Echo Park - Michael Connelly - E-Book

Echo Park E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Dreizehn Jahre sind vergangen, doch der Fall Marie Gesto lässt Harry Bosch nicht los. Die junge Frau kaufte damals im Supermarkt ein Kilo Karotten für ihr Pferd – und ver­schwand danach spurlos. Ihr Auto wurde gefunden, die Zweiundzwanzigjährige nie wieder gesehen. Weder tot noch lebendig. Obwohl Bosch die Akte wieder und wieder durcharbeitet, kommt er der Lösung kein Stück näher. Bis er einen Anruf von der Staatsanwaltschaft erhält: Raynard Waits soll zwei Prostituierte ermordet haben, ihm droht die Todesstrafe. Waits ist bereit, mehrere andere Morde zu gestehen, wenn sein Strafmaß dafür auf eine lebenslängliche Haft reduziert wird. Eines seiner Opfer, sagt er, ist Marie Gesto. Bosch hat an den Schilde­rungen des Mannes so seine Zweifel. Sagt Waits die Wahrheit, oder schützt er den wahren Schuldigen? Als die Ermittler auf ein Detail stoßen, das all die Jahre lang über­sehen wurde, muss Bosch sich unweigerlich der Frage stellen, ob er weitere Morde hätte verhindern können.

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Michael Connelly

Echo Park

Der zwölfte Fall Für Harry Bosch

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Für Jane Wood –

der Harry Bosch sehr am Herzen liegt.

Vielen, vielen Dank.

High Tower ∙ 1993

Es war das Auto, das sie gesucht hatten. Das Nummernschild fehlte, aber Harry Bosch war ganz sicher. Ein 1987er Honda Accord, der braune Lack von der Sonne ausgeblichen. 1992 war er mit einem grünen Clinton-Sticker aufgemöbelt worden, aber mittlerweile war auch der verblasst. Der Sticker war mit billiger Farbe gedruckt, bei der kein Wert auf Haltbarkeit gelegt worden war. Damals war Clintons Wahl noch alles andere als eine ausgemachte Sache gewesen. Das Auto stand in einer Einzelgarage, die so eng war, dass Bosch sich fragte, wie der Fahrer eigentlich ausgestiegen war. Er würde die Spurensicherung darauf hinweisen müssen, mit besonderer Sorgfalt die Außenseite des Autos und die Innenwände der Garage nach Fingerabdrücken abzusuchen. Die Techniker der Spurensicherung wären zwar alles andere als begeistert, so etwas gesagt zu bekommen, aber er wusste, er könnte nicht mehr ruhig schlafen, wenn er es nicht täte.

Die Garage hatte ein Schwingtor mit einem Aluminiumgriff. Nicht gut für Fingerabdrücke, aber auch darauf würde Bosch die Spurensicherung hinweisen.

»Wer hat den Wagen entdeckt?«, fragte er die Streifenpolizisten.

Sie hatten gerade das gelbe Absperrband quer über die Einfahrt der Sackgasse gespannt, die von zwei Reihen Einzelgaragen flankiert wurde und an deren Ende der Eingang des High-Tower-Wohnkomplexes lag.

»Der Hausbesitzer«, sagte der ranghöhere Streifenpolizist. »Die Garage gehört zu einer Wohnung, die zurzeit nicht vermietet ist. Deshalb sollte sie eigentlich leer stehen. Aber als er sie vor ein paar Tagen aufmacht, um irgendwelche Möbel oder Zeugs darin abzustellen, sieht er das Auto. Zuerst denkt er, es gehört jemanden, der bei einem anderen Mieter zu Besuch ist, deshalb unternimmt er ein paar Tage lang nichts, aber dann steht die Karre immer noch da, und er fängt an, bei den Mietern herumzufragen. Niemand kennt das Auto. Niemand weiß, wem es gehört. Darauf ruft er bei uns an, weil er wegen der fehlenden Nummernschilder denkt, es könnte gestohlen sein. Ich und mein Partner, wir haben die Gesto-Suchmeldung an der Sonnenblende stecken. Und als wir hier eintreffen, ist uns der Fall ziemlich schnell klar.«

Bosch nickte und ging weiter auf die Garage zu. Er atmete in tiefen Zügen durch die Nase. Marie Gesto war inzwischen zehn Tage vermisst. Wenn sie im Kofferraum läge, röche er es. Sein Partner, Jerry Edgar, folgte ihm.

»Und?«, fragte er.

»Nichts, glaube ich.«

»Gut.«

»Gut?«

»Ich mag keine Kofferraumfälle.«

»Wenigstens hätten wir dann ein Opfer, das uns Anhaltspunkte liefert.«

Während ihres kurzen Geplänkels suchte Bosch das Fahrzeug bereits mit aufmerksamen Blicken nach etwas ab, das sie weiterbringen könnte. Als er nichts entdeckte, zog er ein paar Gummihandschuhe aus der Tasche seines Jacketts, blies sie wie Ballons auf, um den Gummi zu dehnen, und streifte sie über seine Hände. Dann hielt er die Arme hoch wie ein Chirurg beim Betreten des Operationssaals, drehte sich zur Seite und schob sich vorsichtig in die Garage, um an die Fahrertür zu gelangen, ohne dabei etwas zu berühren oder mögliche Spuren zu verwischen.

Je weiter er sich vorarbeitete, umso dunkler wurde es in der Garage. Er fächelte Spinnfäden aus seinem Gesicht, kehrte wieder nach draußen zurück und fragte den Streifenpolizisten, ob er die Maglite an seinem Gürtel haben könnte. Sobald er wieder in der Garage war, knipste er die Taschenlampe an und richtete ihren Strahl durch die Fenster des Honda. Als Erstes sah er auf den Rücksitz. Dort lagen die Reitstiefel und der Helm. Neben den Stiefeln entdeckte er eine kleine Plastikeinkaufstüte mit dem Logo des Mayfair Supermarket. Den Inhalt der Tüte konnte er nicht erkennen, aber er wusste, sie würde den Ermittlungen eine neue Richtung geben.

Er bewegte sich weiter nach vorn. Auf dem Beifahrersitz stand ein Paar Joggingschuhe, und darauf lag ein kleiner Stapel ordentlich zusammengefalteter Kleidungsstücke. Er erkannte die Bluejeans und das langärmelige T-Shirt, die Sachen, die Marie Gesto getragen hatte, als Zeugen sie auf ihrem Weg zum Reiten in Beachwood Canyon das letzte Mal gesehen hatten. Auf dem Oberteil lagen, sorgfältig zusammengelegt, Socken, Slip und BH. Bosch spürte das dumpfe Pochen tiefer Beklemmung in seiner Brust. Nicht, weil er in den Kleidungsstücken die Bestätigung dafür sah, dass Marie Gesto tot war. Tief in seinem Innern wusste er das bereits. Jeder wusste es, sogar die Eltern, die in flehentlichen Fernsehappellen immer noch um eine wohlbehaltene Rückkehr ihrer Tochter baten. Das war auch der Grund, weshalb der Fall nicht mehr als bloße Vermisstenmeldung behandelt wurde, sondern dem Morddezernat der Hollywood Division übertragen worden war.

Es waren ihre Kleider, die Bosch so nahegingen. Der Ordnungssinn, mit dem sie zusammengelegt worden waren. Hatte sie das getan? Oder war es die Person gewesen, die sie auf dem Gewissen hatte? Es waren immer die kleinen Fragen, die ihm nahegingen und die Leere in seinem Innern mit Grauen füllten.

Nachdem er auch das übrige Wageninnere durch die Fenster inspiziert hatte, schob sich Bosch vorsichtig wieder nach draußen.

»Und?«, fragte Edgar.

»Ihre Kleider. Die Reitsachen. Vielleicht ein paar Lebensmittel, die sie vorher noch eingekauft hat. Unten in Beachwood gibt es doch einen Mayfair. Sie könnte auf dem Weg hinauf zum Reitstall dort vorbeigefahren sein.«

Edgar nickte. Eine neue Spur, der sie nachgehen konnten, ein Ort, an dem sie vielleicht Zeugen fanden.

Bosch trat unter dem hochgeklappten Schwingtor der Garage hervor und blickte zu den High Tower Apartments hinauf. Die Anlage suchte in Hollywood ihresgleichen. Ein Komplex von Wohnungen, die in den ausgehöhlten Granit der Hügel hinter der Hollywood Bowl gebaut waren. Sie waren alle im Streamline-Moderne-Stil gestaltet und miteinander durch das schlanke Mittelelement verbunden, in dem sich der Lift befand – ein hohes, turmartiges Gebilde, von dem die Straße und die Anlage den Namen High Tower hatten. In seiner Jugend hatte Bosch eine Weile in dieser Gegend gewohnt. An Sommertagen hatte er von seinem Zuhause im nahen Camrose Drive die Orchester in der Hollywood Bowl proben hören. Und vom Dach aus hatte er am vierten Juli und am Ende der Baseballsaison das Feuerwerk betrachten können.

Nachts waren die hell erleuchteten Fenster des High Tower zu sehen gewesen, und wie der Aufzug nach oben schwebte, wenn er einen Bewohner zu seinem Apartment brachte. Als Kind war es ihm als der Inbegriff von Luxus erschienen, in einem Haus zu wohnen, in dem man im Lift zu seiner Wohnung gelangte.

»Wo ist der Hausverwalter?«, fragte er den Polizisten mit den zwei Streifen am Ärmel.

»Er ist wieder raufgefahren. Er hat gesagt, Sie sollen den Aufzug bis ganz nach oben nehmen. Seine Wohnung liegt gleich auf der anderen Seite des Gangs.«

»Gut, dann fahren wir mal hoch. Sie bleiben hier und warten auf die Spurensicherung und den Abschleppdienst. Und sorgen Sie dafür, dass die Abschleppfahrer das Auto nicht anrühren, bevor die Spurensicherung es sich angesehen hat.«

»Alles klar.«

Die Aufzugkabine des Turms bestand aus einem kleinen stählernen Kubus, der unter ihrem Gewicht nachgab, als Bosch und Edgar einstiegen. Danach schloss sich die Außentür automatisch, aber die innere Sicherheitstür mussten sie von Hand zuschieben. Es gab nur zwei Knöpfe, 1 und 2. Bosch drückte auf die 2, und die Kabine begann nach oben zu schweben. Sie bot nicht viel Platz, und sobald sich mehr als zwei Personen darin aufhielten, könnte jeder den Atem der anderen riechen.

