Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine geheimnisumwitterte Reliquie und ein Historiker auf riskanter Mission. Schock für Historiker Jonas Wiesenburg: Sein väterlicher Freund Gotthold wurde im eigenen Haus grausam ermordet. In einem Testament hinterlässt der betagte Mann Jonas ein Rätsel, das auf eine kostbare jahrhundertealte Reliquie verweist – das Herz der heiligen Elisabeth von Thüringen. Jonas weiß: Nur wenn er das Rätsel löst, kann er auch Gottholds Mörder entlarven. Er ahnt jedoch nicht, dass dieser ihn schon längst im Blick hat …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 625
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Rolf Sakulowski studierte an der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« in Potsdam-Babelsberg. Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren dreht der erfahrene Regisseur und Autor Filme im In- und Ausland. Daneben gibt er Filmseminare und arbeitet zu Themen polizeilicher Krisenintervention.
www.sakulowski.com
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: arcangel.com/Roy Bishop
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Lothar Strüh
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-095-2
Thüringen Krimi
Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie
regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter
www.emons-verlag.de
PROLOG
Marburg, November 1231
Wie wunderbar friedlich diese Nacht doch war. Und wie beängstigend das, was sie nun für sie bereithielt. Guda hüllte sich fester in ihren derben Stoffmantel und presste ihren Rücken gegen die kalten Steine der Stadtmauer. Die Mitternachtsglocke hatte längst geschlagen, und nur mit der Überzeugungskraft eines Tüchleins voll Groschen war es der jungen Frau und ihrem schweigsamen Begleiter gelungen, durch eine Seitenpforte des bewachten Nordtores aus der Stadt gelassen zu werden. Guda verharrte regungslos und ließ ihren Blick über das vor ihnen liegende Flusstal schweifen. Das Licht des Mondes tauchte die schneebedeckte Landschaft in einen kühlen Schimmer. Es war vollkommen windstill, und der Himmel stand voller Sterne, als wolle er einen funkelnden Baldachin über sie breiten. So schön, dachte Guda und legte den Kopf in den Nacken. Sie atmete tief durch. Nur noch diesen kurzen Moment …
»Guda?«, brachte sich ihr Begleiter ruhig, aber bestimmt in Erinnerung. »Wir müssen aufbrechen.«
»Ich weiß.« Die junge Frau nickte. Einen Augenblick zögerte sie noch, dann drückte sie sich von der Mauer ab und betrat den Weg, der hinunter ins Tal führte. Der abschüssige Steig mit seinen vom Frost erstarrten Schlammlöchern war tückisch und machte das Vorankommen schwer, aber mit jedem Schritt, den sie nun tat, gewann sie etwas mehr an Sicherheit. Während sie ihre Augen unablässig über den Boden wandern ließ, um nicht versehentlich vom Pfad abzuweichen, hörte sie dicht hinter sich die festen Stiefeltritte ihres Begleiters.
Richard, der wortkarge Eisenacher Adelsmann, hielt sich erst seit wenigen Tagen in Marburg auf, um verschiedene Handelsgeschäfte voranzutreiben. Guda dankte ihrem Schicksal, dass dieser zuverlässige Freund aus früheren Tagen gerade jetzt in der Gegend weilte. Sie wusste, dass sie sich in jeglicher Hinsicht auf ihn verlassen konnte. Und tatsächlich war er, ohne viele Fragen zu stellen, bereit gewesen, ihr in dieser Nacht zur Seite zu stehen. Die Gegenwart des hochgewachsenen Mannes half ihr, den Aufruhr zu unterdrücken, der sie schon seit Stunden in immer neuen Wellen durchflutete. Die Furcht vor dem, was bis zum Morgengrauen geschehen musste.
Je weiter sie hinabstiegen, desto deutlicher drang ein düsteres Rauschen an ihre Ohren. Guda wusste, dass es von der Lahn herrührte, dem Fluss, der sich in einem weiten Bogen durch das Tal zog. An seinen Ufern begann ein unwirtlicher Grund, durchsetzt von Sumpfstreifen und wilden Erlenwäldern. Wer die wenigen sicheren Wege nicht kannte, verlor sich schnell in einem Labyrinth aus Wasser und Gestrüpp. Die junge Frau hielt inne und lauschte. Eine Weile verharrte sie konzentriert, dann erschien ein Ausdruck der Erleichterung auf ihrem Gesicht. Da war ein gurgelndes Geräusch. Leise, aber unverkennbar. Ein helles Plätschern, das sich deutlich vom entfernten Flussrauschen abhob. »Dort vorn ist der Bach«, raunte Guda in Richtung ihres Begleiters. »Wir sind gleich da. Ab jetzt kein lautes Wort mehr, sonst hört man uns.«
»Sei unbesorgt«, gab Richard kaum vernehmbar zurück und versank wieder in Schweigen.
Guda setzte ihren Marsch fort, sicher, dass Richard ihr wie ein Schatten folgte. Das Plätschern wurde schnell lauter, und sie gelangten an eine schmale Steinbrücke, die einen etwa acht Fuß breiten Bach überspannte, ehe sich der Weg zwischen dicht stehenden Erlen verlor. Zügig überquerten sie den Wasserlauf und tauchten in den Wald ein. Die verästelten Baumkronen raubten einen Teil des Mondlichts, sodass sie wie von einem finsteren Tunnel verschluckt wurden. Aber schon nach einer kurzen Wegstrecke öffnete sich das Erlendickicht wieder, und vor ihnen breitete sich eine verschneite Lichtung aus.
Erneut blieb die junge Frau stehen und bedeutete Richard mit einer energischen Handbewegung, dasselbe zu tun. Misstrauisch ließ sie ihren Blick über die kleine Ansammlung von Gebäuden streifen, die sich in einiger Entfernung aus dem nächtlichen Dämmer schälten. Es waren einfache Bauten, errichtet aus Holz und Lehm. Dunkel und unscheinbar duckten sie sich an den winterlichen Boden. Nur eines der Häuser stach hervor. Es war größer als die anderen; ein langer Fachwerkbau mit einem steilen Schindeldach, der das Zentrum der Lichtung einnahm. Er schien menschenverlassen, aber Guda wusste, dass dieser Eindruck täuschte.
»Das ist das Hospital. Dort werden wir meine Herrin finden«, flüsterte sie Richard zu. Sie wartete noch eine Weile, und als sie sicher war, dass es niemanden gab, der sich auf einem nächtlichen Kontrollgang befand, gab sie ihrem Begleiter einen Wink und huschte hinüber zu dem langen Gebäude. Sofort verlangsamte sie ihre Schritte wieder und drückte sich gegen die raue Lehmwand. Sie nahm zwei tiefe Atemzüge, dann schob sie sich Stück für Stück weiter, bis sie eine kleine Tür erreichte. Bedachtsam streckte sie ihren rechten Arm aus und legte die Finger um die schmiedeeiserne Klinke. Das Metall fühlte sich kalt an, aber gleichzeitig erfüllte die Berührung Guda mit innerer Wärme. Wie oft war sie durch diese Pforte gegangen, in Zeiten, die glücklicher gewesen waren als diese? Guda umschloss die Klinke fester und drückte sie nach unten. Dann zog sie die Tür zwei Fußbreit auf und schlüpfte ins Innere des Gebäudes.
Sofort umfing sie fast vollkommene Finsternis. Für einen Moment stand sie still und vergegenwärtigte sich im Geiste die Aufteilung der Räume. Sie befand sich in der Kapelle des Hospitals. Links von ihr dehnte sich der Chorraum aus, in dem etwas weiter hinten der steinerne Altar stand. Rechter Hand lag der Krankensaal, der nur mit einem einfachen Bretterschirm von der Kapelle getrennt war. Jeden Morgen schob man die bewegliche Wand beiseite, sodass die Siechen und Kranken das Wort Gottes direkt in ihrer Mitte empfangen konnten. An den Abenden schloss man die Kapelle wieder, was Gudas Plan für diese Nacht begünstigte. Vorsichtig tastete sie sich bis zu der hölzernen Trennwand vor und achtete darauf, dass ihre Schritte keine verräterischen Geräusche verursachten.
Durch eine Ritze zwischen zwei Brettern spähte sie hinüber in den Krankensaal. Er war in ein schwaches rötliches Licht getaucht, das von der Glut eines gedrungenen Kamins herrührte. Die strohgefüllten Kiefernrahmen, die den Leidenden als Betten dienten, waren bis zum letzten Platz belegt. Leises Husten und Stöhnen mischte sich mit dem Rascheln unruhiger Körper, und der Odem von Hinfälligkeit und Schweiß hing in der Luft. Hier, in diesem einsamen Haus außerhalb der Stadtmauern, lagen die Ärmsten der Armen. Die Fiebernden, Verstümmelten und Aussätzigen, die nichts besaßen als den kläglichen Rest ihrer Lebenskraft. Keiner von ihnen hatte auch nur einen Heller in der Tasche, um einen Bader oder Arzt zu bezahlen.
Und selbst dieses letzte Refugium gäbe es nicht, hätte nicht Gudas Herrin vor drei Jahren auf all ihren persönlichen Besitz verzichtet, um das Hospital zu gründen und fortan nur noch Gott und den Verlorenen zu dienen. Mit unermüdlichem Eifer hatte sie sich dieser neuen Aufgabe angenommen. Geduldig in ihrer Fürsorge und erbarmungslos gegen sich selbst. Bis dann plötzlich …
Der Gedanke an ihre Herrin erinnerte Guda daran, dass sie nicht noch mehr Zeit verlieren durfte. Mit einem letzten Blick überzeugte sie sich, dass keiner der Kranken erwacht war. Und dass die betagte Schwester, die man für die Nachtwache eingeteilt hatte, auf der Bank neben dem Kamin in tiefen Schlaf versunken war. So wird sich mein Schicksal also jetzt erfüllen, dachte Guda, trat von der Holzwand zurück und drehte sich um. Wie eine undurchdringliche schwarze Höhle lag die Kapelle vor ihr. Die Tür nach draußen war wieder geschlossen, und das Säuseln verhaltener Atemzüge verriet ihr, dass Richard sich inzwischen ebenfalls im Raum befand.
