Das dritte Land - Karina Sainz Borgo - E-Book

Das dritte Land E-Book

Karina Sainz Borgo

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Das dritte Land« ist der zweite Roman von Karina Sainz Borgo; ihr Debüt »Nacht in Caracas« wurde zu einem Welterfolg. Angustias Romero ist auf der Flucht vor der Seuche. Mit ihrem Mann und den siebenmonatigen Zwillingen auf dem Rücken ist sie unterwegs in die Berge, auf dem Weg ins rettende Nachbarland. Überall Beschwernis, Hitze und Staub. Die beiden Kinder überleben die Reise nicht. An der Grenze unterhält Visitacíon Salazar einen illegalen Friedhof: Das dritte Land. Gegen den Widerstand von Kartellen und Todesschwadronen bietet sie den Ausgestoßenen einen Grabplatz. Hier endlich findet die Mutter für die toten Zwillinge einen Ort. Sie beschließt, bei ihnen zu bleiben und die Totengräberin in ihrem Kampf zu unterstützen. Mit der Wucht einer antiken Tragödie erzählt Karina Sainz Borgo von Flucht und Hoffnung auf Rettung, mit ihrem Roman setzt sie der realen Totengräberin im »dritten Land« ein Denkmal. Der Roman wurde 2023 mit dem Prix Jan Michalski ausgezeichnet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 271

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Karina Sainz Borgo

Das dritte Land

Roman

 

Aus dem Spanischen von Angelica Ammar

 

Über dieses Buch

 

 

Angustias Romero ist auf der Flucht vor der Seuche. Mit ihrem Mann und den siebenmonatigen Zwillingen auf dem Rücken ist sie unterwegs in die Berge, auf dem Weg ins rettende Nachbarland. Überall Beschwernis, Hitze und Staub. Die beiden Kinder überleben die Reise nicht.

An der Grenze unterhält Visitacíon Salazar einen illegalen Friedhof: Das dritte Land. Gegen den Widerstand von Kartellen und Todesschwadronen bietet sie den Ausgestoßenen einen Grabplatz. Hier endlich findet die Mutter für die toten Zwillinge einen Ort. Sie beschließt, bei ihnen zu bleiben und die Totengräberin in ihrem Kampf zu unterstützen.

Mit der Wucht einer antiken Tragödie erzählt Karina Sainz Borgo von Flucht und Hoffnung auf Rettung, mit ihrem Roman setzt sie der realen Totengräberin im »dritten Land« ein Denkmal.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Karina Sainz Borgo wurde 1982 in Caracas geboren und emigrierte vor mehr als zwölf Jahren nach Spanien. Ihre Verwandten leben weiterhin in Venezuela. Sie arbeitet als Journalistin in Madrid und schreibt für verschiedene Zeitungen und Blogs in Spanien und Lateinamerika. »Nacht in Caracas« ist ihr erster Roman.

 

Angelica Ammar wurde 1972 in München geboren, verbrachte nach dem Studium der Romanistik und Ethnologie in München und Madrid zehn Jahre in Paris, seit 2007 lebt sie in Barcelona. Sie übersetzte u.a. Sergio Pitol, Mario Vargas Llosa, Eduardo Galeano und Fernanda Melchor aus dem Spanischen. Eigene Veröffentlichungen: »Tolmed« und »Die Zeit der grünen Mandeln«.

 

Für die Meinen, immer.

»Hast du schon mal einen Toten klagen gehört?«

»Nein, Doña Eduviges.«

»Da kannst du von Glück sagen.«

JUAN RULFO, PEDRO PÁRAMO

(Als ihr gestorben seid, habe ich euch mit meinen eigenen Händen gewaschen und hergerichtet.)

SOPHOKLES, ANTIGONE

Sie wollten stets in der Lotophagen Gesellschaft bleiben, und Lotos pflücken, und ihrer Heimat entsagen.

HOMER, ODYSSEE

Ich kam nach Mezquite auf der Suche nach Visitación Salazar, der Frau, die meine Kinder begraben hat und mir dann zeigte, wie man die der anderen begräbt. Ich bin bis ans Ende der Welt gegangen, oder jedenfalls bis dahin, wo ich meine Welt beendet glaubte. Ich fand sie an einem Maimorgen neben einer Grabmauer. Sie trug rote Leggins, Arbeitsstiefel und hatte ein buntes Kopftuch umgebunden. Eine Krone aus Wespen umschwirrte sie. Sie sah aus wie eine schwarze Madonna, die auf einer Schutthalde gelandet war.

Auf diesem ausgedörrten Stück Land war Visitación Salazar der einzige lebende Mensch. Ihre dunklen Lippen verbargen quadratische weiße Zähne. Sie war eine gutaussehende, dralle, energische Schwarze. An ihren vom Grabnischen Zuspachteln starken Oberarmen schlenkerten Hautlappen, die in der Sonne glänzten. Sie schien aus Öl und Pechstein gemacht.

Der Sand verdunkelte das Licht, und der Wind schmerzte in den Ohren. Ein Klagelaut, der aus den Rissen in der Erde quoll, über die wir traten. Es war mehr als nur Wind, eine Warnung, eine Staubwolke, so dicht und fremd wie Wahnsinn oder Schmerz. So war das Ende der Welt: ein Haufen Staub aus den Knochen, die wir auf dem Weg zurückließen.