»Weißt du was?«, bemerkte Edgar. »Ein Klavier hat hier jedenfalls niemand, so viel steht fest.«

»Brillant kombiniert, Watson«, sagte Bosch.

In der obersten Etage zogen sie die Türen auf und traten auf einen Betonsteg hinaus, der zwischen dem Turm und den einzelnen in den Hang hineingebauten Wohnungen schwebte. Bosch drehte sich einmal um die eigene Achse und genoss die Aussicht auf fast ganz Hollywood, garniert von einem Hauch frischer Bergluft. Als er nach oben blickte, sah er einen Rotschwanzbussard über dem Turm kreisen, als beobachtete er sie.

»Da lang«, sagte Edgar.

Bosch wandte sich seinem Partner zu, der auf eine kleine Treppe deutete, die zu einer der Wohnungstüren führte. Auf dem Schild unter der Klingel stand HAUSVERWALTER. Schon bevor sie die Tür erreichten, öffnete sie sich, und ein dünner Mann mit einem weißen Bart trat heraus. Er stellte sich als Milano Kay vor, der Verwalter der Wohnanlage. Nachdem sie ihm ihre Dienstmarken gezeigt hatten, fragten Bosch und Edgar, ob sie das leer stehende Apartment sehen könnten, zu dem die Garage mit dem Honda gehörte. Kay forderte sie auf, ihm zu folgen.

Sie gingen zum Turm zurück und nahmen einen anderen Steg. An der Wohnungstür, zu der er sie führte, nahm Kay einen Schlüssel heraus und steckte ihn ins Schloss.

»Irgendwie kommt mir die ganze Anlage hier bekannt vor«, bemerkte Edgar. »Die Wohnungen und den Lift – sieht man die nicht ständig in irgendwelchen Filmen?«

»Richtig«, sagte Kay. »Immer wieder mal in den letzten Jahren.«

Kein Wunder, dachte Bosch. Eine derartig ungewöhnliche Anlage hätte der Aufmerksamkeit der heimischen Filmindustrie schwerlich entgehen können.

Kay öffnete die Tür und bedeutete Bosch und Edgar, als Erste einzutreten. Die Wohnung war klein und unmöbliert. Sie bestand aus einem Wohnzimmer, einer winzigen Wohnküche und einem Schlafzimmer mit Bad. Nicht größer als 40 Quadratmeter, und Bosch war klar, dass sie eingerichtet noch kleiner wirken würde. Aber es war die Aussicht, die ihren Reiz ausmachte. Durch das gekrümmte Panoramafenster hatte man denselben spektakulären Blick auf Hollywood wie vom Verbindungssteg zum Turm aus. Eine Glastür führte auf einen Balkon, der der Krümmung der Fensterfront folgte. Bosch ging nach draußen und stellte fest, dass von dort das Panorama noch großartiger war. Durch den Smog konnte man bis zu den Hochhäusern von Downtown sehen. Er wusste, nachts wäre der Blick am besten.

»Wie lang steht die Wohnung schon leer?«, fragte er.

»Fünf Wochen«, antwortete Kay.

»Ich habe unten nirgendwo ein Schild gesehen, dass sie zu vermieten ist.«

Bosch schaute zu der Sackgasse hinunter und sah die beiden Streifenpolizisten, die auf die Spurensicherung und den Abschleppwagen der Polizei warteten. Sie lehnten jeder auf einer Seite des Streifenwagens, mit dem Rücken zueinander. Das sah nicht nach einer gedeihlichen Partnerschaft aus.

»Ich muss hier keine Schilder aufstellen«, sagte Kay. »Wenn wir was frei haben, spricht sich das schnell herum. Es gibt jede Menge Leute, die hier wohnen wollen. Die Anlage ist selbst für hiesige Verhältnisse einzigartig. Außerdem bin ich noch dabei, die Wohnung zu renovieren. Sie wissen schon, streichen und die üblichen kleineren Reparaturen. Ich habe es nicht eilig.«

»Wie hoch ist die Miete?«, fragte Edgar.

»Ein Tausender pro Monat.«

Edgar stieß einen leisen Pfiff aus. Auch Bosch erschien das viel. Aber die Aussicht ließ keinen Zweifel daran, dass sich jemand finden würde, der so viel zu zahlen bereit war.

»Wer könnte gewusst haben, dass die Garage leer stand?«, fragte er, um wieder zur Sache zu kommen.

»Eine Menge Leute. Alle, die hier wohnen, natürlich. Außerdem habe ich die Wohnung in den letzten fünf Wochen einer ganzen Reihe von Interessenten gezeigt. Normalerweise mache ich sie auch auf die Garage aufmerksam. Und wenn ich im Urlaub bin, sieht ein Mieter für mich nach dem Rechten. Er hat die Wohnung ebenfalls verschiedenen Interessenten gezeigt.«

»Die Garage war die ganze Zeit nicht abgeschlossen?«

»Nein. Es gibt dort nichts, was jemand stehlen könnte. Wenn der neue Mieter einzieht, kann er am Tor ein Vorhängeschloss anbringen. Letztlich bleibt das den Mietern überlassen, aber ich lege es ihnen zumindest nahe.«

»Haben Sie so etwas wie eine Liste, wem Sie die Wohnung gezeigt haben?«

»Leider nein. Möglicherweise habe ich mir ein paar Telefonnummern notiert von Interessenten, die um Rückruf gebeten haben, aber wozu sollte ich mir die Nummern irgendwelcher Leute aufschreiben, die dann sowieso nicht einziehen. Kann ich also nicht mit dienen.«

Bosch nickte. Dieser Spur zu folgen würde nicht einfach werden. Viele Leute hatten gewusst, dass die Garage leer stand und nicht abgeschlossen war.

»Wer hatte die Wohnung zuletzt gemietet?«, fragte er. »Was ist aus ihm geworden?«

»Es war eine Frau«, sagte Kay. »Sie hat fünf Jahre hier gewohnt. Eigentlich wollte sie Schauspielerin werden. Aber irgendwann hat sie aufgegeben und ist nach Hause zurückgekehrt.«

»Tja, die Konkurrenz in der Branche ist enorm. Wo war sie zu Hause?«

»Ich habe ihr die Kaution nach Austin, Texas, geschickt.«

Bosch nickte.

»Hat sie allein gewohnt?«

»Sie hatte einen Freund, der ziemlich oft hier war, aber ich glaube, mit ihm war schon Schluss, bevor sie auszog.«

»Wir benötigen diese Adresse in Texas.«

Kay nickte.

»Die Streifenpolizisten meinten, das Auto gehört einem vermissten Mädchen?«

»Einer jungen Frau«, sagte Bosch.

Er griff in eine Innentasche seines Sakkos und holte ein Foto von Marie Gesto heraus. Er zeigte es Kay und fragte ihn, ob sie vielleicht unter den Leuten gewesen war, die sich die Wohnung angesehen hatten. Er sagte, sie käme ihm nicht bekannt vor.

»Nicht mal aus dem Fernsehen?«, fragte Edgar. »Sie wird seit zehn Tagen vermisst, und sie bringen ständig ihr Bild in den Nachrichten.«

»Ich besitze keinen Fernseher, Detective«, sagte Kay.

Keinen Fernseher. Das stempelte ihn in dieser Stadt als Freigeist ab, dachte Bosch.

»Ihr Foto war auch in der Zeitung«, versuchte es Edgar.

»Zeitung lese ich ab und zu«, sagte Kay. »Ich hole sie mir unten aus den Altpapiercontainern. Dann sind sie allerdings schon ziemlich alt. Jedenfalls habe ich keine Meldung über sie gesehen.«

»Sie ist vor zehn Tagen verschwunden«, sagte Bosch. »Also am Donnerstag, dem Neunten. Können Sie sich vielleicht erinnern, ob um diese Zeit hier irgendetwas Ungewöhnliches passiert ist?«

Kay schüttelte den Kopf.

»Da war ich gar nicht hier. Ich war im Urlaub, in Italien.«

Bosch lächelte.

»Ich liebe Italien. Wo genau waren Sie?«

Kays Gesicht leuchtete auf.

»Am Comer See und dann in Asolo, einem kleinen Bergdorf. Dort, wo Robert Browning gelebt hat.«

Bosch nickte, als wären ihm diese Orte bekannt und als wüsste er, wer Robert Browning war.

»Wir kriegen Besuch«, bemerkte Edgar.

Bosch folgte dem Blick seines Partners. Unten vor der Absperrung hatte ein Übertragungswagen mit einer Satellitenschüssel auf dem Dach und einer riesigen Neun an der Seite gehalten. Einer der Streifenpolizisten ging darauf zu.

Bosch wandte sich wieder an den Hausverwalter.

»Mr. Kay, wir müssen uns später noch ausführlicher unterhalten. Wäre nett, wenn Sie inzwischen nachsehen könnten, ob Sie noch Telefonnummern oder Namen von Leuten finden, die sich die Wohnung angesehen oder deswegen angerufen haben. Außerdem müssen wir mit Ihrer Urlaubsvertretung sprechen. Und suchen Sie uns bitte auch die Adresse der letzten Mieterin heraus – Sie wissen schon, die nach Texas zurückgegangen ist.«

»Kein Problem.«

»Und wir werden die übrigen Hausbewohner befragen müssen, ob jemand gesehen hat, wie das Auto in der Garage abgestellt wurde. Wir werden uns Mühe geben, nicht zu sehr zu stören.«

»Kein Problem. Ich werde zusehen, was ich an Nummern auftreiben kann.«

Sie verließen die Wohnung und gingen mit Kay zum Aufzug zurück. Dort verabschiedeten sie sich von dem Mann und fuhren nach unten. Der Stahlwürfel ruckelte auch diesmal, bevor er ohne Stocken nach unten glitt.

