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Seit drei Jahren arbeitet Renée Ballard nun schon in der Late Show, der berühmt-berüchtigten Nachtschicht des LAPD. Als sie in den frühen Morgenstunden von einem Routineeinsatz in das verlassene Detective Bureau der Hollywood Division zurückkehrt, um ihren Bericht zu schreiben, erwischt Ballard einen grauhaarigen Unbekannten mit Schnurrbart, der sich an den Aktenschränken zu schaffen macht. Der Mann ist kein Geringerer als Harry Bosch. Der pensionierte Detective hat versucht, die Akte der fünfzehnjährigen Prostituierten Daisy Clayton mitgehen zu lassen, deren Leiche vor neun Jahren in einem Müllcontainer gefunden wurde. Kurzerhand schmeißt Ballard den Ex-Ermittler raus - um wenig später zu erkennen, dass der erschütternde Fall einen zweiten Blick lohnt. Ballard und Bosch wird klar, dass sie gemeinsam viel erreichen können: Sie geht mit Biss an die Sache ran und kann die Ressourcen der Polizei nutzen, er hat reichlich Erfahrung und nichts zu verlieren. Als ebenso ungewöhnliches wie perfektes Ermittlerduo machen sich die beiden Einzelgänger zusammen an die Arbeit.
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Seitenzahl: 512
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Michael Connelly
Night Team
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb
Kampa
Für Detective Mitzi Roberts,
die mich zu Renée inspiriert hat.
Die Streifenpolizisten hatten die Haustür offen gelassen. Sie glaubten, ihr einen Gefallen zu tun, wenn sie das Haus lüfteten. Aber es war gegen die Vorschriften zur Beweismittelsicherung an einem Tatort. Keime konnten hinein- und hinausgelangen. Touch-DNA konnte von einem Luftzug fortgeweht werden. Gerüche bestanden aus Partikeln. Lüftete man an einem Tatort, gingen Beweise verloren.
Aber das alles wussten die Streifenpolizisten nicht so genau. Ballard hatte vom Schichtleiter nur mitgeteilt bekommen, dass die Leiche schon zwei, drei Tage im Haus lag – bei ausgeschalteter Klimaanlage. Entsprechend stank es dort, seinen Worten nach, wie in einem Stinktierbau.
Am Straßenrand waren zwei Streifenwagen geparkt. Zwischen ihnen standen drei uniformierte Polizisten und warteten auf Ballard. Sie konnte gut verstehen, dass sie nicht bei der Leiche im Haus geblieben waren.
Ein in etwa hundert Metern Höhe kreisender Hubschrauber hatte seinen Suchscheinwerfer auf die Straße gerichtet. Es sah aus, als hinge er an einer Leine aus Licht, die ihn am Wegfliegen hinderte. Ballard machte den Motor aus, blieb aber noch in ihrem Zivilstreifenwagen sitzen. Von der Stelle, an der sie angehalten hatte, konnte sie zwischen zwei Häusern hindurch die Lichter der Stadt sehen, die sich wie ein riesiger Teppich unter ihr ausbreiteten. Nicht viele wussten, dass sich der Hollywood Boulevard eng und kurvig so weit in die Hügel heraufwand. Hier oben gab es nur noch Wohnhäuser, es war nichts mehr vom Glamour und Schmutz der Touristenattraktion Hollywood Boulevard zu spüren, wo die Leute mit kostümierten Superhelden und Sternen im Gehsteig Selfies machten. Hier oben waren Macht und Geld zu Hause, und Ballard wusste, dass ein Mord in den Hügeln immer die tollen Hechte des LAPD anlockte. Sie war nur eine Art Übergangslösung und würde den Fall nicht lang behalten. Je nachdem, wen es erwischt hatte und wie prominent er war, würde sie ihn bald an die Mordkommission des West Bureau oder vielleicht sogar an die Robbery-Homicide Division Downtown abgeben müssen.
Sie riss sich vom Anblick des Lichtermeers los und machte die Innenbeleuchtung an, um ihren Notizblock besser sehen zu können. Sie kam gerade von ihrem ersten Einsatz dieser Schicht, einem Einbruch in einer Seitenstraße der Melrose Avenue, und hatte sich bereits alles für den Bericht aufgeschrieben, den sie bei ihrer Rückkehr in die Hollywood Division verfassen wollte. Sie schlug eine neue Seite auf, notierte sich Zeitpunkt – 1:47 Uhr – und Adresse und fügte einen Vermerk über die klare Sicht und die milde Witterung hinzu. Sie machte die Innenbeleuchtung wieder aus, ließ aber das Blaulicht an. Dann stieg sie aus, öffnete die Heckklappe und nahm ihren Tatortkoffer heraus.
Es war Montagmorgen, und sie hatte noch eine ganze Woche vor sich, in der sie allein Dienst hatte. Deshalb musste sie ihren Hosenanzug mindestens noch ein weiteres Mal, wenn nicht sogar öfter tragen und durfte ihn sich nicht mit Verwesungsgeruch versauen. Sie zog ihr Jackett aus und legte es ordentlich gefaltet auf eine der leeren Beweismittelboxen im Kofferraum ihres Streifenwagens. Dann nahm sie ihren Tatortoverall aus einer Plastiktüte und streifte ihn sich über Stiefel, Hose und Bluse. Nachdem sie den Reißverschluss bis unters Kinn zugezogen hatte, stellte sie erst einen Fuß, dann den anderen auf die Stoßstange, um die Klettverschlüsse um ihre Fußgelenke herum zu verschließen. Nachdem sie das auch an ihren Handgelenken gemacht hatte, waren ihre Kleider luftdicht versiegelt.
Sie nahm ein paar Gummihandschuhe und eine Atemmaske, die sie bei Obduktionen verwendet hatte, als sie noch bei der RHD war, aus dem Tatortkoffer, schloss den Kofferraum und ging zu den drei Streifenpolizisten. Es waren Sergeant Stan Dvorek, der für dieses Viertel zuständig war, und zwei Officers, denen ihre Ausdauer bei der Nachtschicht das ereignislose und wenig stressige Hollywood-Hills-Revier eingetragen hatte.
Die Haare auf Dvoreks Kopf begannen sich zu lichten, und sein Rettungsring zeugte von zu vielen Jahren in einem Streifenwagen. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und lehnte am Kotflügel eines der Streifenwagen. Alle nannten ihn nur Relic, das Relikt. Jeder, der sich für die Nachtschicht meldete und es dort lange genug aushielt, bekam irgendwann einen Spitznamen. Dvorek war der aktuelle Rekordhalter und hatte vor einem Monat sein Zehnjähriges gefeiert. Seine zwei Begleiter, Anthony Anzelone und Dwight Doucette, waren Caspar und Deuce. Ballard, die erst drei Jahre bei der Friedhofsschicht war, hatte noch keinen Spitznamen verpasst bekommen. Zumindest keinen, von dem sie wusste.
»Na, Männer«, sagte sie.
»Wen haben wir denn da?«, sagte Dvorek. »Sally Ride? Wann startet das Space Shuttle?«
Damit ihr Outfit besser zu sehen war, breitete Ballard die Arme aus. Sie wusste, dass der weite Overall wie ein Raumanzug aussah. Sie schloss nicht aus, dass sie gerade einen neuen Spitznamen bekommen hatte.
»Wohl nie mehr«, sagte sie. »Aber warum habt ihr so fluchtartig das Haus verlassen?«
»Riecht ein bisschen streng da drinnen«, sagte Anzelone.
»Ja, richtig gut abgehangen«, fügte Doucette hinzu.
Relic löste sich vom Kotflügel des Streifenwagens und kam zur Sache.
»Eine Weiße, Mitte fünfzig, sieht nach Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand aus, dazu mehrere Fleischwunden im Gesicht. Übel zugerichtet. Im Haus ziemliches Chaos. Könnte ein Einbruch gewesen sein.«
»Sexuelle Gewalt?«
»Ihr Nachthemd ist hochgezogen. Sie ist entblößt.«
»Okay, dann gehe ich mal rein. Irgendein Freiwilliger, der mir alles zeigt?«
Keiner der drei meldete sich.
»Die höchste Nummer hast du, Deuce«, sagte Dvorek.
»Scheiße«, war Doucettes Kommentar.
Da er derjenige von den dreien war, der am kürzesten dabei war, hatte er die höchste Dienstnummer. Er zog sein blaues Halstuch über Mund und Nase.
»Du siehst aus wie einer dieser beschissenen Crips«, sagte Anzelone.
»Warum? Weil ich schwarz bin?«, schoss Doucette zurück.
»Weil du ein blaues Halstuch überm Gesicht hast«, sagte Anzelone. »Wäre es rot, hätte ich gesagt, du siehst wie ein Blood aus.«
»Führ sie einfach rum«, sagte Dvorek. »Ich will nicht die ganze Nacht hier rumstehen.«
Doucette machte dem Gefrotzel ein Ende und ging auf die Haustür zu. Ballard folgte ihm.
»Wieso haben wir überhaupt erst so spät davon erfahren?«, fragte sie.
»Die Nichte des Opfers, sie lebt in New York, hat einen Nachbarn angerufen«, sagte Doucette. »Er hat einen Schlüssel, und sie hat ihn gebeten, nach ihrer Tante zu sehen, weil sie schon ein paar Tage kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hat. Sie hat weder auf Whatsapps noch auf Anrufe reagiert. Der Nachbar geht also zu ihr rüber, schließt die Haustür auf, riecht den Gestank und ruft bei uns an.«
»Um ein Uhr früh?«
»Nein, wesentlich früher. Aber wegen eines Vier-fünf-neun-Verdächtigen in Park La Brea wurde gestern Abend die ganze Spätschicht bis Schichtende für die Peripheriesicherung benötigt. Und weil niemand verfügbar war, haben wir es dann beim Appell zugeteilt bekommen und sind sofort losgefahren.«
Ballard nickte. Die Peripheriesicherung, mit der in der Regel ein Raubüberfallverdächtiger am Entkommen gehindert werden sollte, hörte sich nach einer Ausrede an. Höchstwahrscheinlich war der Einsatz von Schicht zu Schicht weitergereicht worden, weil niemand Lust darauf hatte, nach einer Leiche zu sehen, die schon längere Zeit in einem geschlossenen Haus vor sich hin moderte.
