Das Echo des Herzens - Brigitte Kaindl - E-Book
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Das Echo des Herzens E-Book

Brigitte Kaindl

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Beschreibung

Blut. Überall war Blut. Niemand hat etwas gesehen. Niemand hat etwas gehört. Als die 47-jährige Marie am Arbeitsplatz einen Unfall erleidet, erkennt sie, dass sie sich ihrer Vergangenheit stellen muss. Auch wenn sie die Schuld, die sie auf sich geladen hat, kaum ertragen kann. Doch auch die 25-jährige Lena steht eines Tages vor den Scherben ihres Glücks. Als der junge Wirtschaftsprüfer Christian Gottlieb im Leben dieser Frauen auftaucht, wird Marie augenblicklich in seinen Bann gezogen. Seine rätselhafte Aura berührt aber nicht nur sie. Lediglich Lena hat bloß Spott für den jungen Mann übrig. Bis auch sie ihm verfällt ...

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Inhaltsverzeichnis

Buch

Autorin

Prolog

Glorreiche Idee 2015

Was für eine Ehre April 2015

Indirektes Verhältnis Juli 2015

Angst

Die Sitzung Juli 2015

Henne oder Ei Juli 2015

Schmetterlingsfarm Juni 1989

Unangenehmes Erwachen Juli 2015

Die Traumfrau Juli 2015

Die Büroleiterin Mai 2015

Starke Auftritte Juli 2015

Gut gemeint Juli 2015

Damals, in diesem Sommer September 2007

Auszeit Juli 2015

Abgedrehter Geldhahn Juni 1989

Körperlicher Einsatz Juli 2015

Mission Impossible Juli 2015

Unerwartet August 1989

Gut gelaufen Juli 2015

Blut

Die Kampagne Juli 2015

Pünktlich gelandet 1990

Heiße Jeans Juli 2015

Der richtige Zeitpunkt Juli 2015

Dummer Fehler Juli 2015

Ungelegte Eier Juli 2015

Übel, echt übel Juli 2015

Probeaufnahme Juli 2015

Der Tag der Tage Juli 2015

Kündigung Juli 2015

Begräbnis Juli 2015

Spurensuche August 2015

Veränderung August 2015

Magistra-Sekretärin August 2015

Taormina September 2015

Fass am Überlaufen Oktober 2015

Ultimatum Oktober 2015

Wahnsinn Oktober 2015

Klatsch Oktober 2015

Cognac-Gespräch November 2015

Wiedererstrahlt Dezember 2015

Tanz Dezember 2015

Wiedersehen Dezember 2015

Damals 1990

Neubeginn 1990 - 2015

Autogrammstunde Dezember 2015

Panik Dezember 2015

Fügung Dezember 2015

Pflegeheim Dezember 2015

Glorias Entscheidung Dezember 2015

Hoffnungslosigkeit Jänner 2016

Unfall Jänner 2016

Krankenhaus Jänner 2016

Gibt es das? Jänner 2016

Beichte Jänner 2016

Zwei Frauen Jänner 2016

Aussprache Jänner 2016

Geh jetzt! Jänner 2016

Freier Markt Jänner 2016

Zucker und Milch Jänner 2016

Die schönen Dinge Jänner 2016

Seid gegrüßt Februar 2016

Was ihr sät Mai 2016

Schmerzende Wunde Mai 2016

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Danksagung

Brigitte Kaindl

Das Echo des Herzens

Roman

Buch

Seelische Abgründe, verborgene Geheimnisse, ein schreckliches Verbrechen. Mit Tiefgang und Humor offenbart dieser sozialkritische Roman wie Krusten aufbrechen können. Bei denen, die es zulassen. Weil die Liebe die Macht in sich trägt, sich zu vergrößern, wenn sie geteilt wird.

Die 47-jährige Marie wird von ihrem herrischen Chef zerrieben, die 25-jährige Lena bringt nicht nur ihren Freund zur Verzweiflung, während ein alternder Schauspieler seinen Verfall nicht realisiert. Am Arbeitsplatz wird intrigiert, im Privatleben betrogen und eine Bluttat bleibt lange Zeit unerkannt. Als der junge Wirtschaftsprüfer Christian Gottlieb im Leben dieser Menschen aufkreuzt, drängen tief verborgene Geheimnisse ans Licht und seelische Abgründe sowie Verletzungen werden genauso sichtbar wie selbstlose Liebe. Durch seine Güte führt dieser außergewöhnliche Mann dramatische Veränderungen herbei.

Dieser Roman ist Teil 1 der Echo-Trilogie, eines romantischen Dramas, das in die Tiefen der menschlichen Seele blickt. Jeder Roman kann ohne Vorkenntnisse für sich allein gelesen werden, obwohl die Geschichte fortlaufend erzählt wird.

Teil 1: „Das Echo des Herzens“: Christian Gottlieb erscheint im Leben der 47-jährigen Marie und der 25-jährigen Lena. Als tief verborgene Geheimnisse und ein Verbrechen sichtbar werden, verändert sich wie durch ein Wunder nicht nur Maries Leben völlig.

Teil 2: „Das Echo des Rosenmordes“: Christian Gottlieb ist nicht mehr da und ein schrecklicher Mord bringt der 48-jährigen Marie, aber auch der 27-jährigen Lena unermessliches Leid.

Teil 3: „Das Echo von Gottlieb“: Das Mysterium um Christian Gottlieb lüftet sich, während die 28-jährige Lena in tödliche Gefahr gerät. Am Ende offenbart sich ein Geheimnis, das nicht nur die 50-jährige Marie heftig erschüttert.

Unter dem Titel „Christians Geheimnis“ gibt es die drei Romane der Echo-Trilogie als Sammelband.

Autorin

Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. 

Ihre veröffentlichten Bücher:

„Mein Weg aus dem Fegefeuer“, Untertitel: „Missbrauch, Leid in der Dunkelheit“ (2018 unter dem Pseudonym „Brenda Leb“), Autobiografie

Die zwei Wölfe“, Untertitel: „Jenseits des Fegefeuers“ (2024 unter dem Pseudonym „Brenda Leb“), Autobiografie

„Mann, oh Mann!“ (2020), Humorvolle Unterhaltungsliteratur

„Der Tote und das Gänseblümchen“ (2021), Roman

„Der Tod der Braut“ (2021), Roman

„In einem Meer voll Tränen“ (2021), Roman

„Der Mörder und die Wildrose“ (2022), Roman

„Der Tod des Bräutigams“ (2023), Roman

Autor: Brigitte Kaindl

© urheberrechtlich geschütztes Material; Alle Rechte vorbehalten

Text von Brigitte Kaindl © Copyright by Brigitte Kaindl

Coverdesign und Umschlaggestaltung: Florin Sayer-Gabor - www.100covers4you.com Unter Verwendung von Grafiken von Adobe Stock: fergregory, Astrosystem,  Siwakorn1933

Prolog

Blut. Überall war Blut. Sie begann am ganzen Körper zu zittern und sah sich um. Niemand hatte sie gesehen. Niemand hatte etwas gehört.

Wie immer.

Niemand hörte oder sah jemals irgendetwas.

Das Drama ihres Lebens.

Glorreiche Idee 2015

Christians Vater legte ihm da ein ordentliches Ei. Schon wieder schickte er ihn hierher, um nach dem Rechten zu sehen.

Schon wieder!

Und ausgerechnet hierher!

Dabei hatte ihm sein erster Auftrag doch eigentlich gereicht.

Schrecklich, echt schrecklich ist das damals gewesen.

Und gebracht hat es eigentlich nichts.

Ja. Schon. Eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als hätten seine Arbeit und sein Einsatz Früchte getragen.

Es hatte sogar sehr verheißungsvoll gewirkt!

Doch schon nach kurzer Zeit war wieder alles beim Alten gewesen. Wobei Zeit natürlich relativ war, aber inzwischen war es sogar schlimmer als jemals zuvor.

Und schon kam Christians alter Herr abermals auf die glorreiche Idee, ihn einzuschalten.

Dabei wollte er nicht.

Lass den Kelch doch an mir vorübergehen!

Aber wenn sich sein Vater etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er eine Beharrlichkeit an den Tag legen, die ihresgleichen suchte.

Was für eine Ehre April 2015

Mein neuer Chef ist ein imposanter Mann. Sein legendärer Ruf eilt ihm voraus. Karl Porter ist ein durchschlagskräftiger Geschäftsmann, ausgezeichneter Rhetoriker und er leitet bereits zwei Unternehmen in Prag als Vorstandsdirektor. Unsere ‘Unito-Versicherung’ wird er ab heute auch leiten. So nebenbei. Kein Problem für einen Mann seines Kalibers. Das erledigt er im Vorübergehen mit einem Fingerschnipsen. Hoffentlich kann ich seine Erwartungen erfüllen, dachte Marie Haller voll Ehrfurcht.

Leicht angespannt kam sie an jenem April-Morgen ins Büro. Am Tag zuvor hatte sich ihr gütiger Vorgesetzter in den Ruhestand verabschiedet und heute war der erste Arbeitstag mit ihrem neuen Vorgesetzten. Sie kannte Porter nur flüchtig, hielt aber große Stücke auf ihn und fühlte sich geschmeichelt, für ihn tätig sein zu dürfen.

Wenn sie diesen so bedeutenden Mann früher am Gang getroffen hatte, hatte sie stets mit einem devoten Kopfnicken reagiert, das er salbungsvoll entgegengenommen hatte, um majestätisch weiterzuschreiten. Nun würde sie die Assistentin dieses angesehenen und hochdekorierten Mannes sein. Was für eine Ehre!

„Frau Haller, bitte kommen Sie zum Diktat“, rief Porter in leicht ungeduldig wirkendem Ton, kaum dass er Maries Schritte im Sekretariat vernommen hatte. Noch nicht gesehen, noch nicht gegrüßt, doch schon am frühen Morgen in Eile? Verständnisvoll und bemüht, diesen vielbeschäftigten Mann nicht unnötig warten zu lassen, schlüpfte Marie eilig aus ihrem Mantel und fuhr nebenbei ihren PC hoch. Eigentlich hätte sie sich gerne mit einem Kaffee in Schwung gebracht und ihre E-Mails gecheckt. Doch das musste wohl warten.

„Gerne“, rief sie, während sie nach einem linierten Schreibblock suchte.