Am Eingang hing ein Schild, auf dem mit dicken Pinselstrichen stand: DAS DRITTE LAND. Ein Friedhof ohne Gesetz, zu dem die Toten kamen, die Visitación Salazar für eine kleine Gabe begrub und manchmal auch ohne sie. Fast alle, die dort lagen, hatten dasselbe Datum als Geburts- und Todestag. Die armseligen Inschriften waren in den frischen Zement geritzt, die holprige Spur derjenigen, die nie in Frieden ruhen werden.

Visitación drehte sich nicht einmal zu uns um. Sie telefonierte. In der linken Hand hielt sie das Telefon, in der anderen ein paar Plastikblumen, die sie in den frischen Mörtel drückte.

»Ja, mein Herz, ich höre dich!«

»Angustias, bist du sicher, dass diese Frau uns empfangen wird?«, fragte Salveiro.

Ich nickte.

»Ich bin ganz Ohr, meine Liebe!«, fuhr sie fort, als wäre sie allein. »Ich sage dir doch, Grabnischen sind Mangelware! Oje! Die Verbindung ist schlecht …!«, fügte sie mit gespielter Bestürzung hinzu.

»Diese Frau redet ohne Punkt und Komma …«, murrte er.

»Sei still, Salveiro!«

»Sag diesem Mann, dass er warten soll!«, rief die Frau, als sie sich endlich uns zuwandte. »Die Toten sind geduldig! Die Toten haben keine Eile!«

Ein weiterer Windstoß brannte auf unserer Haut. Die Erde von Mezquite war eine von Disteln und Tränen bedeckte Bratpfanne, ein Ort, an dem man nicht auf die Knie gehen musste, um Buße zu tun. Die hatten wir auf dem Weg ohnehin schon zur Genüge geleistet.

So war das Dritte Land, ein Grenzgebiet innerhalb eines anderen Grenzgebiets, wo sich die westlichen und die östlichen Berge vereinten, das Gute und das Böse, die Legende und die Wirklichkeit, die Lebenden und die Toten.

Die Pest und der Regen kamen zugleich, wie böse Omen. Die Grillen hörten auf zu zirpen, und am Himmel bildete sich ein Tumor aus Staub, der sich irgendwann in braunen Tropfen entlud. Im Unterschied zu den Übeln, die wir früher einmal erlitten hatten, zerfetzte dieses unsere Erinnerungen und Sehnsüchte.

Die Pest griff das Gedächtnis an, verwirrte es zunächst und zerpickte es dann. Sie verbreitete sich rasend schnell, und je älter der Kranke war, desto schlimmer waren die Auswirkungen. Die Alten wurden dahingerafft wie die Fliegen. Ihre Körper widerstanden den Hammerschlägen der ersten Fieberschübe nicht. Anfangs hieß es, das Wasser übertrage sie, dann die Vögel, doch niemand war in der Lage, die Epidemie des Gedächtnisverlustes zu erklären, die alle in Gespenster verwandelte und den Himmel mit Geiern erfüllte. Sie machte uns nutzlos, bis sich Angst und Vergessen über uns legte. Ziellos wanderten wir umher, verloren in einer Welt aus Fieber und Eis.

Die Männer gingen auf die Straße und warteten. Worauf? Ich habe es nie erfahren.

Wir Frauen taten Dinge, um die Verzweiflung zu verscheuchen: Wir besorgten Essen, öffneten und schlossen Fenster, kletterten auf die Dächer und fegten die Innenhöfe. Wir gebaren stoßend und schreiend wie Wahnsinnige, denen niemand auch nur einen Schluck Wasser anbot. Das Leben konzentrierte sich in uns, in dem, was wir bis dahin hatten behalten oder ausstoßen können.

Auch mein Mann hat sich mit dem Übel angesteckt, aber ich habe es nicht gleich gemerkt. Sein Charakter verschleierte die ersten Symptome. Salveiro war schon immer wortkarg, reserviert und interessierte sich für nichts, das über seine eigenen Angelegenheiten hinausging. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete er auf der Kautschukplantage seiner Familie, drehte mit einem Kreuzschlüssel Schrauben auf oder lag unter einer Hebebühne, um die Eingeweide eines klapprigen Lastwagens zu reparieren. Jeden Tag kam ich an der dunklen Werkstatt vorbei, schaute aber nie hinein. Ich betrat sie schließlich nur, weil ich Motoröl für die Schlösser in unserem Haus brauchte, eine Dose Allzwecköl oder irgendetwas, um die Türriegel zu schmieren, aber Salveiro bot sich an, einen Blick darauf zu werfen.

»Es sind nicht die Riegel. Es ist das Holz. Das ist von Termiten zerfressen, deshalb schließen die Türen nicht, siehst du?« Er zeigte mir einen feinen Staub aus Span und Sägemehl.

In derselben Woche kam er wieder, um das Dach und das restliche Haus zu inspizieren. Er ließ keinen Winkel aus. In diesem Balken seien Sandfliegen, diese Tischbeine seien schlecht angepasst, dieser Stuhl sei schlecht zugesägt. Mit einem Tischlerhammer drehte er seine Runde. Schliff hier etwas ab, hämmerte da etwas fest. Alles, was er anfasste, hörte auf zu knarren oder zu quietschen, als müsse er die Dinge nur anschauen, um sie zu reparieren.

