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Niemand im Police Department von L.A. arbeitet gerne in der Nachtschicht. Auch Detective Ballard nicht – und sie tut es nicht freiwillig. Seit die junge Frau es gewagt hat, ihren Vorgesetzten wegen sexueller Nötigung anzuklagen, ist sie in die Late Show strafversetzt worden, wo morgens nach Schichtende jeder Fall abgegeben werden muss. Für eine ehrgeizige und begabte Ermittlerin wie Renée, deren Vater schon Cop war, ist das besonders hart. Auch wenn sie tagsüber beim Standup-Paddeln am Venice Beach den Kopf freizukriegen versucht – zwei Fälle kann sie einfach nicht vergessen: Eine junge Frau wurde halbtot auf dem Santa Monica Boulevard gefunden, und in derselben Nacht hat ein Mann fünf Menschen erschossen, im Dancers, einem Club, in dem auch viele Hollywood-Stars und -Sternchen verkehren. Renée beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Tagsüber. Wenn die gleißende Sonne über L.A. die Schattenseiten der Stadt so dunkel macht, als wäre es tiefste Nacht.
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Seitenzahl: 528
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Michael Connelly
Late Show
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb
Kampa
Ballard und Jenkins rückten kurz vor Mitternacht in der El Centro Avenue an. Es war der erste Einsatz der Schicht. Am Straßenrand stand bereits ein Streifenwagen, Ballard kannte die zwei Polizisten, die mit einer grauhaarigen Frau in einem Bademantel auf der Veranda des Bungalows standen. Es waren John Stanley, der »Street Boss«, und sein Partner Jacob Ross.
»Ich glaube, da bist du gefragt«, sagte Jenkins.
Im Lauf ihrer zweijährigen Partnerschaft hatte sich gezeigt, dass Ballard mit weiblichen Opfern besser umgehen konnte. Nicht dass Jenkins ein Unmensch war, aber Ballard konnte sich besser in weibliche Opfer hineinversetzen. Wenn sie es mit einem männlichen Opfer zu tun hatten, war es umgekehrt.
»Alles klar«, sagte Ballard.
Sie stiegen aus und gingen auf die beleuchtete Veranda zu. Ballard hielt ihr Funkgerät in der Hand. Als sie die drei Stufen hinaufstiegen, stellte Stanley die beiden Neuankömmlinge der Frau vor. Sie hieß Leslie Ann Lantana und war 77 Jahre alt. Ballard vermutete, dass es hier nicht viel für sie zu tun gäbe. Bei Einbrüchen lief es meistens darauf hinaus, dass sie den Fall aufnahmen, und wenn sie Glück hatten und auf Anzeichen stießen, dass der Einbrecher glatte Oberflächen berührt und Fingerabdrücke darauf hinterlassen hatte, wurde vielleicht noch ein Fingerabdruckwagen angefordert.
»Mrs. Lantana hat heute Abend eine Mail mit einer Betrugswarnung erhalten«, sagte Stanley. »Jemand hat versucht, für einen Kauf bei Amazon ihre Kreditkarte zu belasten.«
»Aber dieser Jemand waren allem Anschein nach nicht Sie«, sagte Ballard zu Mrs. Lantana.
»Nein, es wurde von einer Karte abgebucht, die ich nur für Notfälle habe und die ich im Internet nie verwende«, sagte Lantana. »Deshalb habe ich bei dem Kauf sofort eine Warnmeldung erhalten. Bei Amazon bezahle ich immer mit einer anderen Karte.«
»Okay«, sagte Ballard. »Haben Sie schon bei der Kreditkartengesellschaft angerufen?«
»Zuerst habe ich nachgesehen, ob ich die Karte vielleicht verloren habe, und da habe ich gemerkt, dass meine Geldbörse nicht in meiner Handtasche war. Sie muss mir gestohlen worden sein.«
»Haben Sie eine Idee, wo oder wann das war?«
»Gestern war ich im Ralphs einkaufen. Deshalb weiß ich, dass ich da meine Geldbörse noch hatte. Danach bin ich nach Hause gekommen und seitdem nicht mehr weggegangen.«
»Haben Sie im Supermarkt mit Karte bezahlt?«
»Nein, bar. Im Ralphs zahle ich immer bar. Aber um meine Punkte zu bekommen, habe ich meine Ralphs-Karte vorgelegt.«
»Halten Sie es für möglich, dass Sie Ihre Geldbörse im Ralphs vergessen haben? Als Sie an der Kasse die Karte rausgenommen haben vielleicht?«
»Nein, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Ich passe sehr gut auf meine Sachen auf. Auf meine Geldbörse und auf meine Handtasche. Und ich bin nicht senil.«
»Das wollte ich damit nicht sagen, Ma’am. Ich stelle nur Fragen.«
Ballard versuchte es noch einmal anders, auch wenn sie nicht überzeugt war, dass Lantana ihre Geldbörse nicht im Supermarkt vergessen hatte, wo sie jeder hätte an sich nehmen können.
»Wohnt hier außer Ihnen noch jemand, Ma’am?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Lantana. »Ich lebe allein hier. Bis auf Cosmo. Das ist mein Hund.«
»Hat jemand bei Ihnen geklingelt, oder war vielleicht sogar jemand hier, seit Sie gestern vom Einkaufen zurückgekommen sind?«
»Nein, niemand.«
»Auch keine Freunde oder Verwandte?«
»Nein, aber sie hätten meine Geldbörse auch nicht genommen.«
»Natürlich. Das wollte ich damit auch keineswegs andeuten. Ich versuche mir nur einen Eindruck zu verschaffen, wer bei Ihnen ein und aus gegangen ist. Sie sagen also, Sie waren die ganze Zeit zu Hause?«
»Ja, ich war die ganze Zeit zu Hause.«
»Und Cosmo? Gehen Sie mit Cosmo raus?«
»Natürlich, zweimal am Tag. Aber ich schließe die Tür ab, wenn ich mit ihm rausgehe, und ich gehe nie weit. Er ist schon ziemlich alt, und ich werde auch nicht jünger.«
Ballard lächelte verständnisvoll.
»Gehen Sie jeden Tag um die gleiche Zeit mit ihm Gassi?«
»Ja, wir haben einen festen Zeitplan. Das ist besser für den Hund.«
»Wie lange gehen Sie etwa mit ihm raus?«
»Am Morgen dreißig Minuten und am Nachmittag normalerweise etwas länger. Je nachdem, wie es uns geht.«
Ballard nickte. Sie wusste, ein Einbrecher, der in der Gegend südlich des Santa Monica Boulevard unterwegs war und die Frau mit ihrem Hund sah, brauchte nichts weiter zu tun, als ihr nach Hause zu folgen und das Haus zu beobachten. Und wenn sich herausstellte, dass sie allein lebte, kam er einen Tag später zur gleichen Zeit wieder her. Den meisten Leuten war nicht bewusst, wie angreifbar ihre täglichen Gewohnheiten sie für Kriminelle machten. Ein routinierter Einbrecher brauchte allerhöchstens zehn Minuten, um in ein Haus einzudringen und wieder zu verschwinden.
»Haben Sie nachgesehen, ob sonst etwas fehlt, Ma’am?«, fragte Ballard.
»Nein, dazu bin ich noch nicht gekommen«, sagte Lantana. »Sobald ich gemerkt habe, dass meine Geldbörse weg ist, habe ich die Polizei angerufen.«
»Dann würde ich vorschlagen, wir gehen mal rein und sehen nach, ob sonst noch etwas fehlt«, sagte Ballard.
Während sich Ballard von Lantana durchs Haus führen ließ, ging Jenkins nach hinten und sah nach, ob sich jemand an der Hintertür zu schaffen gemacht hatte. Im Schlafzimmer lag ein Hund auf einem Kissen. Er war ein Boxermischling, und sein Gesicht war fast weiß, so alt war er. Seine feucht schimmernden Augen folgten Ballard überallhin, aber er stand nicht auf. Er war zu alt. Er gab ein tiefes Knurren von sich.
»Alles okay, Cosmo«, beruhigte ihn Lantana.
»Ist er ein Boxer?«, fragte Ballard. »Und was noch?«
»Ein Ridgeback«, sagte Lantana, »vermuten wir.«
Ballard war nicht sicher, ob mit »wir« Lantana und der Hund gemeint waren oder jemand anders. Vielleicht Lantana und ihr Tierarzt.
Die alte Frau beendete den Rundgang durch das Haus mit einem Blick in die Schublade, in der sie ihren Schmuck aufbewahrte, und erklärte, dass außer der Geldbörse nichts zu fehlen schien. Also doch im Supermarkt, dachte Ballard. Aber vielleicht hatte der Einbrecher auch geglaubt, weniger Zeit zu haben, sich im Haus umzusehen, als er tatsächlich gehabt hatte.
Jenkins stieß zu ihnen und sagte, dass es nicht danach aussah, als hätte jemand sich an Vorder- oder Hintertür zu schaffen gemacht.
»Als Sie mit dem Hund unterwegs waren«, fragte Ballard die alte Frau, »ist Ihnen da auf der Straße irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Jemand, der nicht ins Viertel gehört?«
»Nein«, sagte Lantana.
»Gibt es irgendwo in der Nähe eine Baustelle? Irgendwelche Arbeiter?«
»Nein.«
Ballard bat Lantana, ihr die E-Mail zu zeigen, die sie von der Kreditkartengesellschaft erhalten hatte. Sie gingen zu einer Nische in der Küche, in der ein Laptop, ein Drucker und Ablagekörbe voller Umschläge standen. Es war offensichtlich ihr Büro, in dem sie Rechnungen bezahlte und Internetbestellungen vornahm. Lantana setzte sich und rief die E-Mail auf. Ballard beugte sich über ihre Schulter, um sie zu lesen. Dann bat sie Lantana, die Kreditkartengesellschaft noch einmal anzurufen.