Guda kauerte sich nieder und zog eine Laterne und eine Büchse mit Zunder und Feuersteinen unter ihrem Mantel hervor. Mit wenigen Handgriffen entzündete sie den Kienspan in der Leuchte. Danach spähte sie wachsam über ihre Schulter. Aus dem Krankensaal kamen keine verdächtigen Laute. Das Schlagen der Feuersteine hatte niemanden aufgeschreckt. Und der Schein der kleinen Flamme war zu schwach, um durch die Ritzen der Bretterwand nach nebenan zu dringen. Sie verstaute die Büchse wieder in ihrem Mantel. Dann stand sie auf und stellte die Laterne auf einem Wandsims ab. Wie eine gelbe Wolke floss das Licht in den Kapellenraum.
Guda sammelte sich und hob den Blick. Vor dem wuchtigen Altarblock, der sonst die Halle dominierte, stand ein grob gezimmerter Holztisch. Darauf ruhte die unbewegliche Gestalt einer Frau. Ihr schlanker Körper war in eine braune Decke gehüllt. Nur das blasse Gesicht lag frei. Es war das Gesicht einer Toten.
»Elisabeth«, flüsterte Guda mit erstickter Stimme. Obwohl sie gewusst hatte, was sie hier erwarten würde, konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Eine Weile stand sie wie versteinert da, dann fiel sie auf die Knie und versank in ein stilles Gebet. All ihre Kraft schien mit einem Male verloren, und eine tiefe Traurigkeit bemächtigte sich ihrer. Erst als sie Richards tröstende Hand auf ihrer Schulter spürte, richtete sie sich wieder auf. Wie benommen ging sie nach vorn zum Kopfende der Bahre, auf die man ihre Herrin gebettet hatte. Schweigend betrachtete sie die leblose Frau. Das Antlitz der Toten strahlte einen merkwürdigen Frieden aus, aber in ihren Zügen konnte Guda auch unendliche Erschöpfung erkennen. Ohne Unterlass hatte Elisabeth die Kranken in ihrem Hospital gepflegt, und dann war sie selbst einem tückischen Fieber anheimgefallen. Felsenschwer lastete die Erinnerung daran auf Gudas Seele. Eine Weile noch hatte es Hoffnung auf Heilung gegeben, doch mit der Zeit waren die Schübe immer heftiger geworden. Vor drei Tagen hatte Elisabeths Körper den Kampf gegen die Krankheit endgültig verloren.
»Wir dürfen nicht zaudern«, flüsterte Richard. »Lass uns beginnen.«
»Ja.« Guda nickte und zog ihre Schultern zusammen. Waren schon die letzten Tage bedrückend gewesen, so ließ die Aussicht auf das, was sie nun tun musste, ihr Gemüt vollends frösteln. Dennoch gab es nichts, was sie von ihrem Plan abbringen konnte. Elisabeth hatte sie im Angesicht ihres nahenden Endes so eindringlich darum gebeten, dass es keinen Zweifel geben konnte, wie ernst sie es gemeint hatte. Ihr ganzes bisheriges Leben lang hatte Guda ihrer Herrin glücklich und ergeben gedient. Nun würde sie Elisabeth auch diesen letzten Dienst erweisen.
Sie prüfte die Decke, in die die Tote gehüllt war. Man hatte sie wie einen Kokon zusammengenäht. Zügig begann Guda damit, die Fäden zu lösen. Das Garn bewahrte sie auf. Nachher wollte sie die Nähte wieder sorgfältig verschließen, um jeden Hinweis auf ihren nächtlichen Besuch zu verbergen. Sobald der nächste Morgen anbrach, würde man die Gründerin des Hospitals im Boden der Kapelle bestatten.
Als sie alle Fäden entfernt hatte, schlug Guda die Decke zur Seite. Auch im Tode trug Elisabeth den schmucklosen grauen Kittel, den sie vor drei Jahren als Zeichen ihrer Demut gewählt hatte. Nichts ließ erahnen, dass diese ausgezehrte junge Frau eine Königstochter war. Ohne die schützende Decke wirkte ihr zierlicher Körper noch zerbrechlicher. Mit ihren gerade einmal vierundzwanzig Jahren hätte sie noch nicht sterben dürfen, sinnierte Guda. Sie selbst war ja kaum ein Jahr älter.
Eine kurze Spanne ließ sie ihren Blick noch auf dem Gesicht der Toten ruhen. Schließlich ergriff sie Elisabeths Hand und drückte sie sanft. So, als wolle sie ihrer Herrin Mut spenden für das, was jetzt kam. Dann drehte sie sich zu ihrem Begleiter um und nickte ihm stumm zu. Mit ernster Miene zog Richard ein Messer unter seinem Mantel hervor, beugte sich über den Körper der Toten und machte den ersten Schnitt.
1
Gegenwart
Wie eine gleißende Welle flutete die Morgensonne durch die geöffneten Fenster, während gleichzeitig das dumpfe Lärmen der Erfurter Innenstadt in den Raum drang. Jonas schlug den Deckel seines Reisekoffers zurück und warf eine Lage staubiger T-Shirts und Jeans in den Wäschekorb. Versonnen schüttelte der Vierunddreißigjährige den Kopf. Unglaublich, wie schnell die letzten fünf Wochen vorübergerauscht waren. Mexiko. So bunt und faszinierend. Fremdartig und doch irgendwie vertraut. Die erste lange Auslandsreise mit Fenja, und das hieß etwas, denn sie führten nun schon seit zwölf Jahren eine aufregende und glückliche Beziehung. Gestern Abend waren sie zurückgekommen und todmüde ins Bett gefallen, bis sie der Wecker nach einer kurzen Nacht in den Alltag zurückgerufen hatte. Vor einer Stunde war Fenja in das Institut gefahren, in dem sie seit ihrem Geologiestudium arbeitete. Und ihm, der sich die Zeit freier einteilen konnte, seit er sich als Historiker selbstständig gemacht hatte, fiel nun das Ausräumen ihres Reisegepäcks zu.
Jonas schob seine zerknitterte Wetterjacke zur Seite und betrachtete die graue Pappschachtel, die darunter zum Vorschein kam. Vorsichtig hob er sie aus dem Koffer und setzte sie auf dem Wohnzimmertisch ab. Hoffentlich ist unser Fang heil geblieben, dachte er und fuhr sich mit der rechten Hand durch seine ungestümen rotblonden Haare. Nachdem er kurz nach ihrer Landung bei einem Blick durch das Flugzeugfenster Zeuge geworden war, mit welchem Gleichmut die Männer vom Bodenpersonal die Gepäckstücke auf den Transportwagen geworfen hatten, erwartete er nichts Gutes. Mit fatalistischer Neugier klappte er den Deckel der Schachtel nach oben.
»Schwein gehabt«, entfuhr es ihm unversehens, und er musste grinsen. Der verrückte Vogel hatte den Ritt doch tatsächlich unbeschadet überstanden. Einmal von Mexico City bis in die Erfurter Altstadt. Jonas betrachtete die bemalte Tonfigur. Ein Tukan mit schwarzem Gefieder und einem gewaltigen bunten Schnabel, der fast genauso groß war wie der gesamte Rest seines Körpers.
Den Vogel hatte Jonas für den alten Gotthold mitgebracht, einen Mann, dem er einiges verdankte. Und der eine Schwäche für außergewöhnlichen Nippes besaß. Die Figur hatten sie zwei Tage vor ihrem Rückflug auf einem Straßenmarkt in Mexico City entdeckt. Hinter einer Reihe von Ständen, an denen stimmgewaltige Verkäufer ein Heer von aztekischen Götterfiguren und katholischen Heiligenbildern anpriesen, war ihnen ein etwa siebenjähriger Junge aufgefallen. Er hatte verloren neben einer Holzkiste gesessen, auf der ein kleiner tönerner Vogel stand. Offenbar hatte ihn der Junge selbst geformt und bemalt. Alles daran war irgendwie schief und unvollkommen. »Guck mal dort, der Tukan. Total niedlich«, flüsterte Fenja Jonas zu und blieb stehen.
»Pueden comprar el pajarito«, rief der Junge, als er ihre neugierigen Blicke bemerkte. Hastig setzte er hinzu: »Les hago un buen precio!«
»Er sagt, wir können das Vögelchen kaufen«, übersetzte Jonas, der in der Schule etwas Spanisch gelernt hatte, und schmunzelte. »Er will uns einen guten Preis machen.«
»Wäre das nicht was für Gotthold?«, meinte Fenja. »Du wolltest ihm doch sowieso etwas mitbringen.«
»Er würde das Ding lieben, da bin ich mir sicher.«
»Na dann …« Fenja knuffte ihren Freund ermunternd in den Arm, und Jonas erkundigte sich nach dem Preis.
»Cincuenta pesos«, antwortete der Junge und blickte ihn hoffnungsvoll an. Fünfzig Pesos. Etwas mehr als zweieinhalb Euro. Als Jonas nicht sofort reagierte, fragte er leise: »Cuarenta?« Vierzig?
»Ich gebe dir hundert«, erklärte Jonas auf Spanisch und bot seine Hand wie zu einem wichtigen Geschäft. Überrascht schlug der Junge ein. Er ließ den Schein, den ihm Jonas reichte, schnell in seiner Hosentasche verschwinden. Dann setzte er die Figur behutsam in eine kleine Pappschachtel und hielt sie ihnen mit stolzer Miene entgegen. »Su nombre azteca es Xochitenácatl.«
»Sein aztekischer Name ist …«, begann Jonas zu übersetzen, doch bei dem letzten Wort verhaspelte er sich derart, dass er unter dem Gelächter der beiden anderen aufgeben musste.