»Angustias, wer ist das?«

»Der Sohn des Kautschukpflanzers, Papa. Er ist gekommen, um die Türschwellen und die Fensterrahmen zu reparieren.«

Nach jedem Besuch luden wir ihn auf ein Bier ein, als Dank für die Umstände. Er setzte sich unter den Tamarindenbaum und ließ sich von uns ausfragen.

»Warum machen Sie nicht lieber das, statt Autos zu reparieren? Sie haben ein Händchen dafür«, sagte mein Vater immer wieder, aber Salveiro trank nur wortlos sein Bier. »Angustias hat eine Friseurlehre gemacht. Versuchen Sie es doch auch mit einer Lehre. Mit dem Schreinerdiplom könnten Sie Ihre eigene Werkstatt aufmachen.«

»Ich habe gerade meinen eigenen Salon eröffnet«, machte ich mich bemerkbar. »Er ist zwei Straßen weiter. Willst du dir vielleicht die Haare schneiden lassen, und dabei erzähle ich dir, wie man sich einschreibt?«

Am nächsten Vormittag kam er vorbei. In sauberen Hosen und einem frisch gebügelten Hemd. Die Haut seiner sonst stets ölverschmierten Arme glänzte sauber, und er roch gut. Nachdem ich seine Haare gewaschen und gespült hatte, führte ich ihn zu einem Stuhl, legte ihm einen Frisierumhang über die Schultern und schnitt ihm mit meiner besten Schere die Haare. Feucht fielen die Strähnen zu Boden.

Salveiro machte keine Tischlerlehre, aber er kam weiterhin dreimal die Woche zu uns, um dies zu bringen oder das zu reparieren.

»Angustias, mein Kind, der Mann ist etwas ungehobelt, aber wenn er dir gefällt …«, flüsterte mein Vater mir ins Ohr, bevor er für das einzige Foto lächelte, das wir von uns machten, an der Tür des Standesamtes, in dem wir uns trauen ließen.

Mein Mann war ein guter Mensch. Er war gut im Bett. Er wusste mich so geduldig zu nehmen, wie er Holz sägte. Er sagte fast nie etwas, aber das war mir egal. Und das war das Problem: Ich merkte nicht, dass sein Schweigen etwas mit der Apathie zu tun hatte, die sich bereits der Straßen bemächtigte, mit dieser Wolke der Teilnahmslosigkeit, unter der die Stadt vollständig begraben wurde.

Meine Mutter hat mir den Namen Angustias gegeben. Eher eine Ohrfeige als ein Name. Für sie war die Welt immer in Stille getaucht gewesen. Wenn mich jemand »Angustias!« ruft, muss ich deshalb immer an ihr Schicksal denken: das einer stimmlosen Frau. Ich habe auch etwas von ihrer Stummheit und ihrer Bedrücktheit. Ich kann durchhalten. Ich bin fürs Unglück gewappnet. Ich spreche seine Sprache.

Vor Higinios und Salustios Geburt hatte ich nicht daran gedacht, die Stadt zu verlassen, doch dann wurde alles schwierig. Die Jungen kamen nach sieben Monaten mit kranken Herzen zur Welt. Zusammen brachten sie keine zwei Kilo auf die Krankenhauswaage. Ihre kleinen faltigen Händchen regten sich kaum. Ihre Fingernägel waren lila und ihre Lider zugepresst. Das Leben hatte sie sich auf ihrem Weg zum Tod vorübergehend ausgeliehen.

Drei Monate lang harrte ich vor den Brutkästen aus und rechnete immer mit dem Schlimmsten. Obwohl niemand garantieren konnte, dass ihre Herzen es überstehen würden, entschlossen die Ärzte sich zur Operation. Sie überlebten, während die Stadt weiter in dem schlammfarbenen Regen unterging, der die Gehsteige überschwemmte. Ich wollte nicht, dass meine Söhne in diesem gespenstischen Tal aufwuchsen, das alle verließen.

»Gehen wir!«

Salveiro sah mich an, von der Schlange der Mutlosigkeit gebissen, und stocherte weiter in den Einzelteilen eines kaputten Mixers herum.

»Ich möchte weg«, beharrte ich.

»Glaubst du, das ist so einfach?« Er legte den Schraubenzieher beiseite. »Es dauert, eine Reise vorzubereiten.«

»Du kannst ja bleiben, wenn du willst. Ich gehe.«

Wir verkauften die Möbel, das Bettzeug und die Werkzeuge, die Spiegel, Stühle und Föhne aus dem Friseursalon. Ich behielt nur eine kleine Haarschneideschere, die ich in die Tasche steckte und bis heute habe. Das Geld reichte für einen Teil der Fahrtkosten.

Wir verließen die Hauptstadt und begannen mit den Kindern auf dem Rücken eine über achthundert Kilometer weite Reise, halb im Bus, halb zu Fuß. Wir haben unser Ziel erreicht, nachdem wir acht Bundesstaaten der östlichen Berge durchquert hatten, und dann noch die drei, die uns von Mezquite trennten, einem Dorf an der Grenze mit dem Namen eines Busches, aus dem Brennkohle gewonnen wird.

Wir hatten ein paar Geldstücke, drei Mandarinen und einen Rucksack mit etwas Wechselkleidung, zwei Babyflaschen und die Tütchen mit Milchpulver dabei, das wir auf dem Weg mit Quellwasser mischten. Auf der Überlandstraße durch das Zentralgebirge bewegte sich der Trupp voran, den wir Wanderer bildeten. So nannten sie uns, die wir vor der Pest flüchteten.