»Ich wusste gar nicht, dass du Italien-Fan bist, Harry«, sagte Edgar.

»Bin ich auch nicht.«

Edgar nickte. Es war nur ein Trick gewesen, um Kay aus der Reserve zu locken und mehr über sein mögliches Alibi zu erfahren.

»Hast du ihn auf der Rechnung?«, fragte er.

»Eigentlich nicht. Nur für alle Fälle. Außerdem, wenn er’s war, warum sollte er dann das Auto hier in der Garage abstellen? Und es anschließend auch noch melden?«

»Stimmt schon. Aber vielleicht ist er clever genug, zu wissen, dass wir ihn für zu clever für so was halten würden. Verstehst du, was ich meine? Vielleicht will er uns austricksen, Harry. Vielleicht kam das Mädchen hierher, um sich die Wohnung anzusehen, und dann lief irgendwas schief. Er versteckt die Leiche, weiß aber, dass er das Auto nicht wegschaffen kann, weil er möglicherweise von der Polizei angehalten wird. Also wartet er zehn Tage und meldet es erst dann – als ob er denkt, es könnte gestohlen sein.«

»Dann solltest du vielleicht doch sein italienisches Alibi überprüfen, Watson.«

»Warum bin ich immer bloß Watson? Warum kann ich nicht mal Holmes sein?«

»Weil Watson derjenige ist, der zu viel redet. Aber wenn du willst, werde ich dich in Zukunft ›Holmes‹ nennen. Vielleicht gefällt dir das ja besser.«

»Was ist eigentlich los mit dir, Harry?«

Bosch dachte an die Kleidungsstücke, die ordentlich gefaltet auf dem Vordersitz des Honda gelegen hatten. Er spürte wieder diesen Druck in seinem Inneren. Als ob sein ganzer Körper mit Draht umwickelt wäre, der immer enger zusammengezogen wurde.

»Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«

»Inwiefern?«

»Weil ich mehr und mehr zu der Überzeugung gelange, dass wir sie nie finden werden. Und wenn wir sie nicht finden, dann finden wir ihn auch nicht.«

»Den Mörder?«

Der Aufzug hielt mit einem Ruck, federte kurz nach und kam dann ganz zum Stillstand. Bosch zog die Türen auf. Am Ende des kurzen Gangs, der zu der Stichstraße und den Garagen führte, sah er eine Frau mit einem Mikrofon und einen Mann mit einer Fernsehkamera, die auf sie warteten.

»Ja«, sagte er. »Den Mörder.«

Teil EinsDer Mörder

1

Der Anruf kam herein, als Harry Bosch und seinePartnerin Kiz Rider in der Abteilung Offen-Ungelöst an ihren Schreibtischen saßen und den Papierkram zum Fall Matarese erledigten. Am Tag zuvor hatten sie sechs Stunden in einem Zimmer mit Victor Matarese verbracht und über einen Mord aus dem Jahr 1996 an einer Prostituierten namens Charisse Witherspoon gesprochen. DNA, die aus dem Sperma im Mund des Opfers extrahiert und zehn Jahre aufbewahrt worden war, hatte sich als identisch mit der von Matarese erwiesen. 2002 war Matareses genetischer Fingerabdruck nach einer Verurteilung wegen Vergewaltigung in die Datenbank des Justizministeriums aufgenommen worden. Daraufhin hatte es noch einmal vier Jahre gedauert, bis Bosch und Rider sich daran gemacht hatten, den Witherspoon-Fall neu aufzurollen, dabei auf die DNA gestoßen waren und sie auf gut Glück an das staatliche Labor geschickt hatten.

Es war ein Fall, der an sich im Labor hätte aufgeklärt werden können. Aber weil Charisse Witherspoon Prostituierte gewesen war, reichte die DNA-Übereinstimmung für eine Verurteilung des Täters nicht aus. Die DNA hätte auch von jemandem stammen können, der ihre Dienste in Anspruch genommen hatte, bevor ihr Mörder aufgetaucht war und mehrere Male mit einem Vierkantholz auf ihren Kopf eingedroschen hatte.

Aufgrund dessen ließ sich der Fall nicht allein durch wissenschaftliche Untersuchungen lösen. Sie mussten zusehen, dass sie bei einem simplen altmodischen Verhör Matarese ein Geständnis entlockten. Sie holten ihn um acht Uhr morgens aus dem Bett und brachten ihn aus dem Rehabilitationszentrum, in dem er nach der Haftstrafe wegen Vergewaltigung seine Bewährungszeit verbrachte, ins Parker Center. Die ersten fünf Stunden im Vernehmungszimmer waren extrem mühsam. In der sechsten konnten sie Matareses Widerstand endlich brechen, und er rückte mit der Sprache heraus. Er gestand nicht nur, Witherspoon umgebracht zu haben, sondern legte noch drei weitere Morde drauf, lauter Prostituierte, die er in South Florida umgebracht hatte, bevor er nach L.A. gekommen war.

Als ein Anruf auf Leitung eins für Bosch ausgerufen wurde, dachte er zunächst, es wäre ein Rückruf aus Miami. War es aber nicht.

»Bosch«, sagte er, nachdem er abgehoben hatte.

»Hier Freddy Olivas. Morddezernat Northeast Division. Ich bin hier gerade im Archiv und suche nach einer Akte, und jetzt sagen die, dass Sie sie ausgeliehen haben.«

Bosch schwieg einen Moment, während er sich gedanklich aus dem Matarese-Fall ausklinkte. Er kannte Olivas nicht, auch wenn der Name etwas bei ihm klingeln ließ. Was ausgeliehene Akten anging, war es sein Job, alte Fälle zu prüfen und nach Möglichkeiten mithilfe neuer forensischer Erkenntnisse und Methoden zu lösen. Er und Rider hatten manchmal bis zu fünfundzwanzig Akten aus dem Archiv ausgeliehen.

»Ich leihe ständig Akten aus dem Archiv aus«, sagte Bosch. »Welche meinen Sie genau?«

»Gesto. Marie Gesto. Ein Fall von 1993.«

Bosch antwortete nicht sofort. Er spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Das war immer so, wenn er an Gesto dachte, selbst dreizehn Jahre später noch. Dann stieg jedes Mal das Bild ihrer Kleider wieder vor ihm auf, ordentlich zusammenfaltet auf dem Beifahrersitz ihres Autos.

»Ja, die Akte habe ich. Wieso, was ist los?«

Ihm entging nicht, dass Rider von ihrer Arbeit aufblickte, als sie die Veränderung in seiner Stimme bemerkte. Ihre Schreibtische waren in einer Nische aneinandergestellt, sodass sie sich bei der Arbeit gegenübersaßen.

»Etwas heikle Angelegenheit«, sagte Olivas. »Geheimsache. Es geht um einen aktuellen Fall, den ich gerade bearbeite, und der Ankläger möchte mal einen Blick in die Akte werfen. Könnte ich kurz bei Ihnen vorbeikommen und sie abholen?«

»Haben Sie einen Verdächtigen, Olivas?«

Zunächst antwortete Olivas nicht, und Bosch hakte nach.

»Wer ist der Ankläger?«

Wieder keine Antwort. Bosch ließ nicht locker.

»Hören Sie, Olivas, der Fall ist aktiv. Ich arbeite daran und habe einen Verdächtigen. Wenn Sie mit mir reden wollen, können wir das gerne tun. Aber wenn es von Ihrer Seite neue Erkenntnisse gibt, will ich eingeweiht werden. Andernfalls habe ich hier zu tun und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, ja?«

Bosch wollte schon auflegen, als Olivas endlich etwas sagte. Der freundliche Ton war aus seiner Stimme verschwunden.

»Also schön, mein Freund, ich werde eben noch mal mit jemandem telefonieren und rufe Sie gleich zurück.«

Er hängte grußlos auf. Bosch sah Rider an.

»Marie Gesto. Die Staatsanwaltschaft will die Akte.«

»Das ist doch dein Fall. Wer war das eben?«

»Jemand von Northeast. Freddy Olivas. Sagt dir der Name was?«

Rider nickte.

»Persönlich kenne ich ihn zwar nicht, aber ich habe von ihm gehört. Er leitet die Ermittlungen im Fall Raynard Waits.«

Jetzt konnte Bosch den Namen einordnen. Der Fall Waits hatte für einiges Aufsehen gesorgt. Wahrscheinlich betrachtete ihn Olivas als seine Eintrittskarte für die große Show. Das LAPD war in neunzehn Reviere gegliedert, die sogenannten Divisions, von denen jede eine eigene Polizeistation und eine eigene kriminalpolizeiliche Abteilung hatte. Weniger anspruchsvolle Fälle wurden von den Morddezernaten der einzelnen Divisions bearbeitet, und entsprechend wurden sie als Sprungbretter für den Aufstieg in die Eliteeinheiten der Robbery-Homicide Division, kurz RHD, angesehen, die im Polizeihauptquartier im Parker Center stationiert waren. Dort wurden die eigentlich interessanten Fälle bearbeitet. Und eine dieser Einheiten war die Abteilung Offen-Ungelöst. Bosch war klar, dass Olivas, falls sein Interesse an der Gesto-Akte auch nur im Entferntesten mit dem Waits-Fall zu tun hatte, mit allen Mitteln versuchen würde zu verhindern, dass sich die RHD in die Sache einmischte.

»Was da genau läuft, hat er nicht gesagt?«, fragte Rider.

»Noch nicht. Aber irgendwas ist da im Busch. Er wollte mir nicht mal sagen, mit welchem Ankläger er zusammenarbeitet.«

»Ricochet.«

»Wie bitte?«

Sie sagte es langsamer.