»Wo ist der Nachbar jetzt?«, fragte sie.
»Wieder bei sich zu Hause«, sagte Doucette. »Wahrscheinlich hat er ausgiebig geduscht und sich WICK VapoRub in die Nase geschmiert. Er wird nie mehr derselbe sein.«
»Um ihn ausschließen zu können, müssen wir ihm Fingerabdrücke abnehmen – selbst wenn er angibt, das Haus nicht betreten zu haben.«
»Alles klar. Ich fordere den Abdruckwagen an.«
Ballard streifte sich Gummihandschuhe über und folgte Doucette ins Haus. Die Atemmaske nützte so gut wie nichts. Obwohl sie durch den Mund atmete, schlug ihr der scheußliche Leichengeruch mit voller Wucht entgegen.
Doucette war groß und breitschultrig. Sie konnte erst etwas sehen, als er im Wohnzimmer stehen blieb und sie um ihn herumging. Das Haus stand auf Stelzen an einem steilen Abhang, sodass man durch das Panoramafenster einen atemberaubenden Blick auf das Lichtermeer von L.A. hatte. Selbst um diese Uhrzeit schien die Stadt voller Leben und großartiger Möglichkeiten.
»War es im Haus dunkel, als ihr reingegangen seid?«, fragte Ballard.
»Als wir hergekommen sind, hat nirgendwo Licht gebrannt«, sagte Doucette.
Das merkte sich Ballard. Dass kein Licht an gewesen war, konnte heißen, dass der Einbruch tagsüber erfolgt war oder spät nachts, als die Hausbesitzerin schon im Bett gelegen hatte. Sie wusste, dass die meisten Einbrüche tagsüber passierten.
Doucette, der ebenfalls Handschuhe trug, drückte auf einen Wandschalter neben der Tür, worauf eine Reihe von Deckenleuchten anging. Das Innere des Hauses bestand aus einem einzigen loftartigen Raum, der so angelegt war, dass man den Blick durch das Panoramafenster von Wohnzimmer, Küche und Esszimmer gleichermaßen genießen konnte. Als Gegengewicht dazu hingen an der gegenüberliegenden Wand drei großformatige Gemälde mit den roten Lippen einer Frau.
Auf dem Boden neben der Kochinsel lagen Glasscherben, aber ein zerbrochenes Fenster konnte Ballard nirgendwo sehen.
»Irgendwelche Einbruchsspuren?«, fragte sie.
»Wir haben keine gesehen«, sagte Doucette. »Es liegen zwar überall zerbrochene Sachen rum, aber ein Fenster wurde nicht eingeschlagen. Wir haben keine Stelle gefunden, wo der Täter ins Haus eingedrungen sein könnte.«
»Okay.«
»Die Leiche ist dort hinten.«
Er betrat einen vom Wohnzimmer abgehenden Gang und hielt als zusätzlichen Schutz gegen den stärker werdenden Gestank seine Hand auf das Halstuch um seinen Mund.
Ballard folgte ihm. Das Haus war ein eingeschossiger Bau im Contemporary-Stil. Sie nahm an, dass es in den fünfziger Jahren gebaut worden war, als eine Etage als ausreichend gegolten hatte. Alles, was heutzutage in den Hügeln hochgezogen wurde, hatte mehrere Level, um so viel an Wohnfläche herauszuholen, wie die Baubestimmungen zuließen.
Sie kamen an den offenen Türen eines Gästezimmers und eines Bads vorbei, bevor sie das Schlafzimmer betraten. Dort herrschte ziemliches Chaos. Der Schirm einer umgefallenen Lampe war verbeult, die Birne zerbrochen. Über das Bett waren wahllos Kleider verstreut, und ein Stielglas, das allem Anschein nach Rotwein enthalten hatte, lag in zwei Teile zerbrochen auf dem weißen Teppich, auf dem sich ein dunkelroter Fleck gebildet hatte.
»Da drinnen.«
Doucette deutete durch die offene Tür des Bads und machte einen Schritt zurück, um Ballard als Erste eintreten zu lassen.
Ballard blieb in der Tür stehen. Das Opfer lag mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden. Sie war eine große korpulente Frau und hatte Arme und Beine von sich gestreckt. Ihre Augen waren offen, ihre Unterlippe war aufgeplatzt, und in ihrer Wange klaffte eine Schnittwunde, deren rosafarbenes Gewebe grau verfärbt war. Die Lache aus getrocknetem Blut, die sich auf den weißen Fliesen um ihren Kopf gebildet hatte, stammte von einer nicht zu sehenden Kopfwunde.
Ihr mit Kolibris bedrucktes Flanellnachthemd war über ihre Hüften hochgezogen und über dem Bauch und um die Brüste gerafft. Ihre bloßen Füße standen etwa einen Meter auseinander. An den äußeren Genitalien waren keine blauen Flecken oder Verletzungen.
Ballard konnte sich in einem deckenhohen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sehen. Sie ging in der Türöffnung in die Hocke, legte die Hände auf ihre Oberschenkel und hielt auf dem Fliesenboden nach Fußabdrücken, Blutflecken und anderen Spuren Ausschau. Außer der getrockneten Blutlache um den Kopf der toten Frau war auf dem Boden ein immer wieder unterbrochener Streifen aus kleinen Blutflecken zu erkennen, der sich vom Bad ins Schlafzimmer zog.
»Schließ die Haustür, Deuce«, sagte sie.
»Äh, okay. Aus einem bestimmten Grund?«
»Tu’s einfach. Und dann schau in die Küche.«
»Weswegen?«
»Ob dort eine Schale mit Wasser auf dem Boden steht. Mach schon.«
Doucette ging, und Ballard hörte, wie sich seine schweren Schritte im Flur entfernten. Sie richtete sich auf, betrat das Bad und ging vorsichtig an der Wand entlang zu der Toten. Dann ging sie wieder in die Hocke. Sie stützte sich mit einer Hand auf dem Fliesenboden ab und beugte sich vor, um so die Kopfwunde vielleicht besser sehen zu können. Aber das dunkelbraune Haar der Frau war zu dicht und lockig, um sie ausmachen zu können.
Ballard schaute sich im Bad um. Die Wanne war von einem Marmorsims umgeben, auf dem alle möglichen Behälter mit Badezusätzen und mehrere vollständig heruntergebrannte Kerzen standen. Auch ein zusammengelegtes Badetuch lag dort.
Ballard veränderte ihre Stellung und schaute in die Badewanne. Sie war leer, aber der Abfluss mit einem Stöpsel verschlossen. Ballard drehte kurz das kalte Wasser auf und stellte es wieder ab.
Sie richtete sich auf und trat an den Rand der Wanne. Sie hatte so viel Wasser eingelassen, dass es den Verschluss bedeckte. Sie wartete und schaute.
»In der Küche ist eine Schale mit Wasser.«
Ballard drehte sich um. Doucette war zurückgekommen.
»Hast du die Haustür zugemacht?«, fragte sie.
»Sie ist zu.«
»Gut, dann schau dich im Haus um. Wahrscheinlich ist es eine Katze. Irgendein kleines Tier jedenfalls. Am besten, du rufst Animal Control an.«
»Was?«
Ballard deutete auf die Tote.
»Das war ein Tier. Ein hungriges. Sie machen sich als Erstes über das weiche Gewebe her.«
»Willst du mich verarschen, oder was?«
Ballard schaute in die Badewanne. Die Hälfte des Wassers, das sie eingelassen hatte, war abgelaufen. Der Gummistöpsel war nicht mehr dicht.
»Die Gesichtsverletzungen haben nicht geblutet«, sagte Ballard. »Sie müssen ihr beigebracht worden sein, als sie bereits tot war. Gestorben ist sie von dem Schlag auf den Hinterkopf.«
Doucette nickte. »Jemand hat sich ihr von hinten genähert und ihr den Schädel eingeschlagen.«
»Nein«, sagte Ballard. »Es war ein Unfall.«
»Hä?«
Ballard deutete auf die Gegenstände auf dem Badewannenrand.
»Dem Verwesungszustand nach zu schließen, ist es vor drei Tagen passiert«, sagte sie. »Sie will ins Bett gehen und löscht alle Lichter im Haus. Die Lampe, die im Schlafzimmer auf den Boden gefallen ist, war vermutlich die einzige, die sie angelassen hat. Sie kommt hier rein, lässt die Wanne einlaufen, zündet die Kerzen an, legt sich das Badetuch bereit. Vom heißen Wasser beschlagen die Fliesen und sie rutscht aus – möglicherweise, als sie merkt, dass sie das Weinglas auf dem Nachttisch hat stehen lassen. Oder als sie das Nachthemd hochgezogen hat, um in die Wanne zu steigen.«
»Und die umgefallene Lampe und das Glas Rotwein?«, fragte Doucette.
»Das war die Katze.«
»Und auf das alles bist du gekommen, während du hier gestanden hast?«
Ballard ging nicht auf die Frage ein.
»Sie war nicht die Schlankste«, sagte sie. »Eine plötzliche Richtungsänderung vielleicht, als sie sich ausgezogen hat – ›oh, ich habe ja den Wein vergessen‹ –, und sie rutscht aus und schlägt sich den Kopf an der Wanne an. Sie stirbt, die Kerzen brennen runter, das Wasser läuft langsam ab.«
Doucette quittierte ihre Erklärung mit Schweigen. Ballard blickte auf das verunstaltete Gesicht der Toten hinab.
»Spätestens am zweiten Tag hat die Katze Hunger bekommen«, fuhr sie fort. »Sie war wahrscheinlich schon halb am Durchdrehen. Dann hat sie die Tote entdeckt.«
»Also echt«, sagte Doucette.