Wir organisierten uns, so gut wir konnten, jedes Flussbett war uns gut genug zum Waschen und Kochen. Bevor wir den Weg wieder aufnahmen, steckte ich mir das Haar hoch, damit es den Kindern auf meinem Rücken nicht ins Gesicht wischte. Ich hatte mir geschworen, es nicht abzuschneiden, ehe wir unser Ziel erreicht hätten, wo auch immer es sein mochte. Salveiro ging hinter mir, schlug die Bremsen weg und hob Holzstücke auf, die er in seine Taschen steckte. Jeden Tag spürte ich, dass ich ihn ein wenig weiter zurückließ. Ich war überzeugt, dass ich ihn, sollte ich mich umdrehen, auf dem Weg zusammengebrochen vorfinden würde wie einen termitenzerfressenen Baum. Viele Nächte stellte ich mir vor, wie ich allein aufwachen würde, mitten im Nirgendwo, mit zwei Kindern auf dem Rücken. Ich träumte, dass ich mich auf allen vieren vorwärts bewegte, in eine Löwin verwandelt, die im Wind den Ort wittert, an dem die Gazellen Zuflucht suchen.

Die Zelte, die das Militär an der Grenze aufgestellt hatte, waren von weitem sichtbar. Aus einem Kilometer Entfernung sah man die Menschenmenge, die auf der Suche nach Nahrung und Medizin dorthinströmte. Wer es sich leisten konnte, fuhr im Bus weiter, die übrigen nahmen den Weg zu Fuß auf, das wenige, was sie tragen konnten, auf dem Rücken geschultert. Am Straßenrand blieben Kühlschränke liegen, Lampen und Töpfe, die andere aufhoben, um sie gegen Essen einzutauschen.

Als wir beim ersten Kontrollposten ankamen, wurden wir von einem Soldaten angehalten, der nach unseren Papieren verlangte. Er war jung und schmal, und sein schlecht rasiertes Gesicht war übersät von den kleinen Wunden, die eine unbeholfene Handhabung der Rasierklinge verriet.

»Wohin gehen Sie?« Er richtete sich zuerst an Salveiro.

»In die östlichen Berge …« Mein Mann wirkte noch abwesender als sonst.

»Wir sind in den östlichen Bergen, Bürger.«

»Er meinte die westlichen«, mischte ich mich ein. »Wir haben dort Verwandte. Wir wollen sie besuchen, damit sie unsere Kinder kennenlernen.«

Der Gefreite sah mich misstrauisch an. Ich gab ihm meinen Ausweis, und Salveiro gab ihm seinen. Ich zeigte ihm auch die Geburtsurkunden, doch die schaute er kaum an. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den Zwillingen. Neugierig betrachtete er sie. Erst Salustio, den mein Mann auf dem Arm trug, dann den schlafenden Higinio, dessen Köpfchen an meiner Schulter lehnte.

Er erkundigte sich nach ihrem Alter. Ich erklärte ihm, sie seien zu früh auf die Welt gekommen, deshalb sähen sie kleiner aus. Er nickte und überprüfte ein letztes Mal die Papiere. Seine Frau habe gerade ein Mädchen zur Welt gebracht, auch eine Frühgeburt, erklärte er, während er unsere Namen in ein Notizbuch schrieb.

»Wie heißt sie?«, fragte ich.

»Wer?«

»Ihre Tochter …«

»Sie hat noch keinen Namen.«

Er ging ins Wachhäuschen und kam mit einem Passierschein für die Grenze zurück.

»Gehen Sie mit Gott.« Er reichte uns das Blatt.

Und so zogen wir weiter, Salveiro, die Kinder und ich. Gott hat sich nicht dazu entschlossen, uns zu begleiten.

Meine Kinder starben in Sangre de Cristo, dem ersten Weiler jenseits der östlichen Berge. Sie verließen diese Welt in der gleichen Reihenfolge, in der sie gekommen waren. Erst Higinio, dann Salustio. Ich brachte sie in drei Krankenhäuser, in der Hoffnung auf ein Wunder, doch niemand konnte etwas für sie tun.

Wir haben sie in Handtücher gewickelt und so weitergetragen, bis wir zwei Schuhkartons auftrieben. Sie waren so klein, dass sie beide in einen gepasst hätten, aber das gab uns kein Recht, sie zusammenzuquetschen wie ein Paar Schuhe. Salveiro wollte sie im Leichenschauhaus lassen, bis wir das Geld für eine Beerdigung aufgetrieben hätten, aber ich weigerte mich. Sie waren vielleicht tot, aber es waren noch immer meine Söhne, und ich würde sie nicht in einem Kühlschrank voller namenloser Kadaver stapeln. Im Leichenschauhaus hatte ich über der Tür einer rostigen Kühlkammer einen mit Klebefilm angebrachten Zettel gesehen, auf dem stand: Fünfundzwanzig Föten zum Verbrennen, sieben pro Tüte. Es war mit schwarzem Filzstift geschrieben.

