, als wolle er einen Fall exerzieren, der seine Karriere gefährden könnte.

»Könnte es die Anwältin sein?«, sagte Pounds. »Nehmen wir mal an, Churchs Frau weiß, wo er die Leichen vergraben hat. Sie sagt es Chandler, und Chandler denkt sich diesen Plan aus, schreibt einen Brief wie der Puppenmacher und lässt ihn im Revier liegen. Eine todsichere Methode, dir den Prozess zu vermasseln.«

Bosch erwog die Möglichkeit. Sie schien plausibel zu sein. Doch dann entdeckte er die Brüche; sie zogen sich durch alle Hypothesen.

»Aber warum würde Church manche Leichen vergraben und andere nicht? Der Seelenklempner, der damals das Fahndungsteam beraten hat, vertrat die Ansicht, dass die Zurschaustellung der Opfer exhibitionistisch war. Gegen Ende, nach der siebten Leiche, begann er die Briefe an uns und die Zeitung zu schicken. Es ergibt keinen Sinn. Warum waren einige Leichen für jedermann zu finden und andere einbetoniert.«

»Da hast du recht«, sagte Pounds.

»Ich glaube an einen Nachahmungstäter«, meinte Edgar.

»Aber warum sollte man jemanden in allen Details nachahmen – einschließlich der Signatur – und dann die Leiche vergraben?«, fragte Bosch.

In Wirklichkeit fragte er nicht seine Kollegen, sondern sich selbst. Eine Weile standen sie schweigend, bis jeder von ihnen einzusehen begann, dass die plausibelste Erklärung war, dass der Puppenmacher noch lebte.

»Egal, wer es war, warum hat er den Brief geschrieben?«, sagte Pounds, er war sehr erregt. »Warum gibt er einen Brief für uns ab. Er war praktisch davongekommen.«

»Weil er beachtet werden will«, sagte Bosch. »Wie der Puppenmacher. Und wie dieser Prozess.«

Das Schweigen schlug wieder über ihnen zusammen.

»Der Schlüssel …« sagte Bosch endlich, »ist ihre Identität. Wir müssen herausfinden, wie lange sie einbetoniert war. Dann wissen wir, woran wir sind.«

»Also, was machen wir jetzt?«, fragte Edgar.

»Ich werde dir sagen, was wir tun«, erklärte Pounds. »Wir sagen kein Sterbenswörtchen zu niemandem. Fürs Erste. Nicht bevor wir absolut wissen, womit wir es zu tun haben. Wir warten die Autopsie ab und die Identifizierung. Wir stellen fest, wie lange das Mädchen tot ist und was sie tat, bevor sie verschwand. Dann entscheiden wir – entscheide ich, welche Taktik wir einschlagen. In der Zwischenzeit sagen wir nichts. Wenn das hier zu falschen Schlüssen führt, wird die Polizei schwer dafür bezahlen müssen. Wie ich sehe, sind einige Reporter schon hier. Ich werde mich um sie kümmern. Niemand sonst. Klar?«

Bosch und Edgar nickten. Pounds verließ sie und bewegte sich langsam durch die Trümmer zu den Reportern und Kameramännern, die sich hinter dem gelben Absperrband versammelt hatten.

Ein paar Momente schwiegen Bosch und Edgar und blickten ihm nach.

»Ich hoffe bloß, er weiß, was er da sagt«, fluchte Edgar.

»Er flößt einem wirklich Vertrauen ein, nicht wahr?«

»Und wie.«

Bosch ging hinüber zum Graben, und Edgar folgte.

»Was machst du mit dem Abdruck, den sie im Beton hinterließ?«

»Die Arbeiter meinen, man kann ihn nicht herausholen. Derjenige, der den Beton gemischt hat, hat sich nicht genau ans Rezept gehalten und zu viel Wasser und feinen Sand verwendet. Es ist wie Gips. Wenn wir den Klotz in einem Stück herausholen, zerbricht er unter dem eigenen Gewicht.«

»Also?«

»Donovan bereitet Gips vor. Er wird einen Abguss vom Gesicht nehmen. Für die Hand – nur die linke ist noch übrig, die rechte zerfiel, als wir gruben – wird Donovan Gummisilikon benutzen. Er sagt, damit haben wir die besten Aussichten, einen Abguss mit Fingerabdrücken zu erhalten.«

Bosch nickte. Ein paar Augenblicke beobachtete er Pounds und sah zum ersten Mal an diesem Tag etwas, was ihn erheiterte. Pounds sprach vor laufenden Kameras zu den Reportern – anscheinend hatte aber niemand ihn auf seine dreckverschmierte Stirn aufmerksam gemacht. Bosch steckte sich eine Zigarette an und wandte sich wieder Edgar zu.