»Hol deinen Partner, Deuce. Seht zu, dass ihr die Katze findet.«
»Moment. Warum ist sie schon im Nachthemd, als sie in die Badewanne steigen will? Das zieht man doch erst nach dem Baden an.«
»Wieso? Vielleicht kommt sie von der Arbeit oder von einem Abendessen nach Hause, schlüpft schon in ihr Nachthemd, macht es sich bequem, sieht vielleicht noch ein bisschen fern … und beschließt dann, ein Bad zu nehmen.«
Ballard deutete auf den Spiegel.
»Außerdem war sie sehr dick. Vielleicht war es ihr unangenehm, sich nackt im Spiegel zu sehen. Sie kommt also nach Hause, schlüpft in ein Nachthemd und behält es an, bis sie in die Wanne steigt.«
Ballard drehte sich um und ging an Doucette vorbei aus dem Bad.
»Seht zu, dass ihr die Katze findet.«
Um drei Uhr morgens hatte Ballard ihre Ermittlungen abgeschlossen und war wieder in der Hollywood Division, wo sie sich in einem Abteil des Detective Bureau an die Arbeit machte. Tagsüber wimmelte es in dem riesigen Raum mit seinen insgesamt 48 Arbeitsplätzen von Detectives, aber nach Mitternacht war er verlassen, und Ballard konnte sich den Schreibtisch aussuchen. Sie entschied sich für einen in der hintersten Ecke, weit fort von den Nebengeräuschen und dem Polizeifunkgebrabbel aus dem Büro des Schichtleiters am Ende des Flurs. Außerhalb der üblichen Dienstzeiten konnte sie hinter dem Computermonitor und der Trennwand des Abteils in Deckung gehen, wie ein Soldat in einem Schützenloch, und dort ungestört ihre Berichte schreiben.
Zuerst erledigte sie den Einbruch, zu dem sie zu Beginn der Schicht gerufen worden war, dann wandte sie sich der Toten zu, die sich an der Badewanne den Kopf angeschlagen hatte. Da noch keine Obduktion vorgenommen worden war, gab sie die Todesursache als »ungeklärt« an. Zu ihrer Absicherung hatte sie einen Tatortfotografen angefordert und alles, die Katze eingeschlossen, dokumentiert. Ihr war klar, dass die Angehörigen der Toten und vielleicht sogar ihre Vorgesetzten möglicherweise Zweifel anmeldeten, wenn sie den Vorfall als Unfalltod einstufte. Aber sie war sicher, dass bei der Obduktion keine Fremdeinwirkung festgestellt und die Todesursache auf einen Unfall zurückgeführt würde.
Ballard hatte allein Dienst. Ihr Partner John Jenkins war wegen eines Todesfalls beurlaubt. Für die Detectives der Nachtschicht gab es keine Ersatzleute, und Ballard würde mindestens eine Woche allein Dienst tun müssen. Wann genau Jenkins zurückkommen würde, war noch nicht absehbar. Seine Frau war nach einem langen, schmerzhaften Krebsleiden gestorben. Das hatte ihn stark mitgenommen, und Ballard hatte ihm angeboten, sich ruhig Zeit zu lassen, um über den Verlust hinwegzukommen.
Sie schlug in ihrem Notizblock die Seite mit den Einträgen zum zweiten Einsatz dieses Abends auf und öffnete ein Tatverlaufsformular auf ihrem Rechner. Bevor sie sich an die Arbeit machte, neigte sie den Kopf auf die Seite und hielt den Kragen ihrer Bluse an ihre Nase. Sie glaubte, einen schwachen Verwesungsgeruch wahrgenommen zu haben, war aber nicht sicher, ob er sich in ihren Kleidern festgesetzt hatte oder nur in ihrem olfaktorischen Gedächtnis hängen geblieben war. Jedenfalls hieß das, dass sie ihren Hosenanzug in dieser Woche wohl kein zweites Mal würde tragen können. Sie musste ihn in die Reinigung bringen.
Während sie den Kopf an den Kragen ihrer Bluse gesenkt hielt, hörte sie ein metallisches Scheppern, wie es entstand, wenn der Schub eines Aktenschranks geschlossen wurde. Sie schaute über die Trennwand ihres Abteils in den hinteren Teil des Bereitschaftsraums, wo eine lange Reihe vierschübiger Aktenschränke stand. Jedem Ermittlerteam standen zur Archivierung seiner Unterlagen vier Schübe zur Verfügung.
Ballard hatte den Mann, der gerade einen weiteren Schub herauszog, noch nie zuvor gesehen, obwohl sie von den monatlichen Meetings, an denen alle Detectives der Station teilnehmen mussten, jeden Ermittler kannte. Der Fremde, der in den Aktenschränken etwas zu suchen schien, hatte graues Haar und einen Schnurrbart. Ballard konnte spüren, dass er hier nichts zu suchen hatte. Sie schaute sich im Bereitschaftsraum um, ob sonst noch jemand da war. Es war jedoch niemand zu sehen.
Der Mann öffnete und schloss einen weiteren Schub. Ballard nutzte das Scheppern, um das Knarzen ihres Stuhls zu überdecken, als sie aufstand. Sie ging in die Knie und bewegte sich im Sichtschutz der Abteiltrennwände auf den Hauptgang in der Mitte zu, in dem sie sich dem Eindringling unbemerkt von hinten nähern konnte.
Sie hatte die Jacke ihres Hosenanzugs im Kofferraum ihres Dienstwagens gelassen und konnte deshalb sofort an die Glock in ihrem Hüftholster greifen. Sie legte die Hand auf den Griff der Pistole und blieb drei Meter hinter dem Mann stehen.
»Was machen Sie da?«
Der Mann erstarrte. Dann nahm er langsam die Hände aus dem Schub, den er durchsucht hatte, und hielt sie so hoch, dass Ballard sie sehen konnte.
»So ist es gut«, sagte sie. »Und würden Sie mir jetzt vielleicht erklären, wer Sie sind und was Sie hier suchen?«
»Bosch der Name«, sagte der Mann. »Ich wollte mich mit jemand treffen.«
»Aha. Mit jemand, der sich in den Aktenschränken versteckt?«
»Nein, ich habe mal hier gearbeitet. Ich kenne Money vorne. Er hat gesagt, ich könnte im Aufenthaltsraum warten, bis der Officer hier ist. Aber dann habe ich beschlossen, mich ein bisschen umzusehen. Mein Fehler.«
Ballard schaltete einen Gang zurück und nahm die Hand von der Pistole. Der Name Bosch war ihr bekannt, und der Umstand, dass er den Spitznamen des Schichtleiters wusste, trug ebenfalls zur Entspannung der Situation bei. Trotzdem blieb sie misstrauisch.
»Haben Sie den Schlüssel für Ihren alten Aktenschrank behalten?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Bosch. »Der hier war nicht abgeschlossen.«
Ballard konnte am Schloss des Schranks sehen, dass er tatsächlich nicht verriegelt gewesen war. Die meisten Detectives schlossen ihre Schränke ab.
»Können Sie sich ausweisen?«, fragte sie.
»Klar«, sagte Bosch. »Aber ich bin Polizist und habe eine Pistole an meiner linken Hüfte. Die werden Sie sehen, wenn ich meinen Ausweis raushole. Okay?«
Ballard führte ihre Hand wieder an ihre Hüfte und sagte: »Danke für den Hinweis. Aber wissen Sie was? Vergessen wir den Ausweis erst mal und sichern stattdessen die Waffe. Dann können wir …«
»Da bist du ja, Harry.«
Ballard sah Schichtleiter Lieutenant Munroe in den Bereitschaftsraum kommen. Munroe war ein schmaler Mann, der die Station zwar nur noch selten verließ, die Hände aber immer noch wie beim Streifegehen in Höhe seines Gürtels hielt, an dem er allerdings, weil das Vorschrift war, nur noch die Dienstwaffe trug. Den Rest der sperrigen Ausrüstung für den Streifendienst bewahrte er in einer Schublade seines Schreibtischs auf. Munroe war zwar nicht so alt wie Bosch, aber er hatte einen Schnurrbart, wie er in den siebziger und achtziger Jahren bei Polizisten anscheinend zur Grundausstattung gehört hatte.
Er sah Ballard und deutete ihre Haltung richtig.
»Ballard, was ist los?«
»Er ist einfach hier reingekommen und hat sich Akten angesehen«, sagte Ballard. »Ich wusste nicht, wer er ist.«
»Kein Grund zur Aufregung«, sagte Munroe. »Er ist einer von uns, er war bei der Mordkommission – als wir noch eine hatten.«
Munroe wandte sich Bosch zu.
»Was hast du dir dabei gedacht, Harry?«
Bosch zuckte mit den Achseln.
»Nur in meinem alten Schrank rumgeschnüffelt. Um mir die Zeit zu vertreiben.«
»Dvorek ist jetzt jedenfalls zurück und wartet im Schreibzimmer auf dich«, sagte Munroe. »Sprich bitte gleich mit ihm. Ich ziehe ihn nämlich nur ungern von der Straße ab. Er ist einer meiner besten Leute, und deshalb würde ich ihn gern so bald wie möglich wieder losschicken.«
»Klar.« Bosch folgte Munroe auf den Flur hinaus, der zum Büro des Schichtleiters und zum Schreibzimmer führte, in dem Dvorek wartete. Bosch drehte sich im Gehen kurz zu Ballard um und nickte. Ballard schaute ihm bloß hinterher.
Als die beiden Männer weg waren, ging sie zu dem Aktenschub, in den Bosch geschaut hatte. Daran war mit Klebstreifen eine Visitenkarte befestigt, wie das unter den Ermittlern zur Kennzeichnung ihrer Schübe allgemein üblich war.
