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Ein brillant recherchierter psychologischer Spannungsroman Als Privatermittler Werner Holland zu ahnen beginnt, dass sein jüngster Auftrag aus dem Ruder läuft, ist es bereits zu spät: Die russische Botschaftsangestellte Alina, die er eigentlich beschützen soll, richtet plötzlich eine Waffe auf ihn. Sie beschuldigt ihn eines lange zurückliegenden Mordes – begangen an ihrem Bruder, einem jungen sowjetischen Deserteur. Für Holland beginnt ein Psychoduell auf Leben und Tod. Und eine Reise in eine andere Zeit, als er noch Kommandeur einer Anti-Terror- Einheit der DDR war, die offiziell nicht existierte . . .
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Seitenzahl: 528
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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Lothar Strüh
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-002-0
Roman
Originalausgabe
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Für meine Frau Yvonne,
PROLOG
Wald bei Nerownaja Poljana, Sowjetunion, 1974
Die Wölfe waren noch da. Irgendwo, unsichtbar, aber nicht sehr fern. Das wusste Lina genau. Auch wenn sie im Moment keinen von ihnen ausmachen konnte. Sie kannte die Wölfe. Sie verschwanden nicht einfach. Wenn sie einmal hier herübergekommen waren, dann hungerten sie, sonst hätten sie sich nicht so weit herangetraut. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Ihr kleiner Bruder war verschwunden. Sie hatten die Zeit vergessen im Wald. Und dann war von einem Augenblick auf den anderen alles durcheinandergeraten, und sie hatten sich verloren. Obwohl Lina nun schon eine Weile wie von Sinnen nach ihm suchte, konnte sie ihn nirgendwo entdecken.
»Alexej!« Mit Tränen in den Augen kämpfte sich das elfjährige Mädchen durch den morastigen Birkenwald. Die Nachmittagssonne hatte sich schon vor einer Weile verzogen, und der graublaue Himmel wurde immer schwerer. Fahrig wischte sich Lina über das Gesicht. Sie war die große Schwester. Sie musste ihren Bruder finden. Er war doch erst sieben. »Wo bist du?«, schrie sie immer wieder verzweifelt heraus. »Alexej!«
Sie erhielt keine Antwort. Nur das Pfeifen des Windes war zu hören. Obwohl die heftigsten Böen von den Baumkronen aufgefangen wurden, stob ihr ein boshafter Luftzug entgegen.
»Alexej!«
Während sie voranstürmte, fluteten die Bilder der letzten halben Stunde durch ihren Kopf. Sie war mit ihrem Bruder zwischen den Bäumen herumgetobt. Und so hatte sie die Anzeichen zu spät bemerkt. Das ferne Hecheln und Fauchen. Es war in ihrem Lachen und im Rauschen der Blätter untergegangen. Nur durch puren Zufall hatte ihr Blick die graubraunen Schemen gestreift, die ein ganzes Stück hinter ihnen durch das Unterholz schnellten. Immer hin und her, nie direkt voran, aber trotzdem zielstrebig. Als wollten sie eine Linie markieren, hinter die es kein Zurück gab. Wölfe, das wusste sie sofort. Nur dass Lina hier keine erwartet hatte, nicht um diese Zeit. Es waren vier oder fünf, wahrscheinlich das Elternpaar und einige Jährlinge.
Lange hinzuschauen hatte sie nicht gewagt. Alexej war sofort losgerannt und Lina auch. Nur fort, ehe das Rudel sie einkreiste. Noch war der Abstand einigermaßen groß gewesen. Vielleicht, hatte Lina gedacht, konnten sie ihnen entwischen. Zu spät hatten sie ihren Fehler entdeckt. Sie waren in die falsche Richtung gelaufen.