So hatten sie den Vogel schließlich in ihr Hotel getragen, und nun stand er hier in Erfurt auf dem Wohnzimmertisch. Jonas beschloss, ihn dem alten Gotthold noch heute Vormittag vorbeizubringen. Er klappte die Schachtel zu, holte sich etwas Geschenkpapier aus der Küche und schlug sein Mitbringsel ein. Die nächste Stunde verbrachte er damit, seinen und Fenjas Koffer komplett zu leeren. Dann steckte er das Päckchen mit dem Tukan in seine Umhängetasche und verließ die Wohnung.
Vor der Haustür drängte sich eine Reisegruppe, die Augen fest auf einen hageren Stadtführer gerichtet und die Fotohandys in die Höhe gereckt. Ungeduldig suchte Jonas nach einer Lücke, durch die er den Touristen entkommen konnte. Die steten Besucherströme waren der Preis, den Jonas und Fenja dafür zahlten, dass ihre Wohnung direkt auf der Krämerbrücke lag – einem der berühmtesten Orte in der Erfurter Innenstadt. Die einhundertzwanzig Meter lange Flussbrücke war mit mehr als dreißig mittelalterlichen Fachwerkhäusern bebaut. Kleine Lädchen präsentierten eine bunte Mischung aus Kunsthandwerk, Antiquitäten und Leckereien, und Straßenmusiker zogen zusätzliches Publikum an. So verwandelte sich die gepflasterte Gasse, die zwischen den Häusern hindurchführte, mit schöner Regelmäßigkeit in einen menschlichen Mahlstrom.
Jonas murmelte eine Entschuldigung und zwängte sich an zwei korpulenten Mittfünfzigerinnen vorbei. Nach einem beherzten Slalom erreichte er das Ende der Brücke und bog in ein Gewirr aus engen Straßen ab. Nur wenig später gelangte er an den Parkplatz, auf dem sie vor fünf Wochen ihr Auto abgestellt hatten.
Der olivgrüne Geländewagen blitzte in der Vormittagssonne. Ein Land Rover, Baujahr 1987. Sie hatten den »Landy«, wie sie ihn liebevoll nannten, vor sechs Jahren einem älteren Ehepaar abgekauft. Fenja benötigte ein robustes und verlässliches Fahrzeug, denn als Geologin führte sie häufig Feldforschungen in schwer zugänglichem Terrain durch. Und Jonas nutzte den Wagen gern für seine Recherchetouren. Heute jedoch würde er nicht sehr weit fahren müssen. Gotthold wohnte in einem kleinen Häuschen am Rand der Stadt.
Der Berufsverkehr war längst abgeebbt, und wenn es keine unerwarteten Sperrungen gab, würde Jonas in weniger als zwanzig Minuten dort sein. Gut gelaunt setzte er sich ans Steuer, startete den Motor und lenkte den Land Rover auf die Straße.
Gemächlich bewegte sich Jonas in Richtung Süden. Im Stillen beglückwünschte er sich zu seinem Entschluss, die Fahrt zu Gotthold jetzt gleich zu erledigen. Denn neben seinem Mitbringsel gab es noch einen anderen Grund für den Besuch. Vor etwas mehr als zwei Wochen hatte ihn der alte Mann angerufen und um ein Treffen gebeten. Wegen eines Problems, das man nach seinen Worten nicht am Telefon lösen könne. Als Jonas erklärt hatte, dass er gerade nicht in Erfurt war, sondern im fast zehntausend Kilometer entfernten Mexiko, hatte Gotthold ihm das Versprechen abgenommen, nach der Rückkehr so bald wie möglich bei ihm vorbeizuschauen. Nun, das würde Jonas jetzt tun.
Er vermutete, dass es um irgendeine Behördenangelegenheit ging. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Dreiundachtzigjährige an einem Antrag oder einer amtlichen Aufforderung verzweifelte. Vielleicht benötigte Gotthold aber auch Hilfe in seinem Haus, das er seit dem Tod seiner Frau allein bewohnte.
Jonas setzte den Blinker und bog in die Siedlung, in der das Ziel seiner Fahrt lag. Das Wohnviertel strahlte eine fast dörfliche Ruhe aus. Kleine Einfamilienhäuser schmückten sich mit idyllischen Vorgärten, es gab eine Spielwiese mit großen Bäumen, und die Straßen trugen die Namen von Dichtern und Schriftstellern. Langsam lenkte er den Land Rover auf den schmalen Fahrweg, der die Siedlung im Süden begrenzte. Dahinter begann der Steigerwald. Erfurts acht Quadratkilometer großer Stadtwald war Gottholds Lieblingsort. Hier ging er trotz seines hohen Alters jeden Morgen eine Stunde lang spazieren. Kein Wunder, fiel er doch von seinem Wohnquartier buchstäblich in die Natur. Jonas ließ den Geländewagen ausrollen und parkte ihn am moosbewachsenen Bürgersteig.
Gottholds Haus lag etwas zurückgesetzt von der Straße und versteckte sich zwischen Nadelbäumen und wild wuchernden Brombeersträuchern. Im Gegensatz zu den Nachbargrundstücken gab es hier weder sorgfältig geschnittene Hecken noch Blumenbeete. Wäre das Anwesen nicht von einem windschiefen Lattenzaun umgeben gewesen, hätte man es leicht für einen Teil des Waldes halten können. Als Jonas die Gartenpforte öffnete, stob eine Schar Sperlinge auf und wirbelte lärmend in die Wipfel der Bäume. Er sah ihnen lächelnd nach, dann betrat er das Grundstück und ging auf das kleine Giebelhaus zu.
Das Gebäude wirkte wie der Zeit entrückt. Tür und Fenster hatten schon lange keinen frischen Anstrich mehr gesehen, und über der ehemals weißen Fassade lag eine graugelbe Patina. Dennoch strahlte das Häuschen mit seinen verspielten Gauben und Fensterläden eine liebenswerte Behaglichkeit aus. Jonas trat vor die Haustür und drückte den Klingelknopf. Drinnen war ein leises Schellen zu hören. Eilig zog er die Schachtel mit dem Tukan aus der Umhängetasche und wartete darauf, dass Gotthold erschien. Doch das tat er nicht. Die Tür blieb zu, und keine Bewegung war zu hören. Auch nach dem zweiten und dritten Läuten nicht.
Mist! Jonas überlegte. Gotthold war sehr betagt, aber nicht taub. Außerdem war er neugierig. Die Klingel überhörte er normalerweise nicht. Machte er Besorgungen? Jetzt ärgerte sich Jonas, dass er nicht angerufen hatte, bevor er losgefahren war. Aber das ließ sich nachträglich nicht mehr ändern. »Gotthold?«, rief er laut und drückte die Türklinke. Nicht abgeschlossen. Er öffnete die Tür und trat in den dämmrigen Flur. »Gotthold?«, rief er noch einmal. »Bist du da? Ich bin’s, Jonas.«
Keine Reaktion.
Unschlüssig sah er sich um. Gotthold musste zu Hause sein, sonst hätte er abgeschlossen. Aber wo konnte er stecken? Und warum reagierte er nicht? Das war zumindest ungewöhnlich.
Die linke Zimmertür stand zwei Handbreit offen. Es war der Eingang zur Wohnstube, das wusste Jonas von seinen Besuchen hier. Er hob den Arm und klopfte gegen den Rahmen, erst zaghaft, dann kräftiger. Nichts. Zögerlich beugte er sich nach vorn und spähte in den Raum. »Gotthold, bist du hier?«
Er erhielt keine Antwort. Das Zimmer lag still und verwaist vor ihm. Jonas drehte sich wieder in den Flur um. Was sollte er tun? Inzwischen kam er sich wie ein Eindringling vor. Aber tief in seinem Inneren rumorte eine merkwürdige Unruhe. War Gotthold krank? Oder hatte er sich verletzt und benötigte Hilfe?
Nein, Quatsch. Er schüttelte den Kopf. Sicher war der Alte nur mal kurz aus dem Haus gegangen und befand sich irgendwo in der Nähe. Jonas wollte gerade nach draußen zurückkehren, da entdeckte er den hellen Streifen. Ein gelber Schimmer unter der Tür am Ende des Ganges. Er war leicht zu übersehen, aber wenn man ihn einmal entdeckt hatte, bestand kein Zweifel: Hinter dieser Tür brannte Licht.
Entschlossen schritt Jonas auf die schmale Pforte zu. Er wusste, dass sich dahinter eine Treppe verbarg, die in den Keller führte. Nun fühlte er sich doch ein wenig erleichtert. Dort unten also trieb sich Gotthold herum. Kein Wunder, dass er das Klingeln und Rufen überhört hatte.
Jonas öffnete die Tür. Während er die Steinstufen hinabstieg, räusperte er sich vernehmlich und sagte laut: »Keine Angst, Gotthold, hier kommt kein Gespenst. Ich bin’s nur, Jonas.« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er in den Kellerraum. Und verharrte mitten in der Bewegung.
Was zur Hölle …?
Erbarmungslos brannten sich die Bilder in sein Hirn. Der schwarze Drehstuhl in der Mitte des Raumes. Der schmächtige Körper darauf, von blutigen Wunden übersät und in einer unnatürlichen Verrenkung erstarrt. Die tief ins Fleisch eingeschnittenen Plastikfesseln. Und schließlich das graubleiche Gesicht, dessen tote Augen ihm unverwandt entgegenglotzten. Nur mit Mühe erkannte Jonas in der verzerrten Fratze die vertrauten Züge des Mannes, den er besuchen wollte.
»Gotthold«, flüsterte er tonlos und schluckte. Eine Weile stand er reglos da. Dann tastete er wie in Trance nach seinem Telefon.