Detective Cesar Rivera
Hollywood Station
Sexualdelikte
Sie schaute in den Schub. Er war nur halb voll, und die Ordner waren nach vorn gekippt. Das hatte vermutlich Bosch getan, als er sie durchgesehen hatte. Ballard richtete sie wieder gerade und schaute, was auf den Reitern stand. Das waren hauptsächlich die Namen von Opfern und Fallnummern. Auf einigen standen auch die großen Straßen im Revier der Hollywood Division; sie enthielten vermutlich Meldungen über verdächtige Aktivitäten oder Personen.
Sie schloss den Schub und schaute in die zwei darüber, denn sie hatte Bosch mindestens drei Schübe öffnen gehört.
Sie unterschieden sich nicht vom ersten und enthielten Ordner, die vorwiegend nach dem Namen des Opfers, der Kategorie des Sexualdelikts und der Fallnummer angeordnet waren. Als sie im obersten Schub eine aufgebogene Büroklammer liegen sah, nahm sie das Drucktastenschloss in der oberen Ecke des Aktenschranks genauer in Augenschein. Es war ein einfaches Modell, das sich mit einer Büroklammer problemlos öffnen ließ. Da die Unterlagen in einer Polizeistation aufbewahrt wurden, mussten sie nicht groß gesichert werden.
Ballard schloss die Schübe, drückte auf den Knopf des Schlosses und kehrte an den Schreibtisch zurück. Je länger sie über Boschs späten Besuch nachdachte, desto mehr gelangte sie zu der Überzeugung, dass er den Aktenschrank mit der Büroklammer geöffnet hatte und demnach nicht nur ein oberflächliches Interesse am Inhalt seiner Schübe haben konnte. Er hatte keineswegs aus einer nostalgischen Anwandlung heraus in seinen alten Aktenschrank geschaut.
Sie holte ihre Kaffeetasse und ging damit in den Aufenthaltsraum, der wie üblich verlassen war. Sie schenkte sich Kaffee ein und ging ins Büro des Schichtleiters. Lieutenant Munroe saß an seinem Schreibtisch und schaute auf einen Bildschirm mit einer Karte des Reviers, auf der per GPS die Standorte der einzelnen Streifeneinheiten angezeigt wurden. Er hörte Ballard erst, als sie schräg hinter ihm stehen blieb.
»Viel los?«, fragte sie.
»Im Moment nicht.«
Ballard deutete auf eine Gruppe von drei GPS-Markierungen.
»Was ist denn da passiert?«
»Das ist nur der Mariscos-Reyes-Truck. Dort sind gerade drei Einheiten auf Code 7.«
Die Streifen waren an einem Foodtruck im Sunset, Ecke Western essen. Das erinnerte Ballard daran, dass sie noch keine Pause gemacht hatte und Hunger bekam. Ob sie allerdings Lust auf Seafood hatte, war eine andere Frage.
»Was wollte Bosch eigentlich hier?«
»Mit Relic über eine Leiche reden, die er vor neun Jahren gefunden hat. Anscheinend rollt Bosch einen Fall neu auf.«
»Er hat gesagt, er ist noch ein Cop. Aber nicht bei uns, oder?«
»Nein, er ist Reservist beim San Fernando Police Department, oben im Valley.«
»Was kümmert die in San Fernando ein Mord hier unten?«
»Keine Ahnung, Ballard. Hätten Sie lieber ihn gefragt, solange er noch hier war. Jetzt ist er weg.«
»Das war aber ein kurzer Besuch.«
»Weil sich Relic an nichts erinnern konnte.«
»Ist Dvorek noch da?«
Munroe deutete auf die Drei-Streifen-Ansammlung auf dem Bildschirm.
»Er ist auch bereits wieder los, aber im Moment Code 7.«
»Dann werde ich auch gleich mal hinfahren und mir ein paar Shrimp-Tacos holen. Soll ich Ihnen was mitbringen?«
»Nein, danke. Nehmen Sie ein Funkgerät mit.«
»Alles klar.«
Auf dem Weg zurück ins Detective Bureau ging sie noch mal in den Aufenthaltsraum, wo sie den Kaffee in die Spüle schüttete und die Tasse ausspülte. Dann nahm sie ein Funkgerät aus der Ladestation und ging durch den Hinterausgang zu ihrem Streifenwagen hinaus. Es war, wie in der Mitte ihrer Schicht üblich, spürbar kühler geworden, weshalb sie ihr Jackett aus dem Kofferraum nahm und anzog, bevor sie losfuhr.
Relics Streife stand immer noch neben dem Foodtruck, als Ballard eintraf. Da Dvorek als Sergeant allein in einem Wagen unterwegs war, traf er sich in den Pausen gern mit anderen Streifenpolizisten.
»Sally Ride«, sagte er, als er Ballard die Kreidetafel mit den Gerichten studieren sah.
»Und, Relic, wie steht’s?«, sagte sie.
»Na ja, wieder mal eine Nacht im Paradies zur Hälfte rum.«
»Was willst du mehr?«
Ballard bestellte einen Shrimp-Taco und machte aus einer der Flaschen auf dem Zutatentisch ordentlich scharfe Soße drauf. Dann ging sie zu Dvorek, der am vorderen Kotflügel seines Streifenwagens lehnte. Er hatte fast zu Ende gegessen. Zwei andere Streifenpolizisten hatten ihr Essen auf der Motorhaube ihres Schwarz-Weißen ausgebreitet, den sie vor Relics Wagen geparkt hatten.
Ballard lehnte sich an den Kotflügel neben ihm.
»Was hast du heute?«, fragte Dvorek.
»Shrimps«, sagte Ballard. »Ich bestelle nur Sachen von der Tafel. Dann ist es auf jeden Fall frisch. Sie wissen erst, was es gibt, wenn sie unten am Hafen eingekauft haben.«
»Wer’s glaubt, wird selig.«
»Ich will eben gern selig werden.«
Sie nahm den ersten Bissen von ihrem Taco. Er war gut und hatte keinen fischigen Beigeschmack.
»Nicht übel«, bemerkte sie.
»Ich hatte die Fisch-Tacos«, sagte Dvorek. »Wahrscheinlich ziehen sie mich spätestens dann aus dem Verkehr, wenn sie den unteren Verdauungstrakt erreichen.«
»So genau wollte ich das gar nicht wissen, Sarge. Aber ganz was anderes, was wollte eigentlich dieser Bosch von dir?«
»Hast du ihn noch mitbekommen?«
»Ich habe ihn erwischt, wie er in den Aktenschränken im Detective Bureau rumgeschnüffelt hat.«
»Ja, er weiß nicht mehr weiter. Sucht in einem Fall, an dem er gerade arbeitet, verzweifelt nach Anhaltspunkten.«
»In Hollywood? Arbeitet er zurzeit nicht für das San Fernando Police Department?«
»Schon, aber mit dieser Sache befasst er sich mehr oder weniger privat. Ein Mädchen, das hier vor neun Jahren umgebracht wurde. Ich habe damals die Leiche gefunden, aber leider konnte ich mich an nichts erinnern, was ihn weitergebracht hätte.«
Ballard nahm einen weiteren Bissen von ihrem Taco und nickte. Die nächste Frage stellte sie mit dem Mund voller Krabben und Tortilla.
»Was war das für ein Mädchen?«
»Eine Ausreißerin. Daisy. Sie war fünfzehn, ist aber schon auf den Strich gegangen. Traurige Geschichte das. Ich habe sie ab und zu auf dem Hollywood Boulevard gesehen, oben bei der Western Avenue. Und dann ist sie eines Tages zum Falschen ins Auto gestiegen. Ich habe ihre Leiche in einer Seitenstraße des Cahuenga Boulevard gefunden. Nach einem anonymen Anruf – daran erinnere ich mich noch.«
»War das ihr Straßenname?«
»Nein, so hat sie richtig geheißen. Daisy Clayton.«
»Hat damals Cesar Rivera schon bei Sexualdelikte gearbeitet?«
»Cesar? Keine Ahnung. Das ist jetzt neun Jahre her. Aber möglich ist es schon.«
»Weißt du noch, ob Cesar was mit dem Fall zu tun hatte? Bosch hat nämlich seinen Aktenschrank geknackt.«
Dvorek zuckte mit den Achseln.
»Ich habe die Leiche gefunden und das Ganze gemeldet, Renée. Aber damit hatte es sich. Weiter hatte ich nichts mehr damit zu tun. Ich weiß nur noch, dass sie mich zum Cahuenga vor geschickt haben, damit ich die Straße sperre und niemand reinlasse. Ich war damals erst kurz dabei.«
Streifenpolizisten bekamen für alle fünf Dienstjahre einen Streifen am Ärmel. Vor neun Jahren war Relic noch mehr oder weniger ein Rookie gewesen. Ballard nickte und stellte ihre letzte Frage.
»Hat dich Bosch was gefragt, was ich dich gerade nicht gefragt habe?«
»Ja, aber das hat nicht sie betroffen. Er wollte wissen, ob ich Daisys Freund nach dem Mord noch mal irgendwo gesehen habe.«
»Wer war ihr Freund?«
»Auch ein Ausreißer. Wie er hieß, weiß ich nicht, nur dass sein Graffiti-Tag Addict war. Bosch hat gesagt, dass er Adam Irgendwas hieß. Ich weiß nicht mehr. Aber die Antwort auf seine Frage war Nein, ich habe ihn danach nicht mehr gesehen. Typen wie der tauchen plötzlich auf und sind genauso schnell wieder verschwunden.«
»Waren sie einfach nur zusammen, das übliche Freund-Freundin-Muster?«
»Er hat auch auf sie aufgepasst. Ein Mädchen wie sie, die braucht einen Beschützer. Eine Art Zuhälter praktisch. Sie ist auf den Strich gegangen, und er hat auf sie aufgepasst, und das Geld haben sie sich geteilt. Bloß in dieser Nacht hat er’s wohl versemmelt. Pech für sie.«
Ballard nickte. Vermutlich wollte Bosch mit Adam/Addict reden, weil er am ehesten wusste, mit wem Daisy Clayton zu tun gehabt hatte und wo sie in der letzten Nacht ihres Lebens gewesen war.