Plötzlich war überall Wasser gewesen. Schwarze Gräben und Tümpel, die sich zwischen den Bäumen ausbreiteten und mit Linsen und fauligem Laub tarnten. Großvater Timofej hatte sie vor diesem Teil des Waldes gewarnt. Hier begann das Reich der Plutowka. Der heimtückische Strom hatte von den Menschen, die hier lebten, nicht umsonst den Namen »Die Schwindlerin« erhalten. Mit ihren verborgenen Zuflüssen und Nebenarmen griff sie wie mit Spinnenhänden in die Wälder hinein. Tauchte hier auf und verschwand dort. Wechselte und täuschte. Niemand wusste, wo ihre Finger gerade entlangschlichen. Den kleinen Bach, der sich so unschuldig zwischen sie und ihren Bruder geschoben hatte, hatte Lina erst bemerkt, als er zu einem sumpfigen Graben angewachsen war. Nicht so schlimm, hatte sie gedacht, nur weiterlaufen und ihren Verfolgern entkommen. Der Graben würde bald enden, dann wären sie wieder vereint. Doch der Graben endete nicht. Stattdessen teilte er sich und teilte sich erneut, und seine Abkömmlinge strebten gierig auseinander. Der Abstand zwischen Lina und Alexej hatte sich immer weiter vergrößert, bis er schließlich unüberwindbar gewesen war. Auf einmal hatte sie ihren Bruder hinter einer Wand aus Bäumen und Sträuchern aus den Augen verloren, und die Rufe des Jungen waren vom Rauschen des Waldes verschluckt worden. Da hatte sie haltgemacht und war wie wild zurückgerannt.
Vor Furcht und Anstrengung zitternd, erreichte Lina schließlich die Stelle, an der der Bach ihre Wege geschieden hatte. Ihr Atem ging noch immer stoßweise, während sie sich mehrmals um sich selbst drehte und ins dämmrige Unterholz spähte. Die Wölfe waren nicht zu sehen. Sie blieben auf Abstand. Bestimmt hatte ihr feiner Instinkt die Tiere gewarnt. Die Plutowka fürchteten selbst sie.
Lina sprang über den Bachlauf, der hier vorn noch ganz schmal war, und folgte der Richtung, die ihr Bruder nach ihrer Trennung genommen hatte.
»Alexej!«
Unbeirrbar stapfte sie vorwärts. Die Sorge um ihren Bruder nahm sie vollends gefangen. Wo war er nur? Sie hätte ihn längst einholen müssen …
Es wurde dunkler und dunkler. Die Büsche verschwammen zu menschlichen Konturen und gaukelten ihr falsche Hoffnungen vor. Sie kam immer langsamer voran. Zudem stahl ihr die Dämmerung die Zeit.
Was sollte sie tun? Zurück ins Dorf laufen? Den Großeltern sagen, was geschehen war? Großvater Timofej würde die Nachbarn zusammenrufen. Alle würden kommen und bei der Suche helfen. Sie wäre nicht mehr allein. Aber das würde viel zu lange dauern. Bis dahin hätte der Wald ihren kleinen Bruder ganz verschlungen. Oder die Plutowka würde ihn holen. Oder die Wölfe. Nein, sie konnte jetzt nicht umkehren. »Du bist stark, Lina!«, sagte ihr Großvater immer. Vor allem dann, wenn die Traurigkeit wiederkam. Wenn sie an Mama und Papa dachte.
Ja, sie war stark. Sie würde ihren Bruder wiederfinden.
Sie durfte nur nicht aufgeben.
»Alexej! Wo bist du?« Die Birken leuchteten im letzten Licht. Die weißen Linien verschwammen vor ihren Augen, und die Erschöpfung drohte sie zu überwältigen.
Geh weiter!
Plötzlich geriet der Boden unter ihren Füßen ins Wanken. Es war, als stünde sie auf einem riesigen Teppich, der auf Brei schwamm. Etwas zog an ihren Füßen. Lina taumelte nach links. Verzweifelt schlang sie ihre dünnen Arme um den Stamm einer Birke, zog sich ganz dicht an den Baum heran und drückte ihre Wange fest an die Rinde. Um sich herum hörte sie ein tiefes Glucksen, während ihr ein fauliger Geruch in die Nase stieg. Eine Weile verharrte sie unbeweglich und hielt die Augen fest geschlossenen. Nicht bewegen. Der Baum hält dich.