»Hier waren also die Mietlagerräume?«, fragte er.

»Genau. Der Grundstücksbesitzer war vor ein paar Minuten hier und hat uns gesagt, dass der hintere Bereich in individuelle Lagerräume unterteilt war. Der Puppenmacher … äh, der Mörder, wer immer das war … könnte einen dieser Räume gemietet haben und war hier ungestört. Sein einziges Problem war der Lärm beim Ausstemmen der Betonplatte. Möglicherweise hat er nachts gearbeitet. Der Besitzer sagt, fast niemand war nachts in den Lagerräumen. Die Mieter hatten einen Schlüssel zum Hintereingang. Der Täter könnte hergekommen sein und die ganze Arbeit in einer Nacht gemacht haben.«

Die nächste Frage war offensichtlich; also beantwortete Edgar sie, bevor Bosch sie stellen konnte.

»Der Eigentümer kann uns den Namen des Mieters nicht geben. Zumindest nicht mit letzter Sicherheit. Die Unterlagen sind bei dem Feuer mitverbrannt. Seine Versicherung hat sich mit den meisten Leuten verglichen, die Entschädigung beantragten. Deren Namen werden wir erhalten. Aber er sagte, einige Mieter hätten keine Ansprüche gestellt und er habe von ihnen nie wieder etwas gehört. Er kann sich nicht mehr an alle Namen erinnern. Falls unser Typ darunter war, hat er sicherlich ein Alias benutzt. Wenigstens würde ich das machen, wenn ich einen Raum mieten würde, um eine Leiche unterm Fußboden zu vergraben.«

Bosch nickte und sah auf die Uhr. Es wurde allmählich Zeit zurückzufahren. Er merkte, dass er hungrig war. Allerdings blieb ihm wohl nicht genug Zeit, um zu essen. Bosch sah in den Graben hinab und erkannte den Kontrast zwischen dem alten und dem neuen Beton. Die alte Platte war fast weiß. Der Beton, der die Leiche umgeben hatte, war dunkelgrau. Dann fiel ihm ein roter Papierfetzen ins Auge, der aus einem grauen Betonstück unten im Graben hervorkam. Er ließ sich in die Grube fallen und hob den Brocken auf, der ungefähr die Größe eines Softballs hatte. Mit der Hand schlug er ihn auf die alte Betonplatte, bis er zerbrach. Das rote Papier gehörte zu einer zerdrückten und leeren Marlboro-Schachtel. Edgar holte einen Plastikbeutel für Beweisstücke aus seiner Jackentasche und hielt ihn für Bosch offen.

»Es muss mit der Leiche zusammen einbetoniert worden sein«, sagte er. »Guter Fang.«

Bosch kletterte wieder aus dem Graben und sah wieder auf die Uhr. Es war Zeit zu fahren.

»Verständige mich, wenn ihr sie identifiziert habt«, bat er Edgar.

Nachdem er den Overall in den Kofferraum geworfen hatte, steckte er sich wieder eine Zigarette an und beobachtete Pounds, der gerade seine kunstvoll geplante »improvisierte« Pressekonferenz beendete. An den Kameras und den teuren Klamotten erkannte Harry, dass die meisten Reporter vom Fernsehen waren. Bremmer von der Times stand am Rand des Rudels. Er hatte ihn seit einiger Zeit nicht gesehen und stellte fest, dass er zugenommen hatte und einen Vollbart trug. Bosch wusste, dass Bremmer am Rande des Geschehens wartete, bis die Fernsehfragen erledigt waren, sodass er Pounds mit Fragen konfrontieren konnte, die sich nicht so leicht beantworten ließen.