Vielleicht war er auch ein Tatverdächtiger.
»Du weißt doch, wer Bosch ist?«, fragte Dvorek.
»Ja«, sagte Ballard. »Er war früher mal bei uns.«
»Weißt du von den Sternen auf dem Gehsteig?«
»Klar.«
Vor dem Eingang waren zu Ehren von Polizisten der Hollywood Station, die im Dienst getötet worden waren, Sterne in den Gehsteig eingelassen.
»Einer von ihnen ist für Lieutenant Harvey Pounds«, fuhr Dvorek fort. »Er war Boschs L.T., als er bei uns war, und er wurde entführt und bekam einen Herzinfarkt, als er in Zusammenhang mit einem Fall, den Bosch hatte, gefoltert wurde.«
Das war Ballard völlig neu.
»Ist der Täter gefasst worden?«, fragte sie.
»Das hängt ganz davon ab, mit wem du redest«, sagte Dvorek. »Angeblich fällt die Sache unter Geklärt-Sonstige, aber in Wirklichkeit ist es ein weiteres ungelöstes Rätsel dieser großen bösen Stadt. Es wurde damals gemunkelt, dass der Typ wegen was gestorben ist, was Bosch getan hat.«
»Geklärt-Sonstige« war eine Bezeichnung für Fälle, die zwar offiziell als abgeschlossen galten, in denen es aber nicht zu einer Festnahme oder Anklage gekommen war. Normalerweise lag das daran, dass der Verdächtige tot war oder wegen einer anderen Straftat eine lebenslange Haftstrafe verbüßte und dass es deshalb den Zeitaufwand, die Kosten und das Risiko nicht lohnte, einen Fall vor Gericht zu bringen, der keine zusätzliche Bestrafung des Täters zur Folge hatte.
»Angeblich ist die Akte unter Verschluss. High Jingo.«
»High Jingo« wurden im Polizeijargon Fälle genannt, in die politische Erwägungen hineinspielten. Fälle, die massive Auswirkungen auf die eine oder andere Karriere haben konnten.
Die Auskünfte über Bosch waren interessant, aber nicht sachdienlich. Bevor Ballard eine Frage einfiel, mit der sie wieder auf den Fall Daisy Clayton zurückkommen konnte, begann Dvoreks Funkgerät zu rauschen, und er nahm eine Durchsage der Zentrale entgegen. Ballard hörte, wie ihn Lieutenant Munroe zur Unterstützung einer Streife zu einem häuslichen Streit in Beachwood Canyon schickte.
»Ich muss los.« Dvorek knüllte die Folie zusammen, in die seine Tacos eingepackt gewesen waren. »Oder willst du mitkommen und mir Rückendeckung geben?«
Das war natürlich nicht ernst gemeint. Relic brauchte keine Unterstützung von einem Late-Show-Detective.
»Wir sehen uns in der Station«, sagte sie. »Außer die Sache läuft aus dem Ruder, und du brauchst tatsächlich einen Detective.«
Sie hoffte nicht. Häusliche Auseinandersetzungen endeten meistens in Er-hat-gesagt-sie-hat-gesagt-Vergleichen, bei denen sie eher die Funktion eines Schiedsrichters hatte als die eines Ermittlers. Selbst unübersehbare Verletzungen erzählten nicht immer die ganze Geschichte.
»Bis dann«, sagte Dvorek.
Der Tagesablauf der Detectives von der Tagschicht wurde in erster Linie vom Verkehrsaufkommen bestimmt. Damit sie am Nachmittag früh genug Schluss machen konnten, um nicht in den Feierabendverkehr zu geraten, erschienen die meisten von ihnen normalerweise schon vor sechs Uhr morgens zum Dienst. Darauf zählte Ballard, als sie beschloss, Cesar Rivera nach dem Fall Daisy Clayton zu fragen. Während sie auf sein Eintreffen wartete, sah sie die digitalen Daten durch, die es über den neun Jahre zurückliegenden Mord gab.
Das Mordbuch, ein blauer Ordner mit ausgedruckten Berichten und Fotos, galt beim Los Angeles Police Department bei Mordermittlungen nach wie vor als die Quelle schlechthin, aber wie vor der Welt als Ganzem hatte der digitale Wandel auch vor der Polizei nicht Halt gemacht. Mithilfe ihres LAPD-Passworts konnte sich Ballard zu den meisten in die Datenbanken eingescannten Berichten und Fotos zu dem Fall Zugang verschaffen. Das Einzige, was bei der Digitalisierung der Daten verloren ging, waren die handschriftlichen Notizen, die sich Ermittler meistens auf dem hinteren Einbanddeckel des Mordbuchs machten.
Am wichtigsten war jedoch die sogenannte Chronologie, die ausnahmslos das Rückgrat eines Falls war, eine Aufzählung sämtlicher Maßnahmen, die von den zuständigen Ermittlern ergriffen worden waren.
Ballard stellte sofort fest, dass der Mord offiziell als Cold Case, als ungelöster Fall, eingestuft und an die Einheit Offen-Ungelöst weitergeleitet worden war, die als Teil der Robbery-Homicide Division, der Elitetruppe des LAPD, Downtown im Präsidium stationiert war. Ballard hatte selbst einmal der RHD angehört und kannte viele der Detectives und sonstigen Akteure dort. Zu ihnen gehörte auch ihr ehemaliger Lieutenant, der sie vor drei Jahren bei der Weihnachtsfeier der Einheit in einem Badezimmer an die Wand gedrückt und sich ihr aufzudrängen versucht hatte. Der Umstand, dass sie ihn zurückgewiesen, Beschwerde gegen ihn eingereicht und ein internes Ermittlungsverfahren angestrengt hatte, hatte zur Folge gehabt, dass sie in der Nachtschicht der Hollywood Division gelandet war. Ihre Beschwerde wurde als unbegründet abgewiesen, weil ihr damaliger Partner sie nicht bestätigt hatte, obwohl er Zeuge des Vorfalls geworden war. In der Verwaltung des LAPD hielt man es für das Beste für alle Beteiligten, Ballard und Lieutenant Robert Olivas zu trennen. Er blieb bei der RHD, Ballard wurde versetzt, und die dahinter stehende Botschaft war unmissverständlich. Olivas kam ungeschoren davon, während sie von einer Eliteeinheit auf eine Stelle versetzt wurde, für die sich nie jemand bewarb oder freiwillig meldete, ein Posten, der normalerweise den Spinnern und Losern vorbehalten war.
Noch augenfälliger war die fatale Ironie dieser Maßnahme für Ballard gerade in den letzten Monaten geworden, als das Land und insbesondere die Unterhaltungsindustrie in Hollywood von einer Flut von Skandalen überschwemmt wurden, in denen es um sexuelle Belästigung und Schlimmeres ging. Der Polizeichef rief sogar eine Sondereinheit ins Leben, um die zahllosen, zum Teil schon Jahrzehnte zurückliegenden Anzeigen bearbeiten zu können, die plötzlich aus der Filmindustrie eingingen. Natürlich setzte sich die Sondereinheit des Polizeichefs aus RHD-Detectives zusammen, und einer ihrer Leiter war Olivas.
Die alte Geschichte mit Olivas war Ballard nur zu gegenwärtig, als sie die digitalen Archive des LAPD nach Boschs altem Fall zu durchforsten begann. Grundsätzlich verstieß sie nicht gegen irgendwelche Vorschriften, wenn sie in alte Akten Einsicht nahm. Allerdings war der Fall, nachdem die Mordkommission der Hollywood Division aufgelöst worden war, der Einheit Offen-Ungelöst zugeteilt worden, die zur Robbery-Homicide Division gehörte und somit in Olivas’ Einflussbereich lag. Ballard wusste, dass sie bei ihrer Suche in der LAPD-Datenbank eine digitale Spur hinterließe, auf die Olivas möglicherweise aufmerksam wurde. Und das böte ihm eine Gelegenheit, ihr das Leben schwer zu machen und ein internes Ermittlungsverfahren gegen sie einzuleiten, weil sie sich für einen RHD-Fall interessierte.
Aber dieses Risiko einzugehen, war sie bereit. Sie hatte keine Angst vor Olivas gehabt, als er ihr auf der Weihnachtsfeier vor drei Jahren ins Bad gefolgt war; sie hatte ihn von sich gestoßen, und er war in eine Badewanne gefallen. Und auch jetzt hatte sie keine Angst vor ihm.
Obwohl die Chronologie das wichtigste Dokument war, um sich Überblick über einen Fall zu verschaffen, nahm sich Ballard als Erstes die Fotos vor. Sie wollte wissen, wie Daisy Clayton ausgesehen hatte, lebendig und tot.
Unter den zahlreichen Tatort- und Obduktionsfotos war auch ein Studioporträt des Mädchens. Sie trug darauf eine weiße Bluse mit dem Monogramm SSA über der linken Brust, die für Ballard nach einer Privatschuluniform aussah. Ihr blondes Haar war halblang, die Akne auf ihren Wangen mit Make-up kaschiert, und obwohl sie in die Kamera lächelte, lag bereits dieser abwesende Pubertätsblick in ihren Augen. Auch die Rückseite des Fotos war gescannt worden. Dort stand: 7. Klasse, St. Stanislaus Academy, Modesto.
Ballard beschloss, die Tatortfotos später anzusehen und sich zunächst mit der Chrono zu befassen. Zuerst scrollte sie zu den letzten Ermittlungsschritten und erfuhr so, dass die Ermittlungen, abgesehen von jährlichen Routinechecks, acht Jahre lang geruht hatten, bis sie vor sechs Monaten einer Cold-Case-Ermittlerin namens Lucia Soto zugeteilt worden waren. Ballard kannte Soto nicht, hatte aber von ihr gehört. Sie war die jüngste Ermittlerin, die je zur RHD versetzt worden war, und hatte Ballards Rekord gebrochen, die bei ihrer Beförderung acht Monate älter gewesen war als Soto.