Dann gab sie sich einen Ruck, hob den Kopf und schaute sich um. Was sie sah, ließ ihr Herz aufgeregt schlagen. Beim Vorwärtsstürmen war ihr eine gefährliche Veränderung entgangen. Die Wassergräben um sie herum hatten sich zu einer geschlossenen Fläche vereint.
Sie stand mitten im Sumpf!
Linas Blick irrte fieberhaft hin und her. Wie sollte sie jetzt weiterkommen? Ein unüberlegter Schritt, und sie würde in die Tiefe gezogen. Jäh drängte sich ein schreckliches Bild in ihre Gedanken. War ihr kleiner Bruder etwa …
Der Weinkrampf brach so schlagartig los, dass er ihr fast die Kehle zuschnürte. Nein, nein, das durfte nicht sein! Bitte nicht! »Mama«, presste sie hervor. Dabei wusste sie doch, dass sie umsonst flehte, dass ihre Mama nicht kommen würde und dass sie auch nicht im Dorf wartete und auch ihr Papa nicht. Sie fühlte sich unendlich einsam.
In ihrem Kopf blitzte das schmale Gesicht ihres Bruders auf. Seine wissbegierigen braunen Augen. Sein spitzbübisches Lächeln. Nein, ihm war nichts Schlimmes passiert! Daran wollte sie jetzt fest glauben.
Tapfer blinzelte Lina ihre Tränen weg. Nicht mehr lange, dann war es vollkommen dunkel. Sie musste etwas unternehmen. »Ich bin stark!«, rief sie so laut, dass sie selbst erschrak, und sie wiederholte es so lange, bis ihre Stimme an Festigkeit gewann. Trotzig suchte sie die schwarzgrüne Fläche ab, die sich zwischen Bäumen und Stümpfen im Unterholz verlor. Gab es hier wirklich kein Weiterkommen? Sie konzentrierte sich auf jede Einzelheit. Nun, wo der Abend nahte, wurden auch die Geräusche des Waldes düster. Der Wind verlieh den Baumkronen flüsternde Stimmen. Sterbendes Gehölz ächzte in den Fängen des Sumpfes. Und von der Ferne schickte der Plutowka-Strom sein unheilvolles Donnern herüber. Doch plötzlich vernahm Lina noch etwas anderes. Von irgendwoher drang ein vertrauter Ton an ihr Ohr. Zuerst glaubte sie, ihre Sinne hätten ihr einen Streich gespielt. Dann hörte sie ihn wieder. Und aus dem Ton wurde ein Name: »Lina!«
Als sie die Stimme ihres Bruders erkannte, durchströmte sie neue Zuversicht. Der Ruf war schwach gewesen, aber sie hatte keinen Zweifel mehr. Angestrengt lauschte sie in die Richtung, aus der er gekommen war. Da, noch einmal: »Lina!«
Alexej musste irgendwo schräg hinter ihr sein. Dort, auf der rechten Seite, wo ein abgestorbener Baum mit kahlen Ästen im Wasser lag. »Alexej!«, antwortete Lina, so laut sie konnte. »Ich bin hier!«
Sie versuchte, sich zu besinnen, wo genau sie vorhin angekommen war. Bis dahin schien der Weg unbedenklich. Behutsam streckte sie einen Fuß aus und prüfte, ob der Boden sie trug. Ja, einen Schritt konnte sie wagen. Ganz langsam verlagerte sie das Gewicht ihres Körpers nach vorn, und als sie sicher war, dass sie nicht versank, nahm sie die Hand vom Stamm der Birke. Der schwankende Grund ließ sie straucheln, und sie benötigte einige Sekunden, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Die nächsten drei Schritte machte sie ganz schnell hintereinander, und endlich fasste sie festen Tritt.
»Ich bin gleich da«, rief sie in die Tiefe des Waldes hinein und tastete sich weiter vor, bis sie die wüst nach oben ragenden Wurzeln des umgestürzten Baumes erreichte.