Bosch rauchte und wartete fünf Minuten, bis Pounds fertig war. Er lief Gefahr, zu spät ins Gericht zu kommen, aber er wollte den Brief sehen. Als Pounds endlich die Reporter abgefertigt hatte, gab er Bosch ein Zeichen, ihm zum Auto zu folgen. Bosch setzte sich auf den Beifahrersitz, und Pounds reichte ihm den Brief.

Harry nahm sich viel Zeit, den Brief zu untersuchen. Er war mit den bekannten krakeligen Druckbuchstaben geschrieben. Der Experte von der Abteilung für Dokumente hatte erklärt, bei den Druckbuchstaben handele es sich um Philadelphia-Stil. Die Neigung nach links komme dadurch zustande, dass ein Linkshänder etwas mit seiner ungeübten rechten Hand geschrieben habe.

In der Zeitung steht, der Prozess, er hebt an

Ein Urteil zu fällen über den Puppenmachermann

Und die Kugel gefeuert von Bosch in Treu und Glaub

Doch die Puppen wissen, ich bin noch zugang mit Verlaub

 

An Western liegt die Stell, mein Herz zerspringt

Denk ich ans Püppchen, das ruht unter Bing’s

Oh Graus, treuer Bosch, ein Schuss aufs falsche Ziel

Die Jahre vergingen, aber ich bin noch im Spiel

Bosch wusste, dass man Stil imitieren konnte. Aber irgendetwas an dem Gedicht fraß sich in sein Herz. Es war wie die anderen. Die gleichen miesen Schülerreime, der gleiche halbgebildete Versuch, sich poetisch auszudrücken. Verwirrung und Schmerz füllten seine Brust.

Er ist es, dachte er. Er ist es.

3

»Damen und Herren der Jury«, fing U.S.-District-Richter Alva Keyes an. »Wir beginnen den Prozess mit den Eröffnungsplädoyers beider Seiten. Sie sind nicht als Beweis zu verstehen, sondern eher als Baupläne oder Straßenkarten, mit denen die Rechtsanwälte darlegen, welchen Weg sie einzuschlagen denken. Noch einmal, es sind keine Beweise. Sie werden einige erstaunliche Behauptungen hören. Nur weil sie aufgestellt werden, müssen sie aber nicht wahr sein; schließlich haben wir es mit Rechtsanwälten zu tun.«

Die Reaktion der Jury und der Zuschauer war höfliches Gelächter. Die Heiterkeit wurde noch dadurch erhöht, dass es sich im Südstaatenakzent des Richters angehört hatte, als habe er die Rechtsanwälte als Rechtsverdreher bezeichnet. Sogar Money Chandler lächelte. Bosch drehte sich auf seinem Platz am Tisch der Verteidigung um und sah, dass die Zuschauerbänke in dem holzgetäfelten, sechs Meter hohen Saal zur Hälfte besetzt waren. In der vordersten Reihe auf der Klägerseite saßen acht Personen, die zur Familie und zum Freundeskreis von Norman Church gehörten. Die Witwe selbst saß neben Chandler am Klägertisch.

Außerdem war ein halbes Dutzend Gerichtsratten anwesend, alte Männer, die nichts Besseres zu tun hatten, als die Lebensdramen anderer Menschen zu verfolgen. Des Weiteren waren noch einige Referendare und Jurastudenten da, die die große Honey Chandler in Aktion sehen wollten, sowie eine Gruppe Reporter mit gezückten Bleistiften. Die Eröffnung lieferte immer eine gute Story, weil – wie der Richter erklärt hatte – die Anwälte sagen konnten, was sie wollten. Nach dem heutigen Tag würden die Reporter nur noch ab und zu vorbeikommen; bis zu den Abschlussplädoyers und dem Urteil würde es jedoch nicht mehr viel Berichtenswertes geben.

Außer es geschah etwas Ungewöhnliches.

Bosch sah direkt hinter sich. Dort saß niemand auf den Bänken. Er wusste, Sylvia Moore würde nicht da sein; das hatten sie vorher besprochen. Sie sollte nicht Zeuge des Spektakels werden. Er hatte ihr gesagt, es sei eine reine Formalität und es würde zum Berufsrisiko eines Polizisten gehören, verklagt zu werden, weil man seine Arbeit tat. Aber der wahre Grund, warum er sie nicht hierhaben wollte, war, dass er keine Kontrolle über die Situation hatte. Er musste am Tisch der Verteidigung sitzen und als Zielscheibe dienen. Alles Mögliche könnte und würde wahrscheinlich zur Sprache kommen. Er wollte nicht, dass sie dabei war.