»Lucky Lucy«, sagte Ballard laut.
Ballard wusste auch, dass Soto zurzeit der Hollywood Sexual Harassment Task Force zugeteilt war, weil die zuständigen Stellen beim LAPD – hauptsächlich weiße Männer – gemerkt hatten, dass es nicht schaden konnte, diese Sondereinheit mit möglichst vielen Frauen zu besetzen. Soto, die wegen eines furchtlosen Einsatzes, der ihr neben ihrem Spitznamen die Beförderung zur RHD eingetragen hatte, in den Medien keine Unbekannte war, musste bei Pressekonferenzen und sonstigen Medienterminen oft als Aushängeschild der Sondereinheit herhalten.
Das gab Ballard zu denken. Sie rechnete rasch zurück. Vor sechs Monaten hatte Soto den ungelösten Fall Daisy Clayton entweder zugeteilt bekommen, oder sie hatte selbst einen Antrag gestellt, ihn bearbeiten zu dürfen. Kurz darauf war sie von der Einheit Offen-Ungelöst zu der Sondereinheit für sexuelle Belästigung versetzt worden. Dann taucht Bosch in der Hollywood Station auf, um sich über den Fall zu erkundigen und sich Einblick in die Akten eines für Sexualdelikte zuständigen Detective zu verschaffen.
Hier bestand eindeutig ein Zusammenhang. Aber wo genau war er zu suchen? Was diese Frage anging, sah Ballard rasch klarer, als sie in der LAPD-Datenbank eine neue Suche startete und alle Fälle aufrief, in denen Bosch als leitender Ermittler aufgeführt war. Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf den letzten Fall, den er vor seinem Ausscheiden beim LAPD bearbeitet hatte: eine Brandstiftung in einem Wohnblock, bei der mehrere Kinder infolge einer Rauchvergiftung ums Leben gekommen waren. In mehreren Berichten über diesen Fall wurde Lucia Soto als Boschs Partnerin genannt.
Langsam begann sich für Ballard ein klareres Bild abzuzeichnen. Soto übernimmt den Fall Clayton und zieht ihren früheren Partner Bosch zu den Ermittlungen hinzu, obwohl er nicht mehr beim LAPD ist. Aus welchem Grund? Weshalb holt sich Soto Hilfe von außen, und das, obwohl sie gerade von Offen-Ungelöst zu der Sondereinheit für sexuelle Belästigung versetzt worden ist?
Da diese Frage im Moment nicht zu beantworten war, machte sich Ballard wieder ans Studium der Akte, wobei sie diesmal ganz von vorne begann. Daisy Clayton wurde darin als chronische Ausreißerin dargestellt, die es sowohl zu Hause als auch in den betreuten WGs und Heimen, in denen sie vom Department of Children and Family Services untergebracht worden war, nie lange ausgehalten hatte. Jedes Mal wenn sie ausriss, landete sie auf den Straßen Hollywoods, wo sie sich in Obdachlosenlagern und besetzten leerstehenden Gebäuden anderen Ausreißern anschloss. Sie trank, nahm Drogen und ging auf den Strich.
Mit dem Gesetz war Daisy zum ersten Mal sechzehn Monate vor ihrem Tod in Konflikt gekommen. Dem folgten mehrere weitere Festnahmen wegen Drogendelikten und Prostitution. Aufgrund ihrer Minderjährigkeit wurde sie nach den ersten Festnahmen lediglich zu ihrer alleinerziehenden Mutter Elizabeth oder in entsprechende Einrichtungen für Jugendliche gebracht. Aber das konnte sie nicht davon abhalten, auf die Straße und in die Obhut Adam Sands‘, eines neunzehnjährigen ehemaligen Ausreißers mit einer ähnlichen kriminellen Vorgeschichte, zurückzukehren.
Sands war von den ursprünglichen Ermittlern zwar vernommen, aber von der Liste potentieller Verdächtiger gestrichen worden, als sich sein Alibi bestätigte: Er war zum Zeitpunkt von Daisy Claytons Ermordung in einer Arrestzelle der Hollywood Division festgehalten worden.
Nachdem der Tatverdacht ausgeräumt war, wurde Sands ausführlich zu den Gewohnheiten und Beziehungen des Opfers befragt. Er behauptete zwar, nicht zu wissen, mit wem sie sich in der Mordnacht getroffen hatte, rückte aber zumindest heraus, dass sie sich normalerweise in der Nähe eines Einkaufszentrums am Hollywood Boulevard auf Höhe der Western Avenue herumtrieb, in dem es einen kleinen Supermarkt und einen Liquor Store gab. Dort sprach sie aus diesen Geschäften kommende Männer an, fuhr mit ihnen in eine der Seitenstraßen des Viertels und hatte im Auto Sex mit ihnen. Dabei behielt Sands sie normalerweise im Auge, aber in der fraglichen Nacht hatte er sich in Polizeigewahrsam befunden, weil er zu einer Gerichtsverhandlung wegen eines Drogendelikts nicht erschienen war.
Daisy war sich also selbst überlassen gewesen, und in der darauffolgenden Nacht wurde ihre Leiche in einer der Seitenstraßen entdeckt, in denen sie ihre Freier abfertigte. Sie war nackt, und ihr Körper wies Spuren von sexueller Gewalt und Folter auf und war nach ihrer Ermordung mit Bleichmittel gesäubert worden. Ihre Kleidungsstücke wurden nie gefunden. Den Ermittlungen zufolge lagen zwanzig Stunden zwischen dem Zeitpunkt, zu dem sie auf dem Strich im Einkaufszentrum das letzte Mal gesehen worden war, und dem Moment, als bei der Polizei ein anonymer Anruf einging, dass in einem Müllcontainer in einer Seitenstraße des Cahuenga Boulevard eine Leiche lag, und Officer Dvorek losgeschickt wurde, um der Sache auf den Grund zu gehen. Was in den zwanzig Stunden dazwischen passiert war, konnte nicht rekonstruiert werden, aber der Umstand, dass die Leiche mit Bleichmittel gewaschen worden war, legte den Schluss nahe, dass Daisy an einen unbekannten Ort gebracht, dort missbraucht und ermordet und anschließend gründlich gesäubert worden war, um alle Spuren, die zu ihrem Mörder hätten führen können, zu vernichten.
Der einzige Anhaltspunkt, aus dem die Ermittler jedoch nie schlau geworden waren, war ein Bluterguss an der rechten oberen Hüfte, der dem Opfer nach Ansicht der Detectives vom Mörder beigebracht worden war. Er hatte die Form eines Kreises von etwa fünf Zentimetern Durchmesser mit den kreuzförmig angeordneten Buchstaben A-S-P in der Mitte.
Der Umstand, dass die Buchstaben auf dem Körper der Toten spiegelverkehrt waren, bedeutete, dass sie auf dem Gegenstand, der den Abdruck hinterlassen hatte, richtig herum standen. Der Kreis um die kreuzförmig angeordneten Buchstaben sah wie eine sich selbst in den Schwanz beißende Schlange aus. Die Ränder des Blutergusses waren jedoch so stark verschwommen, dass sich das nicht mit Sicherheit feststellen ließ.
Obwohl viel Zeit und Mühe darauf verwendet wurde, die Bedeutung der Buchstaben zu entschlüsseln, kamen die Ermittler zu keinem eindeutigen Ergebnis. Zunächst waren für den Fall zwei Mordermittler der Hollywood Division zuständig gewesen, doch als Hollywoods berühmte Mordkommission im Zuge der Zusammenlegung in Regionalzentren aufgelöst wurde, bekam die Olympic Division den Fall zugeteilt. Die Hollywood-Detectives waren King und Carswell gewesen, die Ballard beide nicht kannte.
Die Obduktion ergab, dass der Tod des Opfers zehn Stunden nach dem Zeitpunkt eingetreten war, zu dem es das letzte Mal lebend gesehen worden war, und zehn Stunden bevor die Leiche entdeckt worden war.
Die Todesursache war dem Obduktionsbefund zufolge manuelle Strangulation. Diese Feststellung wurde dahingehend spezifiziert, dass die Würgespuren, die die Hände des Täters am Hals des Opfers zurückgelassen hatten, darauf hindeuteten, dass es von hinten gewürgt worden war – möglicherweise, während es sexuell missbraucht wurde. Zu den Gewebeschädigungen in Vagina und Anus war es dem Befund zufolge sowohl ante als auch post mortem gekommen. Die Fingernägel des Opfers waren post mortem entfernt worden, was als ein Versuch des Täters gedeutet wurde, jegliche biologische Spuren zu beseitigen.
Außerdem wies die Leiche Abschürfungen und Kratzwunden auf, die dem Opfer nach Ansicht der Ermittler beigebracht worden waren, als es post mortem mit einer harten Bürste und Bleichmittel gesäubert worden war. Letzteres wurde in allen Körperöffnungen gefunden, darunter auch in Mund, Rachen und Gehörgängen. Der die Obduktion vornehmende Rechtsmediziner gelangte zu dem Schluss, dass die Leiche während des Säuberungsvorgangs in einem Behälter mit Bleichmittel gelegen hatte.
Aus diesem Umstand und aus dem Todeszeitpunkt schlossen die Ermittler, dass der Mörder Daisy in ein Hotelzimmer oder an einen sonstigen Ort gebracht hatte, wo die Möglichkeit bestand, die Leiche in einer Wanne mit Bleichmittel zu säubern.
»Da hat jemand nichts dem Zufall überlassen«, sagte Ballard laut.