»Alexej?« Lina starrte ins Halbdunkel, dorthin, wo der gefallene Stamm bis in die Mitte eines Tümpels führte. Angestrengt versuchte sie, das Gewirr aus Ästen und Sumpfpflanzen zu durchdringen. »Wo bist du?«
»Lina«, kam es dünn zurück. Einige Meter entfernt konnte sie ein braunes Stoffbündel erahnen, aus dem drei helle Flecken hervorleuchteten. Lina erkannte Alexejs blasses Gesicht und die beiden Hände, mit denen er sich in einer Astgabel festhielt. Sein restlicher Körper hing beinahe vollständig im Wasser, und er schien seinen Kopf nur mit einer unglaublichen Anstrengung noch über der Oberfläche halten zu können.
Trotz der bedrohlichen Lage, in der sich ihr kleiner Bruder befand, durchflutete Lina ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Sie hatte Alexej gefunden! Jetzt würde alles gut werden. Ohne zu zögern, schlüpfte sie aus ihren Stiefeln und watete vorsichtig in den Tümpel. Der Boden unter ihren Füßen verlor sich in einer schlierigen Masse. Lina griff in das Geäst des Baumes und hangelte sich so dicht wie möglich am Stamm entlang. Bald reichte ihr das Wasser bis zur Brust. Ein kühler Druck umklammerte ihre Lungen und raubte ihr die Luft. Abgeknickte Zweige bohrten sich wie Dornen in ihre Haut. Aber der Blick auf Alexej, dessen Durchhaltevermögen zu schwinden drohte, trieb sie voran. Stück für Stück näherte sie sich ihm.
»Hab keine Angst«, stieß sie mühevoll hervor. »Ich bin gleich bei dir.« Noch einen Meter, dann war sie neben ihm und griff nach seinem Arm. »Ich hole dich hier raus.«
»Lina, ich kann nicht. Ich gehe unter«, schluchzte ihr Bruder, und sie hörte, wie seine Zähne vor Kälte und Schrecken wild aufeinanderschlugen. Ihn so verzweifelt zu sehen brach ihr fast das Herz.
»Alexej! Schau mich an! Du gehst nicht unter. Du schaffst das«, versuchte sie ihn zu beruhigen, obwohl auch ihre eigenen Kräfte zusehends schwanden. »Halte dich einfach an mir fest.«
Lina musste ihrem Bruder eine Weile gut zureden, bis er genug Mut gefasst hatte, dass sie seine Finger von den Ästen lösen konnte, an die er sich schon wer weiß wie lange klammerte. Dann schlang sie ihren linken Arm fest um seinen Rücken und zog Alexej Stück für Stück mit sich. Gemeinsam überwanden sie die Strecke bis zum Rand des Wasserlochs. Lina schob Alexej auf den festen Waldboden und schleppte sich mit einer allerletzten Anstrengung selbst hinauf.
Sie half ihrem zitternden Bruder auf die Beine und umarmte ihn ganz fest. Ein neuerlicher Schwall von Tränen ließ sie erbeben, aber diesmal waren es Tränen der Erleichterung. Einen Moment lang hielten sie sich gegenseitig. Dann erinnerte sich Lina daran, dass sie es noch lange nicht geschafft hatten. »Wir müssen gehen. Jetzt gleich«, entschied sie. »Sonst finden wir den Weg nicht mehr. Komm.«
Ihr Bruder rührte sich nicht von der Stelle. Er stand stocksteif da und vergrub sein Gesicht in den Händen.
»Alexej, was hast du?«, fragte Lina beunruhigt.
»Die Wölfe …«, flüsterte er.