»Rick O’Shea. Er hat den Fall Waits übernommen. Ich bezweifle, dass Olivas nebenher noch was anderes laufen hat. Sie haben gerade die Vorverhandlungen abgeschlossen und arbeiten jetzt auf einen Prozess hin.«

Bosch sagte zunächst nichts, sondern ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. Richard »Ricochet« O’Shea leitete die Special Prosecutions Section der Bezirksstaatsanwaltschaft. Er war ausgesprochen ehrgeizig und wollte unbedingt ganz nach oben kommen. Und nachdem der amtierende Bezirksstaatsanwalt im Frühjahr bekannt gegeben hatte, nicht für eine Wiederwahl zu kandidieren, war O’Shea einer der heißesten Kandidaten für das Amt. Er hatte bei den Vorwahlen die meisten Stimmen erhalten, allerdings war sein Vorsprung nicht deutlich genug ausgefallen, um sich darauf ausruhen zu können. Die endgültige Entscheidung würde in einem erbitterten Kopf-an-Kopf-Rennen fallen, bei dem O’Shea jedoch immer noch die Innenbahn hielt. Er hatte sich der Unterstützung des scheidenden Bezirksstaatsanwalts versichern können, kannte die Behörde in- und auswendig und konnte eine beneidenswerte Erfolgsbilanz vorweisen, weil er als Ankläger einige wichtige Fälle gewonnen hatte – was in den vergangenen zehn Jahren bei Anwärtern auf dieses Amt eher eine Seltenheit gewesen war. Sein Kontrahent hieß Gabriel Williams und war »einer von draußen«, wie man das in einschlägigen Kreisen nannte. Er war zwar zu Beginn seiner juristischen Laufbahn als Ankläger tätig gewesen, hatte aber die letzten zwanzig Jahre eine Privatkanzlei gehabt und sich auf Bürgerrechtsfälle spezialisiert. Im Gegensatz zu O’Shea war er schwarz. Er stellte im Fall seines Wahlsiegs in Aussicht, die Rechtssprechungspraxis im Bezirk strenger zu überwachen und, wo nötig, zu reformieren. Auch wenn die Anhänger des O’Shea-Lagers alles taten, um Williams’ Eignung und Qualifikation für das Amt des obersten Strafverfolgers öffentlich infrage zu stellen, schlugen sich sowohl der Umstand, dass er »von außen« kam, als auch die von ihm angekündigten Reformen in den Wahlprognosen recht positiv nieder. O’Sheas Vorsprung schmolz dahin.

Bosch wusste deshalb so gut über Williams’ und O’Sheas Wahlprogramme Bescheid, weil er in diesem Jahr die Kommunalwahlen mit besonderem Interesse verfolgte. Im Rennen um einen heiß umkämpften Stadtratssitz unterstützte er einen Kandidaten namens Martin Maizel. Maizel konnte bereits auf drei Amtszeiten zurückblicken und vertrat einen Bezirk in der Westside, der weit von dem Teil L.A.s entfernt lag, in dem Bosch wohnte. Er galt als versierter Machtjongleur, der Hinterzimmerzusagen machte und sich zum Nachteil seines Wahlbezirks eher den Interessen der finanzstarken Wählerkreise verpflichtet fühlte. Trotzdem hatte Bosch großzügig für seinen Wahlkampf gespendet und hoffte auf seine Wiederwahl. Sein Herausforderer war ein ehemaliger stellvertretender Polizeichef namens Irvin R. Irving, und Bosch war fest entschlossen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, Irvings Wahl zu verhindern. Wie Gabriel Williams versprach auch Irving Reformen, und in seinen Wahlreden wetterte er mit Vorliebe gegen das LAPD. Als Irving noch bei der Polizei gewesen war, war Bosch einige Male mit ihm aneinandergeraten. Er wollte diesen Mann unter keinen Umständen in den Stadtrat einziehen sehen.

Dank der Ausführlichkeit, mit der die Times fast täglich über die anstehenden Lokalwahlen berichtete, war Bosch nicht nur über Maizel und Irving, sondern auch über die politischen Programme anderer Kandidaten bestens im Bild und wusste daher auch genau über O’Sheas Kampagne Bescheid. Der Ankläger zielte vor allem darauf ab, seine Ansprüche auf das Amt des Bezirksstaatsanwalts mit aufsehenerregenden Strafverfahren zu untermauern, die den Wert seiner Berufserfahrung herausstellen sollten. Erst einen Monat zuvor hatte er die Vorverhandlung gegen Raynard Waits in fette Schlagzeilen und publicitywirksame Auftritte in den Fernsehnachrichten umgemünzt. Der Doppelmörder Waits war in Echo Park bei einer nächtlichen Verkehrskontrolle angehalten worden, und dabei hatten die Cops in seinem Lieferwagen mehrere Müllsäcke entdeckt, aus denen Blut sickerte. Bei ihrer Durchsuchung stellte sich heraus, dass sie Körperteile von zwei Frauen enthielten. Wenn es einen Fall gab, bei dem ein Anwärter für das Amt des Bezirksstaatsanwalts mit ungeteiltem Medieninteresse rechnen konnte, dann der des Müllsackmörders von Echo Park.

Der Haken an der Sache war nur, dass danach mit den Schlagzeilen erst einmal Schluss gewesen war. Gegen Ende der Vorverhandlung war zwar schon der Prozesstermin festgesetzt worden, aber da dem Angeklagten die Todesstrafe drohte, wäre mit dem Prozess – und den damit einhergehenden Schlagzeilen – erst in mehreren Monaten und somit lange nach der Wahl zu rechnen. O’Shea benötigte also irgendetwas Neues, um für Pressewirbel zu sorgen und im Gespräch zu bleiben. Daher fragte sich Bosch, welche Pläne der Kandidat mit dem Gesto-Fall hatte.

»Glaubst du, Gesto hat etwas mit Waits zu tun?«, fragte Rider.

»1993 ist sein Name nie gefallen«, sagte Bosch. »Ebenso wenig wie Echo Park.«

Das Telefon läutete, und er nahm rasch ab.

»Offen-Ungelöst, Detective Bosch.«

»Olivas. Bringen Sie die Akte um elf Uhr in den sechzehnten Stock rüber. Richard O’Shea wird ebenfalls da sein. Sie sind mit im Boot, mein Freund.«

»Wir werden kommen.«

»Moment, Moment. Was heißt wir? Ich habe Sie gesagt, Sie sollen mit der Akte kommen.«

»Ich habe eine Partnerin, Olivas. Wir kommen gemeinsam.«

Bosch legte einfach auf. Er sah Rider an.

»Wir haben um elf einen Termin.«

»Und was ist mit Matarese?«

»Da lassen wir uns schon was einfallen.«

Er dachte kurz nach, dann stand er auf und ging zu dem verschlossenen Aktenschrank hinter seinem Schreibtisch. Er zog die Gesto-Akte heraus und kehrte damit an seinen Platz zurück. Seit er vor einem Jahr aus dem Ruhestand zurückgekehrt war, hatte er die Akte dreimal aus dem Archiv geholt. Jedes Mal hatte er sie aufmerksam durchgelesen, ein paar Anrufe und Besuche gemacht und mit einigen der Personen gesprochen, die dreizehn Jahre zuvor in dem Ermittlungsverfahren eine Rolle gespielt hatten. Rider wusste über den Fall Bescheid und wie viel ihm daran lag. Sie ließ ihm den Freiraum, sich damit zu beschäftigen, wenn sonst nichts Dringendes zu erledigen war.

Bisher jedoch waren seine Bemühungen fruchtlos geblieben. Es gab keine DNA, keine Fingerabdrücke, keinen Hinweis auf Gestos Verbleib – auch wenn für ihn weiterhin feststand, dass sie tot war – und keine konkrete Spur zu ihrem Entführer. Bosch hatte dem Mann, der noch am ehesten als Tatverdächtiger infrage kam, wiederholt auf den Zahn gefühlt, ohne dass dabei etwas herausgekommen wäre. Es war ihm gelungen, Marie Gestos Weg von ihrer Wohnung zu dem Supermarkt zu rekonstruieren, aber nicht weiter. Er hatte ihr Auto in der Garage der High Tower Apartments gefunden, aber er hatte keinerlei Anhaltspunkte, wer es dort abgestellt haben könnte.

Bosch hatte in seiner Polizeilaufbahn mehr als genug ungelöste Fälle gehabt. Es war schlichtweg unmöglich, alle zu lösen, und niemand beim Morddezernat hätte das abgestritten. Aber der Gesto-Fall war einer von denen, die ihm keine Ruhe ließen. Jedes Mal, wenn er ihn sich wieder vornahm, befasste er sich ungefähr eine Woche lang damit, kam aber nicht weiter und brachte die Akte schließlich wieder ins Archiv zurück mit dem Gefühl, alles getan zu haben, was getan werden konnte. Aber diese selbst erteilte Absolution hielt nur ein paar Monate an, dann stand er eines Tages wieder am Schalter und füllte das Antragsformular aus. Er gab nicht auf.

»Bosch«, rief einer der anderen Detectives. »Miami auf Leitung zwei.«

Bosch hatte nicht einmal das Telefon im Bereitschaftsraum läuten hören.

»Lass mich drangehen«, sagte Rider. »Du bist gerade in Gedanken ganz woanders.«

Sie nahm den Hörer ab, und Bosch schlug wieder einmal die Gesto-Akte auf.

2

Infolge des Gedränges vor den Aufzügen verspätetensich Bosch und Rider um zehn Minuten. Wegen der Lifts kam er nur sehr ungern ins Criminal Courts Building. Das lange Warten und dann das Gerangel, um sich einen Platz zu ergattern, versetzten ihn in eine Hektik, auf die er gern verzichten konnte.

An der Empfangstheke der Staatsanwaltschaft im sechzehnten Stock wurden sie aufgefordert, zu warten, bis jemand sie in O’Sheas Büro begleitete. Nach ein paar Minuten kam ein Mann durch eine Tür und deutete auf den Aktenkoffer, den Bosch in der Hand hielt.