Zum Diktat soll ich kommen? Das letzte Stenogramm habe ich in den 90er Jahren aufgenommen. Wie viel besitze ich von dieser Fertigkeit nach so vielen Jahren noch? Sicherlich mehr als jemand, der es nie erlernt hat, zuckte sie entspannt mit der Schulter, weil sie als ehemalige Gerichtsstenografin auf solides Basiswissen vertrauen konnte.

Porters Vorgänger, Paul Strepping, hatte nie diktiert. Auch nicht sein Vorgänger, der Vorgänger seines Vorgängers und der Vorgänger seines Vorgängers des Vorgängers, genauso wenig. Marie dachte wehmütig an Strepping. Hätte sie ihm den Ruhestand nicht von Herzen gegönnt, hätte sie ihm den Abschied vom aktiven Arbeitsleben übelgenommen. Wie sie ihn schon jetzt vermisste! Strepping hatte den Arbeitstag stets mit einem Scherz begonnen, aber Porters barscher Ton läutete ziemlich anschaulich eine neue Ära ein. Maries Nackenhaare sträubten sich unwillkürlich.

Das Leben besteht aus Veränderungen.Fühle dich geschmeichelt und gib diesem bedeutenden Mann das Gefühl, in dir nicht nur eine rechte, sondern gleich zwei rechte Hände bekommen zu haben, motivierte sie sich, während sie einen Block suchte. Sie musste zum Diktat.

Wie in den Filmen der Nachkriegszeit, schossen Marie uralte Filmsequenzen aus den 50er Jahren durch den Kopf. ‘Fräulein XY: kommen Sie bitte zum Diktat.‘ Und schon trippelte das toupierte Fräulein XY im grauen Kostüm auf spitzen Stöckelschuhen, bewaffnet mit Block und gespitztem Bleistift zum Chef, kritzelte in Steno mit und setzte sich danach an die klappernde, mechanische Schreibmaschine. Als sich diese Schwarz-Weiß-Erinnerung vor Maries geistigem Auge abspulte, entspannte sie sich plötzlich.

Ich Närrin!Porter hat wohl einen erlesenen Humor und will unsere Zusammenarbeit mit einem Scherz beginnen. Wer diktiert denn 2015 noch? Das kann doch nur ein Scherz gewesen sein! Ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht, während sie nach dem linierten Block griff. Diesen Scherz war sie gerne bereit, mitzuspielen.

„Guten Morgen“, grüßte sie beschwingt, als sie das Büro ihres Vorgesetzten betrat. „Frau Haller ist bereit zum Diktat“, zwinkerte sie und setzte sich diensteifrig auf den Platz gegenüber ihrem Chef. Doch er blickte nicht einmal hoch.

„Schließen Sie die Tür!“, befahl Porter stattdessen schroff und kramte in seiner Aktentasche.

Marie bekam einen ersten Eindruck, wie ‘offen‘ ihr neuer Chef sein Amt handhaben wollte und wie wenig er von einem morgendlichen Gruß hielt.

„Es muss niemand hören, was hier gesprochen wird“, erklärte er, als er sie erstmals eines Blickes würdigte.

„Ja, natürlich“, antwortete Marie, stand auf und schloss folgsam die Tür zum Sekretariat. Er will wahrscheinlich ein vertrauliches Gespräch führen, war sie sich nun sicher. Wir kennen einander noch nicht und seine neue, persönliche Assistentin will er wohl kennenlernen. Da mag er keine Zuhörer. Verständlich!

Marie war bereit.

Doch, nichts da! Kein Kennenlernen. Kein Gespräch. Kein Scherz.

Stattdessen ein Diktat. Willkommen in den 80ern! Block auf den Tisch und Stift in die Finger. Porter begann wie aufgezogen zu diktieren.

„Also, Frau Haller. Beginnen wir mal mit einem Brief an Herrn Doktor Steigenbügel, dem Direktor des Unternehmens Steinschlag und Berghau, die Adresse lassen Sie sich bitte von meiner Sekretärin in Prag geben. Wir schreiben folgenden Text: Sehr geehrter Herr Doktor Steigenbügel! Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihr geschätztes Entgegenkommen in der Vereinssache Springschnurspringen für fortgeschrittene Rheumakranke. Dass wir die Springschnüre durch ihr über alle Maßen bewährtes Engagement zu einem erstklassigen Vorteilspreis erhalten, den ausschließlich langdienende Vereinsmitglieder in Aussicht gestellt bekommen und erst nach gründlicher Prüfung durch alle Aufsichtsratsmitglieder des Vereins und der zuständigen Magistratsabteilung, auch erhalten, ehrt mich im außerordentlichen Maße. Als Leiter des Vereins für Öffentlichkeitsarbeit für Schwerhörige ...“

Porters verbale Ergüsse gingen in ähnlicher Art und Weise weiter. Mit der Unito-Versicherung hatte keiner seiner ersten Briefe, die er diktierte, etwas zu tun. Er schien offenbar in mehreren Vereinen leitende Positionen zu unterhalten und war in deren Funktionen sehr gefordert. Maries Hochachtung wuchs ins Unermessliche.

Sie kam mit nur einem Job an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Porter leitete drei Unternehmen und hatte daneben sogar noch Zeit, um einige Sport- und Kultur-Vereine zu betreuen. Was machte sie falsch? Hektisch schmierte sie in ihrem eingerosteten Steno das diktierte Gesülze mit und arbeitete hart an sich, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.

Muss ich vor dem Versenden auf das Briefpapier Blümchenbilder kleben und das Kuvert mit Wachs versiegeln?, fragte sich Marie und amüsierte sich über Porters gekünstelte Sprache. Er war zwar etwas älter als sie, doch so alt auch wieder nicht.

Trotzdem schien seine Ausdrucksweise in der K&K-Monarchie hängen geblieben zu sein. Der gute alte Kaiser Franzl hatte seiner Sisi vielleicht solche Liebesbriefe geschrieben. Obwohl, wenn er das wirklich getan hätte, wäre für Marie klargewesen, warum die Gute so oft nach Korfu abgeschwirrt war.

War an Porter vorübergegangen, dass man im Geschäftsleben kurz und sachlich kommunizierte? Man kam zum Punkt. Höflich schon, aber kurzgehalten. In den sieben Briefen, die Porter in der ersten halben Stunde diktiert hatte, wimmelte es hingegen von Schachtelsätzen in A4-Seitenlänge.

„So, das wäre es mal fürs Erste. Bitte, bringen Sie mir die Briefe, wenn Sie sie getippt haben, zum Redigieren und verbinden Sie mich zuvor noch mit Herrn Direktor Schneemann, Frau Magistra Himmelschlüssel, Herrn Kommerzialrat Schnapsdrossel, Frau Diplomkaufmann Holzbein, dann noch mit Herrn Professor Querkopf und zuallererst mit Herrn Oberbürgermeister Zipfelmütz aus Purzelhausen. Er hat nämlich heute Geburtstag“, steuerte er diese unheimlich wichtige Information bei. So viele wichtige Leute kennt mein neuer Chef, dachte Marie beeindruckt.

„Ach ja! Und ich hätte gerne einen Kaffee mit Milch und Zucker.“

„Gerne“, knirschte Marie mit den Zähnen, weil es in ihrem Kopf zu schwirren begann. „In welcher Reihenfolge soll ich tätig werden? Wollen Sie den Kaffee vor den Telefonaten mit Direktor, Professor, Diplomkaufmann, Oberbürgermeister, Magistra und Diplomkaufmann, aber nach den Briefen? Oder zwischen den Telefonaten, denkbar eventuell zwischen Bürgermeister und Professor und nach den Briefen. Oder aber, ...“ Sie wollte noch einige Varianten anbieten, da zwang sie Porters echauffierter Blick aus seinem bärtigen Gesicht augenblicklich zum Schweigen.

Dieser Humor kam bei ihm nicht gut an. Seine Mundwinkel wischten bereits die Arbeitsplatte ab, als auch Marie ihre gute Laune verlor.

„Natürlich zuallererst den Kaffee. Kommt sofort - ich habe bloß scherzen wollen“, ruderte sie zurück und versuchte ein so ernstes Gesicht wie er aufzusetzen.

„Verbindlichsten Dank“, konterte er trocken, „und schließen Sie die Tür wieder.“ Humor war ihm also fremd. Und offene Türen mochte er auch nicht. Was für eine Ehre und welch ein Genuss, für so einen imposanten Mann arbeiten zu dürfen!

Warum nur ist mir plötzlich so kalt, wunderte sie sich, als sie ihre zitternden Hände versuchte warm zu reiben und einen Rollkragenpulli überzog, bevor sie in die Kaffeeküche eilte.

Indirektes Verhältnis Juli 2015

Der gesamte Vorstand und alle zusammengetrommelten Abteilungsleiter waren im Konferenzsaal versammelt. Marie sollte den Wirtschaftsprüfer empfangen, begrüßen und danach zu den Sitzungsteilnehmern in den Besprechungsraum führen.

Sie atmete schwer. Es war erst neun Uhr, doch Marie war bereits völlig erschöpft und zitterte wie Espenlaub. Seit sieben Uhr war sie im Büro. Diese frühe Stunde war seit einigen Monaten ihr neuer Arbeitsbeginn.

„Frau Haller, wo bleibt denn Ihr reizendes Lächeln?“, hatte Porter nach zwei Monaten gefragt. „Meine Batterie ist leer! Soll ich mir vielleicht Zahnstocher zwischen die Wangen klemmen?“, hätte sie am liebsten gerufen, als sie Porter zu mehr Fröhlichkeit anfeuern hatte wollen. Doch letztlich konnte sie das weder sich selbst noch ihm eingestehen. Stattdessen hatte sie gehofft, dass ihr vielleicht noch ein paar Hände aus den Schultern rauswachsen würden.

Seufzend nutzte sie die seltene Ruhe, die sich erst einstellte, nachdem Porter in den Sitzungssaal marschiert war, um ihr Stenogramm zu entziffern und auf Papier zu bringen. Konnte sie einen ihrer hektisch mitgeschmierten Kringel nicht lesen, erfand sie eine poetische Abwandlung frei nach Goethe. Ausgeschmückt mit schleimigen Schmeicheleien, lag sie mit diesen dichterischen Ergüssen meist gar nicht so falsch. Aufgefallen waren Porter ihre kreativen Ergänzungen bisher jedenfalls nie.