Obwohl Fenster und Schiebetür offen standen, hing die Mittagsluft unbewegt und drückend in der Fahrzeugkabine. Jonas wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er saß auf der Rückbank des VW-Busses, mit dem die erste Streifenbesatzung eingetroffen war. Hier sollte er auf seine Befragung warten. Seit er den Notruf gewählt hatte, war fast eine Stunde vergangen. Jonas fühlte sich elend. Die taube Leere, die sich nach dem ersten Schock eingestellt hatte, füllte ihn vollkommen aus und ließ alles um ihn herum unwirklich erscheinen: die Polizeifahrzeuge, die die Straße belagerten; die Nachbarn, die hinter der Absperrung standen und ihre Hälse reckten; ja selbst die Sperlinge, die jedes Mal aufflogen, wenn einer der weiß gewandeten Kriminaltechniker über Gottholds Grundstück ging.
Der Beginn einer Mordermittlung war nicht neu für Jonas, schließlich hatte er schon mehrmals mit der Polizei zusammengearbeitet. Aber noch nie war das Opfer jemand gewesen, der ihm nahestand.
»Sie haben Herrn Enschütz gefunden?«, hörte er plötzlich eine brummige Stimme. Erschrocken riss er den Kopf herum. In der Tür des Kleinbusses stand ein untersetzter Mann mit hellblauem Hemd und Streifenkrawatte. Er mochte um die fünfzig sein und schaute freudlos drein.
»Ja.« Jonas nickte.
»Dann würde ich Sie jetzt bitten, mir einige Fragen zu beantworten«, erklärte der Mann und ließ sich auf der gegenüberliegenden Sitzbank nieder. »Hauptkommissar Oertel, Kriminalpolizeiinspektion Erfurt«, stellte er sich vor und zog einen kleinen Notizblock aus seiner Hemdtasche. »Und Sie heißen?«
»Jonas Wiesenburg.«
Als Jonas den Namen ausgesprochen hatte, verharrte der Kommissar für einen Augenblick und sah ihn prüfend an. So, als hätte ihm die Antwort aus irgendeinem Grund missfallen. Dann machte er eine Notiz und fuhr in geschäftsmäßigem Ton fort: »Ihre Adresse?«
»Ich wohne auf der Krämerbrücke.« Jonas nannte die Hausnummer. Wieder kritzelte sein Gegenüber einen entsprechenden Vermerk auf seinen Block.
»Nun, dann erzählen Sie mir mal, wie Sie Herrn Enschütz gefunden haben«, sagte der Polizist und lehnte sich zurück.
Herrn Enschütz. Aus dem Mund des Kommissars klang Gottholds Nachname merkwürdig fremd. Jonas wurde schmerzlich bewusst, dass es den sympathischen alten Mann, zu dem er heute Vormittag aufgebrochen war, nicht mehr gab. Dass er jetzt ein Fall war.
»Ich kam kurz vor elf hier an«, begann er. »Nachdem ich mein Auto geparkt hatte, bin ich zum Haus gegangen. Ich habe mehrmals geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht.«
»Aha.« Der Kommissar sah auf. »Und dann?«
»Dann habe ich laut gerufen und probiert, ob die Haustür abgeschlossen ist. Das war sie nicht. Da bin ich reingegangen, in den Hausflur. Dort habe ich noch einmal gerufen, aber wieder umsonst.«
Der Kommissar zog die Brauen zusammen. »Machen Sie das immer so?«
»Was?«
»Einfach die Wohnung betreten, wenn niemand öffnet?«
»Ich war nicht in der Wohnung, ich war im Flur«, gab Jonas etwas ruppiger zurück als beabsichtigt. Der vorwurfsvolle Unterton, der im Einwurf des Kommissars mitgeschwungen hatte, ärgerte ihn. »Außerdem – der Mann ist dreiundachtzig. Ich dachte, er könnte vielleicht in Schwierigkeiten geraten sein.« Jonas senkte den Kopf und fügte leise hinzu. »War er ja auch …«
»Wie sind Sie denn darauf gekommen, ausgerechnet im Keller nachzusehen?«
»Mir ist aufgefallen, dass im Treppenabgang Licht brannte. Ich bin runter, weil ich dachte, Gotthold … Herr Enschütz werkelt dort herum und hat mich deshalb nicht kommen hören.« Jonas schwieg einen Moment. Schließlich fuhr er mit trockenem Mund fort. »Da habe ich ihn dann gesehen. Wie er da saß, auf dem Stuhl. Das war … grauenhaft.«
Oertel schrieb ein paar Zeilen auf seinen Notizblock. Dann fragte er: »Warum waren Sie überhaupt hier? Was wollten Sie von Herrn Enschütz?«
»Ich wollte ihm ein Geschenk vorbeibringen. Ein Reiseandenken aus Mexiko. Wir sind befreundet.«
»Sie waren in Mexiko?« Oertel beugte sich nach vorn.
»Ja. Fünf Wochen. Mit meiner Freundin.«
»Wann sind Sie zurückgekommen?«
»Gestern Abend.«
»Aha.« Der Kommissar schürzte die Lippen. »Ihre Freundin kann das bestätigen?«
»Ja, klar.« Der Mann denkt doch nicht etwa, ich hätte Gotthold umgebracht, überlegte Jonas. Zögernd erkundigte er sich: »Wissen Sie denn schon, wie lange Herr Enschütz da schon so … also, wie lange er schon tot sein könnte?«
Oertel ignorierte die Frage. »Ich brauche noch den Namen Ihrer Freundin. Und ihre Kontaktdaten.«
»Fenja Wolff. Die Adresse ist dieselbe wie bei mir.« Jonas diktierte dem Polizisten zusätzlich Fenjas Handynummer.
»Sie sagten, Sie waren mit Herrn Enschütz befreundet«, forschte der Beamte nach. »Seit wann kannten Sie ihn?«
»Seit ich mein Studium in Jena beendet habe und nach Erfurt auf die Krämerbrücke gezogen bin.« Jonas rechnete still. »Das ist jetzt knapp acht Jahre her. Herr Enschütz hatte damals auf der Brücke einen kleinen Zeitungsladen. Dort haben wir uns kennengelernt und mit der Zeit angefreundet. Als er das Geschäft vor drei Jahren altersbedingt aufgeben musste, hat er mir die Räume als Büro überlassen. Wir sind in Kontakt geblieben und haben uns öfter gegenseitig besucht.«
»Dann kennen Sie also seine näheren Lebensumstände?«
»Ja, schon.«
»Ist er verheiratet?«
»Das war er. Seine Frau hieß Marianne. Sie ist vor dreißig Jahren an Krebs gestorben. Seitdem lebte er allein.«
»Keine neue Beziehung?«
»Nein. Er hat immer gesagt, dass niemand auf der Welt seine Marianne ersetzen könnte. Dass er lieber für sich bliebe.« Jonas stockte, als ihm bewusst wurde, dass Gotthold nun seiner Frau nachgefolgt war. Und auf welche Weise.
»Hat Herr Enschütz Kinder?«, fragte der Kommissar weiter.
»Nein. Er und seine Frau konnten keine bekommen. Er war deswegen sehr bekümmert. Jedenfalls hatte ich jedes Mal diesen Eindruck, wenn es auf das Thema zu sprechen kam.«
»Aha.« Der Kommissar schob die Unterlippe vor. »Gibt es sonst jemanden, den wir kontaktieren können? Andere Angehörige?«
»Soweit ich weiß, war da niemand mehr.«
»Kennen Sie jemanden, mit dem er Streit hatte? Leute, die ihn nicht mochten?«
»Streit?« Jonas schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht dass ich wüsste. Er ist … Er war eine außerordentlich liebenswürdige Person. Kein Mensch, dem man böse sein konnte.«
»Hmmm.« Schweigend machte der Kommissar noch ein paar Notizen. Dann schob er seinen Schreibblock zurück in die Brusttasche seines Hemdes und brummte: »Gut. Dann sind wir hier fertig. Sollten wir noch Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen.« Er erhob sich und stieg aus dem Polizeibus.
»Warten Sie«, sagte Jonas schnell. »Wie geht es denn jetzt weiter?«
»Wie, weiter?«
»Was werden Sie unternehmen?«
»Nichts, worum Sie sich sorgen müssten. Wir machen unsere Arbeit.«
»Herr Oertel, ich möchte wissen, was mit Gotthold Enschütz passiert ist«, entgegnete Jonas und hob den Kopf. »Wenn ich dabei irgendwie helfen kann, dann würde ich das gerne tun.«
Oertel beugte sich noch einmal in die Kabine und sah Jonas an. »Wissen Sie was? Auf diesen Satz habe ich die ganze Zeit gewartet.«
»Wie bitte?« Jonas war verdutzt.
Im Gesicht des Beamten erschien wieder derselbe abschätzige Ausdruck wie vorhin, als Jonas seinen Namen genannt hatte. »Glauben Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind? Die Hälfte meiner Dienststelle hat Ihre Bücher über historische Kriminalfälle gelesen. Und mir ist auch bekannt, dass Sie hin und wieder als Geschichtsberater für das Landeskriminalamt arbeiten. Aber um es ganz klar und deutlich zu sagen«, Oertel deutete mit dem Finger auf Gottholds Haus, »dieser Fall spielt im Hier und Jetzt. Sie sind ein Zeuge, das ist alles. Mehr gibt es nicht für Sie zu tun.« Damit drehte er sich um und schritt in Richtung Haus davon.
2
Jonas saß gedankenversunken in der Wohnstube, als er plötzlich das rasselnde Geräusch eines Schlüssels hörte, der im Schloss der Eingangstür gedreht wurde. Fenja! Er sprang auf und eilte hinaus in den Flur. Seine Freundin kam ihm entgegen, und wie immer fielen sie sich zur Begrüßung in die Arme. Dann stellte Fenja ihren kleinen Rucksack ab und blickte Jonas neugierig an. Mit ihren langen dunklen Haaren, ihrer schlanken Figur und dem hellgrünen Sommerkleid sah sie bezaubernd aus, aber in ihrer Miene lag ein Zug von Sorge.