Lina erschrak. Die Wölfe. Die hatte sie ganz vergessen. Ein Schauder jagte ihr über den Rücken. Wenn sie am Nachhauseweg lauerten …
Lina blickte in die Richtung, die sie jetzt einschlagen mussten. Doch bevor die neu aufkeimende Furcht gänzlich Besitz von ihr ergreifen konnte, sah sie eine lange Reihe Lichter durch den Wald tanzen. Gleich darauf hallten vielstimmige Rufe herüber, die schnell lauter wurden und unter denen sie die aufgewühlte Stimme ihres Großvaters erkannte: »Lina! Alexej!«
Eine riesige Last fiel von ihr ab. Sie atmete tief ein. Dann schrie sie mit aller ihr verbliebenen Kraft: »Wir sind hier!«
Sie hockten erschöpft nebeneinander und drückten ihre Rücken an die Wand des Ziegelofens. Die Ofenbank war Linas liebster Platz in der Wohnstube. Sie war ihr Heim im Heim, ihr Ort vollkommener Geborgenheit. Über ihren und Alexejs Knien lag eine Decke gebreitet, und ihre nassen Kleidungsstücke hingen links und rechts wie Fahnen aufgereiht. Die Wärme tat gut. Großmutter Polina hatte gerade neue Birkenscheite aufgelegt. Das Feuer prasselte kraftvoll, und die aufsteigende Hitze ließ die Balken des Holzhauses behaglich knarren.
Sie waren der Plutowka und den Wölfen entkommen.
Linas laute Rufe hatten den Suchtrupp auf sie aufmerksam gemacht. Der war bereits bei Einbruch der Dunkelheit losgezogen. Lina und Alexej hatten die Leute aus dem Dorf mit ihren Lampen und entschlossenen Gesichtern auf sich zukommen gesehen. Großvater war als Erster bei ihnen gewesen. Er hatte sie geschüttelt und dann umarmt, so als wäre er zornig und glücklich zugleich, und ihnen dann zwei übergroße Joppen umgehängt, die ihm jemand gereicht hatte. »Jetzt seid ihr in Sicherheit«, hatte er dabei gemurmelt. »Gehen wir nach Hause.« Seine Worte waren mild gewesen, doch in seinen Augen hatte Lina bittere Vorwürfe gesehen. Jedenfalls bildete sie sich das ein. Nein, eigentlich war sie sich ganz sicher. Wie konnte das passieren, hatte sie in diesen Augen gelesen, ihr kennt doch den Wald und auch die Sümpfe, wie konntet ihr euch so in Gefahr bringen?
Sofort hatte Lina ein schlechtes Gewissen erfüllt, obwohl ihr nicht einfiel, was sie hätte besser machen können, außer den Wald überhaupt zu meiden. Daran war jedoch nicht zu denken; sie lebten hier alle mit diesem Wald, ja, sie gehörten irgendwie zu ihm. Wer könnte das besser wissen als Großvater? Aber es half nichts. Sie war die große Schwester. Sie hatte die Verantwortung für ihren kleinen Bruder getragen, und um ein Haar wäre er ertrunken. Diese Erkenntnis lastete wie ein Felsbrocken auf ihrem Gemüt.
Schließlich hatten die Nachbarn sie mit Fragen bestürmt und für ihren Mut gelobt, und Großvater war nur noch still neben ihnen hergelaufen, bis sie das Dorf erreicht hatten.
Nun saßen Lina und Alexej erschöpft und gedankenversunken auf der Ofenbank. Nach einer Weile brachte Großmutter Polina einen Schemel, auf dem zwei Gläser mit Tee und ein Teller Plinsen standen, dazu Schalen mit Honig und Marmelade. Sie lächelte den Kindern aufmunternd zu und setzte das improvisierte Tischchen direkt vor ihnen ab. Eine besondere Ausnahme, das war den Geschwistern klar, denn sonst durften sie nur am großen Tisch essen. In der Familie Niroskin musste alles seine Ordnung haben. Ohnehin wurden sie, wie Lina fand, von ihren Großeltern ziemlich streng erzogen.
Gedämpftes Topfklappern aus dem Nebenraum verriet, dass sich Polina wieder der Hausarbeit widmete. Großvater Timofej war gleich nach ihrer Rückkehr nach draußen verschwunden, um Holz zu hacken. Das tat er um diese späte Stunde sonst nie. Von ihrem Platz aus konnte Lina nur seinen sich bewegenden Schatten sehen, den die Hoflampe zum stoischen Takt der Schläge in den Fensterrahmen zeichnete. Das Mädchen wusste nicht genau, was in Großvater vorging. Auf dem Weg hinaus hatte er den Kopf gesenkt gehalten, aber ihr war aufgefallen, dass er einen verstohlenen Blick zu dem gerahmten Foto an der Wand gegenüber geworfen hatte. Zu dem Bild, das Mama und Papa zeigte, als sie noch alle zusammen gewesen waren. Als sie sich gar nichts anderes vorstellen konnten. Bevor das schlimme Unglück im Kolchos passiert war.