Lantana tat dies von einem Wandapparat, dessen lange Schnur bis in die Nische reichte. Schließlich reichte sie das Telefon Ballard, die mit Jenkins auf den Flur hinausging und dabei die Schnur bis zum Anschlag dehnte. Sie hatte einen Spezialisten für Betrugswarnungen dran, der einen indischen Akzent hatte. Ballard gab sich als Detective des Los Angeles Police Department zu erkennen und fragte nach der Versandadresse, die bei dem Kreditkartenkauf angegeben worden war. Der Sachbearbeiter sagte, diese Information dürfe er ohne einen entsprechenden richterlichen Beschluss nicht herausgeben.
»Wie soll ich das verstehen?«, sagte Ballard. »Sie sind doch für Betrugswarnungen zuständig. Hier handelt es sich um einen Betrugsfall, und wenn Sie mir die Adresse geben, kann ich möglicherweise etwas in der Sache unternehmen.«
»Tut mir leid«, sagte der Sachbearbeiter. »Das darf ich nicht. Dazu müsste ich von unserer Rechtsabteilung ausdrücklich ermächtigt werden, was aber nicht der Fall ist.«
»Dann verbinden Sie mich bitte mit der Rechtsabteilung.«
»Da ist jetzt niemand. Mittags haben sie immer geschlossen.«
»Dann geben Sie mir Ihren Vorgesetzten.«
Ballard sah Jenkins an und schüttelte frustriert den Kopf.
»Das landet doch morgen sowieso bei Einbrüche«, sagte Jenkins. »Sollen die sich darum kümmern.«
»Bloß werden sie sich nicht darum kümmern«, sagte Ballard. »Es wird in dem anderen Kram untergehen. Sie werden der Sache nicht nachgehen, und das wäre ihr gegenüber nicht fair.«
Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Küche, wo das Opfer saß und verloren vor sich hin blickte.
»Seit wann ist das Leben fair?«, sagte Jenkins. »So ist es halt.«
Nach fünf Minuten kam der Supervisor ans Telefon. Ballard erklärte ihm, dass eine schwammige Situation vorlag und dass sie rasch etwas unternehmen mussten, um die Person zu fassen, die Mrs. Lantanas Kreditkarte gestohlen hatte. Der Supervisor erklärte ihr, dass die versuchte Verwendung der Kreditkarte verhindert worden sei und das Warnsystem folglich funktioniert habe.
»Es besteht keine Notwendigkeit, wegen dieser ›schwammigen Situation‹, wie Sie es nennen, etwas zu unternehmen«, sagte der Mann.
»Das System funktioniert nur, wenn wir den Kerl fassen«, sagte Ballard. »Verstehen Sie denn nicht? Zu verhindern, dass die Karte verwendet wird, ist nur ein Teil des Ganzen. Es schützt die Firma, für die Sie tätig sind. Aber Mrs. Lantana, in deren Haus jemand eingedrungen ist, schützt es nicht.«
»Tut mir leid«, sagte der Mann. »Ohne einen entsprechenden richterlichen Beschluss kann ich Ihnen nicht helfen. So lauten unsere Vorschriften.«
»Wie heißen Sie?«
»Irfan.«
»Wo sind Sie, Irfan?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sind Sie in Mumbai? Delhi? Wo?«
»Ich bin in Mumbai, ja.«
»Und deshalb ist Ihnen alles scheißegal. Weil dieser Typ nie in Ihr Haus in Mumbai einbrechen und Ihre Geldbörse stehlen wird. Haben Sie vielen Dank.«
Sie ging in die Küche zurück und hängte den Hörer auf, bevor der nutzlose Supervisor antworten konnte. Sie wandte sich wieder ihrem Partner zu.
»Also gut«, sagte sie. »Wir fahren zurück zur Station und schreiben es auf, und alles Weitere sollen die vom Einbruch machen.«
Ballard und Jenkins schafften es nicht zurück zur Station, um das Einbruchsprotokoll zu schreiben. Sie wurden vom Schichtleiter ins Hollywood Presbyterian Medical Center geschickt, um eine schwere Körperverletzung aufzunehmen. Ballard parkte auf einem Krankenwagenplatz am Eingang der Notaufnahme und machte die Warnblinkanlage an. Dann ging sie mit Jenkins durch die automatische Tür nach drinnen und notierte sich für das Protokoll, das sie später schreiben würde, die Uhrzeit. Die Uhr über dem Schalterfenster des Wartezimmers zeigte 00:41 an.
Die Haut des jungen Streifenpolizisten, der dort stand, war so weiß wie die eines Vampirs. Als Ballard ihm zunickte, kam er zu ihnen, um sie zu briefen. Er hatte keinen Winkel am Ärmel und war offensichtlich so kurz bei der Polizei, dass sie ihn noch nicht kannte.
»Wir haben sie auf einem Parkplatz am Santa Monica auf Höhe der Highland gefunden«, sagte der Streifenpolizist. »Wie es aussah, hat sie der Täter einfach dort abgeladen. Wahrscheinlich dachte er, sie wäre tot. Aber sie hat noch gelebt und ist kurz zu sich gekommen und war ein paar Minuten halbwegs bei Bewusstsein. Sie wurde ganz schön übel zugerichtet. Einer der Rettungssanitäter meinte, sie könnte eine Schädelfraktur haben. Sie haben sie nach hinten gebracht. Mein Training Officer ist auch hinten.«
Zu der schweren Körperverletzung kam vielleicht auch Entführung, was den Fall für Ballard interessanter machte. Sie sah auf das Namensschild des Streifenpolizisten. Er hieß Taylor.
»Taylor, ich bin Ballard«, sagte sie, »und das ist Detective Jenkins, ein weiterer Stammgast der Finsternis. Seit wann sind Sie bei Super Six?«
»Das ist mein erster Einsatz«, sagte Taylor.
»Frisch von der Akademie? Na dann, willkommen. Bei der Six wird es bestimmt spannender als irgendwo sonst. Wer ist Ihr Training Officer?«
»Officer Smith, Ma’am.«
»Ich bin nicht Ihre Mutter. Nennen Sie mich nicht Ma’am.«
»Sorry, Ma’am. Das heißt …«
»Bei Smitty sind Sie in guten Händen. Er ist schwer in Ordnung. Haben Sie das Opfer schon identifiziert?«
»Nein, sie hatte keine Handtasche oder sonst was, aber wir haben versucht, mit ihr zu reden, als wir auf die Rettungssanitäter gewartet haben. Sie war immer wieder kurz bei Bewusstsein, hat aber nur wirres Zeug geredet. Ich glaube, sie hat gesagt, sie heißt Ramona.«
»Hat sie sonst was gesagt?«
»Ja, sie hat was von einem kopfstehenden Haus geredet.«
»Von einem ›kopfstehenden Haus‹?«
»Das hat sie gesagt. Officer Smith hat sie gefragt, ob sie den Täter gekannt hat, und das hat sie verneint. Und als er sie gefragt hat, wo sie angegriffen wurde, hat sie ›im kopfstehenden Haus‹ gesagt. Wie gesagt, es hat alles nicht viel Sinn ergeben.«
Ballard nickte und überlegte, was damit gemeint sein könnte.
»Okay. Dann gehen wir mal nach hinten und schauen uns das an.«
Damit nickte sie Jenkins zu und ging zur Tür, die zu den Behandlungsabteilen der Notaufnahme führte. Sie trug einen anthrazitgrauen Van-Heusen-Anzug mit kreideweißen Nadelstreifen. Sie fand, die Förmlichkeit des Anzugs passte gut zu ihrer braunen Haut und dem sonnengebleichten Haar. Und er verlieh ihr trotz ihrer zierlichen Statur Autorität. Sie zog das Jackett ein Stück zurück, damit die Frau hinter dem Glasfenster des Aufnahmeschalters die Dienstmarke an ihrem Gürtel sehen konnte und die automatische Tür öffnete.
Die Aufnahmestation bestand aus sechs mit Vorhängen abgetrennten Untersuchungs- und Behandlungsabteilen. An einem Schalter in der Mitte der Station wimmelte es von Ärzten, Schwestern und Technikern. Das organisierte Chaos wirkte wie von unsichtbarer Hand gesteuert, und jeder schien seine Aufgabe zu haben. Es war viel los, aber das war im Hollywood Pres jede Nacht so.
Vor dem Vorhang von Abteil 4 stand ein weiterer Streifenpolizist, und Ballard und Jenkins steuerten auf ihn zu. Er hatte drei Winkel an seinen Ärmeln. Sie standen für fünfzehn Jahre Polizeidienst, und Ballard kannte ihn gut.
»Smitty, ist ein Doc bei ihr drinnen?«, fragte sie.
Officer Melvin Smith blickte von seinem Smartphone auf, auf dem er gerade eine Textnachricht geschrieben hatte.
»Ballard, Jenkins, alles klar?«, sagte Smith. Und dann: »Nein, sie ist allein. Sie wollen sie in den OP raufbringen. Schädelfraktur, Hirnschwellung. Wie es scheint, müssen sie ihr den Schädel öffnen, um etwas Druck abzulassen.«
»Das sollten sie bei mir vielleicht auch mal machen«, sagte Jenkins.
»Sie redet also nicht?«, fragte Ballard.
»Nicht mehr«, sagte Smith. »Sie haben sie sediert. Ich habe gehört, dass sie sie in ein künstliches Koma versetzen wollen, bis die Schwellung zurückgeht. Wie geht’s übrigens Lola, Ballard? Hab sie schon länger nicht mehr gesehen.«
»Lola geht’s gut«, sagte Ballard. »Habt ihr sie zufällig gefunden, oder seid ihr gerufen worden?«
»Da hatte es jemand ziemlich eilig«, sagte Smith. »Es wurde zwar gemeldet, aber als wir hingekommen sind, war der Anrufer schon weg. Das Opfer hat ganz allein auf dem Parkplatz gelegen. Erst dachten wir, sie wäre tot.«
»Haben Sie jemand hingeschickt, um den Tatort zu sichern?«, fragte Ballard.