»Ist irgendetwas passiert?«, erkundigte sie sich. »Ich habe vorhin so einen komischen Anruf bekommen. Ein Kommissar Oertel wollte wissen, ob wir zusammen in Mexiko waren und wann wir zurückgekommen sind.«
»Oh. Das ging ja schnell«, entgegnete Jonas etwas verwundert.
»Du weißt also, worum es geht? Der Kommissar wollte nämlich nicht damit rausrücken. Ziemlich knurriger Typ. Als ich ihn gefragt habe, warum er das mit Mexiko wissen will, hat er nur gesagt, dass er einen Sachverhalt überprüfen muss.« Fenja hob den Kopf. »Jonas, was für ein Sachverhalt ist das?«
Jonas holte tief Luft. »Gotthold ist tot«, sagte er leise. »Jemand hat ihn umgebracht.«
»Was?« Einen Moment herrschte Schweigen. Dann fragte Fenja: »Woher weißt du das?«
»Ich habe ihn gefunden. Heute früh. Ich bin zu ihm gefahren, um ihm sein Geschenk zu bringen.« Jonas verzog schmerzvoll das Gesicht. »Er war im Keller. An einen Stuhl gefesselt.«
»Ach du Scheiße.«
»Kann man so sagen.«
»Das tut mir leid.« Noch einmal umarmte Fenja ihn, diesmal lange und fest. Dann löste sie sich behutsam und sagte: »Komm, wir gehen erst mal rein. Da erzählst du mir alles in Ruhe.«
Sie wechselten vom Flur ins Wohnzimmer und nahmen in den zwei Ledersesseln Platz, die dort in einer behaglichen Sitzecke nebeneinanderstanden. Jonas berichtete, wie er am Vormittag an Gottholds Haus zuerst vergeblich geklingelt und gerufen hatte und schließlich im Keller auf die Leiche seines betagten Freundes gestoßen war.
Als er seine Schilderung beendet hatte, zog Fenja bedrückt die Schultern zusammen. »Der arme Gotthold! So ein Ende hat er nicht verdient.«
»Nein, wahrlich nicht.« Jonas presste die Lippen zusammen, und er dachte darüber nach, wie viel er Gotthold zu verdanken hatte.
Nach seinem Geschichtsstudium war Jonas auf die Idee gekommen, mit Hilfe historischer Akten jahrhundertealte unaufgeklärte Kriminalfälle zu lösen und Bücher darüber zu schreiben. Der Erfolg seiner ersten Publikationen hatte ihn bestärkt, diesen Weg weiter zu beschreiten. Aber erst Gotthold war darauf verfallen, daraus etwas Größeres zu machen. Er hatte Jonas ermuntert, eine eigene Agentur zu gründen. Eine »Detektei für historische Ermittlungen«, die kriminalistische Geschichtsrecherchen für Museen, Stiftungen und Behörden anbot. Außerdem war der wohlwollende Pensionär bei den Vermietern dafür eingetreten, dass Jonas die Räume seines vormaligen Zeitungsladens auf der Krämerbrücke erhielt – und damit einen Standort, der nicht besser für eine Geschichtsagentur geeignet sein konnte. Seither herrschte an Aufträgen kein Mangel.
»Gotthold hat es immer gut mit dir gemeint«, sagte Fenja, als hätte sie Jonas’ Gedanken erraten. »Und er war freundlich zu allen.«
»Ja, zweifellos.«
»Ich verstehe das nicht. Wer bringt einen harmlosen alten Mann um? Und so brutal?«
»Darüber zerbreche ich mir schon den ganzen Nachmittag den Kopf«, erwiderte Jonas. »Dieses Bild werde ich nicht so schnell vergessen. Wie Gotthold da auf dem Stuhl saß, gefesselt und voller Wunden. Als hätte man ihn gezielt gefoltert. Das war keine spontane Tat.«
»Hat er dir wirklich nie etwas erzählt? Dass er mit irgendwem im Clinch lag? Dass es mal eine Auseinandersetzung gab?«
»Danach hat mich Oertel auch gefragt, als er meine Zeugenaussage aufgenommen hat. Aber ich konnte ihm nicht mehr sagen als jetzt dir – mir fällt niemand ein, mit dem Gotthold ein Problem gehabt hätte.«
Eine Weile schwiegen beide.
»Und der Anruf?«, fragte Fenja plötzlich.
»Welcher Anruf?« Jonas sah sie verständnislos an.
»Von Gotthold. Vor zweieinhalb Wochen. Als wir in Mexiko waren. Du hast damals gesagt, dass er dich dringend treffen wollte.«
»Ja, und …?« Das Telefonat hatte Jonas in seinem inneren Aufruhr komplett vergessen.
»Vielleicht hat er dich angerufen, weil er sich wegen irgendetwas Sorgen machte.« Fenja hob den Kopf. »Oder irgendwem.«
»Du meinst, er hat sich bedroht gefühlt?«
»Ist doch möglich.«
»Glaube ich nicht. Das hätte ich bemerkt.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja.«
Nein, das war er nicht. Jetzt nicht mehr. Krampfhaft versuchte sich Jonas die Einzelheiten des Telefongesprächs in Erinnerung zu rufen. Ohne Zweifel hatte der alte Mann den Eindruck vermittelt, dass das Treffen mit Jonas dringlich war. Aber hieß das auch, dass er sich in ernsten Schwierigkeiten befand? Nachdem Jonas ihm mitgeteilt hatte, dass er sich in Mexiko aufhielt, war Gotthold für einige Sekunden still geblieben. Aus Enttäuschung? Vor Sorge? Schwer zu sagen. Und seine Stimme? Hatte Angst darin gelegen? Die Telefonverbindung war nicht die beste gewesen. Außerdem hatte Jonas vor dem Busbahnhof von Veracruz gestanden, umgeben von einer quirligen Menschenmenge. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um auf Zwischentöne zu achten.
»Fenja, ich weiß es einfach nicht«, räumte er nach einer Weile ein. »Es fällt mir schwer, das jetzt noch zu beurteilen. Damals hatte ich nicht den Eindruck, dass etwas nicht in Ordnung wäre.«
»Wenn sein Anliegen harmlos war, warum hat er dir am Telefon nicht gesagt, worum es ging?«
»Vielleicht wollte er uns im Urlaub damit nicht nerven, rücksichtsvoll, wie er immer war. Außerdem hat Gotthold ungern telefoniert, du kennst ihn ja. Vielleicht glaubte er auch, das Gespräch mit Mexiko würde ihn zu viel Gebühren kosten. Wer weiß?« Ratlos hob Jonas die Schultern. »Und außerdem, wäre er von jemandem bedroht worden, hätte er sich doch direkt an die Polizei gewandt. Und nicht an mich.«
»Stimmt. Das klingt logisch.« Fenja nickte. Dann drückte sie Jonas sanft den Arm. »Sorry, vergiss es einfach. Ich wollte dich nicht noch zusätzlich verunsichern. Du hast heute schon genug mitgemacht.« Sie lächelte ihm aufmunternd zu. »Vertraue einfach auf dein Gefühl. Nach dem Gespräch mit Gotthold hast du damals keinen Grund zur Sorge gesehen. Dann gab es bestimmt auch keinen, und der Anruf hat nichts mit dem Mord zu tun.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht.« Jonas lehnte sich zurück und versuchte, an etwas anderes zu denken. Aber der Zweifel hatte sich einmal in seinem Kopf festgesetzt, und er würde ihm keine Ruhe lassen. Das wusste Jonas.
In diesem Moment meldete sich sein Smartphone.
Die Lichter der Stadt waren bereits aufgeflammt, und der Abendverkehr quälte sich zäh durch Erfurts Straßen. Jonas saß am Steuer des Land Rovers und versuchte, nicht daran zu denken, was ihm bevorstand. Der Anruf, den er am Nachmittag erhalten hatte, war vom Landeskriminalamt gekommen. Von einer Frau, die er seit Langem kannte. Anne Vareel. Eine Kommissarin, die ihn schon zweimal als Berater angeheuert hatte. Aber nun lagen die Dinge anders. Jetzt wollte sie ihn als Zeugen befragen, nachdem sie gerade zur leitenden Ermittlerin im Fall Gotthold Enschütz ernannt worden war. Vareel hatte darauf bestanden, diese Befragung am Tatort durchzuführen. Und sie hatte darum gebeten, dies noch heute Abend zu tun. Wie immer ließ die stringente LKA-Beamtin nichts anbrennen.
Als Jonas in die Straße einbog, in der das Anwesen des alten Mannes lag, kam es ihm vor wie ein Déjà-vu. Mit beklemmendem Beigeschmack. Denn diesmal wusste er, dass er zum Haus eines Toten fuhr.
Vor Gottholds Grundstück reihten sich noch immer ein halbes Duzend Polizeifahrzeuge aneinander. Jonas stellte den Land Rover hinter dem letzten Wagen ab und ging auf den Uniformierten zu, der seinen Posten am Gartentor bezogen hatte.
Der Polizist spähte ihm misstrauisch entgegen. Vermutlich hatte er heute schon etliche Schaulustige vertreiben müssen und war entsprechend genervt. Deshalb versuchte es Jonas mit einem entspannten Lächeln, was ihm angesichts der Umstände nur unvollständig gelang. »Hallo, mein Name ist Wiesenburg«, erklärte er. »Ich möchte zu Kommissarin Vareel. Sie erwartet mich.«
»Einen Moment bitte«, brummte der Beamte, griff nach seinem Funkgerät und gab Jonas’ Namen weiter. »Die Kollegin kommt raus«, knarzte es nach einer Weile aus dem Gerät.