»Haben Sie sie dabei?«, fragte er.

Bosch kannte den Mann nicht. Er war ein dunkelhäutiger Latino in einem grauen Anzug.

»Olivas?«

»Ja. Haben Sie die Akte dabei?«

»Ja, ich habe die Akte dabei.«

»Dann kommen Sie mit nach hinten, mein Freund.«

Olivas ging auf die Tür zu, durch die er gekommen war. Rider wollte ihm folgen, aber Bosch legte ihr die Hand auf den Arm. Als Olivas merkte, dass sie ihm nicht folgten, blieb er stehen.

»Kommen Sie jetzt oder nicht?«

Bosch machte einen Schritt auf ihn zu.

»Olivas, lassen Sie uns erst eins klarstellen, bevor wir irgendwohin gehen. Wenn Sie mich noch einmal ›mein Freund‹ nennen, schiebe ich Ihnen die Akte den Arsch hoch, und zwar, ohne sie vorher aus dem Aktenkoffer zu nehmen.«

Olivas hob kapitulierend die Hände.

»Ganz wie Sie meinen.«

Er hielt die Tür auf, und sie folgten ihm in einen langen Flur. Nachdem sie zweimal rechts abgebogen waren, erreichten sie O’Sheas Büro. Es war ein großer Raum, gemessen an den bei der Staatsanwaltschaft üblichen Verhältnissen. Meistens mussten sich mehrere Ankläger ein Büro teilen, zwischen zwei und vier pro Zimmer, und ihre Besprechungen hielten sie in einem der nach strengen Zeitplänen zugeteilten Vernehmungszimmer am Ende des jeweiligen Flurs ab. In O’Sheas Büro dagegen war genügend Platz für einen riesigen Schreibtisch und eine separate Sitzecke. Als Leiter der Abteilung Special Prosecutions genoss man anscheinend gewisse Privilegien. Und als Thronanwärter auf den Platz an der Spitze ebenfalls.

O’Shea stand von seinem Schreibtischsessel auf, um ihnen die Hände zu schütteln. Er war um die vierzig, gut aussehend und hatte pechschwarzes Haar. Und er war klein, was Bosch bereits wusste, obwohl er ihm nie begegnet war. Als er die Fernsehberichterstattung über die Waits-Vorverhandlung verfolgt hatte, war ihm aufgefallen, dass die meisten Reporter, die sich auf dem Korridor vor dem Gerichtssaal um O’Shea versammelt hatten, größer waren als der Mann, dem sie ihre Mikrofone unter die Nase hielten. Bosch mochte kleine Ankläger. Sie versuchten immer, etwas zu kompensieren, und normalerweise war es der Angeklagte, der am Ende den Preis dafür bezahlte.

Alle nahmen Platz. O’Shea hinter seinem Schreibtisch, Bosch und Rider auf den davorstehenden Stühlen und Olivas neben einigen an der Wand lehnenden RICK-O’SHEA-GREIFT-DURCH-Wahlplakaten.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Detectives«, sagte O’Shea. »Lassen Sie uns zuallererst etwaige Verstimmungen aus dem Weg räumen. Freddy sagt, Sie beide hatten keinen sehr harmonischen Einstieg.«

Er sah beim Sprechen Bosch an.

»Ich habe keinerlei Probleme mit Freddy«, sagte Bosch. »Ich kenne Freddy nicht mal gut genug, um ihn Freddy zu nennen.«

»Dann sollte ich Ihnen vielleicht sagen, dass sein Zögern, Sie in die Hintergründe dieser Angelegenheit einzuweihen, auf die Brisanz der Sache zurückzuführen ist und voll und ganz zu meinen Lasten geht. Wenn Sie also verärgert sind, ärgern Sie sich bitte über mich.«

»Ich bin nicht verärgert«, sagte Bosch. »Ich bin glücklich und zufrieden. Fragen Sie meine Partnerin – so bin ich, wenn ich glücklich und zufrieden bin.«

Rider nickte.

»Er ist glücklich und zufrieden«, sagte sie. »Eindeutig glücklich und zufrieden.«

»Na schön«, sagte O’Shea. »Alle sind glücklich und zufrieden. Dann lassen Sie uns zur Sache kommen.«

O’Shea legte die Hand auf einen dicken Faltordner auf der rechten Seite seines Schreibtischs. Er war offen, und Bosch konnte sehen, dass er mehrere einzelne Akten mit blauen Etiketten enthielt. Um sie lesen zu können, war Bosch zu weit entfernt – vor allem, da er die Brille nicht aufhatte, die er seit Kurzem immer bei sich trug.

»Sind Sie mit dem Verfahren gegen Raynard Waits vertraut?«, fragte O’Shea.

»Schwer möglich, nichts davon mitzukriegen«, antwortete Bosch.

O’Shea nickte und rang sich ein Lächeln ab.

»Ja, wir haben den Fall vor den Kameras ziemlich breitgetreten. Der Kerl ist ein richtiger Metzger. Durch und durch böse. Wir haben von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass wir die Todesstrafe beantragen.«

»Nach allem, was ich gehört und gesehen habe, drängt er sich förmlich dafür auf«, sagte Rider aufmunternd.

O’Shea nickte ernst.

»Das ist mit einer der Gründe, weshalb Sie hier sind. Bevor ich Ihnen auseinanderlege, wie die Sache bei uns aussieht, möchte ich Sie allerdings bitten, mich über den Stand Ihrer Ermittlungen im Fall Marie Gesto in Kenntnis zu setzen. Freddy meinte, Sie hätten die Akte im vergangenen Jahr dreimal aus dem Archiv geholt. Gibt es irgendwelche neuen Erkenntnisse?«

Bosch räusperte sich, nachdem er sich dazu durchgerungen hatte, erst zu geben und dann zu nehmen.

»Man könnte sagen, ich habe den Fall jetzt schon dreizehn Jahre. Übernommen habe ich ihn 1993, nachdem sie vermisst gemeldet wurde.«

»Aber es ist nie etwas dabei herausgekommen?«

Bosch schüttelte den Kopf.

»Wir hatten keine Leiche. Alles, was wir fanden, war ihr Auto, und das war nicht genug. Wir hatten nie jemanden, der für die Tat infrage kam.«

»Nicht einmal einen Verdächtigen?«

»Natürlich haben wir ein paar Leute genauer unter die Lupe genommen, speziell einen Mann. Aber wir konnten ihm nichts nachweisen, also hatten wir nie einen dringend Tatverdächtigen. Dann habe ich 2002 den Dienst quittiert, und der Fall ist im Archiv gelandet. Ein paar Jahre vergehen, im Ruhestand läuft manches nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe, und ich kehre wieder in den Polizeidienst zurück. Das war letztes Jahr.«

Bosch hielt es nicht für nötig, O’Shea zu erzählen, dass er die Gesto-Akte, zusammen mit einigen anderen offenen Fällen, kopiert und mitgenommen hatte, als er 2002 seine Dienstmarke abgegeben hatte und in Pension gegangen war. Akten zu kopieren war ein Verstoß gegen die Vorschriften, und je weniger Leute davon wussten, umso besser.

»Letztes Jahr habe ich mir immer, wenn ich etwas Zeit hatte, die Gesto-Akte geholt«, fuhr er fort. »Aber es gibt keine DNA, keine Fingerabdrücke. Blieb also nichts als Klinkenputzen. Ich habe noch einmal mit allen Hauptbeteiligten gesprochen – mit jedem, den ich finden konnte. Und da ist immer noch der Kerl, von dem ich dachte, dass er es gewesen sein könnte, obwohl ich ihm nie was nachweisen konnte. Ich habe dieses Jahr zweimal mit ihm gesprochen, ihm ordentlich eingeheizt.«

»Und?«

»Nichts.«

»Wer ist der Mann?«

»Er heißt Anthony Garland. Sprössling einer reichen Familie aus Hancock Park. Sagt Ihnen der Name Thomas Rex Garland etwas, der Ölmagnat?«

O’Shea nickte.

»T. Rex, wie er auch genannt wird, ist Anthonys Vater.«

»Welche Verbindung besteht zwischen Anthony Garland und Gesto?«

»›Verbindung‹ ist in diesem Zusammenhang vielleicht ein wenig übertrieben. Marie Gestos Auto wurde in einer Einzelgarage einer Wohnanlage in Hollywood gefunden. Die dazugehörige Wohnung stand leer. Wir dachten damals, es könnte kein reiner Zufall sein, dass das Auto genau dort auftauchte. Wir vermuteten, dass die Person, die das Auto dort versteckt hat, wusste, dass die Wohnung leer stand und es deshalb relativ lang unentdeckt bliebe.«

»Okay. Anthony Garland wusste von der Garage. Oder kannte er Marie?«

»Er wusste von der Garage. Seine frühere Freundin hatte in der Wohnung gewohnt, zu der sie gehörte. Sie hatte sich von ihm getrennt und war zurück nach Texas gezogen. Deshalb wusste er, dass Wohnung und Garage leer standen.«

»Das ist nicht gerade viel. Mehr hatten Sie nicht?«

»Wir fanden es auch etwas dürftig, aber dann besorgten wir uns von der Führerscheinstelle ihr Foto, und wie sich herausstellte, sah sie Marie Gesto auffallend ähnlich. Wir dachten, Marie Gesto könnte eine Art Ersatzopfer gewesen sein. Weil er seiner Exfreundin nichts antun konnte – sie war ja nicht mehr hier –, nahm er sich an ihrer Stelle Marie Gesto vor.«

»Waren Sie in Texas?«

»Zweimal. Wir haben mit der Ex gesprochen, und sie sagte uns, der Hauptgrund für ihre Trennung von Garland sei seine unbeherrschte und aufbrausende Art gewesen.«

»Wurde er ihr gegenüber handgreiflich?«

»Ihren Aussagen zufolge nicht. Sie sagte, sie hätte sich von ihm getrennt, um zu vermeiden, dass es dazu kam.«

O’Shea beugte sich vor.