Ich habe meine Söhne aus demselben Grund bis hierher gebracht, aus dem ich mit ihnen auf dem Rücken losgegangen bin. Ich dachte, ich könnte sie vor Krankheit und Vergessen retten, auch wenn ich sie letztlich nicht vom Tod entfernt, sondern zu ihm hingeführt habe. Nachts, wenn Diebe und Tunichtgute die Wege bevölkerten, suchten wir Platz in irgendeiner Herberge, die in jenen Tagen allerorten aus dem Boden schossen. Sie waren nicht sicher, aber sie minderten unsere Erschöpfung.

In den aus Zementziegeln und Wellblechdächern fabrizierten Baracken drängten sich Frauen und vom Hunger fiebrige Säuglinge. Auch verwirrte Alte, die von ihren Familien vor dem Überqueren der Berge zurückgelassen worden waren, und Kinder, die ihre Eltern auf dem Weg verloren hatten. Die Waisen, die überlebten, wurden zu Kleinkriminellen oder verrichteten gegen ein Trinkgeld Botengänge für andere Familien. Es waren unvollendete Seelen, Grenzgänger zwischen einer Welt und der nächsten.

Kaum einer von denen, die sich auf die Reise begaben, wusste, was ihn erwartete. Stundenlanges Wandern, gerade mal eine Decke gegen die Kälte übergeworfen. Wenn es Nacht wurde und man das Glück hatte, einen Schlafplatz zu finden, sank man auf Strohsäcke und Matratzen, hungrig und starr von der gnadenlosen Kälte der Hochebene, die zu dieser Jahreszeit die Grenzregion heimsuchte.

In der letzten Stadt der östlichen Berge stand eine Frau etwa meines Alters singend auf der Straße, ein acht oder neun Monate altes Mädchen im Arm. Manchmal kam jemand vorbei und warf ein Geldstück in den Bastkorb, der zu ihren Füßen stand. Das Kind wand sich, fing zu wimmern an. Dann hörte die Mutter auf zu singen, nahm seine Fingerchen in den Mund und säuselte, damit es sich wieder beruhigte. Ich hatte kein Geldstück, das ich ihr hätte geben, keine Kinder, die ich hätte beschützen können. Meine schliefen ihren tiefen, endgültigen Schlaf in zwei Schuhkartons.

In der Herberge versteckte ich sie unter der Decke, einmal versuchte eine Unglückselige, sie zu stehlen. Ich stürzte mich auf sie, zog sie an den Haaren, das Einzige, was ich in der Dunkelheit von ihr zu fassen bekam. Sie wälzte sich herum, bis es ihr gelang, eine der Schachteln an sich zu reißen. Als der Deckel zu Boden fiel, wich sie entsetzt zurück. Aus ihren in violetten Höhlen versunkenen Augen blitzte die Verzweiflung. Sie suchte etwas, das sie verkaufen konnte, ein Paar Schuhe vielleicht, stattdessen war sie auf ein totes Baby gestoßen.

Als ich den Karton wiederhatte, merkte ich, dass sie unser letztes Geld genommen hatte und den Passierschein für die Brücke. Von der offenen Tür aus sah ich sie die Straße hinunterlaufen. In der Hand hielt ich noch eine Strähne ihres Haars.

Dreißig Kilometer von Sangre de Cristo entfernt befand sich der größte Schwarzmarkt der Grenze: Cucaña. Mütter, Großmütter und Töchter kamen hierher, um ihre Haare zu verkaufen. Sie betraten den Markt mit hochgesteckten langen Haaren und kamen kurzgeschoren wieder heraus, ein paar Geldscheine in der Hand, die kaum für drei Packungen Reis reichten.

Der bekannteste Friseur hieß Los Guerreros, ein verdreckter Laden mit einem Dutzend Angestellten, die aussahen wie Schafschererinnen. Draußen standen fünfzig bis sechzig Frauen in der Schlange, als warteten sie darauf, zur Schlachtbank geführt zu werden. In der Baracke von Los Guerreros gab es nicht einmal Haarwaschbecken, nur eine Reihe Plastikstühle.

»Für deines sechzig. Für das deiner Mutter weniger.«

»Wie viel weniger?«

»Zwanzig. Es ist altes, glanzloses Haar. Wertlose Fusseln.«

»Nur sechzig? Aber meine Haare sind doch so lang«, beklagte sich das Mädchen.

»Das ist heute der Preis. Wenn er dir nicht gefällt, geh woanders hin«, antwortete die Angestellte knapp. »Die nächste!«

Ich schaute zur Tür hinein, um besser zu hören, da drehten sich alle um und schauten auf meinen Zopf, der mir damals bis zur Taille reichte.

»Für so einen«, sagte die Angestellte und deutete mit der Schere auf mich, »zahlen wir ein bisschen mehr.«

»Wie viel?«, fragte ich.

»Achtzig.«

Ich stellte mich ans Ende der Reihe murmelnder Frauen. Sie starrten mich an, als trüge ich ein goldenes Diadem. Fast hatte ich Angst, sie könnten mir die Haare ausreißen, um selbst das Geld zu kassieren, das ich dafür bekommen würde, aber ich rührte mich nicht vom Fleck, denn wir brauchten das Geld. Nach dem Diebstahl konnten wir uns nicht einmal mehr Kekse oder Wasser kaufen. Zwei Stunden später war ich dran.

Die Friseuse schnitt mein Haar, als wär es eine Pferdemähne. Sie hielt mit einem Kamm die Strähnen hoch und setzte die Schere so nah am Schädel an wie möglich, um keinen Fingerbreit zu vergeuden.