»Nee, da war nur Blut auf dem Asphalt«, sagte Smith. »Sie ist dort nur abgeladen worden.«
»Das ist doch Mist, Smitty. Wir müssen den Tatort untersuchen. Am besten, Sie machen hier dicht und fahren den Tatort sichern, bis die Spurensicherung anrückt. Sie können ja im Auto sitzen bleiben und Ihren Papierkram erledigen oder sonst was.«
Smith sah Jenkins, den ranghöheren Detective, fragend an.
»Sie hat recht«, sagte Jenkins. »Der Tatort muss gesichert werden.«
»Okay.« Smiths Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er das für Zeitverschwendung hielt.
Ballard ging durch den Vorhang in Abteil 4. Die Frau lag auf einer Liege, ihr malträtierter Körper steckte in einem hellgrünen Krankenhauskittel. An beiden Armen und in der Nase waren Schläuche angebracht. In ihren vierzehn Jahren bei der Polizei hatte Ballard schon jede Menge Opfer von Gewaltverbrechen gesehen, aber von den Fällen, in denen das Opfer noch am Leben gewesen war, war das einer der schlimmsten.
Die Frau war klein und wog maximal 50 Kilo. Beide Augen waren vollständig zugeschwollen, die Augenhöhle des rechten unter der Haut erkennbar gebrochen. Außerdem war ihr Gesicht durch eine Schwellung der gesamten rechten Seite, die überall aufgescheuert war, stark deformiert. Offensichtlich war sie brutal geschlagen und – wahrscheinlich auf dem Parkplatz – mit dem Gesicht über einen rauen Untergrund geschleift worden. Ballard beugte sich über die Liege, um die Wunde auf der Oberlippe zu betrachten. Sie rührte von einem Biss her, der die Lippe tief gespalten hatte. Das zerfetzte Gewebe wurde von zwei provisorischen Stichen zusammengehalten. Da musste ein plastischer Chirurg ran. Falls das Opfer überlebte.
»Meine Güte«, sagte Ballard.
Sie zog das Telefon von ihrem Gürtel und öffnete die Kamera-App. Als Erstes fotografierte sie das Gesicht, dann machte sie von den einzelnen Gesichtsverletzungen Nahaufnahmen. Jenkins beobachtete sie kommentarlos. Er wusste, wie sie bei so etwas vorging.
Um die Brust des Opfers nach Verletzungen abzusuchen, knöpfte Ballard den oberen Teil des Krankenhauskittels auf. Ihre Aufmerksamkeit wurde auf die linke Seite des Oberkörpers gelenkt, wo sich mehrere gerade verlaufende tiefe Striemen abzeichneten, die eher von einem Gegenstand als von einer menschlichen Hand herzurühren schienen.
»Sieh dir das mal an«, sagte Ballard. »Ein Schlagring?«
Jenkins beugte sich über das Opfer.
»Sieht ganz so aus. Durchaus möglich.«
Angewidert von dem Anblick, richtete er sich wieder auf. John Jenkins war 25 Jahre bei der Polizei, und Ballard wusste, dass seine Empathiereserven schon lange aufgebraucht waren. Er war ein guter Ermittler – wenn er wollte. Aber er war wie viele Männer, die schon zu lang dabei waren. Er wollte nur noch in Ruhe seinen Job machen. Das Polizeipräsidium Downtown hieß PAB, kurz für Police Administration Building. Typen wie Jenkins fanden, dass PAB für Politics and Bureaucracy oder Politics and Bullshit stand.
Zur Spätschicht wurden üblicherweise nur die verdonnert, die sich auf politischer Ebene mit dem Polizeiapparat angelegt hatten. Jenkins war einer der wenigen, die sich freiwillig für die Schicht von elf bis sieben gemeldet hatten. Seine Frau hatte Krebs, und er arbeitete am liebsten in der Zeit, in der sie schlief, damit er jeden Tag zu Hause sein konnte, wenn sie wach war und ihn brauchte.
Ballard machte weitere Fotos. Auch die Brüste des Opfers waren von Verletzungen und Blutergüssen überzogen, die rechte Brustwarze war wie die Oberlippe brutal zerbissen. Die linke Brust war rund und voll, die rechte kleiner und flach. Implantate, von denen eines unter der Haut geplatzt war. Ballard ahnte, wie viel Kraft dafür nötig gewesen sein musste. Bisher hatte sie so etwas nur bei einem Opfer erlebt, und das war tot gewesen.
Behutsam knöpfte sie den Kittel wieder zu und untersuchte die Hände nach Abwehrverletzungen. Die Fingernägel waren abgebrochen und blutig. Dunkelviolette Verfärbungen und Abschürfungen umgaben die Handgelenke und deuteten darauf hin, dass das Opfer lange gefesselt und gefangen gehalten worden war. Ballard vermutete Stunden, nicht Minuten. Vielleicht sogar Tage.
Als sie weitere Fotos machte, fielen ihr die Länge der Finger des Opfers und der weite Abstand zwischen den Knöcheln auf. Santa Monica und Highland – eigentlich hätte sie es sich gleich denken können. Sie hob den Saum des Kittels. Das Opfer war biologisch ein Mann.
»Scheiße, auf den Anblick hätte ich verzichten können«, sagte Jenkins.
»Wenn Smitty das gewusst hat und es uns nicht gesagt hat, ist er ein Riesenarschloch«, sagte Ballard. »Damit sieht die Sache gleich ganz anders aus.«
Sie erstickte ihren Ärger im Keim und konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche.
»Hast du jemanden von der Sitte gesehen, bevor wir heute losgefahren sind?«, fragte sie.
»Äh, ja, bei denen steht irgendwas an«, sagte Jenkins. »Aber was genau, weiß ich nicht. Ich habe Pistol Pete im Aufenthaltsraum Kaffee machen sehen.«
Ballard trat von der Liege zurück und wischte durch die Fotos auf ihrem Display, bis sie zu der Aufnahme vom Gesicht des Opfers kam. Dann schickte sie das Foto an Pete Mendez von der Sitte in Hollywood. Sie hängte folgende Textnachricht an:
Kennst du ihn? Ramona? Santa-Monica-Strich?
Mendez war bei Six legendär – aus vielen Gründen. Den größten Teil seiner Zeit beim LAPD hatte er als verdeckter Ermittler der Sitte gearbeitet, und als junger Officer hatte er sich oft als Strichjunge ausgeben müssen. Bei diesen Lockvogeleinsätzen war er verkabelt gewesen. Audioaufnahmen waren für eine Verurteilung oft entscheidend, weil sie den Angeklagten dazu brachten, sich der Anklagepunkte schuldig zu bekennen. Die Aufnahme einer von Mendez’ Begegnungen wurde auf Abschiedsfeiern und Partys im Kollegenkreis immer noch abgespielt. Mendez hatte am Santa Monica Boulevard gestanden, als ein Freier vorfuhr. Bevor dieser sich bereit erklärte, für die in Aussicht gestellten Dienste zu bezahlen, wollte er jedoch von Mendez noch Verschiedenes wissen und erkundigte sich unter anderem, wenn auch mit ganz anderen Worten, nach der Länge seines erigierten Penis.
»Ungefähr fünfzehn Zentimeter«, antwortete Mendez.
Damit konnte er bei dem Freier keinen Eindruck machen, weshalb dieser wortlos weiterfuhr. Kurz darauf verließ ein Sergeant von der Sitte seinen Beobachtungsposten und hielt neben Mendez am Straßenrand. Auch dieser Wortwechsel war auf Band festgehalten.
»Mendez, wir sind hier, um Festnahmen zu machen«, stauchte ihn der Sergeant zusammen. »Wenn dich also nächstes Mal ein Typ fragt, wie lang dein Schwanz ist, dann übertreibe gefälligst, ja?«
»Hab ich doch«, erwiderte Mendez – zu seiner immerwährenden Schande.
Ballard zog den Vorhang zurück, um zu sehen, ob Smith noch da war, aber er und Taylor waren bereits gegangen. Sie steuerte auf den Schalter in der Mitte der Notaufnahme zu, um mit einer der Schwestern zu sprechen. Jenkins folgte ihr.
»Ballard, Jenkins, LAPD«, stellte sie sich vor. »Ich müsste mit dem Arzt sprechen, der das Opfer in Abteil 4 behandelt.«
»Er ist gerade in 2«, sagte die Schwester. »Sobald er dort fertig ist.«
»Wann wird der Patient operiert?«
»Sobald ein OP frei ist.«
»Haben Sie schon den Vergewaltigungstest gemacht? Analabstriche? Außerdem brauchen wir Fingernagelproben. Wer kann uns dabei helfen?«
»Sie haben ihm erst mal das Leben zu retten versucht – das hatte Priorität. Über alles Weitere können Sie mit dem Arzt reden.«
»Darum habe ich doch gebeten. Ich möchte mit …«
Das Telefon in Ballards Hand vibrierte, und sie wandte sich von der Schwester ab. Auf dem Display erschien Mendez’ Antwort. Sie las sie Jenkins laut vor:
»›Ramona Ramone, Dragon. Richtiger Name Ramón Gutierrez. Hatte ihn erst vor zwei Wochen hier. Vorstrafenregister länger als sein Schwanz vor der OP.‹ So kann man es auch ausdrücken …«
»Der muss gerade reden«, sagte Jenkins. »Bei seiner Schwanzlänge …«
Dragqueens, Transvestiten und Transgender wurden bei der Sitte üblicherweise als Dragons bezeichnet. Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Kategorien wurden nicht getroffen. Es war nicht nett, aber man nahm es hin. Ballard war selbst zwei Jahre lang in einem Lockvogelteam gewesen. Sie kannte die Szene, und sie kannte den Slang. Der ließ sich nicht ändern, auch wenn man die Cops in noch so viele Sensitivity Trainings steckte.