»Frau Vareel kommt gleich zu Ihnen«, wiederholte der Uniformierte unnötigerweise und verfiel wieder in stoisches Schweigen.
Jonas sah sich um. Die Sonne war schon vor einer Weile untergegangen, und die Dämmerung vertrieb gerade das letzte Leuchten vom gelbroten Abendhimmel. In der herannahenden Nacht erschienen die Bäume auf Gottholds Anwesen wie düstere Wächter, die den Zugang zu einem unseligen Ort abschirmten. Einzig das entfernte Haus erstrahlte im kalten Licht der Flutscheinwerfer, die die Polizei für ihre Untersuchungen aufgestellt hatte.
Jonas hatte noch keine fünf Minuten gewartet, da trat die Kommissarin aus dem Gebäude und kam mit eiligen Schritten auf ihn zu. Das kurz geschnittene dunkelblonde Haar und der marineblaue Hosenanzug verliehen der Mittvierzigerin das Aussehen einer Geschäftsfrau, und ihr durchdringender Blick verriet eine wache Intelligenz.
»Jonas, schön, dass Sie kommen konnten«, begrüßte sie ihn und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Es tut mir leid, dass der Grund für unser Wiedersehen ein so trauriger ist.«
»Ja, ich hätte mir auch einen angenehmeren Anlass gewünscht«, entgegnete Jonas und gab der LKA-Frau die Hand.
»Ich weiß, wie gut Sie Gotthold Enschütz kannten.« Anne Vareel sah Jonas mitfühlend an. »Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist.«
»Ja.« Jonas holte tief Luft. Dann fragte er: »Wie kann ich Ihnen denn helfen?«
»Sie haben dem Kollegen Oertel heute Mittag erzählt, dass Sie schon öfter bei Enschütz zu Besuch waren. Sie kennen also seine Wohnung.«
»Mehr oder weniger. Wir haben uns manchmal auf einen Kaffee hier getroffen.«
»Prima. Ich möchte nämlich, dass Sie sich jetzt noch einmal für uns umschauen. Dass Sie nachsehen, ob im Haus etwas Wichtiges fehlt. Oder ob Ihnen sonst irgendeine Veränderung auffällt.«
»Puh. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dafür wirklich der Richtige bin. So genau kenne ich das Haus auch wieder nicht«, gab Jonas zu bedenken. Außerdem graute es ihm davor, noch einmal in das Gebäude zurückzukehren, in dem er vor nicht einmal zehn Stunden Gottholds Leiche gefunden hatte. Aber das sagte er nicht.
»Versuchen Sie es bitte«, beharrte die Kommissarin. »Gotthold Enschütz hat nach unseren bisherigen Informationen sehr zurückgezogen gelebt. Sie sind im Moment der Einzige, von dem wir glauben, dass er uns vielleicht weiterhelfen kann.«
»In Ordnung.« Jonas nickte still und sah hinüber zu dem kleinen Giebelhaus. »Dann bringen wir es hinter uns.«
»Danke.« Anne Vareel lächelte kurz, dann ging sie voran.
Auch das Innere des Hauses war hell erleuchtet, und die Türen zu den einzelnen Zimmern standen weit offen. Als Jonas das Foyer durchquerte, verstärkte sich das ungute Gefühl, das ihn schon auf seiner Fahrt hierher begleitet hatte.
Anne Vareel drehte sich zu ihm um. »Wir beginnen am besten im Wohnzimmer. Das hat die KT schon freigegeben«, sagte sie.
Jonas nickte, aber sein Blick wanderte wie automatisch ans Ende des Flurs. Hin zu der Tür, die zum Keller führte. Aus dem Treppenabgang schien kaltweißes Strahlerlicht in den Vorraum, und von unten drangen gedämpfte Stimmen herauf.
»Ist Gotthold noch … Ist er noch da unten?«, fragte Jonas.
Anne Vareel, die seinem Blick gefolgt war, schüttelte den Kopf. »Nein. Sie haben ihn heute Nachmittag nach Jena in die Rechtsmedizin gebracht. Die Kollegen sind jetzt dabei, die restlichen Spuren zu sichern.«
»Aha.« Jonas atmete erleichtert durch.
»Bitte.« Die Kommissarin deutete auf den Eingang zum Wohnzimmer. »Sehen Sie sich drinnen um. Und lassen Sie sich dabei Zeit. Achten Sie auf alles, was Ihnen vielleicht verändert vorkommt.«
Jonas trat in die quadratische Wohnstube und blieb stehen. Langsam ließ er seine Augen über die Einrichtung schweifen. Über den großen runden Tisch mit den geschwungenen Holzstühlen. Das ausladende Biedermeiersofa. Die düster-romantischen Ölgemälde, die allesamt thüringische Landschaften zeigten. Und schließlich die altertümliche Glasvitrine, in der Gottholds Nippes-Sammlung untergebracht war. Dicht an dicht drängten sich darin Porzellanfiguren, Schneekugeln, Keramiktiere und Zinnsoldaten. Originelle Stücke mischten sich mit haarsträubendem Kitsch. »Mein kleines Weltpanoptikum« hatte Gotthold seine Sammlung immer genannt und dabei schelmisch gegrinst. Hier hätte auch der kleine mexikanische Tukan einen Platz gefunden, dachte Jonas betrübt. Inzwischen befand sich die Geschenkbox wieder bei ihnen zu Hause auf der Krämerbrücke, ungeöffnet und fürs Erste beiseitegestellt.
»Haben Sie etwas entdeckt?«, unterbrach die Kommissarin seine Gedanken.
»Nein, bisher noch nicht.« Jonas zuckte die Schultern. »Es ist alles an seinem Platz.« Er ging einige Schritte weiter und sah sich wieder um. Plötzlich blieb sein Blick an der polierten Deckfläche einer Kommode hängen. »Die Armbanduhr fehlt«, sagte er und zeigte auf eine flache Holzschale, die dort neben einem Fotorahmen mit dem Bild von Gottholds Frau stand. »Die hat immer dort gelegen. In der Schale.«
»Eine Armbanduhr? Hat er die nicht getragen?«
»Es war die Uhr seiner Frau Marianne. Nach ihrem Tod hat Gotthold sie zur Erinnerung behalten. ›So habe ich das Gefühl, Mariannchen ist immer noch bei mir und kommt jeden Moment zur Stubentür herein‹, hat er immer gesagt.«
»Können Sie die Uhr beschreiben?«
»Klein und rund. Goldfarbenes Gehäuse, braunes Lederband …« Jonas überlegte. Dann fügte er hinzu: »Sie hatte eine Gravur. Auf der Rückseite. Gotthold hat sie mir einmal gezeigt.«
»Erinnern Sie sich noch, was für eine Gravur das war?«
»Die Initialen ihrer beiden Vornamen. M und G. Und der Hochzeitstag. Das Datum habe ich vergessen.«
»Kein Problem. Das ist ja amtlich registriert«, meinte Anne Vareel und tippte eine Notiz in ihr Smartphone. »Fehlt sonst noch etwas? Fernseher, Hifi-Anlage? Vielleicht ein Laptop? Wir haben nichts Derartiges gefunden.«
»Kein Wunder. Gotthold besaß nichts von alledem. Da war er sehr altmodisch. Er hatte nur einen Plattenspieler, den er manchmal aus der Kommode geholt hat, und ein Kofferradio in der Küche. Außerdem ein Festnetztelefon.«
»Die Sachen haben wir gesehen. Das ist alles noch da.« Die Kommissarin schmunzelte freudlos.
»Dann weiß ich weiter nichts.« Jonas hob zögerlich die Schultern. Das Herumstöbern in Gottholds Heim bereitete ihm Unbehagen. Schließlich erkundigte er sich: »Sind wir fertig?«
»Noch nicht ganz.« Anne Vareel trat hinaus in den Flur. »Kommen Sie mit. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Ohne abzuwarten, ging sie ein Stück den Gang hinunter und bog dann in das Zimmer, das direkt an die Wohnstube angrenzte. Gottholds Bibliothek, wie Jonas wusste. Er folgte der Polizistin und betrat den Raum. Das Interieur wirkte schwer und dunkel, was an den riesigen Bücherregalen lag, die drei komplette Wände einnahmen. Gotthold hatte das Lesen geliebt, und so waren sämtliche Fächer dicht an dicht mit Bänden gefüllt.
Plötzlich hielt Jonas in der Bewegung inne. In der Mitte der rechten Regalfront klaffte eine ungefähr vierzig Zentimeter breite Lücke. Und auf dem Fußboden darunter entdeckte er mehrere wild übereinandergeworfene Bücher. Fragend blickte er zu Anne Vareel. »Das Durcheinander da unten – waren das Ihre Leute?«
»Nein, das haben wir exakt so vorgefunden.« Die Kommissarin deutete auf die Lücke im Regal. »In der Wand dahinter befindet sich ein Tresor. Die Bücher haben ihn ursprünglich verdeckt. Wussten Sie darüber Bescheid?«
»Nein. Davon hatte ich keine Ahnung«, antwortete Jonas verblüfft. Neugierig trat er näher. In der Mauer hinter dem Regal gewahrte er eine etwa zwanzig mal zwanzig Zentimeter große Stahltür mit Zahlenschloss. Sie war an der Außenseite mit der gleichen beigen Farbe gestrichen wie die Wand ringsum. In geschlossenem Zustand wäre sie selbst ohne den Schutz der Bücher kaum aufgefallen. Jetzt jedoch stand sie offen, und der Metallkasten im Mauerwerk schimmerte schwarz und leer. »Ein geheimer Tresor. Verrückt.« Er beugte sich vor. »So etwas hätte ich Gotthold gar nicht zugetraut.«
»Haben Sie irgendeine Idee, was er darin aufbewahrt haben könnte?«
»Überhaupt nicht.« Jonas schüttelte den Kopf und musterte das verborgene Metallfach. »Wie ausgeputzt. Der Mörder hat offensichtlich alles mitgenommen.«
»Das stimmt nicht ganz.« Anne Vareel verschwand im Flur und kehrte mit einem durchsichtigen Beweismittelbeutel zurück. »Das hier lag leer am Boden vor dem Tresor.«
Jonas betrachtete den Gegenstand in dem Beutel. Es handelte sich um ein kleines flaches Kästchen aus dunklem Holz. Seine Oberfläche war fleckig und abgegriffen, und nur mit Mühe konnte Jonas die Reste verschlungener Ornamente erahnen, die einmal den Deckel geschmückt hatten. »Die Schatulle ist alt«, stellte er fest.