Das schrillende Telefon riss Marie aus einem Glückwunschschreiben, das sie soeben an die Gattin des Direktors Zuckerschlecker, dem Schirmherrn des Vereins für Diabetikerhilfe, tippte.

„Hier ist der Empfang! Herr Gottlieb steht vor mir und sagt, dass Sie ihn erwarten. Kann ich ihn raufschicken?“, fragte das junge Fräulein.

„Ja! Bitte schicken Sie den Herrn zu mir ins Sekretariat“, bat Marie und wurde hektisch. Weit bin ich ja noch nicht gekommen, seufzte sie, als sie die noch offenen Diktate durchblätterte.

Sie schloss das geöffnete Word-Dokument und öffnete Outlook, um die Termine von Porter zu checken. Es stand lediglich die Sitzung mit dem Wirtschaftsprüfer in seinem Kalender. Demgemäß lautete der Plan: Wirtschaftsprüfer rasch im Besprechungsraum abliefern und hurtig zurück zum Fließband, wie sie inzwischen ihren PC nannte. Anderenfalls würde es wieder eine Nachtschicht geben. Obwohl: Heute geht es gar nicht! Ich muss unbedingt pünktlich gehen, fiel Marie ein. Raffael, ihr Mann, würde sie abholen und gemeinsam wollten sie essen gehen.

Beim Gedanken an Raffael und den gemütlichen Abend, der vor ihr lag, musste sie unwillkürlich lächeln. Er war ihr Fels in der Brandung. Wenn sie von Raffaels Ruhe nicht hätte zehren können, hätte sie die vergangenen Monate kaum überstanden. Raffael hatte sie stets aufgerichtet. Doch in letzter Zeit waren seine Blicke eindringlicher und sorgenvoller geworden.

„Du musst auf dich aufpassen, Marie! Lasse nicht zu, dass dich dieser Job auffrisst! Du gefällst mir in letzter Zeit gar nicht mehr.“

„Danke, sehr nett!“, tat sie, als hätte sie nicht verstanden, was er meinte.

„Du weißt genau, was ich sagen will: Du kommst jeden Abend spät nach Hause und weinst in letzter Zeit wegen jeder Kleinigkeit. In der Nacht schläfst du zu wenig und am Morgen läufst du genauso nervös außer Haus, wie du heimgekommen bist.“

„Was soll ich denn machen? Ich kann doch schlecht das Büro verlassen, wenn noch Arbeit liegt! Porter ist so fordernd. Er lässt ein ‘das geht sich nicht mehr aus’ einfach nicht gelten.“

„Aber man kann aus einem Ein-Liter-Gefäß doch nicht zwei Liter schöpfen!“

„Sag das meinem Chef, der will am liebsten zehn Liter aus mir rausquetschen! Und das jeden Tag!“

„Dann sage ihm einfach mal, dass dir das zu viel wird!“

„Damit er mich auswechselt? Du vergisst, ich bin 47 Jahre alt. Auf mich wartet niemand mehr. Der Arbeitsmarkt ist brutal geworden und ich muss mitschwimmen.“

„Aber du weißt schon, dass man einem Esel, der, ohne zu murren brav große Lasten zieht, immer mehr auflädt?“

„Ja, das weiß ich, aber ...“

„Nichts aber! Deine Gesundheit ist das Wichtigste. Versprich mir, auf dich zu achten! Vergiss nicht, ich brauche dich!“ Er zog sie in seine Arme und sie genoss die Geborgenheit, die sie umfing, als ihr Kopf an seiner Schulter lag.

„Ich weiß, du meinst es gut und ich verspreche, ich gebe auf mich acht. Aber es ist wirklich nicht einfach ...“

„Psst!“, zischte er und legte seinen Finger auf ihren Mund: „Morgen hole ich dich um 17 Uhr ab, dann gehen wir essen. Ich will jetzt keine Widerrede hören! Du hast ein Recht auf ein Privatleben und nach zehn Stunden Arbeit ist es auch keine pflichtverletzende Ungeheuerlichkeit, wenn du nach Hause gehst.“ Als Raffael spürte, dass Marie trotzdem widersprechen wollte, fuchtelte er mit dem aufgestellten Zeigefinger vor ihren Augen herum.

„Ich schwöre dir: Solltest du um 17 Uhr nicht beim Portier stehen, komme ich rauf und schiebe dich auf deinem Schreibtischstuhl einfach aus dem Büro.“

Daran musste Marie nun denken, doch als sie den Block mit ihrem Stenogramm in Händen hielt, hatte sie keine Idee, wie sie bis 17 Uhr fertig werden sollte! Sie hatte erst zwei von zwölf Briefen tippen können, ihr E-Mail-Postfach zeigte 150 ungelesene Nachrichten und davon war sicherlich die Hälfte dringend. In einer Stunde würde Porter wieder da sein und dann kam sie zu gar nichts mehr.

Eine beklemmende, ihr inzwischen wohlbekannte Unruhe verstärkte sich bei diesem Gedanken. Sie begann noch heftiger zu zittern, ihr Herz raste und sie versuchte diese Panikattacke durch Bauchatmung in den Griff zu bekommen.

Tief Luft holen. In den Bauch atmen. Fest ausatmen. Ich bin ganz ruhig. Ich bin ganz ruhig.

Die Selbstsuggestion half nicht. Also lief sie zum Fenster, öffnete es und ließ frische Luft hereinströmen. Vor dem Fenster sprang eine Meise auf einer Birke herum und schien sich zwischen den Birkenkätzchen wohlzufühlen. Das kleine Vögelchen hing kopfüber und pickte voll Hingabe irgendwelche Köstlichkeiten.

Wie gerne wäre ich jetzt diese Meise. Kein Diktat, kein Druck, kein Stress. Ihre Sehnsucht nach Natur und dem einfachen Leben wurde so übermäßig, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten, als sie das Naturschauspiel beobachtete. Raffael hat recht! Ich weine in letzter Zeit wirklich leicht und zu den unmöglichsten Zeiten. So wie jetzt eben. Heulerei am Arbeitsplatz war das absolute No-Go. Der Wirtschaftsprüfer kommt doch jeden Augenblick! Marie, du musst dich sofort in den Griff bekommen. Lass dich doch nicht hängen! Was soll denn das? Los: tüchtig sein! Funktionieren, schalt die pflichtbewusste Marie in ihrem Inneren die geschwächte Ausgabe, die soeben schlappmachen wollte. Marie zog einen heftigen Atemzug von der sauerstoffreichen Luft in ihre Lungen, wischte ihre Augen trocken und schloss das Fenster. Die Morgenluft war noch kühl und ihr war bereits den ganzen Morgen kalt gewesen. Und das im Juli! Maries Finger hätten einen Kühl-Akku auf Minustemperatur halten können.

Als sie sich vom Fenster wegdrehte, trat ein junger Mann in heller Kleidung in den Raum. Er blieb im Türrahmen stehen und gleichzeitig mit seinem Erscheinen spürte Marie einen leichten, angenehmen Lufthauch ins Zimmer wehen.

„Grüß Gott! Ich werde von Karl Porter erwartet. Bin ich bei Ihnen richtig?“ fragte er.

„Ja! Herr Porter erwartet Sie bereits.“ Marie ging auf den Gast zu.

„Grüß Gott und willkommen!“ Sie reichte ihm die Hand und als er sie nahm, spürte sie Wärme durch ihren Körper fließen. Wie angenehm. Ihre soeben noch eiskalten Hände wurden augenblicklich durchblutet und sogar ihr Zittern, ihre Panik und die Nervosität verschwanden.

Ist das tatsächlich der erwartete Wirtschaftsprüfer?, wunderte sich Marie. Sie hätte eher auf einen gottbegnadeten Yogi, der einem per Handschlag Entspannung durch den Körper jagen konnte, getippt.

„Bitte folgen Sie mir, ich bringe Sie in den Besprechungsraum! Kaffee, Mineralwasser und Kekse finden Sie auf dem Tisch vor. Sollten Sie Extrawünsche haben, lassen Sie es mich bitte wissen!“, überspielte sie ihre Verwunderung.

„Danke, Frau ...“

„Haller! Marie Haller“, stellte sie sich vor.

„Christian Gottlieb“, nannte nun auch der Wirtschaftsprüfer seinen Namen, obwohl sie wusste, wer er war. Wie ein Yogi sah er doch wirklich nicht aus. Wie ein Wirtschaftsprüfer aber auch nicht!

„Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen“, hieß sie ihn willkommen. Man freut sich nicht darüber, einen Wirtschaftsprüfer kennenzulernen, außer man will unbedingt das Arbeitsamt von innen sehen, rechnete ihr prompt die strenge Marie vor, weil es am wirtschaftlichsten wäre, ältere Dienstnehmer auszusortieren.

Während Marie den Gang entlang ging, blickte sie ihn verstohlen von der Seite an. Irgendwie erinnerte er sie an jemanden. Sein Gesicht kam ihr seltsam bekannt vor. Doch ihr fiel einfach nicht ein, an wen er sie erinnerte. Die Assoziationen in ihrer verschwommenen Erinnerung waren aber eindeutig positiv.

Mit dem kurzgeschnittenen, gepflegten Vollbart, den etwas zu langen, aber gepflegten dunkelbraunen Haaren und den ebenmäßigen Gesichtszügen wirkte er jedenfalls ganz anders als die anderen Wirtschaftsprüfer.

Mit Schaudern erinnerte sie sich an die geschniegelten Uni-Abgänger, die mit ihren genagelten Schuhen und eng geschnittenen Anzügen bisher aufgekreuzt waren, um in der Firma so richtig umzurühren. Aalglatt hatten sie gewirkt und nach jedem Abschlussbericht dieser Prüfer hatte es ein ausführliches Köpferollen in der Firma gegeben. Abteilungen waren durcheinander gewürfelt und Mitarbeiter versetzt worden. Eine wilde Mischkulanz sollte mit weniger Mitarbeitern mehr Leistung erwirken.

Noch nie etwas vom ‘umgekehrten Verhältnis’ gehört? fragte sich Marie oft. In Gedanken sah sich Marie als Achtjährige vor folgender Mathematik-Hausaufgabe brüten: Zehn Arbeiter brauchen acht Stunden, um eine Straße zu asphaltieren. Frage: Wie viele Stunden brauchen fünf Arbeiter dafür? Ohne lange Nachzudenken, war sie damals auf vier Stunden gekommen und hatte sich sogar noch gefreut, dass sie sich beim Dividieren nicht verrechnet hatte. Sie war allerdings Schülerin gewesen, als sie bei der Textaufgabe in diese Gedankenfalle getappt war. Und sie hatte daraus gelernt! Logisches Denken!