Sie sah Jenkins an. Bevor sie dazu kam, etwas zu sagen, tat er das.
»Nein.«
»Was, nein?«, fragte sie.
»Ich weiß, was du sagen willst. Du wirst sagen, du möchtest diesen behalten.«
»Es ist ein Vampirfall – er muss nachts bearbeitet werden. Wenn wir ihn an Sexualdelikte weiterleiten, passiert das Gleiche wie mit dem Einbruch eben – er landet in einem Papierstapel. Sie nehmen ihn sich zwischen neun und fünf vor, und es kommt nichts dabei heraus.«
»Trotzdem nein. Es ist nicht unsere Aufgabe.«
Es war der Hauptstreitpunkt in ihrer Partnerschaft. Sie hatten die Spätschicht, die Late Show, und wurden an jeden Tatort gerufen, an dem ein Detective erforderlich war. Das hieß, dass sie von einem Fall zum nächsten fuhren und erste Protokolle aufnahmen oder Selbstmorde absegneten, aber keine Fälle behielten. Sie schrieben die ersten Berichte und übergaben die Fälle am Morgen an die jeweils zuständige Einheit. Raubüberfälle, Sexualdelikte, Einbruch, Autodiebstahl und so weiter. Manchmal hätte Ballard einen Fall gern von Anfang bis Ende durchgezogen. Aber das war nicht ihr Auftrag, und Jenkins war nicht bereit, auch nur einen Finger zu rühren, wenn etwas darüber hinausging. Auch in der Nachtschicht machte er stur Dienst nach Vorschrift. Er hatte eine kranke Frau zu Hause und wollte jeden Morgen da sein, wenn sie wach wurde. Er hatte kein Interesse an Überstunden – weder ein finanzielles noch ein arbeitsbedingtes.
»Ach komm, was sollen wir denn sonst tun?«, versuchte Ballard, ihn umzustimmen.
»Wir sehen uns den Tatort an«, sagte Jenkins, »und schauen, ob es überhaupt einen Tatort gibt. Dann fahren wir zurück und schreiben unsere Protokolle über diese Geschichte und über den Einbruch bei der alten Frau. Mit ein bisschen Glück werden wir nicht mehr gebraucht und sind bis zum Morgen mit dem Papierkram fertig. Los, komm.«
Er machte sich ans Gehen, aber Ballard folgte ihm nicht. Er drehte sich um und kam zu ihr zurück.
»Was jetzt?«
»Wer das getan hat, ist ein echtes Monster, Jenks«, sagte sie. »Das weißt du ganz genau.«
»Fang bloß nicht wieder damit an. So was hatten wir schon zur Genüge. Irgendein Typ geht auf Brautschau, kennt sich nicht aus im Viertel, sieht ein Mädchen an der Straße stehen und hält an. Er wird sich mit ihr einig, nimmt sie auf den nächsten Parkplatz mit und kommt sich verarscht vor, als er unter dem Minirock was rumbaumeln sieht. Er verdrischt den Typen und fährt weiter.«
Ballard schüttelte schon den Kopf, bevor Jenkins mit seiner Zusammenfassung des Falls fertig war.
»Nicht bei solchen Bissspuren«, sagte sie. »Nicht, wenn er einen Schlagring hatte. Das zeugt von einem Plan, von Vorsatz. Sie war lang gefesselt. Das war ein echtes Monster, und deshalb möchte ich den Fall behalten und zur Abwechslung mal was ausrichten.«
Rein technisch gesehen war Jenkins der ranghöhere Partner. Er war derjenige, der in solchen Fällen zu entscheiden hatte. In der Station konnte sich Ballard zur Not an den Lieutenant wenden, aber Partner machten so etwas untereinander aus.
»Ich fahre jetzt beim Tatort vorbei und dann zurück aufs Revier und fange mit der Schreiberei an«, sagte Jenkins. »Der Einbruch kommt auf den Einbruchstisch, und das hier, das kriegt der CAP-Tisch, wenn nicht sogar die Mordkommission. Besonders gut sieht der Junge da drinnen nämlich nicht aus. Aber damit hat es sich!«
Nachdem das geklärt war, wandte er sich erneut zum Gehen. Er war schon so lange dabei, dass er die einzelnen Einheiten immer noch Tische nannte. In den neunziger Jahren waren sie das auch noch gewesen – aneinandergeschobene Schreibtische, die einen einzigen großen Tisch bildeten. Der Einbruchstisch zum Beispiel. Oder der Tisch von Crimes Against Persons, den alle nur CAP-Tisch nannten und der für Straftaten gegen Personen zuständig war.
Ballard wollte Jenkins schon nach draußen folgen, als ihr etwas einfiel. Sie ging zurück zu der Schwester am Schalter.
»Wo sind die Kleider des Opfers?«, fragte sie.
»Wir haben sie in eine Tüte getan«, sagte sie. »Augenblick.«
Jenkins war an der Tür stehen geblieben und schaute zu ihr zurück. Ballard hielt einen Finger hoch, damit er wartete. Die Schwester zog eine durchsichtige Plastiktüte aus einer Schublade. Die Tüte enthielt alles, was am Opfer gefunden worden war. Viel war es nicht. Ein bisschen billiger Schmuck und paillettenbesetzte Kleidungsstücke. An einem Schlüsselbund mit zwei Schlüsseln hing ein kleiner Behälter mit Pfefferspray. Keine Geldbörse, kein Bargeld, kein Handy. Sie reichte die Tüte Ballard.
Ballard gab der Schwester ihre Visitenkarte und bat sie, dem Arzt auszurichten, sie anzurufen. Dann folgte sie ihrem Partner durch die automatische Tür der Sicherheitsschleuse. In diesem Moment begann ihr Handy zu summen. Sie schaute auf das Display. Es war der Schichtleiter, Lieutenant Munroe.
»L.T.«
»Ballard, sind Sie und Jenkins noch im Hollywood Pres?«
Ihr entging die Dringlichkeit in seiner Stimme nicht. Es musste irgendetwas Größeres passiert sein. Sie blieb stehen und winkte Jenkins zu sich.
»Wir wollten gerade gehen. Warum?«
»Stellen Sie es auf laut.«
Das tat sie.
»Okay, was gibt’s?«, sagte sie.
»Wir haben in einem Club am Sunset vier Tote«, sagte Munroe. »Ein Typ an einem Tisch hat angefangen, auf die Leute zu schießen, mit denen er da war. Ein Rettungswagen ist mit einem fünften Opfer, das letzten Meldungen zufolge kurz vor dem Abnippeln ist, unterwegs zum Hollywood Pres. Bleiben Sie also im Krankenhaus, Ballard, und sehen Sie, was Sie rausbekommen können. Jenkins, Sie lasse ich von Smitty und seinem Rookie abholen. Den Fall wird bestimmt die RHD übernehmen, aber es dürfte noch etwas dauern, bis sie anrücken. Eine Streife ist bereits vor Ort. Sie sichert den Tatort und richtet eine Einsatzzentrale ein. Unsere Leute versuchen, die Zeugen am Abhauen zu hindern. Die meisten haben sich allerdings sofort verzogen, als ihnen die ersten Kugeln um die Ohren gepfiffen sind.«
»Wie ist die genaue Adresse?«, fragte Jenkins.
»Das Dancers drüben beim Hollywood Athletic Club«, sagte Munroe. »Kennen Sie das?«
»Alles klar«, sagte Ballard.
»Gut. Dann fahren Sie schon mal hin, Jenkins. Und Ballard, Sie kommen nach, sobald Sie mit dem fünften Opfer fertig sind.«
»L.T.«, sagte Ballard. »Wir müssen in Zusammenhang mit dieser Körperverletzung einen Tatort sichern. Wir haben Smitty und …«
»Nicht heute Nacht«, sagte Munroe. »Für die Dancers-Geschichte werden alle Einsatzkräfte benötigt. Jedes verfügbare Spurensicherungsteam kommt dorthin.«
»Dann lassen wir den anderen Tatort also einfach sausen?«, fragte Ballard.
»Überlassen Sie das der Frühschicht, Ballard«, sagte Munroe. »Sollen die sich morgen damit herumschlagen. Ich muss jetzt Schluss machen. Sie wissen, was Sie zu tun haben.«
Munroe legte ohne ein weiteres Wort auf. Jenkins bedachte Ballard mit einem Hab-ich-dir’s-nicht-gesagt-Blick, und plötzlich war eine Sirene zu hören. Ballard kannte den Unterschied zwischen der Sirene eines Rettungswagens und der eines Polizeiautos. Es waren Smitty und Taylor, die Jenkins holen kamen.
»Bis dann im Dancers«, sagte Jenkins.
»Bis dann«, sagte Ballard.
Die Sirene verstummte, als der Streifenwagen die Zufahrt zur Sicherheitsschleuse herunterkam. Jenkins zwängte sich auf den Rücksitz, und der SUV fuhr sofort wieder los. Ballard blieb mit der Plastiktüte in der Hand an der Schleuse zurück.
Inzwischen konnte sie in der Ferne eine zweite Sirene hören. Der Krankenwagen, der das fünfte Opfer brachte. Ballard schaute hinter sich durch die Glastür und auf die Uhr über dem Notaufnahmeschalter. Es war 1:17 Uhr, und ihre Schicht hatte gerade mal vor zwei Stunden begonnen.