»So nicht«, sagte ich. »Sie müssen hinten anfangen und dann zu den Seiten übergehen.«

»Du willst mir sagen, was ich zu tun habe? Das ist hier kein Schönheitssalon!«

»Lassen Sie mich machen. Ich weiß, wie es geht.«

Ich holte meine Schere aus der Tasche, steckte Zeigefinger und Daumen in den Griff und schnitt los. Wie Stücke eines kaputten Seils fielen die Strähnen auf die Zeitung, die auf meinen Schenkeln lag. Als ich fertig war, stand ich auf, ohne mich im Spiegel anzusehen, und ging zur Kasse, an der eine Frau die Geldscheine aus einer Metallkassette holte.

Sie zahlten mir sechzig, zwanzig weniger, als sie versprochen hatten. Ich nahm das Geld und ging.

Alle Frauen in Cucaña hatten denselben Radikalschnitt. Wir bildeten eine Armee kurzgeschorener Wesen. Mir blieben zumindest noch zwei Zentimeter Haare. Den anderen nicht einmal das.

Wenn sie nichts mehr abzuschneiden oder zu verkaufen hatten, boten sie sich den Lastwagenfahrern an. Im Morgengrauen warteten sie bei den Ständen, an denen die Fremden und Kraftfahrer frühstückten. Männer, die hinten auf den Anhängern um den Tarif feilschten. Nicht alle fanden einen Kunden. Wer einen hatte, brachte die Sache schnell hinter sich. Dann wuschen sie sich und tranken die schlammige Brühe, die aus den Wasserhähnen in den öffentlichen Toiletten kam, wo sie sich trafen und das Geld verteilten. Sie schauten sich dabei ständig um und flüsterten, als könnte man ihnen noch die Worte klauen.

Auf der Straße erwarteten sie Mädchen und Teenager, die noch nicht alt genug waren, um zu tun, was sie taten, und die stattdessen auf die Kleinsten aufpassten. Es war schwer zu sagen, wer alles zu einer Familie gehörte, aber die Armut erschien mir Verwandtschaft genug. Die kleinen Aufpasserinnen boten fauliges Obst feil, das sie nachts aus dem Abfall klaubten.

Diese Mädchen verbrachten ihre Tage an einem Ort, an dem sie Dinge verkauften, die sie nicht kaufen konnten. Sie wohnten Prügeleien zwischen Ladenbesitzern bei, Diebstählen und Gezänk. Ihr Essen mussten sie sich mit List und Tücke erschleichen. Mit der Zeit lernten sie es. Sie konnten nicht fließend lesen oder schreiben, aber über das Leben wussten sie mehr als genug.

Cucaña war voller Menschen, die sich aufs Kaufen und Verkaufen verlegt hatten. Alles hatte einen Preis: Medikamente, Töpfe, gebrauchte Kleidung, geschmuggelte Zigaretten, Haare, dritte Zähne, Goldplomben, Möbel, Haushaltsgeräte … Viele Biographien ließen sich anhand der auf dem Markt verscherbelten und liegengebliebenen Ware rekonstruieren.

Ich bat Salveiro, die Schachteln mit den Kindern zu halten, und betrat die Toilette, um mich umzuziehen und zu waschen. Es gab nicht einmal Kabinen, die drei schmutzigen Kloschüsseln waren mit Plastikvorhängen von den Waschbecken abgeteilt. Toilettenpapier oder Papierkörbe gab es auch nicht. Ich versteckte mich hinter dem Vorhang und verwendete meine vorletzte Binde.

Als ich hinter dem Vorhang hervorkam, unterhielten sich zwei Frauen vor einem zerbrochenen Spiegel, während sie sich mit feuchten Tüchern die Achseln rieben. Sie rochen nach Schweiß und Essig. Ich wusste sofort, woher sie kamen. Wir von den östlichen Bergen müssen dafür nicht erst den Mund aufmachen. Schnell beugte ich mich über den rostigen Hahn und wusch mein Gesicht mit dem Rinnsal braunen Wassers.

Die beiden waren jung, doch ihre Haut war wettergegerbt, zerfurcht von Hunger und Müdigkeit. Sie wisperten etwas von einer toten Cousine. Es war das erste Mal, dass ich von Visitación Salazar hörte. Sie nannten sie die Frau von Las Tolvaneras.

»Sie hat eine Nische für meine Mutter besorgt. Sie hat uns sogar geholfen, sie hinzubringen.«

»Ist dieser Friedhof weit weg?«

»Sechzig Kilometer ungefähr, bei der Müllhalde von Mezquite.«

»Wie viel hat sie verlangt?«

»Der Frau ist Geld egal. Sie sagt, sie ist eine Soldatin Gottes.« Die Sprecherin senkte die Stimme noch mehr. »Sie fährt in einem grauen Pick-up herum. Such sie und sag ihr, ich hätte dich geschickt.«

»Und wer soll bei der Arbeit für mich einspringen?«

»Das sehen wir schon! Beeil dich! Du kannst Herminia nicht im Leichenschauhaus lassen, die behalten die Leichen nicht lang, dann werfen sie sie weg.«

Sie verstummten und sahen mich misstrauisch an. Schnell ging ich raus. Auf dem schlammigen Gelände voller Pfützen draußen bereute ich es. Ich wollte mehr über diese Visitación erfahren, ihre Telefonnummer oder zumindest eine Adresse bekommen, wo ich sie finden konnte. Verärgert ging ich zu den Toiletten zurück, aber die beiden waren nicht mehr da.