Wegen ihrer Rückschlüsse bezüglich des Bleichmittels verwendeten die Detectives zu Beginn ihrer Ermittlungen viel Zeit auf eine gründliche Überprüfung sämtlicher Motels und Hotels in Hollywood, von deren Zimmern man direkten Zugang zum Parkplatz hatte. Allen Angestellten wurde Daisys Schulfoto gezeigt, Zimmermädchen wurden befragt, ob es in einem Zimmer stark nach Bleichmittel gerochen hatte, Mülltonnen wurden nach Bleichmittelbehältern durchsucht, alles ohne Erfolg. Der Umstand, dass der Ort von Daisy Claytons Ermordung nicht bestimmt werden konnte, stellte von Anfang an ein gravierendes Handicap dar. Nach sechs Monaten wurden die Ermittlungen in Ermangelung von Anhaltspunkten und Verdächtigen eingestellt und der Fall als Cold Case zu den Akten gelegt.
Schließlich wandte sich Ballard wieder den Tatortfotos zu, die sie diesmal trotz ihrer Entsetzlichkeit eingehend studierte. Die Jugend des Opfers, die von der enormen Kraft des Mörders zeugenden Verletzungen, die totale Verlassenheit, in der es in einem Müllcontainer nackt auf einem Haufen Abfälle lag … das alles weckte in Ballard tiefe Bestürzung und Betroffenheit über das schreckliche Schicksal des Mädchens. Ballard hatte nie zu den Ermittlern gehört, die bei Schichtende die Arbeit in einer Schublade zurücklassen konnten. Sie trug sie immer mit sich herum, und es war ihre Empathie, die sie motivierte.
Bevor sie zur Nachtschicht versetzt worden war, hatte sich Ballard bei der RHD auf Sexualmorde spezialisiert und gemeinsam mit ihrem damaligen Partner Ken Chastain, der auf diesem Gebiet einer der renommiertesten Ermittler des LAPD gewesen war, mehrere Fortbildungsveranstaltungen zu dem Thema besucht. David Lambkin, der diese Seminare geleitet und sie sogar persönlich unter seine Fittiche genommen hatte, war lange die Koryphäe schlechthin auf seinem Gebiet gewesen, bis er den Job an den Nagel hängte und sich im Pazifischen Nordwesten zur Ruhe setzte.
Ballards diesbezügliche Ambitionen waren durch ihre Versetzung zur Nachtschicht weitestgehend unterbunden worden, doch als sie jetzt die Clayton-Akte durchsah, ließen die schriftlichen Berichte das Bild eines Monsters vor ihr entstehen, das inzwischen schon neun Jahre lang unerkannt sein Unwesen trieb. Das rührte tief in ihr etwas an, etwas, das sie auch dazu veranlasst hatte, Polizistin zu werden und vor allem Männer zu jagen, die Frauen quälten und hinterher einfach auf den Müll warfen. Was Harry Bosch auch vorhatte, sie wollte unbedingt dabei mitmachen.
Zwei Männerstimmen rissen Ballard aus ihren Gedanken. Als sie den Blick vom Bildschirm abwandte und über die Trennwand des Abteils schaute, sah sie zwei Detectives, die ihre Anzugjacken ablegten und über ihre Schreibtischstühle hängten, um einen neuen Arbeitstag zu beginnen.
Einer von ihnen war Cesar Rivera.
Ballard packte ihre Sachen zusammen und stand von ihrem geborgten Schreibtisch auf. Zuerst ging sie in den Druckerraum, um die Berichte, die sie in der Nacht geschrieben hatte, aus dem Gemeinschaftsdrucker zu holen. Der Lieutenant des Detective Bureau war in dieser Hinsicht noch ganz vom alten Schlag und wollte ihre Berichte am Morgen immer auf Papier vorgelegt bekommen, obwohl sie ihm auch eine digitale Version zukommen ließ. Sie sortierte die Berichte über den Unfalltod und den Einbruch, heftete sie zusammen und legte sie in den Eingangskorb auf dem Schreibtisch des Adjutanten des Lieutenant, damit er sie bei seinem Eintreffen vorliegen hatte. Dann kehrte sie in den Bereitschaftsraum zurück und ging von hinten auf Rivera zu, der inzwischen an seinem Schreibtisch saß und sich für seinen Arbeitstag rüstete, indem er eine Miniaturflasche Whiskey in seinen Kaffee kippte. Ballard ließ sich nicht anmerken, dass sie das mitbekommen hatte, als sie ihn ansprach.
»Sei gegrüßt, Cesar.«
Rivera war auch einer von diesen Schnurrbarttypen, wobei seiner fast weiß war auf seiner braunen Haut. Dazu hatte er eine wallende weiße Mähne, die für LAPD-Maßstäbe etwas lang war, aber bei einem alten Haudegen geduldet wurde. Er zuckte leicht zusammen, da er offensichtlich fürchtete, bei seinem Morgenritual ertappt worden zu sein. Er drehte sich um, entspannte sich aber sofort, als er sah, dass es Ballard war. Er wusste, dass sie deswegen keinen Aufstand machen würde.
»Renée«, sagte er, »was gibt’s, Mädchen? Hast du was für mich?«
»Nein«, sagte sie. »Heute Nacht war nicht viel los.«
Für den Fall, dass sie nach Verwesung roch, kam sie Rivera nicht zu nahe.
»Was gibt es dann?«, fragte er.
»Ich muss zwar gleich los«, sagte Ballard, »aber ich hätte da noch eine Frage: Du kennst doch bestimmt einen Harry Bosch, der mal hier gearbeitet hat? Er war bei der Mordkommission.«
Sie deutete in die Ecke des Bereitschaftsraums, in der einmal die Mordermittler ihre Schreibtische gehabt hatten. Jetzt saß dort die Einheit zur Bekämpfung von Bandenkriminalität.
»Das war, bevor ich hier angefangen habe«, sagte Rivera. »Ich weiß natürlich, wer er ist – es gibt wohl niemand, der das nicht weiß. Aber ich hatte nie was mit ihm zu tun. Wieso?«
»Er war heute Morgen hier«, sagte Ballard.
»Während der Friedhofsschicht?«
»Ja. Er hat gesagt, er wäre hergekommen, um mit Dvorek über einen alten Mordfall zu reden. Aber ich habe ihn dabei ertappt, wie er sich deine Akten angesehen hat.«
Sie deutete auf die lange Reihe von Aktenschränken entlang der Wand. Rivera schüttelte verwundert den Kopf.
»Meine Akten? Wieso das denn?«
»Wie lang bist du schon bei der Hollywood Division, Cesar?«
»Sieben Jahre. Aber was hat das …«
»Sagt dir der Name Daisy Clayton was? Sie wurde 2009 ermordet. Es ist ein offener Fall, der unter sexuell motiviert fällt.«
Rivera schüttelte den Kopf.
»Das war vor meiner Zeit hier. Damals war ich noch in Hollenbeck.«
Er stand auf, ging zu den Aktenschränken und nahm einen Schlüsselbund aus der Hosentasche, um den obersten Schub seines Schranks zu öffnen.
»Abgeschlossen«, sagte er. »Das war er auch, als ich gestern Feierabend gemacht habe.«
»Ich habe ihn abgeschlossen, nachdem er gegangen ist«, sagte Ballard.
Die aufgebogene Büroklammer, die sie im obersten Schub gefunden hatte, erwähnte sie nicht.
»Ist Bosch nicht pensioniert?«, sagte Rivera. »Wie ist er überhaupt reingekommen? Hat er seinen 999er behalten, als er hier aufgehört hat?«
Jeder Officer bekam einen sogenannten 999-Schlüssel, mit dem sich der Hintereingang jeder Polizeistation der Stadt aufschließen ließ. Sie wurden zur Ergänzung der elektronischen Kartenschlüssel ausgegeben, die bei Stromausfällen manchmal nicht funktionierten. Die Stadtverwaltung nahm es nicht allzu genau damit, sie von pensionierten Polizisten zurückzufordern.
»Vielleicht«, sagte Ballard. »Aber mir hat er erzählt, Lieutenant Munroe hätte ihn reingelassen, damit er hier auf Dvorek warten könnte. Er ist überall rumgegangen, und ich habe gesehen, wie er in deinen Aktenschrank geschaut hat. Ich habe hinten in der Ecke gearbeitet, und deshalb hat er mich nicht bemerkt.«
»Hat er den Daisy-Fall erwähnt?«
»Daisy Clayton. Nein. Aber Dvorek hat gesagt, dass das der Fall war, über den Bosch mit ihm reden wollte. Dvorek war damals der Erste, der am Tatort eingetroffen ist.«
»War das damals Boschs Fall?«
»Nein. Ursprünglich hatten ihn King und Carswell. Inzwischen ist Offen-Ungelöst Downtown dafür zuständig.«
Rivera ging zu seinem Schreibtisch zurück, blieb aber stehen, als er nach seiner Kaffeetasse griff und einen kräftigen Schluck daraus nahm. Dann nahm er die Tasse abrupt von seinem Mund.
»Oh, jetzt weiß ich, was er wollte«, sagte er.
»Was?«
Die Dringlichkeit in Ballards Stimme war nicht zu überhören.
»Ich bin hierhergekommen, als sie im Zuge der Umstrukturierung des Department die Mordkommission ins West Bureau verlegt haben«, sagte Rivera. »Gleichzeitig wurde der Sexualdelikte-Tisch erweitert, deshalb haben sie mich und Sandoval geholt. Zur Verstärkung, nicht als Ersatz für jemand, der aufgehört hat. Wir sind beide von Hollenbeck gekommen.«
»Mhm«, sagte Ballard.
»Deshalb hat mir der Lieutenant diesen Schrank zugeteilt und den Schlüssel dafür gegeben. Aber als ich den obersten Schub rausgezogen habe, um was reinzulegen, war er voll. Alle vier Schübe gerammelt voll. Bei Sandoval war es das Gleiche – alle vier Schübe voll.«
»Und was war in den Schüben? Akten?«
»Nein, lauter Filzkarten. Sie waren bis oben hin voll damit. Als das Department auf digitale Archivierung umgestellt hat, haben die Mordermittler und die anderen Detectives die alten Karten aufgehoben. In den Aktenschränken.«
Mit Filzkarten, die offiziell Field-Interview-Karten hießen, meinte Rivera die vorgedruckten Karten, auf denen sich Streifenpolizisten Notizen machten, wenn sie auf der Straße jemanden vernahmen. Auf der Vorderseite befand sich ein Formular, um die Personalien der vernommenen Person wie Name, Adresse, Geburtsdatum, Gangzugehörigkeit, Tattoos und Bekanntenkreis einzutragen. Die Rückseite war leer und diente für zusätzliche Angaben zur vernommenen Person.