»Deswegen hat sie der Täter vermutlich auch weggeworfen«, entgegnete die Kommissarin.
»Ich meine, richtig alt.« Jonas sah Anne Vareel an. »Mehrere hundert Jahre, würde ich sagen.«
»Wirklich?« Ungläubig hob sie das Kästchen vor ihre Augen. »Für mich sieht das aus wie eine ausgediente Zigarrenkiste. Der Täter dachte vermutlich das Gleiche. Aber Sie sind der Experte.«
»Die Färbung des Holzes, die Art der Verzierung … Das ist antik, ohne jeden Zweifel.« Jonas wiegte den Kopf. »Natürlich müsste man sich das noch einmal ganz genau ansehen. Am besten in einem Labor. Aber ich bin mir jetzt schon sicher – das hier stammt nicht aus unserer Zeit. Es würde mich brennend interessieren, was Gotthold darin aufbewahrt hat.«
»Uns auch, da können Sie sicher sein. Aber es hilft nichts. Der Täter hat es mitgenommen. Was auch immer es war.«
Einen Augenblick herrschte Stille.
»Denken Sie, deshalb wurde Gotthold so zugerichtet?«, fragte Jonas dann. »Weil der Mörder wissen wollte, wo der Tresor versteckt ist? Und der Inhalt dieses Kästchens? Das würde bedeuten, dass er vorher von dessen Existenz wusste.«
»Wir können nicht sagen, ob der Täter gezielt danach gesucht hat.« Die Kommissarin ließ die Hand mit dem Beweismittelbeutel sinken. »Vielleicht wollte er einfach nur wissen, wo Gotthold Enschütz seine Wertgegenstände aufbewahrte. Und als der das nicht freiwillig sagen wollte, hat es der Täter mit Gewalt aus ihm herausgepresst.« Sie hob die Schultern. »Oder die Täter.«
Noch einmal blitzte in Jonas’ Kopf das Bild des geschundenen Toten auf. »Eins verstehe ich nicht«, sagte er ernst. »Warum war so viel Aufwand nötig, um Gotthold zum Reden zu bringen? Wieso musste man ihn erst in den Keller schaffen, an einen Stuhl fesseln und brutal quälen? Ein dreiundachtzigjähriges, schmächtiges Männchen.« Er wandte sich zu der Lücke im Regal um und betrachtete die gähnende Stahltür. »Was auch immer in diesem Tresor eingeschlossen war – es muss Gotthold enorm viel bedeutet haben, wenn er das Versteck erst unter schlimmsten Schmerzen preisgegeben hat.«
Anne Vareel schwieg, und Jonas spürte, dass sie über das Gesagte nachdachte. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er der Kommissarin von Gottholds Anruf in Mexiko berichten sollte, ließ es dann aber bleiben. Für einen Zusammenhang gab es keine konkreten Anhaltspunkte, und Anne Vareel hielt sich ausschließlich an Fakten, das wusste er von ihren früheren Begegnungen. Deshalb fragte er nur: »Haben Sie noch etwas für mich zu tun?«
»Gibt es hier noch Räume, die Ihnen von früheren Besuchen her vertraut sind?«, erkundigte sich die LKA-Frau.
»›Vertraut‹ ist übertrieben. Ich war ein paarmal in der Küche.« Er schmunzelte unbeholfen. »Und auf der Toilette.«
»Würden Sie dann bitte …?«
»Klar.« Jonas verließ die Bibliothek und sah sich in den beiden Räumen um. Dann kehrte er ins Foyer zurück, wo die Kommissarin auf ihn wartete. »Da ist nichts, was mir aufgefallen wäre«, berichtete er.
»In Ordnung.« Anne Vareel nickte langsam. »Dann sind wir hier fertig.«
»Ich kann also gehen?«
»So ist es.« Sie sah auf. »Danke, dass Sie bereit waren, uns zu helfen, Jonas.«
»Das war das Mindeste, was ich für Gotthold tun konnte.« Er gab der Kommissarin die Hand. »Wer auch immer ihm das angetan hat – ich hoffe, Sie kriegen ihn.« Damit drehte er sich um und ging zur Haustür.
»Eine Frage hätte ich doch noch«, hörte er die Kommissarin plötzlich sagen.
Er verharrte und drehte sich um. »Ja?«
»Sagt Ihnen der Name Volker Rudloff etwas?«
»Volker Rudloff? Nein.« Jonas schüttelte verdutzt den Kopf. »Den Namen habe ich noch nie gehört. Warum?«
»Ist nicht wichtig.« Anne Vareel winkte ab, und die Geste hatte etwas Endgültiges. »Kommen Sie gut nach Hause.«
Jonas öffnete die Tür und verließ das Haus. Als er durch den nachtschwarzen Garten zur Straße ging, sann er über die letzte Frage der Ermittlerin nach. Und darüber, ob sie vielleicht mehr über Gottholds Tod wusste, als sie ihm verraten hatte.
3
Die Bäume rauschten leise im Wind, und die Sonnenstrahlen, die durch ihre Kronen drangen, zeichneten tanzende Lichtflecken auf den Boden. Ein Hauch von Kühle mischte sich in das freundliche Septemberwetter und kündigte das nahende Ende des Sommers an. Jonas und Fenja gingen durch die weitläufige Parklandschaft des Erfurter Hauptfriedhofs. Drei Wochen waren verstrichen, seit Jonas Gottholds Leiche gefunden hatte. Heute würde man den Dreiundachtzigjährigen hier in einem anonymen Rasengrab beerdigen. Eine schlichte Bestattung ohne Trauerfeier und Zeremonie. So hatte es Gotthold schon vor Jahren bestimmt und sämtliche Auslagen im Voraus bezahlt. Anne Vareel war so freundlich gewesen und hatte Jonas über den Termin informiert, nachdem der Leichnam von der Staatsanwaltschaft freigegeben worden war.
»Ich glaube, da drüben ist es«, sagte Fenja und deutete nach rechts. Hinter einem Baumstreifen zeichneten sich drei eng beieinanderstehende Personen ab, die neben einem Bestattungsfahrzeug warteten.
»Ja, sieht so aus.« Jonas sah auf das Blumengesteck, das er im linken Arm hielt, und schluckte. In den letzten Tagen hatte er es geschafft, sich mit Arbeit abzulenken und die Gedanken an den Mord wenigstens zeitweise beiseitezuschieben. Aber jetzt war die bedrückende Erinnerung mit voller Wucht zurückgekehrt. »Dann gehen wir mal rüber.«
Jonas spürte, wie ihm Fenja ermutigend die Hand drückte. Sie bogen auf einen kleinen Weg ab, der zwischen den Bäumen hindurchführte, und hielten auf das schwarz glänzende Fahrzeug zu. Auf den letzten Metern kam ihnen eine etwa dreißigjährige Frau mit kurzen hennagefärbten Haaren entgegen. Sie trug ein anthrazitfarbenes Kostüm, und ihre Miene zeigte eine professionelle Ernsthaftigkeit.
»Frau Wolff und Herr Wiesenburg?«, fragte sie und gab ihnen, ohne eine Antwort abzuwarten, die Hand.
Jonas und Fenja nickten.
»Ich bin Frau Jugelt vom Beerdigungsinstitut Jugelt & Bunge.« Sie lächelte knapp. »Sie sind die beiden Bekannten von Herrn Enschütz, nicht wahr? Jemand von der Polizei hat Bescheid gesagt, dass Sie der Bestattung gern beiwohnen möchten. Mein herzliches Beileid.« Geschäftsmäßig setzte sie hinzu: »Wir würden dann auch gleich beginnen.«
»Kommt denn sonst niemand?«, erkundigte sich Jonas, der gesehen hatte, dass der Rest der Trauergemeinde lediglich aus zwei jungen Männern bestand, deren Bekleidung sie als Angestellte des Friedhofs auswies.
»Nein. Herr Enschütz hat für seinen Heimgang nur die Grundausstattung ohne Begleitung gewählt. Er hatte ja auch keine Angehörigen mehr.«
Jonas warf Fenja einen beklommenen Blick zu, während die Bestatterin zum offenen Heck des Leichenwagens ging und eine nachtblaue Urne heraushob. Dann schritt sie mit gemessenen Bewegungen in die Mitte der angrenzenden Wiesenfläche und blieb vor einer kleinen Grube stehen, deren Rand mit einer Kunstrasenmatte eingefasst war. Sie verharrte einige Sekunden reglos, dann senkte sie die Urne an zwei dünnen Drahtschnüren in das runde Erdloch hinab. Wieder ließ sie einige Sekunden verstreichen. Danach verbeugte sie sich, trat zur Seite und nickte Jonas und Fenja zu.
Jonas holte tief Luft. Zeit, Abschied zu nehmen.
Seite an Seite mit Fenja trat er vor das offene Urnengrab. Behutsam legte er das Blumengesteck daneben ab. Statt einer Trauerschleife hatten sie den kleinen mexikanischen Tukan daran befestigt. Jetzt leuchtete sein bunt bemalter Schnabel hell im Sonnenlicht.