Und wenn es heute wieder ein Unglück gegeben hätte?
Lina schielte zu Alexej, der mit eingezogenen Schultern neben ihr saß und ins Nichts starrte. Sein Gesicht war bleich, und Lina glaubte, dass sich ein Teil von ihm noch immer im Wald befand und an dem gefallenen Baum festklammerte. Sie strich ihrem Bruder sanft über die verstrubbelten Haare.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und schob die Decke zur Seite.
»Bitte geh nicht«, bat der Junge erschrocken.
»Ich gehe nicht weg«, erklärte Lina. »Ich muss nur etwas suchen, gleich nebenan. Es ist wichtig.«
Alexej schluckte hörbar und nickte.
»Ich bin gleich wieder bei dir«, versicherte Lina noch einmal, dann rutschte sie behutsam von der Ofenbank und ging hinüber in die Schlafkammer.
In dem Raum war es kühl und finster. Lina schlängelte sich am Bett der Großeltern vorbei zu ihrer eigenen Liege, zog die dicke Decke zur Seite und zwängte ihre Hand unter die Matratze. Nach einer Weile ertasteten ihre Finger den zusammengefalteten Umschlag, den sie hier vor zwei Wochen versteckt hatte. Sie zog ihn hervor und setzte sich neben der Tür auf den Boden, wo ihr der gedämpfte Lichtschein aus dem Wohnzimmer etwas Helligkeit spendete. Dann öffnete sie das Kuvert und ließ seinen Inhalt sachte herausgleiten.
In ihrer Handfläche lag ein Medaillon aus einfachem Aluminiumblech. Es hatte eine glatte und schmucklose Oberfläche, und seine ovale Form war nicht ganz gleichmäßig, aber Lina fand es wunderschön. Es war ihr Geschenk für Alexejs achten Geburtstag. Im Inneren der flachen Kapsel befanden sich zwei Bilder. Eins von ihr selbst und eins von ihrem Bruder. Ihre Gesichter hatte Lina aus einem Foto ausgeschnitten, das vom letzten Kinderfest in der Kolchosschule stammte. Den Anhänger hatte sie sich vom alten Semjon anfertigen lassen, der auf seinem Hof eine kleine Werkstatt betrieb. Weil sie kein Geld besaß, um ihn zu bezahlen, war Lina fast zwei Monate lang tagtäglich in den Schuppen hinter dem Haus geschlichen und hatte jedes Mal eine winzige Menge von dem hochprozentigen Samogon abgefüllt, den Großvater Timofej dort vor Großmutter Polina versteckt hielt und von dem er sich allabendlich ein Becherchen genehmigte. So hatte sie allmählich eine ganze Flasche zusammenbekommen, und Semjon war damit zufrieden gewesen.
Lina strich mit ihren Fingern über den matt glänzenden Anhänger. Alexej hatte erst in drei Wochen Geburtstag, aber das war jetzt egal. Sie kehrte in die Wohnstube zurück und schob sich wieder auf die Ofenbank.
»Hier. Das ist für dich.« Behutsam nahm sie die rechte Hand ihres Bruders und legte das Medaillon hinein.
»Was ist das?«, fragte Alexej.
»Man kann es aufmachen.«
Etwas linkisch drückte der Junge an dem Oval aus Aluminium herum, bis es sich öffnete. »Das sind ja wir«, entfuhr es ihm überrascht, als er ihre Gesichter auf den Fotos erkannte.
»Wehe, du verlierst es.« Lina versuchte, die strenge, aber nicht ganz ernst gemeinte Große-Schwester-Miene aufzusetzen, mit der sie ihren Bruder manchmal neckte.