Die Sirene verstummte, als der Rettungswagen die Rampe zur Sicherheitsschleuse herunterkam. Ballard wartete und schaute. Die Flügeltüren am Heck des Krankenwagens gingen auf, und die Rettungssanitäter hievten das fünfte Opfer auf einer Fahrtrage heraus. Die Frau hing bereits an einem Beatmungsgerät.
Ballard hörte, wie die Sanitäter den wartenden Ärzten mitteilten, dass das Opfer im Krankenwagen einen Herzstillstand gehabt hatte und dass sie es reanimiert und stabilisiert, aber kurz vor der Ankunft im Krankenhaus erneut verloren hatten. Das Team von der Notaufnahme kam nach draußen und übernahm die Fahrtrage. Sie schoben sie rasch nach drinnen und direkt zu einem Lift, der sie zu den OPs brachte. Ballard folgte ihnen und schaffte es gerade noch in den Aufzug, bevor die Türen zugingen. Sie stand in der Ecke, während die vier Mitglieder des Teams in ihren hellblauen Kasacks die Frau auf der Trage am Leben zu erhalten versuchten.
Während der Lift ruckelnd nach oben fuhr, nahm Ballard das Opfer genauer in Augenschein. Die Frau trug abgeschnittene Jeans, hohe Converses und ein schwarzes Trägerhemdchen, das von Blut durchtränkt war. In einer Tasche ihrer Jeans steckten vier Stifte. Daraus schloss Ballard, dass das Opfer eine Bedienung aus dem Club war, in dem die Schießerei stattgefunden hatte.
Sie war mitten in die Brust getroffen worden. Ihr Gesicht war von der Atemmaske verdeckt, aber Ballard schätzte sie auf Mitte zwanzig. An ihren Händen waren keine Ringe oder Armreifen zu sehen. Auf der Innenseite des Handgelenks war ein kleines Tattoo eines Einhorns.
»Wer sind Sie?«
Ballard blickte von der Patientin auf, konnte aber nicht sagen, wer sie angesprochen hatte, weil alle Mundschutz trugen. Es war eine Männerstimme gewesen, aber drei der vier Umstehenden waren Männer.
»Ballard, LAPD«, sagte sie.
Sie zog die Dienstmarke von ihrem Gürtel und hielt sie hoch.
»Legen Sie einen Mundschutz an. Wir gehen in den OP.«
Eine Frau zog einen Mundschutz aus einem Spender an der Wand der Liftkabine und reichte ihn ihr. Ballard legte ihn sofort an.
»Und kommen Sie uns nicht in die Quere.«
Die Tür ging auf. Ballard ging rasch nach draußen und trat zur Seite. Die Fahrtrage rollte aus dem Lift und direkt in einen OP mit einem gläsernen Beobachtungsfenster in der Tür. Ballard blieb davor stehen und sah durch die Glasscheibe zu. Das Ärzteteam versuchte alles, um die junge Frau zu reanimieren und für die Operation vorzubereiten, aber nach fünfzehn Minuten gaben sie auf und erklärten sie für tot. Es war 1:34 Uhr. Ballard notierte sich den Zeitpunkt.
Nachdem das medizinische Personal den OP verlassen hatte, um sich anderen Aufgaben zuzuwenden, blieb Ballard allein zurück. Die Leiche würde bestimmt bald in einen anderen Raum gebracht und dann von einem Wagen der Rechtsmedizin abgeholt. Aber bis dahin hatte Ballard noch etwas Zeit. Sie betrat den OP und betrachtete die Tote. Das Trägerhemd war aufgeschnitten worden, und die Brust war entblößt.
Ballard holte ihr Handy heraus und machte ein Foto von der Einschusswunde im Brustbein. Sie konnte nirgendwo Kordittüpfel sehen. Demnach war der Schuss aus mehr als 1,20 Meter Entfernung abgegeben worden, offensichtlich von einem guten Schützen. Obwohl er sich in Bewegung befunden und unter enormem Stress gestanden haben musste, hatte er voll ins Schwarze getroffen. Das galt es zu berücksichtigen, wenn sie dem Mörder jemals gegenüberstehen sollte, was im Moment nicht sehr wahrscheinlich war.
Ballard bemerkte ein Stück Schnur um den Hals der Toten. Es war keine Kette, nur ein simpler Bindfaden. Falls ein Anhänger daran befestigt war, konnte sie ihn nicht sehen, weil der Bindfaden unter dem blutverklebten Haar der Toten verschwand. Ballard schaute kurz zur Tür des OP, dann wandte sie sich wieder dem Opfer zu und zog die Schnur unter dem Haar hervor. Es war ein kleiner Schlüssel daran befestigt. Auf einem Tablett mit chirurgischen Instrumenten lag ein Skalpell. Sie griff danach und durchtrennte die Schnur. Dann fischte sie einen Gummihandschuh aus der Tasche ihres Jacketts und ließ Schlüssel und Schnur in Ermangelung einer Beweismitteltüte hineingleiten.
Nachdem sie den Handschuh eingesteckt hatte, studierte sie das Gesicht der Toten. Ihre Augen waren leicht geöffnet, und in ihrem Mund steckte immer noch ein Luftschlauch. Das störte Ballard. Er verzerrte das Gesicht der Frau, und sie glaubte, dass ihr das peinlich gewesen wäre, wenn sie noch gelebt hätte. Ballard wollte den Schlauch entfernen, aber sie wusste, dass es gegen die Vorschriften war. Der Rechtsmediziner sollte die Leiche so erhalten, wie sie zum Zeitpunkt des Todes gewesen war. Diese rote Linie hatte sie jedoch bereits überschritten, als sie den Schlüssel an sich genommen hatte, und sie konnte sich nicht damit abfinden, dass das Gesicht durch den Luftschlauch so stark entstellt wurde. Sie wollte gerade danach greifen, als hinter ihr jemand sagte:
»Detective?«
Ballard drehte sich um und sah, dass es einer der Rettungssanitäter war, die das Opfer ins Krankenhaus gebracht hatten. Er hielt eine Plastiktüte hoch.
»Das ist ihre Schürze«, sagte er. »Mit ihren Trinkgeldern.«
Sie nahm sie an sich und hielt sie in Augenhöhe.
»Danke«, sagte Ballard. »Ich werde sie mitnehmen. Konnte die Frau schon identifiziert werden?«
»Ich glaube nicht«, sagte der Sanitäter. »Sie hat in dem Club bedient, deshalb hat sie ihre Sachen wahrscheinlich im Auto oder in einem Schließfach oder sonst wo gelassen.«
»Mhm.«
»Aber sie heißt Cindy.«
»Cindy?«
»Ja, wir haben im Club gefragt. Sie wissen schon, damit wir mit ihr reden können. Hat dann aber nichts mehr geholfen. Sie hatte einen Herzstillstand.«
Er blickte auf die Leiche. Ballard glaubte Traurigkeit in seinen Augen zu sehen.
»Wenn wir ein paar Minuten früher eingetroffen wären«, sagte er, »hätten wir ihr vielleicht noch helfen können. Aber schwer zu sagen.«
»Sie haben alles versucht«, sagte Ballard. »Sie würde sich bei Ihnen bedanken, wenn sie könnte.«
Er sah Ballard an.
»Und jetzt werden Sie alles versuchen, hm?«, sagte er.
»Auf jeden Fall«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass es nicht mehr ihr Fall wäre, sobald ihn die RHD übernahm.
Kurz nachdem der Rettungssanitäter gegangen war, kamen zwei Pfleger herein, um die Leiche wegzubringen, damit der OP sterilisiert und wieder verwendet werden konnte – in dieser Nacht war in der Notaufnahme viel los. Sie deckten die Leiche mit einer Plastikplane zu und schoben die Trage hinaus. Der linke Arm der Toten stand unter der Plane hervor, und Ballard sah wieder das Einhorn auf ihrem Handgelenk. Sie hatte die Tüte mit der Schürze des Opfers in der Hand, als sie der Trage nach draußen folgte.
Während sie den Flur hinunterging, schaute sie durch die Fenster der anderen OPs. Sie sah, dass Ramón Gutierrez inzwischen nach oben gebracht worden war und gerade operiert wurde, um den von der Hirnschwellung hervorgerufenen Druck zu reduzieren. Sie schaute kurz zu, bis ihr Handy zu summen begann. Sie las die Textnachricht. Sie war von Lieutenant Munroe, der sich nach dem Zustand des fünften Opfers erkundigte. Ballard tippte die Antwort auf dem Weg zum Lift.
HMAL – komme zum Tatort.
HMAL war ein altes LAPD-Kürzel, das am Ende eines Funkspruchs verwendet wurde. Manche behaupteten, es stand für Halt mich auf dem Laufenden, aber in der Praxis stand es für Ende der Durchsage. Im Lauf der Zeit hatte es dann Schichtende zu bedeuten begonnen oder, wie in diesem Fall, den Tod des Opfers.
Während Ballard in dem langsamen Lift nach unten fuhr, streifte sie sich einen Gummihandschuh über, öffnete die Plastiktüte, die ihr der Sanitäter gegeben hatte, und durchsuchte die Schürzentaschen der Kellnerin. In einer waren ein Packen Geldscheine, eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug, in der anderen ein Notizblock. Ballard war schon im Dancers gewesen und wusste, dass der Name des Clubs auf den großartigen L.A.-Roman Der lange Abschied zurückging. Sie wusste auch, dass sie dort eine ganze Karte für Drinks hatten, die nach Büchern benannt waren, die in L.A. spielten, wie etwa Black Dahlia, Blonde Lightning und Indigo Slam. Da war für eine Bedienung ein Notizblock unerlässlich.
Zurück am Auto, öffnete Ballard den Kofferraum und legte die Tüte in eine der Schachteln, in denen sie und Jenkins Beweismaterial aufbewahrten. Da sie normalerweise in jeder Schicht Beweise von verschiedenen Fällen mitnehmen mussten, hatten sie den Kofferraum mit Schachteln unterteilt. Ramón Gutierrez’ Sachen hatte sie bereits verstaut. Jetzt versiegelte sie die Schachtel, in der die Schürze lag, mit rotem Beweismitteltape und schloss den Kofferraum.