»Kannte Anthony Garland Marie Gesto?«, fragte er.

»Das wissen wir nicht. Bis sein Vater seinen Anwalt eingeschaltet hat und Anthony jede weitere Aussage verweigerte, hat er es jedenfalls geleugnet.«

»Wann war das? Das mit dem Anwalt, meine ich.«

»Damals schon und auch jetzt wieder. Ich habe ihn dieses Jahr ein paarmal aufgesucht. Ich habe ihm auf den Zahn gefühlt, aber er hat sich hinter seinen Anwälten verschanzt. Diesmal waren es andere. Es gelang ihnen, eine einstweilige Verfügung gegen mich zu erwirken. Sie brachten einen Richter dazu, mir zu untersagen, mich Garland zu nähern, wenn er keinen Anwalt bei sich hat. Ich vermute stark, dass sie den Richter mit Geld überzeugt haben. So handhabt das T. Rex Garland immer.«

O’Shea lehnte sich nachdenklich nickend zurück.

»Hat Anthony Garland vor oder nach Gesto irgendwelche Vorstrafen?«

»Nein, keinerlei Vorstrafen. Allerdings ist er kein sonderlich nützliches Mitglied der Gesellschaft. Soweit ich das beurteilen kann, lebt er von den Zuwendungen seines alten Herrn. Er kümmert sich um die Sicherheitsbelange seines Vaters und dessen verschiedener Unternehmen. Aber ich konnte nichts Kriminelles finden.«

»Steht denn nicht zu vermuten, dass jemand, der eine junge Frau entführt und umbringt, noch mehr auf dem Kerbholz hat? So etwas ist doch normalerweise kein einmaliger Ausrutscher.«

»Statistisch gesehen mag das stimmen. Aber es gibt immer Ausnahmen von der Regel. Und dann ist da noch das Geld des Alten. Mit Geld lässt sich einiges ausbügeln oder vertuschen.«

O’Shea nickte erneut, als hörte er so etwas zum ersten Mal. Es war eine miserable Vorstellung.

»Wie hätte Ihr nächster Schritt ausgesehen?«, fragte er.

Bosch schüttelte den Kopf.

»Keine Ahnung. Ich habe die Akte ins Archiv zurückgeschickt und gedacht, das war’s also wieder mal. Dann bin ich vor ein paar Wochen nach unten und habe sie erneut ausgeliehen. Ich weiß nicht, was ich weiter vorhatte. Vielleicht mit ein paar von Garlands Freunden aus jüngerer Vergangenheit reden, ob er ihnen gegenüber mal Marie Gesto erwähnt hat. Für mich stand nur eines fest – dass ich nicht aufgeben würde.«

O’Shea räusperte sich, und Bosch wurde klar, dass er jetzt auf den eigentlichen Grund ihrer Anwesenheit zu sprechen käme.

»Fiel in all den Jahren, in denen Sie hinsichtlich Gestos Verschwinden ermittelt haben, jemals der Name Ray oder Raynard Waits?«

Bosch sah ihn kurz an, und sein Magen zog sich zusammen.

»Nein. Hätte er das?«

O’Shea zog eine der Akten aus dem Faltordner und öffnete sie auf dem Schreibtisch. Er nahm ein Dokument heraus, das aussah wie ein Brief.

»Wie bereits gesagt, werden wir bei Waits die Todesstrafe beantragen«, begann er. »Nach der Vorverhandlung dürfte ihm klar geworden sein, was die Stunde geschlagen hat. Er hat zwar Berufung eingelegt wegen des berechtigten Grunds für die Verkehrskontrolle. Aber damit wird er nicht weit kommen, was sowohl ihm als auch seinem Anwalt sehr wohl bewusst ist. Auf Schuldunfähigkeit zu plädieren wird ihm ebenfalls nichts bringen. Dieser Kerl ist so gut organisiert und berechnend vorgegangen wie kaum ein Mörder, den ich bisher unter Anklage gestellt habe. Und deshalb kamen sie vergangene Woche hiermit an.« O’Shea hielt das Schreiben hoch. »Bevor ich Ihnen das zeige, muss ich mich jedoch vergewissern, dass Ihnen klar ist, dass es sich hierbei um das Schreiben eines Anwalts handelt. Es ist ein Verhandlungsangebot. Also egal, was passiert – ob wir uns darauf einlassen oder nicht –, die darin enthaltenen Informationen sind vertraulich. Sollten wir das Angebot ausschlagen, dürfen aus diesen Informationen keine Ermittlungen erwachsen. Sind Sie sich dessen bewusst?«

Rider nickte. Bosch nicht.

»Detective Bosch?« O’Shea sah Bosch fragend an.

»Dann sollte ich es vielleicht lieber nicht sehen«, sagte Bosch. »Vielleicht sollte ich nicht einmal hier sein.«

»Sie waren derjenige, der Freddy die Akte nicht geben wollte. Wenn Ihnen der Fall so viel bedeutet, dann sollten Sie auch hier sein, finde ich.«

Schließlich nickte Bosch.

»Okay.«

O’Shea schob das Blatt Papier über den Schreibtisch, und Bosch und Rider beugten sich vor, um es gemeinsam zu lesen. Bosch klappte zuerst seine Brille auf und schob sie auf seine Nase.

12. September 2006

 

Richard O’Shea, Stv. Bezirksstaatsanwalt

Bezirksstaatsanwaltschaft Los Angeles

Büro 16–11

210 West Temple Street

Los Angeles, CA90012–3210

Betr.: Kalifornien gg. Raynard Waits

 

Sehr geehrter Mr. O’Shea,

dieses Schreiben dient dem Zweck, Gespräche hinsichtlich einer Einigung in oben genanntem Fall einzuleiten. Alle Angaben, die hierin und nachfolgend bei den von uns vorgeschlagenen Gesprächen gemacht werden, erfolgen in dem gegenseitigen Wissen, dass sie laut kalifornischem Beweismittelgesetzbuch § 1153, kalifornischem Strafgesetzbuch § 1192.4 und Das Volk vs. Tanner, 45 Cal. App.3d 345, 350, 119 Cal. Reptr. 407 (1975) vor Gericht nicht als Beweismittel zulässig sind.

Ich unterbreite Ihnen hiermit, dass Mr. Waits unter den unten aufgeführten Bedingungen und Voraussetzungen bereit wäre, Ihnen und Ermittlern Ihrer Wahl Angaben zu neun Morden zu machen, nicht eingeschlossen die zwei oben erwähnten, und sich im Sinne der Anklage in oben erwähntem Fall für schuldig zu bekennen, falls sich die Staatsanwaltschaft als Gegenleistung bereit erklärt, weder in den anstehenden Mordanklagen die Todesstrafe zu beantragen noch hinsichtlich der Morde Anklage zu erheben, zu denen er Angaben zu machen bereit ist.

Des Weiteren müssen Sie sich als Gegenleistung für die Kooperation und die Informationen, die Mr. Waits anbietet, bereit erklären, jegliche Aussagen von Mr. Waits sowie jegliche daraus gewonnenen Erkenntnisse in einem Strafverfahren nicht gegen ihn zu verwenden; keine Information, die gemäß dieser Übereinkunft zur Verfügung gestellt wird, darf an irgendwelche Strafverfolgungs- und Ermittlungsbehörden eines Bundesstaates oder der Zentralregierung in Washington weitergeleitet werden, solange sich eine solche Behörde nicht durch ihre Vertreter einverstanden erklärt hat, sich an die Voraussetzungen und Bedingungen dieser Abmachung zu halten; keinerlei Aussagen oder sonstige Angaben, die von Mr. Waits im Zuge einer »vertraulichen« Verhandlung oder Unterredung gemacht werden, dürfen in der Beweisführung der Anklage gegen ihn verwendet werden; ebenso wenig darf ermittlungstechnisch relevanten Hinweisen, die aus Aussagen des Angeklagten oder von ihm zur Verfügung gestellten Informationen hervorgehen, nachgegangen werden.

Sollte oben erwähnter Fall zur Verhandlung kommen und Mr. Waits in dessen Verlauf irgendwelche Aussagen machen, die von Aussagen oder sonstigen Informationen im Zuge jedweder Verhandlungen und Gespräche abweichen, können Sie ihn selbstverständlich hinsichtlich solcher widersprüchlicher Aussagen und Angaben anklagen.

Ich gehe davon aus, dass die Familien acht junger Frauen und eines männlichen Opfers bis zu einem gewissen Grad mit den Vorfällen in ihrer Vergangenheit werden abschließen können, wenn sie erfahren, was mit ihren Angehörigen geschehen ist, und die entsprechenden religiösen Zeremonien und Bestattungsrituale vornehmen können, sobald Mr. Waits Ihre Ermittler an die Orte geführt hat, an denen diese Opfer gegenwärtig ruhen. Überdies werden diese Familien vielleicht einen gewissen Trost in dem Wissen finden, dass Mr. Waits eine lebenslange Haftstrafe ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung verbüßt.

Mr. Waits bietet Ihnen an, Angaben zu neun Morden zu machen, die sich zwischen 1992 und 2003 ereignet haben. Als einleitendes Angebot und Zeichen seiner Glaubwürdigkeit schlägt er vor, dass sich die Ermittler noch einmal mit dem Tod von Daniel Fitzpatrick, 63, befassen, der am 30. April 1992 in seinem Leihhaus am Hollywood Boulevard verbrannt wurde. Aus den Ermittlungsunterlagen wird ersichtlich werden, dass Mr. Fitzpatrick bewaffnet war und hinter dem Sicherheitsgitter seines Ladens stand, als er von einem Angreifer mit Brennspiritus und einem Gasfeuerzeug in Brand gesteckt wurde. Die Dose mit EasyLight-Brennspiritus wurde vom Täter aufrecht stehend vor dem Gitter zurückgelassen. Diese Information wurde nie bekannt gegeben.