Die Wirtschaftsprüfer der letzten Jahre waren jedoch zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wie die achtjährige Marie. Ihre Endberichte versprachen ebenfalls eine Effizienzsteigerung durch weniger Mitarbeiter! Und die Vorstände hatten akzeptiert, unterschrieben und die Ergebnisse auch prompt umgesetzt. Ohne es zu merken, seufzte sie auf.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Warum?“

„Sie haben geseufzt.“

„Habe ich das? Keine Sorge, es ist alles in Ordnung, ich war nur in Gedanken.“

Dann aber ritt sie der Teufel und sie fragte aus dem Bauch heraus: „Kennen Sie eigentlich das umgekehrte Verhältnis?“

„Was für ein Verhältnis?“, wirkte er irritiert.

„Diese Textaufgabe, auf die fast jeder Schüler zuerst mal reinfällt, bis er die dahintersteckende Logik erkennt. Das umgekehrte Verhältnis in der Mathematik.“ Gottliebs Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Da dämmerte Marie, dass er ihre soeben gewälzten Gedanken nicht kennen und diese Frage daher gar nicht verstehen konnte.

Sie wurde demnach konkreter: „Ich spreche von der Tatsache, dass weniger Arbeiter länger für eine Tätigkeit brauchen als mehr Arbeiter.“

„Sie meinen das indirekte Verhältnis?“

„Ja, das indirekte oder umgekehrte Verhältnis! Genau das meine ich! Sie können sich also daran erinnern?“, freute sich Marie.

„Ja, natürlich! Nur, wie kommen Sie jetzt darauf?“

„Nun. Also ...“, stotterte Marie herum, „... ich wollte nur sichergehen, dass Sie es auch wirklich kennen.“

„Warum?“

„Weil es die Wirtschaftsprüfer vor Ihnen scheinbar nicht kannten.“ Gottlieb sah sie an und lächelte. Wissend. Verstehend.

„Wahrhaft klug sind alle, die danach tun.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr“, erwiderte Marie mit leichter Skepsis.

„Wir sind vor den heiligen Hallen angelangt!“, erklärte Marie lächelnd, während sie die schwere Mahagonitür öffnete. „Bitte folgen Sie mir!“

„Wie ein Schaf dem Schäfer!“, scherzte er gutgelaunt.

Tat das gut! Ein Lächeln! Mit Freundlichkeit und Humor war Marie, seit sie für Porter arbeitete, nicht gerade gesegnet. Eigentlich war sie seit einigen Monaten regelrecht am Vertrocknen. Daher zog sie diese Brise Humor auf wie ein Wüstenboden den ersten Regentropfen.

Was für eine ungewöhnlich warmherzige Aura diesen Mann umgibt, dachte sie beeindruckt. Da schaltete sich wieder die strenge Marie ein: Als Wirtschaftsprüfer ist er mit Sicherheit ein Wolf im Schafspelz. Lasse dich doch nicht von warmen Händen und beruhigenden Gefühlen täuschen! Offensichtlich ist er lediglich sehr geübt im Umgang mit Schäfchen, und du Schaf gehst ihm prompt auf den Leim, nur weil du plötzlich warme Hände hast.

Marie gab ihrer inneren Stimme recht. Sie durfte sich nicht blenden, musste stattdessen Vorsicht walten lassen. Ihre derzeitige nervliche Schwäche durfte auf keinen Fall sichtbar werden. Gut, dass Gottlieb ihre Tränen nicht entdeckt hatte.

Heulende Assistentinnen jenseits der Vierzig verspeisen Wirtschaftsprüfer wahrscheinlich schon zum Frühstück, ätzte wieder jemand in ihrem Kopf giftig herum.

Trotzdem spürte sie so viel Herzenswärme von diesem Mann abstrahlen. Auch jetzt, als sie mit ihm vor dem Besprechungsraum stand. Normalerweise konnte sie sich auf ihr Bauchgefühl verlassen. Sie war äußerst empfindsam und ihr Körper reagierte auf andere Menschen stets früher als ihr Verstand.

Seit sie beispielsweise für Porter arbeitete, fröstelte sie ständig. Und das lag nicht am Wetter. Dieser Juli zeigte sich bislang von seiner schönsten, wärmsten und sonnigsten Seite!

Wovon sie genau nichts hatte! Wenn sie zwischen 19 und 21 Uhr ausgelaugt nach Hause wankte, hatte die Sonne bereits ihre meiste Kraft verströmt und die Wochenenden verbrachte sie damit, den vernachlässigten Haushalt auf Vordermann zu bringen.

Gottlob war Raffael verständnisvoll und zum ersten Mal in ihrer Ehe bereute sie es nicht, dass ihnen gemeinsame Kinder verwehrt geblieben waren. Hungrige Mäuler stopfen und Schularbeiten kontrollieren, wäre gar nicht mehr möglich gewesen. Marie war heilfroh, dass Raffael nach seinem Dienst ab und zu etwas Warmes kochte, sonst hätten sie von Wurstbroten leben müssen.

Wenn ihr der Job, so wie früher, wenigstens Spaß gemacht hätte, wäre das aber noch verkraftbar gewesen! Doch seit sie für Porter arbeitete, fühlte sie sich wie ein hirnamputierter Handlanger. Sie brauchte nur mehr rasche Finger und absoluten Gehorsam. Ihren Verstand hätte sie auf den Garderobehaken neben den Mantel hängen können und es wäre überhaupt nicht aufgefallen. Mitdenken oder Vorschläge machen war verpönt, Scherzen strengstens untersagt.

Porter saß in seinem Büro wie eine Kreuzspinne im Netz und schleuderte mit bissiger Miene seine Befehle ins Sekretariat. Er ließ sich jedes Telefongespräch verbinden, jedes E-Mail tippen. Sein Handy benutzte er nur, damit sie aus dessen Kontakten die Telefonnummern rausschreiben konnte. Korrektur: Musste!

An ihrem zweiten Arbeitstag hatte sie sich ihren letzten, kühnen Scherz erlaubt und ihren Geist noch benutzt. Porter hatte ihr wieder einmal eine Telefonnummer aus seinen Handy-Kontakten unter die Nase gehalten. „Schreiben Sie sich diese Nummer ab, gehen Sie ins Sekretariat und verbinden Sie mich mit Frau Direktor Sumpfdotterblume!“, war seine Order gewesen. Ohne nachzudenken hatte Marie eine logische Handlung gesetzt und auf die angezeigte Telefonnummer getippt. Vielleicht weiß er nur nicht, wie einfach es ist, mit einem Handy zu telefonieren?

Als die Verbindung zustande gekommen war, hatte sie ihm sein Smartphone ans Ohr gehalten: „Bitte sehr, jetzt können Sie direkt mit Frau Direktor Sumpfdotterblume sprechen!“ Sie hatte gestrahlt, während er wohl sein erstes Handy-Telefonat geführt hatte.

Porters Freude über die kostenlose Einschulung hatte sich damals allerdings sehr in Grenzen gehalten. Mit ihrer nett gemeinten Nachhilfe hatte sie ihn nämlich unbeabsichtigt um seine größte Freude betrogen: Machtdemonstration! Porter hatte eine Assistentin! Er musste nicht selbst telefonieren! Er hatte diese Aktion von Marie wohl als heimtückische Gemeinheit empfunden, denn künftig las er ihr die Telefonnummern aus seinen Kontakten selbst vor. Damit Derartiges nie mehr passieren konnte.

Dem kleinen Karli müssen in der Sandkiste offenbar sehr oft seine Spielsachen weggenommen worden sein. Nach dieser Episode hängte Marie ihren Verstand jeden Morgen neben den Mantel und nahm ihn erst wieder ab, wenn sie das Büro verließ. Doch Freude machte ihr dieses hirnlose Dienen nicht mehr. Es laugte nur mehr aus.

‘Ich verbinde mit Herrn Direktor Karl Porter’, brabbelte sie damals wohl sogar im Schlaf. Zu ihren regulären Arbeiten, die sie eigenverantwortlich aus der Vor-Porter-Ära zu erledigen hatte, und auch weiterhin ausführen sollte, kam sie nur mehr, wenn Porter unterwegs war.

Zu ihrer Erleichterung war er zwei Tage in der Woche in Prag. Zwar riefen dann seine dort tätigen, ebenfalls überlasteten Assistentinnen alle zehn Minuten an. Doch dazwischen konnte sie ihre Arbeit erledigen. Und an diesen Tagen war ihr auch nicht kalt. Porter wäre hervorragend als Klimaanlage verwendbar gewesen, denn er verströmte stets eisige Kälte.

Christian Gottlieb hingegen sonnige Wärme. Aber er war nun einmal Wirtschaftsprüfer!Vergiss das nicht! Nein, strenge Marie: Ich vergesse es nicht.

Trotzdem, in Gottliebs Gegenwart fühlte sie sich wohl. Unheimlich, unverständlich, aber übersinnlich wohl. Das war einfach so!

Angst

Sie war soeben wach geworden. Irgendein Geräusch hatte sie geweckt. Nein, bitte, nicht.

Nicht schon wieder.

Voll Panik sah sie zur Tür und griff unter ihr Kopfkissen. Sie spürte den Holzgriff und fühlte sich plötzlich stärker.

Heute würde er ihr nichts antun.

Heute nicht!

Die Sitzung Juli 2015

Marie öffnete die schwere Mahagonitüre und ließ Christian Gottlieb den Vortritt. Nachdem sie das Tor geschlossen hatte, führte sie den Wirtschaftsprüfer zu ihrem Chef, der am Kopfende des Besprechungstisches stand.

„Herr Gottlieb, darf ich Ihnen den Vorstandsvorsitzenden unseres Unternehmens, Direktor Karl Porter vorstellen?“, übernahm Marie die Vorstellung.

Porter lächelte erhaben.

„Sehr erfreut, Herr Gottlieb. Ich begrüße Sie im Namen aller Vorstandsmitglieder und Abteilungsleiter der Unito-Versicherung“, ertönte der satte Bariton ihres Vorgesetzten.

„Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen!“ Die beiden schüttelten einander die Hände, während man im Raum eine Stecknadel hätte fallen hören können. Sofort nach dem Eintreten waren alle Anwesenden aufgesprungen, um Gottlieb ihren Respekt zu erweisen.

„Grüß Gott, meine Herrschaften. Ich freue mich, hier sein zu dürfen. Bitte, setzen Sie sich doch!“, lächelte Gottlieb bescheiden in die Runde und unterstrich mit einer sanften Handbewegung seine Aufforderung. Genauso gut hätte er gar nichts sagen brauchen. Sie starrten weiter, als sähen sie einen Geist. Alle, außer Porter, wirkten kurzfristig wie gelähmt.

Also ist es nicht nur mir so ergangen, dachte Marie. Sie fühlte sich durch das seltsame Benehmen der Arbeitskollegen in ihrer eigenen Wahrnehmung bestätigt. Eine außergewöhnliche Ausstrahlung umhüllte diesen Mann und er berührte Menschen. In irgendeiner, unerklärbaren Weise. Gut, nicht jeden. Porter schien offenbar immun zu sein. Ausstrahlungen, Stimmungen sowie Schwingungen ließ er ungerührt an sich vorbeischwingen.

„Ich würde vorschlagen, dass wir beginnen!“, machte er Druck und wies Gottlieb an, sich auf den freien Stuhl neben sich zu setzen.

„Dann gehe ich wieder ins Sekretariat zu meiner Arbeit“, nahm Marie die Gelegenheit beim Schopf, um sich rasch aus dem Staub zu machen. “Wenn irgendetwas benötigt wird, Anruf genügt!“

„Nein, Sie bleiben hier!“

„Aber ich muss doch ins Sekretariat zurück. Das Telefon ist unbesetzt und es liegt ...“

„Ich brauche Sie für das Protokoll. Setzen Sie sich und schreiben Sie mit! Das Telefon kann die Sekretärin von Doktor Gutmann übernehmen!“

Er wandte sich Peter Gutmann zu, der die Augen aufriss, wie ein Goldfisch das Maul, nachdem er aus dem Wasser gesprungen war. Gutmann wusste offenbar nicht, wie ihm geschah. Porter half ihm auf die Sprünge.

„Herr Doktor Gutmann, rufen Sie Ihre Assistentin an, damit sie in mein Sekretariat geht und das Telefon zu sich umleitet. Sie soll eine Telefonliste aufnehmen und diese dann Frau Haller bringen, die danach alle Anrufer zurückruft“, beauftragte er den Leiter des Schadendienstes.

„Frau Molden ist aber allein im Sekretariat und hat bereits ...“

„Herr Gutmann, unsere Zeit ist kostbar. Rufen Sie einfach Ihre Sekretärin an und sagen Sie ihr, was sie zu tun hat! Wir warten.“ Gutmann riss eine ungesunde Farbe auf. Er ballte seine Hände zu Fäusten, versteckte diese jedoch unter der Tischplatte. Jeder spürte, wie viel Disziplin es ihm abverlangte, die Contenance zu wahren.

Doch um Fassung bemüht, stand er nach einer Schrecksekunde auf. Beherrscht schritt er zum Telefon, das auf einem Beistelltisch in Fensternähe stand und wählte die Telefonnummer seiner Assistentin.

„Frau Molden, bitte gehen Sie in das Sekretariat von Herrn Porter und leiten Sie die Anrufe zu sich. Die Telefonliste bringen Sie nach unserer Besprechung bitte Frau Haller“, bat er höflich. Offensichtlich war Frau Molden damit nicht ganz einverstanden. Jedenfalls zuckte es in Gutmanns Gesicht, während alle im Raum gespannt an seinen Lippen hingen.

„Frau Molden, ich weiß, dass Sie auch schon die Telefonate von der kranken Kollegin der Personalabteilung übernehmen müssen. Doch Herr Porter bittet Sie sehr eingehend darum. Also bitte, tun Sie es.“ Danach kam relativ rasch ein „Danke, Frau Molden!“, und Gutmann legte auf.

„Sie müssen noch lernen, etwas bestimmter aufzutreten, Herr Gutmann! Wenn Sie Ihrer Assistentin einen Auftrag erteilen, hat diese ihn umgehend zu erledigen. Ohne Widerrede!“ Gutmann schien etwas erwidern zu wollen, überlegte es sich aber dann doch anders. Er setzte sich schweigend auf seinen Platz und tat Marie in diesem Moment fast noch mehr leid als sie sich selbst.

„Man kann sich doch nicht von seinen Untergebenen auf der Nase herumtanzen lassen! Finden Sie nicht auch, Herr Gottlieb, dass man mit seinen Angestellten klipp und klar reden sollte?“, wollte sich Porter bei seinem Gast Rückendeckung holen.

„Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“, erwiderte der Angesprochene etwas pathetisch, doch unmissverständlich. Dabei lächelte er seinen Gesprächspartner so sanft an, als hätte er ihm nach dem Mund geredet und nicht widersprochen.

Marie spürte, wie ihr warm ums Herz wurde. Sie freute sich, dass sich Gottlieb nicht den Namen der widersprechenden Sekretärin für die Kopf-Roll-Liste notiert hatte. Porter hingegen gefiel diese Antwort schon etwas weniger. Und das, obwohl sie in der Sprache formuliert war, die seinem lyrischen Anspruch gerecht wurde.

Er starrte Gottlieb eine Zeitlang an, als hätte er die Worte gar nicht gleich verstanden. Erst als sich seine Augen verengten, wurde erkennbar, dass die Botschaft in sein Bewusstsein gesickert war. Doch er fasste sich relativ rasch.

„Nun, denn. Jeder nach seiner Art“, resümierte er und fuhr Marie an.

„Frau Haller, was ist jetzt mit Ihnen? Sie stehen noch immer herum!“, ließ er seine schlechte Laune an Marie aus. Wozu ist eine Assistentin denn sonst da?

Diese suchte den Tisch mit ihren Augen ab und überlegte, wo sie sich am wohlsten fühlen würde. Sie wählte den freien Stuhl zwischen der Betriebsrätin Elisabeth Leuberg und Peter Gutmann.

„Lisi, borgst du mir bitte einen Block und hast du vielleicht auch einen zweiten Kuli für mich dabei? Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich als Protokoll-Führerin dabei sein soll, daher kam ich unbewaffnet hierher“, flüsterte sie ihr zu.

„Natürlich, du kannst doch das Protokoll schlecht auf die Tischplatte kratzen“, lächelte die leicht mollige Mittvierzigerin, riss von ihrem Block einige Zettel runter und drückte Marie einen Kugelschreiber in die Hand. Die Vorstellung von der ritzenden Betty Geröllheimer ließ Marie kurz kichern. Ein warnender Blick ihres Vorgesetzten brachte sie jedoch rasch wieder in die Gegenwart. Der große Auftritt des Vorstandsvorsitzenden begann. Porter erhob sich aristokratisch.

„Meine Damen und Herren: Ich stelle Ihnen hiermit offiziell unseren neuen Wirtschaftsprüfer, Herrn Christian Gottlieb vor. Er wird die Arbeitsabläufe in unserem Unternehmen durchleuchten und Verbesserungsvorschläge für eine Optimierung der Arbeitsvorgänge ausarbeiten. Wie Sie wissen, konnten wir in den vergangenen Jahren die Gewinne jährlich zwischen fünf und zehn Prozent steigern. In dieser wirtschaftlich so schwierigen Zeit und, um im Konkurrenzkampf bestehen zu können, ist es jedoch unumgänglich, an der Kostenschraube zu drehen. Nur wenn wir Kosten und Personal sparen, können sich unsere Gewinne jährlich verdoppeln, was unser aller Streben sein sollte. Aus diesem Grund ersuche ich Sie alle, meine hoch geschätzten Vorstandsmitglieder und Gruppenleiter, Herrn Gottlieb bei seiner Tätigkeit zu unterstützen und ihm hilfreich zur Hand zu gehen!“

Unerträgliche Stille kühlte den Raum um einige Grade ab. Offenbar wussten die Mitarbeiter, vom Abteilungsleiter bis zum Vorstandsdirektor bis soeben nicht, dass eine Wirtschaftsprüfung stattfinden sollte. Die Überraschung in den Gesichtern der Mitarbeiter sprach Bände, während Porter seinen Auftritt in vollen Zügen zu genießen schien. Peter Gutmann fasste sich als erster.

„Aber Herr Porter! Bei allem Respekt: Wir verdanken unsere Gewinne und das Florieren des Unternehmens unseren tüchtigen Mitarbeitern, die wir leistungsorientiert entlohnen und angemessen schulen und fördern sollten. Der Mitarbeiterstab ist die Säule unseres Erfolgs. Unsere Mitarbeiter sind engagiert und leisten viele Überstunden. Freiwillig, aber leider auch notwendig. Wir schaffen den Arbeitsaufwand nur mit Hilfe dieser Kollegenschaft. Mitarbeiterkosten sparen heißt doch nichts anderes, als Mitarbeiter zu entlassen. Abgesehen vom menschlichen Aspekt: Wie sollen wir denn mit noch weniger Mitarbeitern in Zukunft Gewinne verdoppeln können? Und das, wo wir doch sehr gute Gewinne liefern!“, ereiferte sich der junge Mann, dessen blonde Haarpracht durch seine roten Hautflecken im Gesicht noch heller wirkte.

„Herr Gottlieb“, schnitt Porter Gutmann das Wort ab, „darf ich Ihnen unseren Leiter des Schadendienstes, Doktor Peter Gutmann vorstellen? Er ist so voll Enthusiasmus und ich entschuldige mich für sein impulsives Temperament.“

„Aber nein!“, ergriff Gottlieb das Wort. „Bitte entschuldigen Sie sich nicht für diesen Mitarbeiter! Es interessiert mich sehr, was Herr Gutmann zu sagen hat.“ Er lächelte Gutmann an, ging um den Tisch auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Bitte fahren Sie fort!“ Gutmann wirkte kurz irritiert, nahm jedoch seine Hand und lächelte zurück.