Zurück bei den Imbissständen begegnete ich einem Mädchen, das noch keine dreizehn sein konnte. Mit entschlossenen Schritten kam es auf mich zu. Die magere Kindergestalt verbarg einen Körper, der im Begriff war, erwachsen zu werden. Sie hatte spindeldürre Arme und winzige Brüste, verkümmert vor Entbehrung und Kälte.

»Ich verkaufe Tomaten, willst du welche?«

In einer Hand hielt sie einen Stock, in der anderen eine Tüte mit verdorbenem Obst und Gemüse.

»Sie sind faul.«

»Na ja …«, brummte sie. »Ich gebe sie dir billiger. Du musst sie nur waschen.«

»Ich will sie nicht und ich habe auch gar kein Geld.« Sie kratzte sich den Kopf. »Weißt du, wer die Frau von Las Tolvaneras ist?«

»Die die Toten begräbt?« Das Haar des Mädchen starrte vor Schmutz. »Sie heißt Visitación Salazar. Jeder kennt sie.«

»Wo kann ich sie finden?«

»Hier. Sie kommt jeden Tag, ganz früh.«

Argwöhnisch sah sie mich an.

»Und was willst du von ihr?«

»Ich brauche Hilfe.«

Sie bohrte den Stock in die Erde und stemmte die Hände in die Hüften.

»Wir alle hier brauchen Hilfe. Kaufst du mir also die Tomaten ab?«

»Ein andermal.«

Ich drehte mich um und ging zurück zu den Marktständen. Salveiro hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Mit hängenden Schultern und verlorenem Blick stand er da.

»Wir fahren nach Mezquite.« Ich riss ihm die Schachteln aus den Händen.

»Wozu?«

»Um jemanden zu suchen, der uns hilft, unsere Kinder zu begraben.«

Es war noch nicht acht Uhr, als das Telefon klingelte. Der Bürgermeister von Mezquite sah in den Spiegel, ein Rasiermesser in der Hand. Mit einem Schnurrbart aus Rasierschaum nahm er den Anruf von Alcides Abundio entgegen, dem Eigentümer von Las Tolvaneras, dem reichsten und mächtigsten Mann der ganzen Grenzregion.

»Was kann ich für Sie tun, Abundio?«

»Sie sind ein Idiot.«

Aurelio Ortiz wischte sich den Schaum ab und steckte das um seine Hüfte gewickelte Handtuch fester.

»Unaufhörlich kommen Leute ins Rathaus und bitten um Geld. Und sie fragen nach der Irren.«

»Welcher?«

»Welcher denn schon? Visitación Salazar! Die Sie mit einer Schrotflinte zum Kaninchenjagen lächerlich gemacht hat. Haben Sie das schon vergessen?«

Als könnte man das vergessen.

»Schluss mit den Hilfen!«, schrie Abundio aufgebracht.

»Vor der Pest war das anders, aber jetzt … Sie sehen ja. Die Berge sind voller Leute.«

»Zur Hölle mit der Pest! Sollen sie doch abkratzen, aber nicht auf meinem Land!«

»Beruhigen Sie sich …« Aurelio Ortiz legte das Rasiermesser neben den Wasserhahn und nahm das Telefon in die andere Hand. »Waren Sie im Büro?«

»Ach was! Gladys hat es mir gesagt.«

Der Bürgermeister wischte über den beschlagenen Spiegel. Er hätte schwören können, dass ihn jemand aus dem Halbdunkel beobachtete.

»Ich habe Ihnen gesagt, dass ich keine Mauscheleien mehr in Las Tolvaneras will, aber da Sie sich im Wahlkampf befinden, schert Sie das einen feuchten Kehricht.«

Ortiz schaute sich suchend um.

»Aurelio, antworten Sie! Ich rede mit Ihnen! Mit meiner Unterstützung hätten Sie problemlos das Sagen, aber nicht einmal das ist Ihnen klar!«

»Regen Sie sich doch nicht so auf …«

»Ich rege mich auf, wie es mir gefällt! Visitación provoziert uns. Diese unverschämte Schwarze, den ganzen Tag mit ihren Toten. Zu denen werde ich sie bald schicken, wenn sie sich nicht von meinem Land verzieht!«

»Warten Sie auf die Anwälte.«

»Ach was, Anwälte, die können mich mal! Ich habe Sie zum Bürgermeister von Mezquite gemacht, damit Sie meine Interessen im Auge behalten!«

»Abundio …«

»Klappe, Aurelio! Und hören Sie mir gut zu: Ich habe dem Priester ein Grundstück versprochen. Es gibt noch andere Leute, die das gern hätten, Sie wissen schon, wer. Solange diese Gräber da sind, werde ich mein Wort nicht halten können.«

»Hören Sie doch.«

»Kümmern Sie sich um Visitación Salazar oder ich lasse Ihnen bei lebendigem Leib die Haut abziehen!«

Der Bürgermeister fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er war nervös. Er wollte keine Probleme mehr mit Visitación Salazar, aber seit Beginn des Konflikts um Las Tolvaneras hatte sie die Zäune noch einen Hektar weiter versetzt, zusätzlich zu den anderen Hektaren, die sie sich bereits unter den Nagel gerissen hatte. Sie hatte es dem alten Abundio, dem bewaffneten Guerillakommando und den Schleppern weggeschnappt, die vom Schmuggel mit Drogen, Menschen und Waren lebten. Sie hatte sie alle reingelegt, und natürlich fand das keiner besonders lustig.