Jonas schmunzelte bedrückt. Dann blickte er in den schmalen runden Schacht, auf dessen Grund die Urne stand. »Mach’s gut, Gotthold«, murmelte er. »Was auch immer dir widerfahren ist, ich hoffe, jetzt findest du Ruhe. Danke für alles. Du warst ein toller Freund.«
Jonas griff in den kleinen Hügel mit schwarzer Erde, der etwas abseits des Grabes aufgeschüttet war, und warf eine Handvoll davon auf die Urne. Fenja tat es ihm nach. Dann blieben sie noch eine Weile still am Grab stehen.
Der Wind frischte auf und ließ die Grashalme der Wiese hin- und herwogen wie sanfte Wellen auf einem See, während aus den Kronen der umstehenden Bäume leises Vogelgezwitscher herüberdrang.
Gerade als Jonas zum Weg zurückkehren wollte, beugte sich Fenja dicht an sein Ohr und flüsterte: »Hat Anne Vareel dir gesagt, dass sie einen Kollegen aus dem Ermittlungsteam zur Beerdigung schicken will?«
»Nein.« Jonas zog die Brauen zusammen. »Wie kommst du jetzt darauf?«
»Weil dort drüben bei den hohen Büschen jemand steht und uns beobachtet.« Ohne hinzusehen, deutete sie nach rechts. »Ein Mann in dunklen Klamotten. Mit einer Kamera.«
Jonas beugte sich zurück und blickte in die angezeigte Richtung. Etwa sechzig Meter entfernt wogte eine dichte Buschgruppe im Wind. Aber er konnte beim besten Willen niemanden entdecken. Die Wiese neben den Büschen war leer.
»Da ist keiner«, sagte er leise. »Kann es sein, dass du dich getäuscht hast?«
Fenja drehte sich um und sah ebenfalls zu den Büschen. »Merkwürdig. Ich bin mir ganz sicher. Gerade stand dort noch jemand und hat uns fotografiert. Mit einem Teleobjektiv. Ein Mann.«
»Konntest du sein Gesicht erkennen?«
»Nein. War ja versteckt hinter der Kamera.«
»Jetzt ist er jedenfalls weg.« Jonas hob die Schultern. »Gut möglich, dass das LKA einen Mitarbeiter geschickt hat, um die Beerdigung zu observieren. Oder es ist jemand von der Presse gewesen.« Er schaute sich noch einmal sorgfältig um. »Wer auch immer das war – inzwischen wird derjenige gemerkt haben, dass hier nicht viel zu holen ist.«
»So wird es sein.« Fenja nickte. Dann senkte sie den Kopf in Richtung der Erdgrube. »Adieu, Gotthold.«
Sie verabschiedeten sich von der Bestatterin und gingen wieder auf dem Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. An dem Baumstreifen blieben sie noch einmal stehen und blickten zurück. Der Bestattungswagen rollte gerade davon, und die beiden Friedhofsangestellten trotteten mit Schaufel und Rechen zur Grabstelle. Sie rollten die Kunstraseneinfassung zusammen und begannen damit, das Urnenloch mit Erde zuzuschütten. Jede ihrer Bewegungen verriet hundertfache Routine.
Ein einsames Bild, dachte Jonas.
»Lass uns gehen«, sagte er leise zu Fenja.
Hand in Hand und in Schweigen versunken, liefen sie bis zu dem nordöstlich gelegenen Hauptportal und verließen den Friedhof. Dann bestiegen sie eine Straßenbahn in Richtung Stadtzentrum. Der quirlige Betrieb in dem dicht besetzten Waggon, die durcheinanderrufenden Kinder und die mit Einkaufstaschen bepackten Erwachsenen, das Drängeln, Lachen, Schimpfen und Fluchen, all das empfand Jonas heute als angenehm. Es versprühte eine Atmosphäre der Normalität, und die war ihm nach dem stillen Abschied von Gotthold mehr als willkommen. Die Stadt mit ihrer Kraft und Lebendigkeit zog ihn und Fenja mit einer unprätentiösen Zwangsläufigkeit zurück ins Leben.
Die Fahrt dauerte nur etwas mehr als zehn Minuten. Sie stiegen am Domplatz aus und warfen einen Blick den Hügel hinauf, wo Dom und Severikirche mit ihren Türmen dem Himmel zustrebten. Das mächtige Gebäudeensemble thronte erhaben und gleichermaßen vertraut über den Dächern Erfurts. Ein unerschütterlicher Hort der Zeiten, der Gegenwart und ferne Vergangenheit ganz selbstverständlich vereint, dachte Jonas wie so oft, wenn er hier stand. Heute hatte dieser Gedanke etwas zutiefst Tröstliches. Eine Weile sogen sie die Wirkung des mächtigen Domberges in sich auf, dann ließen sie den Platz hinter sich und bogen in eine Straße, die weiter hinein in die historische Innenstadt führte. Nur ein paar Minuten später erreichten sie ihr Domizil auf der Krämerbrücke.
Als Jonas die bemalte Haustür aufgeschlossen hatte, die in den Treppenaufgang zu ihrer Wohnung führte, tippte Fenja ihn an und deutete auf den Briefkasten. Aus dem Schlitz ragte ein dicker Papierstapel. »Viel Post heute«, sagte sie.
»Viel Werbung«, entgegnete Jonas, der eine Reihe von Anzeigenblättern erkannte.
»Nicht nur.« Fenja öffnete den Kasten und fing die herausrutschende Papierflut auf. Dann sortierte sie die Werbezeitungen aus. Übrig blieben vier Briefe. »Alles Rechnungen«, murmelte sie, während sie die Absender überflog. Doch beim Blick auf den letzten Umschlag hielt sie überrascht inne. »Nein, halt. Das hier ist was Offizielles.« Sie sah fragend auf. »Vom Amtsgericht. Für dich.«
»Oh. Zeig mal her.« Jonas nahm den Brief und öffnete den Umschlag. Neugierig überflog er den Text auf den drei dünnen Papierblättern. »Gottholds Testament ist eröffnet worden«, erklärte er dann. »Das hier ist das Protokoll. Und eine Kopie seiner Verfügung.«
»Und?«
»Sein Erbe soll einer gemeinnützigen Stiftung zugutekommen, die sich um die Erhaltung der Krämerbrücke kümmert. Um die Pflege der alten Fachwerkbauten.« Jonas zuckte mit den Schultern. »Aber das wusste ich bereits. So hatte es Gotthold damals schon entschieden, als er seinen Laden aufgegeben hat.«
»Warum dann dieses Schreiben? Was hast du damit zu tun?«
»In seinem Testament gibt es zwei Ausnahmen. Dinge, die ich bekommen soll.«
»Aha.« Fenja hielt den Kopf schräg. »Das klingt jetzt aber spannend. Und worum handelt es sich dabei?«
»Ich habe keine Ahnung. Das Erste ist der Inhalt des Tresors in Gottholds Bibliothek. Genaueres wird hier nicht ausgeführt. Aber was immer es sein mag – der Mörder hat es mitgenommen.«
»Und das Zweite?«
»Ein versiegelter Brief.« Jonas blickte Fenja nachdenklich an. »Er ist bei einer Notarin hinterlegt.«
4
Schon als er in die Pflasterstraße bog, in der sein Ziel lag, spürte Jonas etwas von der gediegenen Noblesse des Quartiers. Hier, am südlichen Rand der Altstadt, schien der Trubel, der Erfurts Zentrum ansonsten erfüllte, wie ausgeblendet. Hinter schmiedeeisernen Zäunen und gepflegten Hecken reihten sich sorgfältig restaurierte Jugendstilvillen aneinander. Ab und zu blitzte zwischen den Grundstücken das ruhig dahinfließende Wasser des Flutgrabens hindurch, der die Gebäudekette wie ein gleichmütiger Freund begleitete.
Es war Dienstagmorgen. Am Tag zuvor hatte Jonas in dem Notariat angerufen, in dem laut Gottholds Testament ein Brief für ihn hinterlegt war. Der Bürovorsteher hatte ihm nach kurzer Rücksprache mit der Notarin für heute einen Termin angeboten. Und dieser Termin begann in weniger als zehn Minuten.
Jonas beschleunigte seine Schritte und ließ seine Augen über die Nummern an den Häuserwänden und Eingängen gleiten. Die gesuchte Adresse konnte nicht mehr weit sein. Mit jedem Meter wuchs die Unruhe in ihm. Eine Mischung aus Neugier und diffuser Besorgnis, die in ihm rumorte, seit er die Benachrichtigung vom Amtsgericht erhalten hatte. Wieder und wieder fragte er sich, was Gotthold ihm auf diese ungewöhnliche Weise zukommen lassen wollte.
Tatsächlich dauerte es nicht mehr lange, da entdeckte er auf einer Messingtafel an einem Torpfeiler die gesuchte Hausnummer. Unter den Ziffern prangte das Thüringer Landeswappen. Daneben ein nüchtern-sachlicher Schriftzug.
Jennifer Lohmann. Notarin.
Jonas betrat das Grundstück. Ein Kiesweg führte zwischen zwei Buchsbaumreihen auf eine weiß verputzte Villa zu, deren Fenster und Eingang mit verschnörkelten Sandsteinreliefs eingefasst waren. Links neben der dunkel gebeizten Holztür entdeckte er einen Klingelknopf. Er zog sein Smartphone aus der Tasche und überprüfte das Display. Drei Minuten vor dem verabredeten Termin. Perfekt.
Er steckte das Telefon zurück und drückte die Klingel. Ein tiefes Schnarren ertönte. Schnell drückte er die Tür auf und trat ein.
Er fand sich in einem großen, aber schlicht gehaltenen Vestibül wieder, von dem links und rechts Flure abgingen. Aus einer Zimmertür vis-à-vis kam ihm ein klein gewachsener Mann in makellosem grauem Anzug entgegen. Sein Alter war schwer zu schätzen, und seine Gesichtszüge strahlten eine fast aristokratische Würde aus.