„Es freut mich auch, Sie kennenzulernen und ich hoffe, Sie nehmen meine offenen Worte nicht persönlich! Aber, nachdem Sie mich dazu auffordern: In unserem Unternehmen hatten wir in den vergangenen Jahren bereits drei Wirtschaftsprüfungen und jedes Mal wurde danach der Mitarbeiterstand verkleinert. Das bedeutete für die verbliebenen Kollegen stets belastende Mehrarbeit.“

„Nicht nur belastende, sondern auch unbezahlte Mehrarbeit“, rief Elisabeth Leuberg, die zwischen Marie und Gutmann saß, dazwischen. Elisabeth kam resolut auf Gottlieb zu und hielt ihm ihre Hand hin.

„Elisabeth Leuberg, Betriebsrats-Obfrau. Entschuldigen Sie, dass ich Gutmann ins Wort falle, aber als Betriebsrätin ist es meine Pflicht, mich vehement gegen weiteren Mitarbeiterabbau auszusprechen. Die Kollegen und Kolleginnen, die seit Jahren die Tätigkeiten der gekündigten Mitarbeiter einfach aufs Auge gedrückt bekommen, neben ihrer eigentlichen Arbeit wohlgemerkt, bekommen nicht einmal Gehaltserhöhungen. Sie müssen lediglich mehr arbeiten. Der Druck, der auf unsere Belegschaft ausgeübt wird, wird immer größer und die satten Gewinne kommen allein den Aktionären zugute. Diese fordern stattdessen immer mehr und mehr, während die, die sich dafür den Arsch aufreißen, irgendwann ...“

„Frau Leuberg! Mäßigen Sie sich!“, rief Porter, in dessen Gesicht nun auch hektische Flecken in sämtlichen Rottönen wucherten.

„Herr Gottlieb: Ich muss mich auch für Frau Leuberg entschuldigen“, ergänzte Porter seinen Entschuldigungsreigen. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

„Herr Porter, das ist schon in Ordnung! Sie brauchen sich überhaupt nicht für Ihre Mitarbeiter entschuldigen! Weder für Herrn Gutmann noch für Frau Leuberg. Immerhin ist der Grund unseres Meetings, dass ich Sie, Ihre Kollegen und Sie alle mich kennenlernen. Sie selbst, Herr Direktor Porter, haben am Beginn dieser Besprechung dazu aufgefordert, dass mir die Mitarbeiter mit Informationen zur Hand gehen sollen. Ich bin froh, wenn offen gesprochen wird. Nur so kann ich mir ein objektives Bild machen!“

Porter wollte etwas erwidern, ließ es aber bleiben. Er setzte sich stattdessen, wischte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn und blickte weiterhin mit autoritärem Blick zur Betriebsrats-Obfrau.

Diese stutzte. Der warnende Blick des Vorstandsvorsitzenden verfehlte seine Wirkung nicht. Verunsichert sah sie zu Boden und schien nachzudenken, ob es tatsächlich klug wäre, Porters Willen öffentlich zu ignorieren. Der Mut schien sie zu verlassen. Sie seufzte, zuckte mit den Schultern und resignierte.

„Eigentlich habe ich bereits alles gesagt.“

Dem Mitarbeiterstab wird offenbar regelmäßig das Recht auf freie Meinungsäußerung abgesprochen. Das war das erste, aufschlussreiche Resümee, das Christian Gottlieb bereits in der ersten viertel Stunde ziehen konnte.

„Bitte, Frau Leuberg, sprechen Sie weiter!“, ermunterte Gottlieb daher die Betriebsrätin, fortzufahren. „Ich glaube, Sie wollten noch etwas sagen.“ Doch offenbar war es den Mitarbeitern nicht erlaubt, nach einer Zurechtweisung ihres Chefs weiterzusprechen. Leuberg zögerte weiterhin. Sie blickte zu Porter, der ihre Augen zu durchlöchern versuchte.

Also trat Gottlieb zu ihr und legte seine Hand auf ihren Arm. Er stellte sich so vor Elisabeth, dass sie nicht mehr zu Porter sehen konnte. Als sie in Gottliebs Augen sah, wurden ihre Züge plötzlich viel weicher. Ihre Haltung veränderte sich merkbar, die Schultern senkten sich, ihr Rücken wurde aufrechter und ihre Lippen umspielte ein erfassendes Lächeln.

„Bitte, sprechen Sie weiter, es interessiert mich wirklich!“, forderte sie Gottlieb auf, fortzusetzen.

„Okay! Ich wollte nur noch sagen, dass es so doch nicht funktionieren kann! Im Vorjahr erlitten zwei Kollegen aus der Schadenabteilung am Arbeitsplatz einen Herzinfarkt. Eine Kundendienstmitarbeiterin, ein Abteilungsleiter und eine Telefonistin schlitterten allein im letzten Jahr in ein Burnout und sind seit Monaten krank. Unsere Mitarbeiter werden bewusst und ohne Skrupel an die Grenze ihrer Belastbarkeit getrieben!“ Als Porter sie nicht wieder zurückblies, kam sie so richtig in Fahrt.

„Und zum Drüberstreuen kommt alle paar Jahre ein Wirtschaftsprüfer daher, der an irgendeiner Uni theoretisches Wissen erlangt hat und nach einigen Wochen zu dem Endergebnis kommt, dass man am besten spart, indem man noch ein paar Mitarbeiter auf die Straße setzt. Am effektivsten natürlich die Alten und Teuren; die also, die das Wissen und die Erfahrung mitnehmen. Und die unerfahreneren Kollegen, die nach so einer Säuberungsaktion übrigbleiben, die nicht einmal mehr Wissensträger fragen können, werden weiterhin fertiggemacht. Machen sie verständliche Fehler, werden sie auch noch von ihren Vorgesetzten niederbetoniert. Das geht so weit, bis sie krank werden, am Arbeitsplatz das Zeitliche segnen, oder bis der nächste Wirtschaftsprüfer kommt und diese ausgesaugten Kreaturen aussortiert ...“

„Komm, Elisabeth, sei bitte jetzt nicht zu emotional! Wir sollten sachlich über dieses Thema sprechen und Herrn Gottlieb nicht angreifen. Er macht doch nur seine Arbeit.“ Gutmann tätschelte Elisabeths Hand und sie wurde ruhiger.

„Entschuldigen Sie, Herr Gottlieb. Ich wollte keinesfalls persönlich werden und Sie schon gar nicht vorverurteilen“, wurde ihr Ton etwas sanfter. „Aber, wenn ich als Betriebsrätin etwas von Wirtschaftsprüfung höre ... und ... so wie in diesem Fall sogar ohne Ankündigung ...“, dabei funkelte sie zornig in Porters Richtung, „... dann geht mein Temperament mit mir durch. Sie wissen ja nicht, wie viel Leid ich in den letzten Jahren gesehen habe!“

„Papperlapapp!“, schob plötzlich eine Blondine einen Zwischenruf in den Raum. Elisabeth funkelte wütend zur zarten, grell geschminkten Lena Kessler, die neben Peter Gutmann saß. Sie hatte aufreizend ihre schlanken Beine übereinandergeschlagen und die ganze Zeit wie gelangweilt an ihren dreifärbig manikürten Nägeln herumgezupft.

Gutmann tätschelte intensiver die Hand der Betriebsrätin und gab gleichzeitig Lena ein Zeichen, sich zu mäßigen. Wahrscheinlich saß er aus gutem Grund zwischen den beiden Damen. Elisabeth schüttelte den Kopf und setzte sich seufzend.

„Mein Name ist Lena Kessler. Ich bin Büroleiterin in der Personalabteilung und, entschuldigen Sie meine aufrichtigen Worte: Ich kann dieses Gesülze einfach nicht mehr hören. Wenn jemand für seinen Job nicht geeignet ist, kann er doch etwas anderes machen. Auch dieses ausgelutschte Wort ‘Burnout’! Pah! Das kann ich schon gar nicht mehr hören. Jeder, der ein bisschen überfordert ist, lässt sich gleich für einige Monate krankschreiben. Da ist es doch kein Wunder, dass nichts weitergeht. Aus meiner Sicht braucht es Männer wie Sie, Herr Gottlieb, die in dieses Unternehmen Zucht und Ordnung bringen. Ich stehe Ihnen jedenfalls jederzeit mit Rat und Tat und für jede Auskunft gerne zur Verfügung.“

Lena reichte Gottlieb mit einem aufreizenden Blick ihre schmale Hand zur Begrüßung. Elisabeth atmete indes schwer.

„Wie sie sich jedem Mann mit Rat und Tat zur Verfügung stellt, kann ich mir schon denken“, entfuhr es Elisabeth böse.

„Nicht, Elisabeth, versündige dich nicht! Ich weiß, du bist jetzt aufgebracht. Aber lasse dich nicht von Vorurteilen leiten! Manchmal täuscht der äußere Eindruck“, tadelte Marie ihre Kollegin.

„Hast du nicht gehört, was die für einen Schwachsinn von sich gibt?“, rebellierte Elisabeth.

„Sie ist noch so jung und unerfahren und weiß wohl gar nicht, was sie da gesagt hat.“

„Glaube mir, die ist überhaupt nicht unerfahren. Die ist mit allen Wässerchen gewaschen.“

„Sehr erfreut, Frau Kessler“, begrüßte Gottlieb währenddessen die junge Kollegin.

„Darf ich Ihnen nun auch noch die anderen Herrschaften vorstellen?“ Porter versuchte das Regiment wieder an sich zu ziehen, bevor sich Kessler noch weiter in den Vordergrund schieben konnte, Leuberg ganz den Verstand verlor oder Marie sowie Gutmann die Arme von Leuberg bis auf die Knochen abstreichelten.

„Der Herr zu meiner Rechten ist unser Personalchef, Vorstandsmitglied und Firmengründer, Diplomkaufmann Gabriel Seeliger.“ Der rundliche, gemütlich wirkende Herr mit schütterem Haar nickte schwach, behielt aber seinen Platz.

„Es freut mich, Sie kennenzulernen, wiewohl das Vergnügen für mich von kurzer Dauer sein wird. Ich stehe kurz vor meinem Urlaub und dem darauffolgenden Ruhestand. Für mich ist dies meine letzte Sitzung.“

Seeliger war ein gütiger und gerechter Personalchef gewesen. In den vergangenen Monaten schien er jedoch merkbar gealtert zu sein. Seine einst so dynamischen Schritte waren einem schleppenden Gang gewichen und seine Gesichtsfarbe nahm an manchen Tagen eine ungesunde Graufärbung an.