Jeder hatte Visitación Salazar aus einem anderen Grund im Visier. Besonders verärgert war der Priester. Von einem Tag auf den anderen war das Grundstück weg gewesen, das Abundio ihm für das neue Pfarrhaus versprochen hatte. Wütend und empört rief er zunächst die Polizei und schrieb dann an den Bischof. Er gab keine Ruhe, bis die Frau exkommuniziert wurde. Erst klagte er sie an, das Sakrament der Heiligen Ölung zu profanieren und unrechtmäßig auszuüben, dann beschuldigte er sie des Diebstahls und schließlich sogar der Hexerei. »Dieses schamlose Weib raubt der Heiligen Kirche und den Armen der westlichen Berge ihr Land!«, deklamierte er mit ausgebreiteten Armen, die Handflächen gen Himmel gerichtet.

Doch da war noch etwas Anderes, das den Priester störte. Unter dem Deckmantel des Projekts für das neue Pfarrhaus plante er, einen Bingosaal zu eröffnen, wo er den Säufern des Dorfes mit billigen Drogen, Schnaps und Tanzmusik das Geld abnehmen wollte, wonach sie sich höchstwahrscheinlich mit ihren Macheten gegenseitig umbringen würden. Wenn er sie zur Sünde verführte, würde er sich damit sein ewiges Seelenheil sichern.

Aurelio war nach wie vor besorgt.

»Halt bloß den Mund! Sonst wachst du morgen unter der Erde auf!«, wies ihn seine Frau zurecht, als er ihr abends von der Sache erzählte.

»Salvación, sei doch nicht so, ich wollte doch nur …«

»Du arbeitest für den Alten. Du hängst von Abundio ab, und deine Kinder auch.«

»Unsere Kinder, Salvación.«

Sie sah ihm in die Augen.

»Steh wenigstens ein einziges Mal deinen Mann. Ich habe schon genug damit zu tun, zwei Kinder aufzuziehen, während du den ganzen Tag von einem Dorf zum anderen kutschierst.«

Wie Abundio und die übrigen Einwohner von Mezquite wusste Salvación nichts über das wahre Problem, das dieses Stück Land darstellte. Oder sie und alle anderen stellten sich dumm, was das beste Mittel war, um in einem von Söldnern und Schmugglern belagerten Grenzort zu überleben.

»Stecken Sie Ihre Nase nicht in Angelegenheiten, die Sie nichts angehen. Verlassen Sie dieses Stück Land im Guten«, war mehr als einmal Aurelios Rat an Visitación Salazar gewesen. Das letzte Mal, als er sie zur Vernunft bringen wollte, hatte sie zu seinem Empfang in die Luft geschossen.

Weder die Verwaltungsbeamten von Mezquite noch die Polizei konnten uns weiterhelfen. Sie ließen uns ein Formular ausfüllen und versprachen, dass sich vielleicht am nächsten Tag jemand unseres Falles annehmen werde. Erschöpft sank ich auf eine eiserne Bank, die Schuhschachteln noch immer in der Hand. Wie lange würde das so gehen? Ohne Geld und Passierschein würden wir nirgends hinkommen.

Zu Hunderten irrten Menschen wie wir durch die Gegend, mit ihren armseligen Taschen und Plastiktüten voller Plunder. Manche hatten vor dem Rathaus ihr Lager aufgeschlagen, um ihren Platz in der Schlange über Nacht nicht zu verlieren. Die Übrigen zogen weiter in die Berge und schlugen sich irgendwie durch.

Wir fuhren per Anhalter zurück nach Cucaña. Dort schauten sie uns wenigstens nicht an wie Lumpenpack, weil alle gleich waren. Wir kehrten zu der Herberge zurück und teilten uns, was noch zum Essen übrig war: eine Mandarine und ein paar Keksreste. Salveiro streckte sich auf einer der Pritschen aus und schälte die Frucht, den Blick zur Decke gerichtet. Ich hatte keinen Hunger. Um mich zu trösten, nahm ich den Deckel von den Schuhkartons und betrachtete die schlafenden Zwillinge.

Nach Hause konnten wir nicht mehr, doch mit den toten Kindern konnten wir auch nicht bleiben. Ganz leise sang ich ihnen ein Wiegenlied und strich ihnen über die Köpfchen.

Weißes Täubchen

Blaues Vögelchen

Nimm mich auf deinen Flügeln

zum Herrn Jesus mit

»Hör auf, Angustias, sie sind tot. Sie kommen nicht wieder.« Salveiro schob mich weg.

»Was weißt du denn, du hast sie nicht auf die Welt gebracht.«

Mit den Schuhkartons in der Hand verließ ich die Baracke und setzte mich draußen hin, um den Sonnenuntergang neben dem Elektrizitätswerk anzuschauen.

»Hast du Visitación gefunden?« Erschrocken drehte ich mich um. Es war das Mädchen mit den Tomaten. »Ich habe sie gerade in der Marktkneipe gesehen. Lauf schnell hin, bevor sie wieder geht!«

»Warte hier auf mich, geh nicht weg!«, bat ich das Mädchen.