Weiterhin schlägt Mr. Waits vor, zur zusätzlichen Bestätigung seiner Glaubwürdigkeit und seines guten Willens, die polizeilichen Ermittlungsakten zum Verschwinden von Marie Gesto im September 1993 hinzuzuziehen. Aus diesen Unterlagen wird hervorgehen, dass zwar Ms. Gestos Verbleib nie ermittelt wurde, ihr Auto aber von der Polizei in einer Garage einer Wohnanlage in Hollywood entdeckt wurde, die unter dem Namen High Tower bekannt ist. In dem Auto befanden sich Ms. Gestos Kleidung und Reitausrüstung sowie eine Einkaufstüte mit einem Pfund abgepackter Karotten. Ms. Gesto beabsichtigte, mit den Karotten die Pferde zu füttern, die sie im Sunset-Ranch-Reitstall im Beachwood Canyon versorgte, um dort kostenlos reiten zu können. Auch diese Information wurde nie öffentlich bekannt gegeben.

Ich würde vorschlagen, dass für den Fall, dass eine Übereinkunft zustande kommt, diese insofern nicht unter das kalifornische Verbot außergerichtlicher Einigungen bei Kapitalverbrechen fällt, als es ohne Mr. Waits’ Kooperation nicht genügend Beweise und Zeugen gäbe, diese neun Morde vor Gericht zu bringen. Darüber hinaus liegt die Aussetzung der Todesstrafe seitens des Volkes ganz im Ermessen des Gerichts und stellt keine substanzielle Änderung des Urteils dar. (Kalifornisches Strafgesetzbuch § 1192.7a.)

Bitte setzen Sie sich baldmöglichst mit mir in Verbindung, wenn Ihnen obige Vorgehensweise annehmbar erscheint.

 

Mit freundlichen Grüßen

Maurice Swann, PA

101 Broadway

Suite 2

Los Angeles, CA90013

Bosch merkte, dass er fast das ganze Schreiben durchgelesen hatte, ohne ein einziges Mal Atem zu holen. Jetzt schnappte er kurz nach Luft, aber sie konnte die kalte Beklemmung nicht vertreiben, die sich in seiner Brust breitgemacht hatte.

»Darauf werden Sie sich doch wohl nicht einlassen«, sagte er.

O’Shea sah ihn kurz an, bevor er antwortete.

»Ich stehe bereits in Verhandlungen mit Swann. Das war das ursprüngliche Angebot. Ich habe die Verhandlungsposition der Anklage seit Eingang dieses Schreiben deutlich verbessert.«

»Inwiefern?«

»Er wird sich in allen Fällen schuldig bekennen müssen. Wir kriegen elf Schuldsprüche wegen Mordes.«

Und du kriegst rechtzeitig vor den Wahlen weitere Schlagzeilen, dachte Bosch, sagte es aber nicht.

»Und trotzdem kommt er ungestraft davon?«

»Nein, Detective, er kommt nicht ungestraft davon. Er wird nie mehr das Tageslicht sehen. Waren Sie mal oben, wo sie die Sexualverbrecher hinschicken, in Pelican Bay? Es klingt nur so, als wäre das ein hübscher Ort.«

»Aber keine Todesstrafe. Da kommen Sie ihm entgegen.«

Olivas verzog das Gesicht, als wäre Bosch schwer von Begriff.

»Ja, so weit kommen wir ihm entgegen«, sagte O’Shea. »Aber es ist unser einziges Zugeständnis. Keine Todesstrafe, aber er kommt für den Rest seines Lebens hinter Gitter.«

Bosch schüttelte den Kopf, sah Rider an und dann wieder O’Shea. Er sagte nichts, weil er wusste, es war nicht an ihm, diese Entscheidung zu treffen.

»Bevor wir uns allerdings auf einen solchen Handel einlassen«, fuhr O’Shea fort, »müssen wir zu hundert Prozent sicherstellen, dass diese neun auch tatsächlich auf sein Konto gehen. Waits ist nicht auf den Kopf gefallen. Das Ganze könnte ein Trick sein, um der Todesspritze zu entgehen, es könnte aber auch Hand und Fuß haben. Sie beide sollen, gemeinsam mit Freddy, herausfinden, was davon zutrifft. Ich werde mit den zuständigen Leuten telefonieren, damit Sie freigestellt werden. Das hier wird Ihr Auftrag.«

Als weder Bosch noch Rider antworteten, fuhr O’Shea fort: »Dass Waits einiges über die beiden Fälle weiß, mit denen er uns in diesem Schreiben zu ködern versucht, liegt auf der Hand. Die Sache mit Fitzpatrick hat Freddy bereits nachgeprüft. Er wurde während der Unruhen nach Bekanntgabe des Rodney-King-Urteils getötet. Man hat ihn hinter dem heruntergelassenen Sicherheitsgitter seines Leihhauses verbrannt. Er war schwer bewaffnet. Was wir uns allerdings bisher nicht erklären können, ist, wie sein Mörder nahe genug an ihn herankam, um ihn in Brand zu stecken. Die Dose Brennspiritus wurde genau an der von Waits angegebenen Stelle gefunden, aufrecht stehend vor dem Sicherheitsgitter.«

»Was Waits’ Angaben zum Fall Gesto angeht, konnten wir sie bisher nicht überprüfen, weil Sie die Akte haben, Detective Bosch. Das mit der Garage haben Sie bereits bestätigt. Stimmt das mit den Kleidern und den Karotten ebenfalls?«

Bosch nickte widerstrebend.

»Die Sache mit dem Auto war allgemein bekannt«, sagte er. »Die Medien haben sich förmlich darauf gestürzt. Aber die Einkaufstüte mit den Karotten war unser Ass im Ärmel. Außer mir, meinem damaligen Partner und dem Kriminaltechniker, der die Tüte geöffnet hat, wusste damals niemand davon. Wir hielten diese Information zurück, weil wir zu der Überzeugung gelangt waren, dass sie an diesem Punkt seinen Weg gekreuzt hatte. Die Karotten stammten aus einem Mayfair Supermarket in der Franklin Avenue im unteren Teil von Beachwood Canyon. Wie sich herausstellte, kaufte sie dort regelmäßig ein, bevor sie zum Reitstall fuhr. Genau wie an jenem Tag, als sie verschwand. Sie kam mit den Karotten und vermutlich ihrem Mörder im Schlepptau aus dem Supermarkt. Wir konnten Zeugen auftreiben, die sie im Supermarkt gesehen haben. Danach nichts mehr. Bis wir ihr Auto gefunden haben.«

O’Shea nickte. Er deutete auf das Schreiben, das immer noch vor Bosch und Rider auf dem Schreibtisch lag.

»Dann macht das also einen recht brauchbaren Eindruck?«

»Nein, macht es nicht«, sagte Bosch. »Tun Sie das nicht.«

»Was soll ich nicht tun?«

»Sich auf diesen Deal einlassen.«

»Was spricht dagegen?«

»Wenn das tatsächlich der Kerl ist, der Marie Gesto entführt und umgebracht hat, und wenn er diese acht anderen Menschen umgebracht und sie vielleicht ebenso zerstückelt hat wie die beiden, mit denen er gefasst wurde, dann hat er nicht verdient weiterzuleben, und sei es auch nur in einer Gefängniszelle. Man sollte ihn festschnallen, ihm dieses Zeug spritzen und ihn dorthin befördern, wo er hingehört.«

O’Shea nickte, als wäre das eine Überlegung wert.

»Und was wird dann aus den ganzen offenen Fällen?«, hielt er Bosch entgegen. »Mir gefällt die Vorstellung, dass dieser Kerl sein Leben in einer Privatunterkunft in Pelican Bay ausklingen lässt, ebenso wenig wie Ihnen. Aber wir sind dazu verpflichtet, diese Fälle zu lösen und den Angehörigen der Opfer Antworten zu geben. Vergessen Sie außerdem nicht, dass wir angekündigt haben, wir werden die Todesstrafe beantragen. Das heißt nicht, dass wir sie auch kriegen. Wir müssen erst einmal vor Gericht gewinnen, und dann geht das Ganze noch einmal von vorne los, und wir müssen die Geschworenen überzeugen, sich für die Todesstrafe auszusprechen. Ich bin sicher, Sie wissen, dass es eine Vielzahl von Dingen gibt, die auf dem Weg dorthin schiefgehen können. Bereits ein Geschworener genügt, um einen Prozess zu verlieren. Und genauso reicht ein einziger, um die Todesstrafe zu verhindern. Ganz abgesehen davon, dass auch ein milder Richter genügt, um die Empfehlung der Geschworenen zu übergehen.«

Bosch antwortete nicht. Er wusste, wie das System funktionierte und wie es manipuliert werden konnte, und dass auf nichts hundertprozentig Verlass war. Trotzdem ging es ihm gegen den Strich. Außerdem wusste er, dass lebenslänglich nicht immer lebenslänglich war. Jahr für Jahr erhielten Leute wie Charlie Manson und Sirhan Sirhan eine neue Chance. Nichts hält ewig, nicht einmal eine lebenslängliche Haftstrafe.

»Nicht zuletzt wäre da noch der Kostenfaktor«, fuhr O’Shea fort. »Waits hat zwar kein Geld, aber Maury Swann hat den Fall aus Gründen der Werbewirksamkeit übernommen. Er wird sich also mächtig ins Zeug legen, wenn wir vor Gericht gehen. Und Maury ist ein verdammt guter Anwalt. Wir müssen damit rechnen, dass er mit Sachverständigen ankommt, die unsere Sachverständigen ausstechen, mit wissenschaftlichen Gutachten, die unsere Gutachten übertrumpfen – der Prozess wird Monate dauern und den Staat ein Vermögen kosten. Ich weiß, Sie werden nicht gern hören, dass Geld in diesem Fall eine Rolle spielt, aber so ist es nun mal. Ich habe deswegen sowieso schon die Budgetbewilligungsstelle am Hals. Dieses Angebot könnte der sicherste und einfachste Weg sein, dafür zu sorgen, dass dieser Mann künftig niemandem mehr etwas zuleide tut.«

»Der einfachste Weg?«, entgegnete Bosch. »Der gerechte Weg ist es jedenfalls nicht, wenn Sie mich fragen.«

O’Shea griff nach einem Stift und trommelte damit auf seinen Schreibtisch, bevor er antwortete.