Alter? Stress? Krankheit? Die Gerüchteküche brodelte. Obwohl jeder Mitarbeiter im Unternehmen seinen Abgang bedauerte, gönnte ihm trotzdem auch jeder seinen Ruhestand.

„Wir sind gerade auf der Suche nach einem Nachfolger und haben bereits einige aussichtsreiche Kandidaten an der Hand“, erläuterte Porter.

„Ach so?“ Lena schob interessiert eine Augenbraue hoch.

„Darf man wissen, wer im Gespräch ist?“

„Nein, darf man nicht“, antwortete Porter entnervt, ohne sie auch nur anzusehen.

„Ich fahre nun fort in meiner Vorstellung.“ Dermaßen ignoriert verzog Lena ihr Gesicht, als hätte sie in eine unreife Zitrone gebissen. Aus dem Augenwinkel sah Marie, dass Peter Lenas Hand tätschelte. Allerdings etwas zärtlicher als zuvor die der Betriebsrätin.

„Also, hier zu meiner Linken finden Sie unseren Vorstandsdirektor fürs Rechnungswesen, Herrn Diplomingenieur Kurt Lugner.“

Der Angesprochene nickte kurz, als sein Name genannt wurde. Mit glasigen Augen stierte er vor sich hin und wirkte leicht entrückt. Seine Hände zitterten deutlich. Offenbar dauerte die Besprechung bereits länger als es seinem Alkoholspiegel förderlich war. An seiner Seite saß eine ältere Dame, die jede seiner Bewegungen zu kontrollieren schien. Die beiden waren offenbar ein Team und deshalb stellte Porter auch die Dame vor.

„Neben Herrn Diplomkaufmann Lugner sitzt Fräulein Winter, die als Büroleiterin und Assistentin tätig ist. Sie ist die gute Seele im Rechnungswesen.“ Das grauhaarige Fräulein mit unzähligen Falten erhob sich und nickte in alle Richtungen.

„Zu meiner Rechten stelle ich Ihnen Herrn Vorstandsdirektor Doktor Wolfgang Braun vor. In seine fachlichen Kompetenzen fallen die Personenversicherungen.“ Braun, ein hagerer Mann in den Fünfzigern erhob sich zackig. Seine beim Militär verbrachten Jugendjahre konnte er nicht verleugnen.

„Last, but not least, Frau Magistra Gerta Benesch. Sie ist unser fünftes Vorstandsmitglied und für den Bereich der Sachversicherungen zuständig.“ Die dürre Mittvierzigerin mit brünettem Pagenkopf erhob sich und lächelte in die Runde, wobei das Lächeln ihre eiskalten Augen nicht erreichte.

„Herr Vorstandsdirektor Diplomkaufmann Gabriel Seeliger, Herr Vorstandsdirektor Diplomkaufmann Lugner, Herr Vorstandsdirektor Magister Doktor Braun und Frau Vorstandsdirektorin Magistra Benesch: Ich fühle mich geehrt, in Ihrer Runde als Vorstandsvorsitzender tätig sein zu dürfen!“

Also ist Porter noch nicht lange der Vorstandsvorsitzende, entnahm Gottlieb dieser Bemerkung. Außerdem liebt er offenbar Titel über alles. Bewundernswert, wie ausführlich Porter all die sperrigen Titel deklamiert, lächelte Gottlieb milde.

„Nun, Herr Gottlieb, nachdem ich Ihnen den Vorstand vorgestellt habe, mache ich Sie auch noch mit den hier anwesenden Abteilungsleitern bekannt: Herrn Doktor Manfred Grabner, den Leiter der Rechtsabteilung, der seine Sekretärin Susi Schmid mitgebracht hat, Frau Silvia Schneider, die Leiterin des Telefonkundendienstes, Herr Max Kent, den Leiter der Betriebsorganisation, sowie die Leiterin der Betriebsküche, Frau Treissing und den Leiter der Buchhaltung, Herrn Magister Thomas Kaufmann.“ Jeder der Angesprochenen nickte kurz.

„Doktor Peter Gutmann, den Leiter der Schadenabteilung und Elisabeth Leuberg vom Betriebsrat, kennen Sie ja bereits.“ Als Porter daraufhin seine Vorstellungsrunde beenden wollte, stand Lena Kessler auf.

„Mich haben Sie vergessen!“

„Ich habe die Vorstandsdirektoren und Abteilungsleiter vorgestellt. Sie sind Büroleiterin der Personalabteilung und haben sich zudem bereits selbst vorgestellt.“

Lena wirkte wie eine Handgranate kurz vor dem Detonieren. Ihre Augen traten aus den Höhlen und ihre dunkelrot bemalten Lippen verzogen sich zu einer Fratze. Gutmann kam mit dem Tätscheln nicht mehr nach. Porter besaß jedoch die Gabe, emotionale Unzufriedenheiten nicht zu bemerken und fuhr unbeeindruckt fort.

„Nachdem die Vorstellung beendet ist und bevor wir nun zum fachlichen Teil der Besprechung kommen, möchte ich kurz darauf hinweisen, dass ich leider nur eine Stunde Zeit habe, da ich morgen zu einer wichtigen Sitzung verreisen und dafür noch einige Vorbereitungen treffen muss. Ich würde daher vorschlagen, dass wir mit den vorrangigen personellen Themen beginnen. Die fachlichen Inhalte können dann die Abteilungsleiter mit Herrn Gottlieb in Einzel-Sitzungen verhandeln.“ Gottlieb nickte und Porter setzte seine Rede fort.

„Ach, noch etwas, Herr Gottlieb: Wenn Sie die Dienste von Frau Haller benötigen, kommen Sie bitte noch heute auf sie zu, denn morgen ist meine Assistentin nicht hier.“ Marie blickte irritiert aus ihren Aufzeichnungen hoch.

„Ich verstehe nicht“, stammelte sie, weil sie zwar Urlaub bräuchte, jedoch keinen beantragt hatte. Oder konnte Porter Gedanken lesen? Wollte er sich bei Marie mit einem freien Tag für ihre Mühen bedanken? Natürlich! Warum sonst sollte er behaupten, sie sei morgen nicht da? Wie nett! Voll Vorfreude strahlte sie ihren Chef an und dachte an das Abendessen mit Raffi. Wenn sie morgen ausschlafen konnte, würde sie den Abend in vollen Zügen genießen.

„Ich brauche Sie morgen auf meiner Dienstreise. Wie Sie wissen, hat der Verein der Handschuhmacher für Fingerlose eine zweitägige Tagung in Rust am Neusiedlersee anberaumt. Ich konnte Ihnen heute Morgen noch nicht kundtun, dass ich Sie als persönliche Assistentin für die Protokolle benötige. Die Sekretärin des Vereinsvorsitzenden wurde nämlich von einem Mähdrescher überfahren und ich habe angeboten, eine meiner Assistentinnen mitzunehmen. Für meine Prager Sekretärin ist die Anreise zu weit, doch aus Wien fährt man zwischen einer, höchstens zwei Stunden. Daher hat meine Prager Assistentin in meinem Auftrag bereits ein Hotelzimmer für Sie gebucht. Die erste Sitzung beginnt um neun Uhr am Vormittag. Bitte erscheinen Sie pünktlich und bedenken Sie, dass am Morgen viel Verkehr ist, Sie also mit Stau rechnen müssen!“

„Aber ...“, stotterte Marie.

„Was aber?“

„Aber ...“

„Was ist mit ‘Aber’?“

Nein, aber sicher nicht! Was glauben Sie denn, wer Sie sind? Das waren ihre Gedanken.

„Nichts ... es ist nichts!“ Das waren ihre Worte.

Wie feige!

Der Zorn über die geringschätzende, demütigende, einfach menschenverachtende Behandlung ihres Vorgesetzten erzeugte einen Brand in ihrem Innersten. Die Knechtschaft der vergangenen Monate hatte ihre letzten Ressourcen aufgebracht und ihr Nervenkostüm war filigran geworden, wie die Flügel einer Schmeißfliege.

Dünnhäutig und ausgelaugt, brach durch die Worte ihres Sklaventreibers in ihrem Inneren etwas auf. Heftig und unbeherrschbar, trotz der strengen Marie, die sich in ihrem Geiste schon wieder wichtigmachen wollte. Marie schnappte nach Luft, spürte, wie ihr Tränen der grenzenlosen Wut hochstiegen und gewaltiger Zorn von ihrer Seele Besitz ergriff. Sie fixierte die Schere, die auf dem Tisch lag und in ihrem Inneren tobte dieser zerstörende Orkan, der eine Schneise der Verwüstung ziehen wollte. Der Krug ging so lange zum Brunnen, bis er brach. In Maries Innerem zerbarsten soeben einige Krüge, denn in ihrer Fantasie wurde Marie nun zu Grace Kelly in ‘Bei Anruf Mord’ und sie stach so viele Löcher in ihren Chef, dass er als Nudelsieb Verwendung gefunden hätte.

Zack, zack.

Immer wieder.

Als in Marie diese ungeahnte Mordlust hochgestiegen war, bemerkte sie, wie Gottliebs Blick auf ihr ruhte. Wie lange sah er sie schon an? Schuldbewusst zuckte sie zusammen, fühlte sich ertappt. Wenn er wüsste, wie viele Liter Blut sie in ihren Gedanken soeben verspritzt hatte! Er nickte unmerklich, als wüsste er es. Nein! Das war nicht möglich. Der junge Mann konnte doch nicht Gedanken lesen!

Gottlieb schüttelte jedoch sacht den Kopf und Marie starrte ihn wie gebannt an. Er lächelte ihr verheißungsvoll zu. Da passierte etwas in Marie, das sie sich nicht erklären konnte: Sie wurde ruhig. Einfach so.

Obwohl sie soeben von Porter vor allen Anwesenden wie ein hirnloser Befehlsempfänger herumkommandiert worden war, er ihr nicht nur den Abend, sondern auch gleich die nächsten beiden Tage versaut hatte und sie fast zur Amokläuferin geworden wäre! Viel hätte nämlich fürwahr nicht gefehlt und sie wäre bewaffnet auf Porter losgestürmt. Logisches Denken, gute Erziehung und sogar ihre angeborene Sanftmut - alles war soeben tatsächlich kurzfristig total ausgeblendet gewesen.