Er fragte sich jetzt, ob die Jury die leeren Plätze hinter ihm sah und daraus schließen würde, dass er schuldig war, weil niemand gekommen war, ihn moralisch zu unterstützen.

Als das Gelächter verebbt war, wandte sich sein Blick wieder dem Richter zu. Keyes sah in seiner Robe auf dem Richterstuhl beeindruckend aus. Er war groß und stattlich und hatte die kräftigen Unterarme und Hände vor dem weiten Brustkorb verschränkt, ein Bild selbstgewisser Macht. Sein kahl werdender und sonnengeröteter Schädel war groß und ebenmäßig geformt, an den Rändern eingefasst von grauem Haar, und suggerierte ein immenses Rechtswissen sowie einen scharfen juristischen Verstand. Er stammte aus den Südstaaten. Als Anwalt hatte er sich auf Bürgerrechtsverletzungen spezialisiert und sich einen Namen gemacht, als er die Polizei von Los Angeles wegen der unverhältnismäßig hohen Anzahl von Schwarzen, die aufgrund von Würgegriffen gestorben waren, verklagt hatte. Er war von Präsident Jimmy Carter zum Bundesrichter ernannt worden, kurz bevor dieser wieder nach Georgia zurückgeschickt wurde. Er war seither der unumschränkte Herrscher von Gerichtssaal 4.

Harrys Anwalt von der städtischen Rechtsabteilung, Rod Belk, hatte verzweifelt versucht, den Richter aus formellen Gründen vom Verfahren auszuschließen und einen anderen Richter zu bekommen. Am besten jemanden ohne Vorgeschichte als Streiter für Bürgerrechte. Aber er war gescheitert.

Bosch nahm es allerdings nicht so tragisch wie Belk. Er wusste, dass Keyes aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie die Anwältin der Klägerin, Honey Chandler: misstrauisch und zuweilen sogar voller Zorn der Polizei gegenüber. Es war jedoch auch zu spüren, dass er letztendlich ein fairer Mann war. Und mehr glaubte Bosch nicht zu benötigen, um heil aus der Sache herauszukommen. Ein faires Verfahren. Schließlich wusste er im Innersten, dass er sich in dem Silverlake-Apartment korrekt verhalten hatte. Er hatte das Richtige getan.

»Es ist Ihre Aufgabe zu entscheiden, ob die Behauptungen der Rechtsanwälte im Prozess dann bewiesen werden«, sagte der Richter. »Vergessen Sie das nicht. Nun, Ms. Chandler, Sie machen den Anfang.«

Honey Chandler nickte ihm zu und stand auf. Sie schritt zum Rednerpult, das zwischen den Tischen der Kläger- und Beklagtenseite stand. Richter Keyes hatte zuvor strikte Richtlinien festgelegt. In seinem Gerichtssaal gab es kein Herumlaufen, kein Herantreten an den Zeugenstand oder an die Jurybank. Alles, was von den Rechtsanwälten laut gesagt wurde, war vom Rednerpult aus zu tun. Chandler wusste, wie strikt der Richter seine Regeln befolgt haben wollte, und bat daher ausdrücklich, das Rednerpult etwas zur Seite drehen zu dürfen, damit sie die Jury beim Sprechen ansehen konnte. Der Richter gab ihr mit strenger Miene die Erlaubnis.

»Guten Tag«, begann sie. »Der Richter hat recht, wenn er Ihnen sagt, dass diese Erklärung nichts mehr als eine Straßenkarte ist.«

Ausgezeichnete Strategie, dachte Bosch vom zynischen Standpunkt aus, mit dem er den ganzen Fall verfolgte. Schmier dem Richter mit dem ersten Satz Honig ums Maul. Er beobachtete, wie sie ihre Notizen auf dem gelben Block konsultierte. Über dem obersten Knopf ihrer Bluse war eine Spange mit einem schwarzen Onyx angebracht. Der Stein war flach und wirkte tot – wie das Auge eines Hais. Sie hatte ihr Haar hinten in einem einfachen strengen Knoten zusammengebunden. Eine Strähne hatte sich jedoch gelöst und verlieh ihr das Image einer Frau, die nicht mit ihrem Aussehen beschäftigt ist, sondern sich ganz auf die Paragraphen, auf den Fall, auf die himmelschreiende Vergewaltigung von Recht und Gesetz durch den Beklagten konzentriert. Bosch glaubte, dass sie wahrscheinlich die Haarsträhne absichtlich herausgezogen hatte.