»Detective Bosch, warum haben Sie die Gesto-Akte so oft aus dem Archiv geholt?«

Bosch spürte, wie sich Rider zu ihm herumdrehte und ihn ansah. Sie hatte ihm mehr als einmal dieselbe Frage gestellt.

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt«, antwortete Bosch. »Weil es mal mein Fall war. Es hat mich gewurmt, dass wir den Täter nie gefunden haben.«

»Mit anderen Worten, die Sache ließ Ihnen keine Ruhe.«

Bosch nickte widerstrebend.

»Hatte sie Familie?«

Bosch nickte wieder.

»Ihre Eltern lebten oben in Bakersfield. Sie hatten große Hoffnungen in sie gesetzt.«

»Dann denken Sie mal an diese Leute. Und denken Sie an die Familien der anderen Opfer. Wir können ihnen nicht sagen, dass es Waits war, solange wir nicht absolut sicher sind. Sie wollen endlich Gewissheit haben und wären auch bereit, diese Gewissheit gegen sein Leben einzutauschen. Es ist besser, wenn er sich aller Morde schuldig bekennt, als ihn nur für zwei zu kriegen.«

Bosch sagte nichts. Er hatte seinen Einwand bereits vorgebracht. Jetzt war es Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Rider sah die Sache ähnlich.

»Wie eng ist der zeitliche Rahmen gesteckt?«, fragte sie.

»Ich will keine Zeit verlieren«, sagte O’Shea. »Wenn die Sache Hand und Fuß hat, möchte ich sie möglichst schnell über die Bühne bringen.«

»Möglichst noch vor der Wahl, oder?«, sagte Bosch.

Er bereute es sofort. O’Sheas Lippen bildeten einen dünnen Strich. Unter der Haut um seine Augen schien sich Blut zu sammeln.

»Detective«, erwiderte er. »Sagen wir mal so – ich kandidiere für das Amt des Bezirksstaatsanwalts, und die erfolgreiche Aufklärung von elf Mordfällen würde meine Chancen, gewählt zu werden, mit Sicherheit erhöhen. Aber unterstellen Sie mir nicht, die Wahl wäre in dieser Angelegenheit mein einziger Beweggrund. Jede Nacht, in der diese Eltern, die große Hoffnungen in ihre Tochter setzten, zu Bett gehen, ohne zu wissen, wo sie ist oder was ihr zugestoßen ist, ist eine Nacht voller seelischer Qualen. Auch nach dreizehn Jahren noch. Und aus diesem Grund möchte ich mir in diesem Fall meiner Sache ganz sicher sein und außerdem rasch zu einem Ergebnis kommen, und Sie können Ihre Spekulationen über alles andere gern für sich behalten.«

»Gut«, sagte Bosch. »Wann reden wir mit dem Kerl?«

O’Shea sah Olivas an und dann wieder Bosch.

»Zuerst sollten wir unsere Akten austauschen. Sie machen sich mit Waits vertraut, und Freddy arbeitet sich in die Gesto-Akte ein. Sobald Sie damit fertig sind, vereinbaren wir mit Maury Swann einen Termin. Wie wär’s mit morgen?«

»Gut, morgen«, sagte Bosch. »Wird Swann bei der Vernehmung dabei sein?«

O’Shea nickte.

»Maury hat das Ganze zur Chefsache erklärt und wird sich selbst um alle Belange kümmern. Er wird sicher alle Register ziehen, und wahrscheinlich hat er schon, bevor die Sache überhaupt zu Ende ist, einen Buch- und Filmvertrag unter Dach und Fach. Möglicherweise ist sogar ein Vertrag als Gastmoderator bei Court TV für ihn drin.«

»Wäre vielleicht nicht mal das Schlechteste«, bemerkte Bosch. »Dann wären wir ihn wenigstens im Gericht los.«

»Unter diesem Gesichtspunkt habe ich das noch gar nicht gesehen«, sagte O’Shea. »Haben Sie die Gesto-Akte dabei?«

Bosch öffnete den Aktenkoffer in seinem Schoß und nahm die Ermittlungsunterlagen heraus, die sich in einem sieben Zentimeter dicken Ordner befanden, dem sogenannten Mordbuch. Er gab ihn O’Shea, der sich zur Seite drehte und ihn an Olivas weiterreichte.

»Und Sie bekommen dafür das hier«, erklärte O’Shea.

Er steckte die Akte in den Faltordner zurück und hielt Bosch alles hin.

»Viel Spaß beim Lesen«, bemerkte er dazu. »Und Sie kriegen das wirklich bis morgen hin?«

Bosch sah Rider fragend an, ob sie irgendwelche Einwände hätte. Ihnen blieb noch ein Tag, um die Matarese-Akte zum Bezirksstaatsanwalt zu bringen. Aber sie waren fast fertig damit, und er wusste, Rider würde den Rest allein schaffen. Als Rider nichts sagte, wandte sich Bosch wieder O’Shea zu.

»Wir kriegen das hin.«

»Dann werde ich Maury anrufen und einen Termin mit ihm vereinbaren.«

»Wo ist Waits?«

»Hier im Haus«, sagte O’Shea. »Wir haben ihn im Hochsicherheitstrakt noch mal extra abgesondert.«

»Gut«, sagte Rider.

»Was ist mit den anderen sieben?«, fragte Bosch.

»Was soll mit ihnen sein?«

»Existieren für sie keine Akten?«

»Waits und Maury Swann haben in ihrem Angebot angedeutet, dass es sich dabei um Frauen handelt, die nie gefunden und wahrscheinlich nicht einmal vermisst gemeldet wurden«, sagte O’Shea. »Waits ist bereit, uns zu ihnen zu führen, aber es gibt in diesen Fällen nichts, was wir vorbereitend tun können.«

Bosch nickte.

»Sonst noch Fragen?«, sagte O’Shea und gab damit zu verstehen, dass die Besprechung beendet war.

»Wir werden uns gegebenenfalls bei Ihnen melden«, sagte Bosch.

»Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich habe das Gefühl, Sie trotzdem noch einmal darauf hinweisen zu müssen«, sagte O’Shea. »Dieses Ermittlungsverfahren ist geheim. Diese Akte ist ein Angebot und damit Teil eines Verhandlungsvorschlags. Nichts, was in dieser Akte steht, oder was er uns sagt, darf vor Gericht gegen ihn verwendet werden. Wenn also nichts aus der Sache wird, werden Sie diese Informationen nicht dazu heranziehen können, ihn zu belangen. Ist das klar?«

Bosch antwortete nicht.

»Klar«, sagte Rider.

»Es gibt allerdings eine einzige Ausnahme, die ich mir ausbedungen habe. Wenn Sie ihn in irgendeinem Punkt einer Lüge überfuhren, oder wenn sich herausstellt, dass er im weiteren Verlauf wissentlich eine Falschaussage macht, sind alle Abmachungen null und nichtig, und wir können ihn uneingeschränkt belangen. Dieser Punkt wurde ihm in aller Deutlichkeit klargemacht.«

Bosch nickte. Er erhob sich. Rider ebenfalls.

»Muss ich jemanden anrufen, um Sie beide freistellen zu lassen?«, fragte O’Shea. »Nötigenfalls kann ich auch ein bisschen die Muskeln spielen lassen.«

Rider schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht«, sagte sie. »Harry ist bereits mit dem Gesto-Fall beschäftigt. Und die sieben Frauen mögen vielleicht unbekannte Opfer sein, aber über den Mann aus dem Leihhaus gibt es im Archiv sicher eine Akte. Und damit kommt Offen-Ungelöst ohnehin ins Spiel. Wir kriegen das mit unserem Vorgesetzten schon geregelt.«

»Na schön. Sobald der Termin feststeht, melde ich mich bei Ihnen. Ansonsten finden Sie alle meine Nummern in der Akte. Die von Freddy auch.«

Bosch nickte O’Shea zu und sah Olivas kurz an, bevor er sich zum Gehen wandte.

»Detectives?«, sagte O’Shea.

Bosch und Rider drehten sich zu ihm um. Er war aufgestanden, um ihnen die Hände schütteln.

»Ich hoffe, Sie sind in dieser Sache auf meiner Seite«, sagte er.

Bosch reichte ihm die Hand, obwohl er sich nicht sicher war, ob O’Shea damit den Fall oder die Wahl gemeint hatte.

Er sagte: »Wenn mir Waits hilft, Marie Gesto zu ihren Eltern heimzubringen, bin ich auf Ihrer Seite.«

Es war keine hundertprozentig zutreffende Zusammenfassung seiner Gefühle, aber sie brachte ihn aus dem Büro.

3

Wieder zurück in der Abteilung Offen-Ungelöst, erstatteten Bosch und Rider ihrem Vorgesetzten Bericht über die Unterredung mit O’Shea. Nach fünfundzwanzig Jahren Polizeidienst hatte Abel Pratt noch vier Wochen bis zu seiner Pensionierung. Mit entsprechender Aufmerksamkeit hörte er ihnen zu. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel Fodor-Reiseführer für verschiedene karibische Inseln. Er hatte vor, den Dienst zu quittieren, der Stadt den Rücken zu kehren und sich mit seiner Familie auf einer Insel niederzulassen. Das war unter Polizisten ein weitverbreiteter Ruhestandstraum – endlich diese ganze Trostlosigkeit, mit der man sich so lange herumgeschlagen hatte, hinter sich zu lassen. Die Realität sah allerdings so aus, dass es auf diesen Inseln nach sechs Monaten Meer und Sonnenschein ziemlich bald langweilig wurde.

Nach Pratts Pensionierung sollte David Lambkin, ein Detective von der RHD