Bei Ballards Ankunft im Dancers war der Tatort wie ein Zirkus in drei Manegen unterteilt, die jedoch nicht wie bei Barnum & Bailey nebeneinanderlagen, sondern drei konzentrische Kreise bildeten und der Bedeutung und Komplexität des Falls sowie dem zu erwartenden Medieninteresse geschuldet waren. Der innerste Kreis war der eigentliche Tatort. Das war die rote Zone, in der Ermittler und Spurensicherung zugange waren. Sie war umgeben von einem zweiten Ring, in dem sich der Kommandostab und uniformierte Polizisten aufhielten, die Polizeipräsenz zeigen sollten. Außerdem waren dort die Kommandoposten, die Schaulustige und Medien auf Abstand hielten. Im dritten, äußersten Ring drängten sich Reporter, Kameramänner und Neugierige.
Um Platz für das massive Aufgebot an Polizei- und Medienfahrzeugen zu schaffen, waren bereits alle in östlicher Richtung verlaufenden Fahrspuren des Sunset Boulevard gesperrt. Der Verkehr auf der Gegenseite war schleppend. Weil alle langsamer fuhren, um etwas von den Aktivitäten der Polizei mitzubekommen, hatte sich eine lange Schlange roter Bremslichter gebildet. Eine Straße weiter fand Ballard eine Lücke und parkte. Sie nahm die Dienstmarke von ihrem Gürtel, löste die Schnur, die um den Clip auf ihrer Rückseite gewickelt war, und streifte sie sich über den Kopf, sodass die Dienstmarke gut sichtbar von ihrem Hals hing.
Sobald sie das Dancers erreicht hatte, machte sie sich auf die Suche nach dem Officer mit dem Tatortregister, um sich in die Liste einzutragen. Die ersten zwei Ringe um den Tatort waren mit gelbem Polizeitape abgesperrt. Ballard hob das erste Band an und duckte sich darunter hindurch. Dann sah sie am zweiten Ring einen Officer mit einem Klemmbrett stehen. Er hieß Dunwoody, und sie kannte ihn.
»Woody, tragen Sie mich ein«, sagte sie.
»Detective Ballard«, sagte er, als er auf seinem Klemmbrett zu schreiben begann. »Ich dachte, das wäre Sache der RHD.«
»An sich schon, aber ich komme gerade vom fünften Opfer im Hollywood Pres. Wer leitet die Ermittlungen?«
»Lieutenant Olivas. Aber es steckt auch noch jeder vom Hollywood- und West-Bureau-Kommandostab bis rauf zum Commissioner die Nase mit rein.«
Fast hätte Ballard laut aufgestöhnt. Robert Olivas leitete eins der Spezialteams der RHD, der Robbery-Homicide Division. Sie war vor vier Jahren der Mordeinheit zugeteilt worden, zu deren Leiter Olivas von Major Narcotics, der Abteilung für Drogendelikte, befördert worden war. Ihre Zusammenarbeit war jedoch nicht gut verlaufen und hatte dazu geführt, dass Ballard zur Late Show der Hollywood Division versetzt worden war.
»Haben Sie Jenkins irgendwo gesehen?«, fragte sie Dunwoody.
Sie überlegte sofort, wie sie es umgehen könnte, Olivas persönlich über das fünfte Opfer Bericht erstatten zu müssen.
»Hab ich«, sagte Dunwoody. »Aber wo war das gleich wieder? Ach ja, sie holen einen Bus für die Zeugen. Um sie alle nach Downtown zu bringen. Und dafür ist, glaube ich, Jenkins zuständig. Sie wissen schon, er soll aufpassen, dass keiner abhaut. Muss wie mit Ratten auf einem sinkenden Schiff gewesen sein, als die ersten Schüsse gefallen sind. Soviel ich gehört habe jedenfalls.«
Ballard trat einen Schritt näher an Dunwoody heran, um vertraulich mit ihm zu sprechen. Ihr Blick wanderte über die zahlreichen Polizeifahrzeuge, die alle mit eingeschalteten Warnlichtern herumstanden.
»Was haben Sie sonst noch gehört, Woody?«, fragte sie. »Was ist da drinnen passiert? So was wie letztes Jahr in Orlando?«
»Nein, nein, kein Terroranschlag«, antwortete Dunwoody. »Ich habe mitbekommen, dass da vier Typen an einem Tisch waren, und dann hat es Ärger gegeben. Einer eröffnet plötzlich das Feuer und knallt die anderen drei ab. Und dann hat er auf dem Weg nach draußen noch eine Bedienung und einen Türsteher erschossen.«
Ballard nickte. Das war hilfreich.
»Und wo hält Jenkins die Zeugen fest?«
»Im Biergarten nebenan. Wo früher das Cat and Fiddle war.«
»Alles klar. Danke.«
Das Dancers lag neben einem alten Haus im spanischen Kolonialstil, mit einem Innenhof und einem Garten, der als Freisitzfläche des Cat and Fiddle gedient hatte, eines Pubs, das sich bei den Cops der nahen Hollywood Station nach Dienstschluss – und manchmal schon zuvor – großer Beliebtheit erfreut hatte. Es hatte allerdings – ein Opfer der steigenden Mietpreise in Hollywood – schon vor mindestens zwei Jahren dichtgemacht und stand jetzt leer. Im Moment war es zu einem Pferch für die Zeugen umfunktioniert worden.
Vor dem Eingangsbogen des Biergartens war ein Streifenpolizist postiert. Er erteilte Ballard mit einem Nicken grünes Licht, und sie ging durch das schmiedeeiserne Tor hinein. Jenkins saß an einem alten Steintisch und schrieb in ein Notizbuch.
»Jenks«, sagte Ballard.
»Yo, Partner«, sagte Jenkins. »Hab schon gehört, dass es dein Mädchen nicht geschafft hat.«
»Herzstillstand im Krankenwagen. Danach haben sie keinen Puls mehr bekommen. Und ich konnte nicht mehr mit ihr reden. Gibt’s hier schon was?«
»Nicht viel. Die Schlauen haben sich auf den Boden geworfen, als die Schießerei losging. Die Schlaueren sind sofort abgehauen und sitzen jetzt nicht hier. Wie ich die Sache sehe, werden wir hier nicht mehr gebraucht, sobald der Bus für die armen Schweine hier ist. Dann ist die RHD dran.«
»Ich muss jemandem über mein Opfer Bericht erstatten.«
»Also Olivas oder einem seiner Leute. Kann mir aber vorstellen, dass du darauf nicht besonders scharf bist.«
»Habe ich denn eine andere Wahl? Du sitzt ja hier fest.«
»Worauf ich auch nicht gerade scharf bin.«
»Hat von den Leuten hier jemand erzählt, wie die Bedienung niedergeschossen worden ist?«
Jenkins ließ den Blick über die Tische wandern, an denen etwa zwanzig Personen saßen und warteten. Es war eine bunte Mischung aus Hollywood-Hipstern und sonstigen Nachtschwärmern. Jede Menge Tattoos und Piercings.
»Nein, aber ich habe gehört, dass sie an dem Tisch bedient hat, an dem die Schießerei losging«, sagte Jenkins. »Vier Typen in einer Sitznische. Einer zieht eine Knarre und knallt die anderen drei ab, so wie sie da sitzen. Die Leute rennen weg, unter anderem auch der Täter. Deine Bedienung hat er auf dem Weg zum Ausgang erschossen. Und den Türsteher hat er auch umgelegt.«
»Und niemand weiß, worum es dabei ging?«
»Zumindest niemand von denen hier.«
Er deutete auf die Zeugen. Anscheinend fasste einer der Männer an einem anderen Steintisch diese Geste als Einladung auf. Er stand auf und kam auf sie zu. Die Kette seines Geldbeutels, die von einer Gürtelschlaufe zur Gesäßtasche seiner schwarzen Jeans führte, klimperte bei jedem Schritt.
»Wann sind wir hier endlich fertig, Mann?«, sagte er zu Jenkins. »Ich habe nichts gesehen, und ich weiß auch nichts.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt«, erklärte ihm Jenkins, »dass niemand hier wegkommt, bis die Detectives Ihre Aussagen zu Protokoll genommen haben. Setzen Sie sich also wieder, Sir.«
Der bedrohliche und herrische Unterton, mit dem Jenkins das sagte, konterkarierte die Anrede Sir total. Der Mann sah Jenkins kurz finster an, dann kehrte er an seinen Tisch zurück.
»Wissen sie noch gar nicht, dass sie in einen Bus verfrachtet werden?«, fragte Ballard leise.
»Bisher noch nicht«, antwortete Jenkins.
Bevor Ballard etwas erwidern konnte, begann ihr Handy zu summen. Sie holte es heraus und schaute auf das Display. Es war ein unbekannter Anrufer, aber sie ging dran. Höchstwahrscheinlich war es ein Anruf eines Kollegen.
»Ballard.«
»Detective, hier Lieutenant Olivas. Wie ich höre, waren Sie mit meinem fünften Opfer im Presbyterian. Das war nicht unbedingt in meinem Sinn, aber wenn ich das recht verstanden habe, waren Sie bereits dort.«
Ballard antwortete nicht sofort. Ihre Brust schnürte sich zusammen.
»Richtig«, sagte sie schließlich. »Sie hatte einen Herzstillstand, und die Leiche wird demnächst von der Rechtsmedizin abgeholt.«
»Konnten Sie eine Aussage von ihr bekommen?«
»Nein, sie war nicht mehr bei Bewusstsein. Sie haben sie zu reanimieren versucht. Ohne Erfolg.«
»Verstehe.«
Das sagte er in einem Ton, als ob es ihre Schuld wäre, dass das Opfer gestorben war, bevor es vernommen werden konnte. Ballard antwortete nichts.