Während er sie anschaute, erinnerte sich Bosch an das mulmige Gefühl im Bauch, als er gehört hatte, dass sie die Anwältin von Churchs Frau war. Dieser Umstand war für ihn viel beunruhigender als die Leitung des Prozesses durch Richter Keyes. Sie war erschreckend erfolgreich. Sie hatte nicht ohne Grund den Vornamen Money.

»Ich möchte mit Ihnen ein Stück des Weges gehen«, sagte sie, und Bosch fragte sich, ob sie im Begriff war, sich einen Südstaatenakzent zuzulegen, »und kurz erklären, worum es in diesem Fall geht und was die Beweisstücke aussagen werden. Es geht in diesem Fall um Bürgerrechte, um den tragischen und durch die Polizei verschuldeten Tod von Norman Church.«

An dieser Stelle unterbrach sie, jedoch nicht um auf ihren gelben Block zu sehen, sondern um die gespannte Erwartung, was sie als Nächstes sagen würde, auf sich zu ziehen. Bosch sah zur Jury hinüber. Fünf Frauen, sieben Männer. Drei Schwarze, drei Latinos, ein Asiate und fünf Weiße. Mit angehaltenem Atem folgten sie Chandlers Ausführungen.

»In diesem Fall«, fuhr sie fort, »geht es um einen Polizisten, der nicht mit seinem Job und der großen Macht, die er ihm gab, zufrieden war. Er wollte auch Ihren Job, den von Richter Keyes und den der Justizverwaltung, die die von Richter und Jury beschlossenen Urteile vollstreckt. Er wollte alles. Hier geht es um Detective Harry Bosch, der am Tisch des Beklagten sitzt.«

Dabei deutete sie auf Bosch und kostete jede Silbe des Worts »Beklagten« aus. Belk stand sofort auf und erhob Einspruch.

»Es besteht keinerlei Veranlassung für Miss Chandler, der Jury meinen Klienten vorzuführen und sarkastische Stimmübungen zu machen. Es stimmt, dass wir am Tisch der Beklagtenseite sitzen. Aber nur, weil dies ein Zivilprozess ist und in diesem Land jeder jeden verklagen kann, sogar die Familie eines …«

»Einspruch Euer Ehren«, rief Chandler. »Er benutzt seinen Einspruch, um den Ruf von Mr. Church, der nie eines Verbrechens für schuldig befunden wurde, weiter zu zerstören, weil …«

»Genug!«, donnerte Richter Keyes. »Einspruch stattgegeben. Ms. Chandler, es gibt keinen Grund, mit dem Finger auf Leute zu zeigen. Wir wissen, wer wir sind. Ersparen Sie uns auch hasserfüllte Betonung von Wörtern. Wörter sind schön und hässlich. Lassen Sie sie für sich wirken. Was Sie angeht, Mr. Belk, werde ich sehr verärgert, wenn ein Anwalt das Eröffnungs- oder Abschlussplädoyer der Gegenseite unterbricht. Sie werden Ihre Gelegenheit zu sprechen bekommen. Ich würde Ihnen raten, nicht mehr gegen Ms. Chandlers Ausführungen Einspruch zu erheben, es sei denn, die Rechte Ihres Klienten werden in ungeheuerlicher Weise verletzt. Meiner Ansicht nach rechtfertigt ein Zeigefinger nicht einen Einspruch.«

»Vielen Dank, Euer Ehren«, sagten Belk und Chandler einstimmig.

»Fahren Sie fort, Ms. Chandler. Wie ich in meinen Räumen heute Morgen sagte, wünsche ich, dass die Eröffnungsplädoyers heute abgeschlossen werden. Und um vier habe ich eine andere Verpflichtung.«