Doch ein Blick aus den Augen dieses jungen Mannes genügte und sie fühlte sich wie weichgespült. Was war das? Dieses Gefühl, das sie durchströmte, wenn er sie ansah, hatte eine unheimlich tiefe Kraft. Einzig durch seinen Blick ging eine Welle durch ihren Körper, der jeden Zorn und alles Böse aus ihrem Körper schwemmte. Ihre Fäuste lösten sich von selbst und was blieb, war ein Gefühl der Friedfertigkeit, die ihren Körper und ihre Seele nun durchflutete.

Warum hatte dieser junge Mann so eine unheimliche, fast übersinnliche Macht über sie? Wie machte er das? Was war mit diesem Mann los?

Marie kam jedoch nicht mehr dazu, ihre Gedanken zu ordnen, denn plötzlich machte sich Unruhe im Raum breit. Der Aufruhr ging von der schlecht gelaunten Lena aus.

„Ich brauche noch Kaffee!“, fauchte sie Marie zu. Jetzt erst erkannte Marie, dass im Raum eine sonderbare Ruhe entstanden war. Die meisten Anwesenden starrten Gottlieb an und Marie fragte sich, ob die anderen das Gleiche spürten wie sie. Die meisten wohl: Ja! Aber nicht alle. Lena schien gegen das, was Gottlieb verströmte, resistent zu sein.

„Schon gut, ich bringe frischen Kaffee“, erhob sich Marie. Sie konnte es sowieso nicht erwarten, aus diesem Raum zu kommen. Wenn das Kaffeepulver durch den Filter rinnt, muss ich Raffael anrufen, plante sie ihre nächsten Schritte, während sie die gläserne Kaffeekanne schnappte, aufstand und sich auf den Weg machte. Das geplante Abendessen mit Raffael musste sie nämlich zeitgerecht, also sofort, absagen.

Als Marie gerade an Lenas Stuhl vorbeiging, rückte diese ruckartig ihren Sessel so unerwartet und heftig nach hinten, dass Marie mit ihrem Fuß am Stuhlbein hängen blieb. Marie wirbelte um die eigene Achse und wankte. Verzweifelt versuchte sie das Gleichgewicht zu halten, doch der heftige Schmerz, der ihr plötzlich vom Fuß bis in die Hüfte hochjagte, brachte sie zu Sturz. Die Glaskanne in ihrer Hand verhinderte, dass sie sich abstützen konnte und Marie schlug wie ein Bauklotz mit dem Gesicht voraus auf den Boden. Die Kaffeekanne zerbrach in tausend Scherben und Marie blieb benommen liegen.

„Haben Sie das absichtlich gemacht?“, schrie Elisabeth Lena an. Währenddessen lief sie zu Marie und versuchte ihr zu helfen, auf die Beine zu kommen.

„Komm, stütz dich auf mich!“ Sie wollte ihr die Hand reichen, doch Marie blieb regungslos liegen.

„Marie, komm! Hörst du mich? Um Gottes Willen, bitte sag doch etwas!“ Offenbar konnte Marie nicht antworten. Stattdessen drehte sie leicht den Kopf zur Seite und öffnete den Mund. Doch über ihre Lippen kam keine Silbe. Panisch riss Marie die Augen auf und konnte offensichtlich nicht atmen.

„Entschuldigung ...“, stotterte Lena, „... das habe ich wirklich nicht absichtlich gemacht. Ehrlich nicht.“

„Das können Sie sagen, wem Sie wollen! Ich glaube es Ihnen jedenfalls nicht. Was hatten Sie denn eigentlich für einen Grund, so rasch aufzustehen?“

„Ich musste auf die Toilette“, rechtfertigte sich Lena. „Bitte, Frau Haller, glauben Sie mir!“

„Merken Sie nicht, dass sie keine Luft bekommt? Mann oh Mann, Sie bekommen doch tatsächlich überhaupt nichts auf die Platte. Frau Haller ist voll auf ihren Brustkorb geknallt. Wahrscheinlich ist ihre Lunge zusammengefallen. Schenken Sie sich Ihre falschen Entschuldigungen!“ Dann zu Marie gewandt: „Marie, komm, versuche Luft zu holen!“

Elisabeth fasste Marie leicht an der Schulter und Marie machte einen ersten tiefen Atemzug. Ihr schmerzverzerrtes Gesicht offenbarte, wie schwer ihr das Atmen fiel. Sie hielt sich mit der Hand das Zwerchfell und keuchte beängstigend. Elisabeth strich ihr über den Rücken, als wolle sie damit das Atmen unterstützen. Scheinbar erfolgreich. Bald setzte Maries Atmung wieder normal ein.

Inzwischen waren auch Gutmann und Kaufmann zu Marie gelaufen und versuchten ihr aufzuhelfen. Marie wollte sich an den bereitgestellten kräftigen Händen ihrer Kollegen hochziehen, doch als sie das rechte Bein auf den Boden stellte, sank sie mit einem Schmerzschrei wieder auf den Boden zurück.

„Mein Bein! Ich kann mein Bein nicht belasten!“, rief sie panisch. Gutmann tastete ihren Knöchel ab und schüttelte den Kopf.

„Das sieht nicht gut aus und schwillt auch ziemlich stark an. Ich glaube, Sie haben eine Bänderverletzung.“

„Was soll das heißen? Ich brauche Frau Haller! Sie soll gefälligst aufstehen, helfen Sie ihr halt, wenn sie es nicht allein schafft!“, meldete sich nun Porter zu Wort.

„Ich bin zwar kein Arzt, aber ich glaube, Frau Haller ist ernsthaft verletzt“, erklärte nun auch Kaufmann und sah Porter dabei verständnislos an.

„Aber, das darf doch nicht wahr sein!“, rief Porter und enthüllte ein Einfühlungsvermögen, das jeden Depressiven zum raschen Springen aus dem zehnten Stock getrieben hätte. 30 Augen starrten ihn fassungslos an.

„Ich meine, Frau Haller, Sie sind doch eine gesunde, kräftige Frau, so etwas kann Sie doch nicht ernsthaft umwerfen!“, wollte er seine Hartherzigkeit etwas kaschieren, um gleich danach so richtig ins Fettnäpfchen zu springen.

„Also, stehen Sie jetzt bitte auf und bringen Sie uns den Kaffee! Ich habe nicht endlos Zeit!“ Da wandte sich Gottlieb an den Vorstandsvorsitzenden.

„Herr Porter: Der Mensch wünscht sich Güte. Lassen Sie diese Güte Frau Haller zuteilwerden in ihrer Not!“

„Was für eine Not? Nur, weil sie zu tollpatschig ist, um eine Kaffeekanne aus dem Zimmer zu tragen?“

„Wie können Sie nur so kaltherzig sein?“, echauffierte sich Elisabeth.

„Frau Leuberg, in diesem Ton sollten Sie nicht mit unserem Vorstandsvorsitzenden reden!“, gab Lena ihren Senf dazu.

„Sie sollten überhaupt ihren dummen Schnabel halten! Wenn Sie ihr nicht absichtlich den Sessel in den Weg geschoben hätten, dann ...“

„Bitte, Elisabeth, lasse sie in Ruhe! Sie hat es sicherlich nicht absichtlich gemacht. Dafür hätte sie doch keinen Grund“, stöhnte Marie, die noch immer am Boden saß und vor Schmerzen Tränen in den Augen hatte.

„Ja, nimm sie nur schon wieder in Schutz! Ich weiß ehrlich nicht, warum du dich jedes Mal so schützend vor diese Person stellst. Aber, egal. Wir müssen etwas unternehmen. Ich rufe einen Krankenwagen.“ Sie schritt zum Telefon und begann medizinische Hilfe zu organisieren.

„Aber das geht doch nicht!“, stöhnte Porter auf. „Ich brauche Frau Haller morgen in Rust!“

„Herr Porter, machen Sie sich keine Sorgen! Ich werde Sie begleiten“, bot Lena an und wartete offenbar auf heftiges Freudengeschrei.

„Wie bitte?“, zog Porter seine Braue hoch, „können Sie überhaupt stenografieren?“

Ich habe ein Smartphone mit Aufnahme-App. Wozu brauche ich da stenografieren können?, dachte Lena und war überrascht, wie wenig Gegenliebe ihr so selbstloser Vorschlag hervorrief.

„Ich kann alles, was Sie wollen!“, zirpte sie, ohne ihre letzten Gedanken preiszugeben und schlug ihre Beine so übereinander, dass ihr Rock etwas höher rutschte.

„Nun denn, dann soll es so sein!“, gab sich Porter missmutig geschlagen, „aber seien Sie nur ja pünktlich!“

„Aber selbstverständlich“, nickte Lena. Das Gesicht von Gutmann wurde während dieses Gespräches immer länger und Maries Schmerzen immer heftiger. Ihr Knöchel war während der letzten Minuten aufgegangen wie ein warmgestellter Hefeteig. Verzweifelt hockte sie am Boden und wartete auf den Krankenwagen.

Henne oder Ei Juli 2015

Was für ein Abgang! Als die Sanitäter Marie auf die Trage hoben, fühlte sie sich so richtig armselig. Ihr Knöchel sah aus wie eine riesige Wurst und vom Fuß aus breitete sich der pochende Schmerz durch ihren ganzen Körper. Alles war so schnell gegangen. Ein Sesselbein am falschen Platz und schon war alles von einem Moment zum nächsten ganz anders.

Nichts war mehr wichtig. Die Dienstreise nicht. Karl Porter nicht. Er hatte sich nicht einmal von ihr verabschiedet. Das schmerzte. Fast so sehr wie das verletzte Bein. Mit mürrischem Blick hatte er während ihres Abtransportes am Tischende gestanden und sauertöpfisch realisiert, dass der Glanz seiner Präsentation durch den Unfall eine unwillkommene Trübung erlangt hatte. Wie konnte sie ihm nur seinen Auftritt so sehr vermiesen?

Peter Gutmann und Thomas Kaufmann waren hingegen so hilfsbereit gewesen. Gutmann hatte ihr Bein hochgelagert, während Kaufmann aus der Küche Eiswürfel geholt, sie in ein Tuch gewickelt und versucht hatte, durch Kälte die enorme Schwellung zu mindern. Zwei tolle Kerle, war Marie gerührt. Bevor sie auf der Bahre aus dem Sitzungssaal getragen wurde, war Gottlieb an ihre Seite getreten und hatte seine Hand auf ihre gelegt. Prompt war der Schmerz erträglicher geworden. Vielleicht war sie aber nur von seinen Worten abgelenkt gewesen.