»Schreiben Sie Ihre Berichte und lassen Sie sie mir am Morgen zukommen«, sagte Olivas. »Das wär’s.«
»Ähm, ich bin hier am Tatort«, sagte Ballard, bevor er auflegte. »Nebenan bei den Zeugen. Mit meinem Partner.«
»Und?«
»Das Opfer konnte nicht identifiziert werden. Sie war eine Bedienung. Wahrscheinlich hatte sie irgendwo im Club ein Schließfach, in dem ihre Geldbörse und ihr Handy sein dürften. Ich würde gern …«
»Cynthia Haddel – die Geschäftsführerin des Clubs hat sie identifiziert.«
»Möchten Sie, dass ich die Identifizierung bestätige und ihre Sachen hole, oder möchten Sie das Ihre Leute machen lassen?«
Jetzt zögerte Olivas, bevor er antwortete. Es war, als dächte er über etwas nach, was nichts mit dem Fall zu tun hatte.
»Ich habe einen Schlüssel, der vermutlich für ein Schließfach ist«, sagte Ballard. »Die Rettungssanitäter haben ihn mir gegeben.«
Das war eine deutliche Verfälschung der Wahrheit, aber Ballard wollte nicht, dass der Lieutenant erfuhr, wie sie an den Schlüssel gekommen war.
»Okay, dann kümmern Sie sich darum«, sagte Olivas schließlich. »Meine Leute haben schon genügend zu tun. Aber steigern Sie sich nicht zu sehr in die Sache rein, Ballard. Sie war ein Zufallsopfer. Ein Kollateralschaden – zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie können auch die Angehörigen verständigen und damit meinen Leuten etwas Arbeit abnehmen. Aber kommen Sie mir bloß nicht in die Quere.«
»Alles klar.«
»Und am Morgen möchte ich Ihren Bericht auf meinem Schreibtisch haben.«
Olivas legte auf, bevor Ballard etwas erwidern konnte. Sie hielt das Handy noch einen Moment an ihr Ohr und dachte über Olivas’ Äußerung nach, dass Cindy Haddel ein Kollateralschaden und zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Ballard wusste, wie das war.
Sie steckte das Handy ein.
»Und?«, fragte Jenkins.
»Ich muss nach nebenan gehen. In ihr Schließfach sehen und ihren Ausweis suchen. Außerdem sollen wir die Angehörigen verständigen.«
»Super«, knurrte Jenkins.
»Keine Sorge, darum kümmere ich mich.«
»Nein, so läuft das aber nicht. Wenn du dich freiwillig zur Verfügung stellst, hänge ich auch mit drin.«
»Für die Benachrichtigung der Angehörigen habe ich mich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt. Hast du doch selbst gehört.«
»Aber du hast dich freiwillig in die Sache reinziehen lassen. Da ist doch klar, dass er dir die Drecksarbeit aufhalst.«
Ballard wollte es nicht auf einen Streit ankommen lassen. Sie wandte sich ab und musterte die an den Steintischen sitzenden Personen. Ihr fielen zwei junge Frauen in abgeschnittenen Jeans und Tanktops auf, das eine weiß, das andere schwarz. Sie ging zu ihnen und zeigte ihre Dienstmarke. Das weiße Top begann zu sprechen, bevor Ballard etwas sagen konnte.
»Wir haben nichts gesehen.«
»Das habe ich bereits gehört«, sagte Ballard. »Es geht mir aber um Cindy Haddel. Hat eine von Ihnen sie gekannt?«
Das weiße Top zuckte mit den Achseln.
»Na ja, klar, wie man sich eben kennt, wenn man miteinander arbeitet«, sagte das schwarze Top. »Sie war nett. Ist sie durchgekommen?«
Ballard schüttelte den Kopf, und beide Bedienungen hoben gleichzeitig die Hände an den Mund, als kämen die Impulse vom selben Hirn.
»O Gott«, stieß das weiße Top hervor.
»Weiß eine von Ihnen irgendwas über sie?«, fragte Ballard. »Verheiratet? Freund? Mitbewohnerin? Irgendwas in der Richtung?«
Keine wusste etwas.
»Gibt es drüben im Club fürs Personal einen Umkleideraum mit Schließfächern? Oder sonst was, wo sie ihre Geldbörse und ihr Handy aufbewahrt haben könnte?«
»In der Küche gibt es Schließfächer«, sagte das weiße Top. »In denen schließen wir unsere Sachen ein.«
»Okay«, sagte Ballard. »Danke. Haben Sie drei sich heute Abend unterhalten, bevor die Schüsse gefallen sind?«
»Nur Bedienungsthemen«, sagte das schwarze Top. »Sie wissen schon, wer Trinkgeld gibt und wer nicht. Wer grapscht – das Übliche eben.«
»Irgendjemand Spezielles heute Abend?«
»Eigentlich nicht«, sagte das schwarze Top.
»Sie gab ein wenig damit an, dass sie von jemandem einen Fünfziger bekommen hat«, sagte das weiße Top. »Ich glaube sogar, dass es einer von dem Tisch war, an dem die Schießerei losging.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Ballard.
»Weil sie diesen Tisch hatte und diese Typen ein bisschen auf dicke Hose gemacht haben.«
»Meinen Sie Angeber? Typen mit Geld?«
»Ja.«
»Okay. Sonst noch was?«
Zuerst sahen die Bedienungen sich gegenseitig an, dann wieder Ballard. Sie schüttelten die Köpfe.
Ballard wandte sich von ihnen ab und ging zu ihrem Partner zurück.
»Ich gehe jetzt mal nach nebenan.«
»Dass du mir bloß nicht verloren gehst«, sagte Jenkins. »Sobald ich die Zeugen los bin, verständigen wir die Angehörigen, und dann möchte ich mit dem Schreiben anfangen. Wir sind fertig hier.«
Das hieß, der Rest der Schicht war dem Papierkram vorbehalten.
»Alles klar«, sagte Ballard.
Damit ließ sie ihn auf der Steinbank zurück. Auf dem Weg zum Eingang des Dancers fragte sie sich, ob sie es in die Küche schaffen würde, ohne von Lieutenant Olivas bemerkt zu werden.
Im Innern des Clubs wimmelte es von Ermittlern, Technikern, Fotografen und Kameraleuten. Eine Frau von der Architektureinheit des LAPD baute eine 360-Grad-Kamera auf. Sobald alle Beweise markiert waren und alle Ermittler und Techniker vorübergehend den Raum verlassen hatten, würde sie damit eine hochauflösende 3D-Aufnahme des gesamten Tatorts machen. So ließ sich ein Modell des Tatorts bauen, das vor Gericht als Beweisstück dienen würde, falls es zu einem Prozess kam. Mit Ausnahme eines Falls, bei dem ein Polizist an einer Schießerei beteiligt gewesen war, war es das erste Mal, dass Ballard dieses kostspielige Verfahren in der Praxis zum Einsatz kommen sah. Zumindest vorerst wurde also bei den Ermittlungen an nichts gespart.
Ballard zählte neun Detectives, von denen sie alle kannte und einige sogar mochte. Jeder von ihnen war für einen bestimmten Teil der Tatortermittlungen zuständig, und sie gingen unter der scharfen Beobachtung und Anleitung Lieutenant Olivas’ ihren Aufgaben nach. Der Boden war von gelben Beweiszetteln übersät, die Patronenhülsen, zerbrochene Martinigläser und andere Gegenstände markierten.
Die Opfer hatte man, mit Ausnahme Cynthia Haddels, an Ort und Stelle liegen gelassen, damit sie fotografiert, gefilmt und von den Rechtsmedizinern untersucht werden konnten, bevor sie zur Autopsie weggebracht wurden. Die Leiterin der Rechtsmedizin, Jayalalithaa Panneerselvam, war persönlich am Tatort erschienen. Das hatte Seltenheitswert und unterstrich die Bedeutung, die den Ermittlungen in diesem Amoklauf beigemessen wurde. Dr. J., wie sie allgemein genannt wurde, stand hinter ihrem Fotografen und leitete ihn bei den Aufnahmen an.
Der Club hatte schwarze Wände und war mit seinen zwei Ebenen riesig. Die Bar befand sich an der Rückwand der unteren Ebene, auf der es auch eine kleine, von Palmen und schwarzen Ledersitznischen umgebene Tanzfläche gab. Die mit weißen Lämpchen behängten Palmen reichten bis zum Glasdach des zwei Stockwerke hohen Atriums hinauf. Rechts und links von der Bar befanden sich etwa einen Meter hohe Plattformen mit weiteren Sitznischen und kleineren Bars.
Drei Leichen waren in einer kleeblattförmig angeordneten Sitznische auf dem Hauptlevel. Zwei der Toten saßen noch. Der auf der linken Seite war ein Schwarzer, dessen Kopf weit nach hinten gekippt war. Der Weiße neben ihm war leicht an ihn gelehnt, als wäre er betrunken eingeschlafen. Der dritte Mann war auf die Seite gesunken, und sein Kopf und seine Schultern hingen aus der Nische in den Gang hinaus. Er war ebenfalls ein Weißer und hatte einen ergrauenden Pferdeschwanz, dessen Ende in eine Blutlache auf dem Boden getaucht war.
Eine vierte Leiche lag gut zehn Meter weiter auf dem Boden eines Durchgangs zwischen den Sitznischen. Der Tote war ein extrem großer Schwarzer, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Seine Hände lagen an seinen Seiten, die Fingerknöchel auf den Fliesen. Im Gürtel an seiner rechten Hüfte hing das leere Holster eines Tasers. Die gelbe Elektroschockpistole selbst konnte Ballard unter einem Tisch in der Nähe liegen sehen.