Streifenpolizisten hatten immer einen Vorrat an Filzkarten dabei, wenn sie zu Fuß oder in einem Streifenwagen unterwegs waren – Ballard hatte ihre immer hinter der Sonnenblende ihres Wagens aufbewahrt, als sie bei der Pacific Division Streife fuhr. Bei Schichtende wurden die Karten beim Schichtleiter abgegeben, der sie zur Übertragung in eine Datenbank an die Verwaltung weiterleitete. Wenn dann ein Officer oder Detective einen Namen in die Datenbank eingab und einen Treffer erzielte, lagen ihm bereits alle verfügbaren Informationen wie Adresse und persönliches Umfeld über die betreffende Person vor.
Die American Civil Liberties Union hatte lange dagegen protestiert, dass die Polizei diese Karten verwendete und darauf Informationen über Bürger sammelte, die keine Straftat begangen hatten. Sie bezeichnete diese Praxis als widerrechtliche Durchsuchung und Festnahme und prangerte die damit einhergehenden Vernehmungen als Razzien an. Die Polizei hatte alle juristischen Maßnahmen, diese Praxis zu unterbinden, erfolgreich abgewehrt, und viele Polizisten nannten die acht mal dreizehn Zentimeter großen Karten in einer nicht gerade subtilen Spitze gegen die ACLU Filzkarten.
»Warum haben sie die Karten aufgehoben?«, fragte Ballard. »Alle Angaben wurden doch in die Datenbank eingespeist, wo sie wesentlich leichter zu finden sind.«
»Keine Ahnung«, sagte Rivera. »In Hollenbeck haben sie es jedenfalls nicht gemacht.«
»Und was hast du gemacht? Ausgemistet?«
»Ja, Sandy und ich, wir haben die Schübe leergeräumt.«
»Ihr habt sie einfach weggeworfen?«
»Natürlich nicht. Wenn wir bei der Polizei was gelernt haben, dann ist es, dass man besser keine Scheiße baut. Wir haben sie in Kisten gepackt und ins Lager gebracht. Damit sich dort jemand anders damit rumärgern kann.«
»In welches Lager?«
»Das auf der anderen Seite vom Parkplatz.«
Ballard nickte. Damit meinte er das Gebäude auf der Südseite des Stationsparkplatzes. Der eingeschossige Bau hatte ursprünglich als Büro der städtischen Versorgungsbetriebe gedient, war aber irgendwann der Polizeistation zugeschlagen worden, als diese mehr Platz benötigte. Inzwischen wurde er jedoch kaum mehr genutzt. In zwei der größeren Räume waren ein Fitnessstudio und ein gepolsterter Kampfkunstübungsraum eingerichtet worden, während die kleineren Büros entweder leer standen oder für die Lagerung von Gegenständen verwendet wurden, die keinen Beweismittelstatus hatten.
»Und das war vor sieben Jahren?«, fragte Ballard.
»Grob«, sagte Rivera. »Wir haben nicht alles auf einmal weggebracht. Zuerst habe ich nur einen Schub ausgeräumt, und als der dann voll war und ich einen neuen gebraucht habe, war der nächste dran. Und immer so weiter. Das Ganze hat schätzungsweise ein Jahr gedauert.«
»Und wie kommst du darauf, dass Bosch nach Filzkarten gesucht hat?«
Rivera zuckte mit den Achseln.
»Es müssten jedenfalls Filzkarten aus der Zeit drinnen gewesen sein, in der dieser Mord passiert ist, oder nicht?«
»Aber die Angaben auf den Filzkarten sind doch alle in der Datenbank.«
»Schon. Aber was gibst du als Suchbegriff an? Weißt du, was ich meine? Die Sache hat durchaus einen Haken. Wenn er zum Beispiel wissen wollte, wer sich zum Zeitpunkt des Mordes in Hollywood rumgetrieben hat, wie willst du so was in der Datenbank nachsehen?«
Ballard nickte, obwohl sie wusste, dass es, zum Beispiel mithilfe geographischer oder zeitlicher Frames, viele Möglichkeiten gab, Informationen von Außendienstvernehmungen in der Datenbank zu finden. Sie fand, dass sich Rivera in diesem Punkt täuschte, aber in Hinblick auf Bosch vermutlich recht hatte. Er war ein Ermittler der alten Schule. Er wollte die Filzkarten durchsehen, um sich einen Eindruck zu verschaffen, mit wem die Hollywood-Streifenpolizisten zum Zeitpunkt des Clayton-Mords gesprochen hatten.
»Tja«, sagte sie, »dann werde ich jetzt mal, Cesar. Einen guten Tag noch, und halt die Ohren steif.«
»Du auch, Renée.«
Ballard verließ den Bereitschaftsraum und ging in die Frauenumkleide im ersten Stock. Sie tauschte ihren Hosenanzug gegen Jogginghose und T-Shirt. Sie wollte nach Venice fahren, ihre Sachen in die Reinigung bringen, ihren Hund bei der Hundesitterin abholen und dann mit ihrem Zelt und einem Stand-up-Paddle-Board an den Strand gehen. Mit Bosch würde sie sich am Nachmittag befassen, wenn sie geschlafen und über ihr weiteres Vorgehen nachgedacht hatte.
Die Morgensonne stach ihr in die Augen, als sie den Parkplatz hinter der Station überquerte. Sie schloss ihren Kleintransporter auf und warf ihren zerknüllten Anzug auf den Beifahrersitz. Dann fiel ihr Blick auf das alte Gebäude der Stadtwerke auf der Südseite des Parkplatzes, und sie entschied, nicht sofort loszufahren.
Sie öffnete die Tür zum Gebäude mit ihrem Kartenschlüssel. Im Fitnessstudio nutzten ein paar Kollegen von der Nachtschicht die Zeit bis zum Abklingen des morgendlichen Berufsverkehrs, um noch ein bisschen zu trainieren, bevor sie die Heimfahrt antraten. Sie tippte grinsend an ihren imaginären Mützenschirm und ging den Gang zu den ehemaligen Büros hinunter, die jetzt als Lagerräume dienten. Im ersten Raum waren Gegenstände von einem ihrer eigenen Fälle gelagert. Ein Jahr zuvor hatte sie einen Mann gefasst, der ein ganzes Motelzimmer voller Dinge gehortet hatte, die er entweder bei Einbrüchen erbeutet oder mit gestohlenen Kreditkarten gekauft hatte. Inzwischen war der Fall zwar gerichtlich geklärt, aber ein Großteil des Diebesguts war noch nicht zurückgefordert worden. Es bliebe in der Hollywood Station, bis die rechtmäßigen Eigentümer beim nächsten Tag der offenen Tür die letzte Gelegenheit erhielten, ihre Ansprüche auf die gestohlenen Gegenstände geltend zu machen.
Im nächsten Raum waren Kisten mit alten Akten, die noch aufbewahrt werden mussten. Ballard schaute in ein paar davon und räumte sie dann beiseite, um an die dahinter gestapelten Kartons zu kommen. Schon nach Kurzem stieß sie auf eine staubbedeckte Kiste mit Filzkarten. Sie war fündig geworden.
Zwanzig Minuten später hatte sie zwölf solcher Boxen mit Filzkarten auf den Flur hinausgebracht und an der Wand aufgereiht. Sie entnahm jeder ein paar Karten und vergewisserte sich, dass sie aus dem Zeitraum zwischen 2006 und 2010 stammten, als mit der digitalen Speicherung begonnen beziehungsweise die Mordkommission der Hollywood Division aufgelöst worden war.
Ballard schätzte, dass jede Kiste etwa eintausend Karten enthielt. Alle durchzusehen würde Stunden dauern. Hatte Bosch das vor, oder suchte er nach einer speziellen Karte oder einer bestimmten Nacht? Zum Beispiel nach der, in der Daisy Clayton entführt worden war?
Diese Frage konnte ihr nur Bosch beantworten.
Sie legte auf die Kisten im Flur einen Zettel, auf dem stand, dass sie für sie waren. Dann ging sie zu ihrem Transporter auf den Parkplatz hinaus, überprüfte den Sitz der Boards auf dem Dachgepäckträger und stieg ein. Als kurz nach ihrer Versetzung zur Hollywood Division durchgesickert war, dass sie ein internes Ermittlungsverfahren wegen sexueller Belästigung angestrengt hatte, war das nicht bei jedem in der Station gut angekommen. Manche hatten sie das mit den üblichen Formen von Mobbing spüren lassen, andere mit etwas drastischeren Maßnahmen. Als sie eines Morgens nach Schichtende am elektronischen Tor des Parkplatzes anhielt, rutschte das SUP-Board vom Dach und krachte mit seiner Nose mit solcher Wucht gegen das Tor, dass das Fiberglas splitterte. Sie reparierte den Schaden selbst und machte es sich von da an zur Gewohnheit, jeden Morgen nach ihrer Schicht den Sitz der Haltegurte zu überprüfen.
Sie fuhr auf der La Brea zum Freeway 10 und dann in Richtung Westen zum Strand. Sie wartete bis kurz nach acht Uhr, bevor sie die Nummer der RHD wählte, die sie immer noch im Handy gespeichert hatte, und nach Lucy Soto verlangte. Sie sagte den Namen mit einer abgehackten Vertrautheit, die den Eindruck erwecken sollte, dass es sich dabei um ein Telefonat von Cop zu Cop handelte. Sie wurde anstandslos durchgestellt.
»Detective Soto.«
»Hier Detective Ballard, Hollywood Division.«