Etwa drei Meter hinter dem vierten Toten war ein Blutfleck umgeben von Beweismittelmarkierungen und Abfällen. Die Sanitäter, die versucht hatten, Cynthia Haddel das Leben zu retten, hatten sie hinterlassen. Unter den Gegenständen auf dem Boden war ein rundes Edelstahltablett für Getränke.
Um einen besseren Blick auf den Tatort zu bekommen, stieg Ballard die Stufen zur zweiten Ebene hinauf und schaute von dort nach unten. Lieutenant McAdams hatte gesagt, die Schießerei sei in einer der Sitznischen losgegangen. Ausgehend davon, war es einfach, den weiteren Ablauf in groben Zügen zu rekonstruieren. Drei Männer wurden da erschossen, wo sie saßen. Sie steckten mehr oder weniger in der Nische fest, und der Täter brauchte seine Waffe nur vom einen zum anderen zu schwenken und abzudrücken. Dann drehte er sich um und ging den Gang zwischen den Sitzgruppen hinunter, wo ihm der Türsteher mit gezogenem Taser entgegenkam und den Weg versperrte. Der Täter erschoss den Türsteher, der wahrscheinlich auf der Stelle tot war und mit dem Gesicht voran auf den Boden fiel.
Hinter dem Türsteher stand die Bedienung Cynthia Haddel.
Ballard stellte sich vor, wie sie starr vor Schreck dastand, unfähig, sich von der Stelle zu bewegen, als der Täter auf sie zukam. Vielleicht hielt sie ihr Tablett wie einen Schutzschild hoch. Obwohl sich der Täter in Bewegung befand, gelang es ihm, sie mit einem einzigen Schuss mitten in die Brust zu treffen. Ballard fragte sich, ob er sie erschossen hatte, weil sie ihm im Weg war oder weil sie ihn hätte identifizieren können. In jedem Fall war es eine eiskalte Entscheidung. Sie sagte einiges aus über den Mann, der das getan hatte. Ballard musste an das denken, was sie Jenkins zuvor über die Person gesagt hatte, die Ramona Ramone so übel zugerichtet hatte. Ein richtiges Monster. Es stand völlig außer Zweifel, dass durch die Adern dieses Täters die gleiche bösartige Hartherzigkeit strömte.
Plötzlich sah Ballard Detective Ken Chastain. Wie immer an einem Tatort, hatte er eine Ledermappe mit einem Notizblock auf seinen Arm gelegt, in der anderen Hand hielt er einen Stift. Er bückte sich, um sich den Toten anzusehen, der aus der Sitznische hing, und machte sich Notizen, ohne zu merken, dass Ballard auf der oberen Ebene stand und ihn beobachtete. Er wirkte verhärmt, und Ballard hoffte, es wären Schuldgefühle, die an ihm zehrten. Fast fünf Jahre lang waren sie bei der Homicide Special Section Partner gewesen, bis Chastain sich dafür entschieden hatte, Ballard bei der Klage, die sie gegen Olivas eingereicht hatte, nicht zu unterstützen. Ohne seine Bestätigung von Olivas’ Verhalten – dessen Zeuge er geworden war – hatte Ballards Klage keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Die Dienstaufsicht hatte die Beschwerde für unbegründet erklärt. Olivas behielt seinen Posten, und Ballard wurde zur Hollywood Division versetzt. Der dortige Captain, der zusammen mit Olivas auf der Polizeiakademie gewesen war, hatte sie zusammen mit Jenkins für die Nachtschicht eingeteilt. Die Late Show. Fall erledigt.
Ballard wandte sich von ihrem ehemaligen Partner ab und blickte an die Decke und in die oberen Ecken des Clubs. Sie fragte sich, ob dort Kameras installiert waren, die die Schießerei aufgezeichnet hatten. Die Videos der Kameras im Club und draußen auf der Straße auszuwerten wäre einer der ersten und wichtigsten Ermittlungsschritte. Sie sah jedoch keine Kameras und wusste außerdem, dass viele Clubs in Hollywood keine anbrachten, weil ihre Klientel, insbesondere die Promis, keinen Wert darauf legten, dass ihre nächtlichen Aktivitäten aufgezeichnet wurden. Tauchten verfängliche Videos aus einem exklusiven Club auf dem Klatschportal TMZ oder sonst wo im Internet auf, bedeutete das mehr oder weniger das Aus für den Laden. Die Clubs waren auf die Prominenten angewiesen, weil sie die zahlenden Gäste anlockten, die an den roten Samtseilen vor dem Eingang Schlange standen. Wenn die Promis wegblieben, taten das irgendwann auch die zahlenden Gäste.
Da sie sich auf der Treppe exponiert fühlte, kehrte Ballard auf die untere Ebene zurück und hielt nach dem Gerätetisch der Spurensicherung Ausschau. Er stand etwas abseits bei der anderen Treppe. Ballard steuerte darauf zu, nahm zwei Beweismitteltüten aus einem Spender und ging zur Hauptbar weiter. Die Flügeltür rechts daneben führte vermutlich in die Küche.
Die Küche war klein und leer, und einige der Flammen auf dem Herd waren noch an. Das Dancers war nicht für seine kulinarischen Köstlichkeiten bekannt. Man bekam dort typisches Baressen, das entweder vom Grill oder aus der Fritteuse kam. Ballard ging hinter die Edelstahlkochzeile und machte die Flammen aus. Als sie wieder hinter der Kochzeile hervorkam, rutschte sie in den Papierüberschuhen, die sie sich beim Betreten des Clubs übergestreift hatte, beinahe auf einem Fettfleck aus.
In der hinteren Ecke der Küche fand sie eine Nische, an deren einer Seitenwand mehrere kleine Schließfächer angebracht waren. An der anderen Wand stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Direkt unter einem RAUCHENVERBOTEN-Schild stand ein von Kippen überquellender Aschenbecher. Ballard hatte Glück. An den Schließfächern waren Klebebandstreifen mit den Namen ihrer Inhaber angebracht. Eines mit CINDY war nicht darunter, aber sie fand ein Schließfach, auf dem CINDERS stand, und nahm an, dass es Cynthia Haddel gehört hatte. Das bestätigte sich, als sich das Schloss mit dem Schlüssel öffnen ließ.
Das Schließfach enthielt eine kleine Kate-Spade-Handtasche, eine leichte Jacke, ein Päckchen Zigaretten und einen braunen Umschlag. Ballard streifte sich Gummihandschuhe über, bevor sie etwas aus dem Schließfach nahm und es untersuchte. Sie wusste, dass der Inhalt des Schließfachs höchstwahrscheinlich nur als Besitz und nicht als Beweismaterial behandelt würde, aber es konnte nicht schaden, sich alles anzusehen. Vielleicht stieß sie auf etwas, was die Ermittlungen in eine bestimmte Richtung lenken könnte.
Die Handtasche enthielt eine Geldbörse mit einem Führerschein, demzufolge das fünfte Opfer tatsächlich Cynthia Haddel hieß und dreiundzwanzig Jahre alt war. Die Adresse auf dem Führerschein war eine Miet- oder Eigentumswohnung in der La Brea. Sie hatte es zu Fuß nur zwanzig Minuten zum Club gehabt. In der Geldbörse waren 338 Dollar, was Ballard nicht gerade wenig erschien, sowie eine Wells-Fargo-Kundenkarte und eine Visa-Kreditkarte. An einem Schlüsselbund waren zwei Schlüssel, die nicht zu einem Fahrzeug zu gehören schienen. Wahrscheinlich Wohnungsschlüssel. Auch ein Mobiltelefon war in der Handtasche. Es war an, aber mit Touch ID gesichert. Um sich Zugang dazu zu verschaffen, brauchte Ballard Haddels Daumenabdruck.
Ballard öffnete den braunen Umschlag und sah, dass er einen Packen 24-x-30-Porträts einer verführerisch lächelnden Haddel enthielt. Am unteren Rand des Fotos stand »Cinders Haden«. Ballard drehte das oberste Foto um und sah einen kurzen Lebenslauf mit einer Liste von Haddels/Hadens Auftritten in Film- und Fernsehproduktionen. Es waren lauter kleine Rollen, und meistens hatten die Figuren nicht einmal Namen. »Mädchen an der Bar« schien ihre häufigste Rolle gewesen zu sein. Sie hatte die Rolle auch in einer Folge der Fernsehserie Bosch gespielt, die, so wusste Ballard, auf den Erlebnissen eines inzwischen pensionierten LAPD-Detectives basierte, der ehemals bei der RHD und in der Hollywood Station gearbeitet hatte. Die Serie wurde gelegentlich dort gedreht, und die Produktionsfirma hatte die letzte Weihnachtsfeier der Station im W Hotel gesponsert.
Dem Lebenslauf zufolge war Haddel/Haden in Modesto im Central Valley geboren und aufgewachsen. Er enthielt ihre Auftritte in Lokaltheatern, ihre Schauspiellehrer und eine Liste besonderer Fähigkeiten, die sie für bestimmte Produktionen empfahlen. Dazu gehörten Inlineskaten, Yoga, Gymnastik, Reiten, Surfen, fließend Französisch und Erfahrung als Barkeeperin und Bedienung. Außerdem stand dort, dass Rollen mit partieller Nacktheit für sie infrage kamen.
Ballard drehte das Foto wieder um und betrachtete Haddels Gesicht. Nur zu offensichtlich hatte sie höhere Ziele als den Job im Dancers gehabt. Sie hatte die Porträtaufnahmen in ihrem Schließfach aufbewahrt, falls ein Gast sie fragte, ob sie »in der Branche« war, und ihr seine Hilfe anbot. Das war zwar eine der billigsten Anmachen Hollywoods, aber bei jungen Frauen mit ehrgeizigen Träumen funktionierte sie fast immer.