»Mach ich nicht«, sagte Alexej fast tonlos, während er das kleine Schmuckstück betrachtete. Dann drehte er sich zu seiner Schwester um. »Wirklich für mich?« In seinem Gesicht meinte Lina eine Spur von Stolz auszumachen, bevor die Befangenheit zurückkehrte.
»Wirklich«, versicherte sie ihm. Dann ergriff sie die Hand ihres Bruders und schloss sie um die metallene Kapsel. »Zu dem Medaillon gehört noch etwas dazu. Etwas Wichtiges.«
»Was denn, Lina?« Alexej sah seine Schwester mit großen Augen an.
»Ein Versprechen«, flüsterte sie. Dann bekam ihre Stimme einen eindrücklichen Klang. »Alexej, ich verspreche dir, dass du nie wieder Angst haben musst. Nie wieder. Ich werde immer auf dich aufpassen.«
Alexej senkte den Kopf und schwieg. Dann, nach einer Weile, wisperte er: »Für immer?«
»Ja.« Lina nickte heftig. »Für immer.«
Auf den Lippen des Jungen zeigte sich ein zaghaftes Lächeln. Das erste Mal, seit sie es aus dem Wald geschafft hatten, schien er seine Furcht zu vergessen.
Lina zog ihnen die Decke über die Schultern und drückte ihren kleinen Bruder fest an sich. Als ihre Großmutter keine fünf Minuten später mit einer neuen Kanne Tee in die Stube trat, waren die beiden Kinder fest eingeschlafen.
1
Potsdam, 2005
Die Steigung lag jetzt genau vor ihm, und er zog die Geschwindigkeit noch einmal an. Es war seine fünfte Runde durch den Park. Der Schlussspurt des Morgenlaufes, den er bei jedem Wetter und in jeder Gemütslage absolvierte. Sein ganzes Leben lang war Werner Holland gelaufen, so wie sein ganzes Leben aus Disziplin und hartem Training bestanden hatte. Anders konnte er es sich gar nicht vorstellen, auch wenn es seit Langem niemanden mehr gab außer ihm selbst, dem er eine sportliche Hochleistung schuldete. Mit seinen fünfundfünfzig Jahren war er noch immer bestens in Form, bis auf die kleinen Boshaftigkeiten des Körpers, die ihm von Zeit zu Zeit sein zunehmendes Alter ins Gedächtnis riefen und die er so gut wie möglich ignorierte.
Holland hielt seinen hohen Lauftakt bei, obwohl die Luft an diesem Augustmorgen bereits drückend warm war und ihm jede Erfrischung versagte. Der Pfad führte in ein Waldstück und stieg noch einmal an, bis er auf der Kuppe des Hügels auf einen breiten Asphaltweg mündete. Seine Ziellinie. Er beendete seinen Spurt und verfiel in ein leichtes Traben. Dabei bog er nach rechts, wo die Piste geradewegs aus dem Park hinausführte.
Auf halber Strecke zum Ausgangstor kam ihm die Shih-Tzu-Dame entgegen. So nannte er insgeheim die ältere Frau, die er noch nie ohne ihren zerzausten kleinen Hund gesehen hatte. Sie war mindestens siebzig Jahre alt, und er kannte weder ihren Namen, noch wusste er, wo sie wohnte. Nur, dass sie ihm an jedem Morgen genau zu dieser Zeit und genau an dieser Stelle begegnete. Auf die Shih-Tzu-Dame war Verlass. Nach ihr konnte man die Uhr stellen, dachte er wieder einmal, und sie dachte vermutlich dasselbe von ihm. Er hob seine Hand zu einem knappen Gruß. Sie winkte freundlich zurück. Schon war er an ihr vorbeigezogen und passierte nur Sekunden später das Tor.
Holland überquerte die Alleestraße, die den Park entlang des Hügels begrenzte und auf deren anderer Seite sich ein Dutzend Einfamilienhäuser hinter Hecken und wilden Sträuchern versteckten. Seit neun Jahren lebte er hier. Seit er in das graugelbe Haus mit dem spitzen Giebel zurückgekehrt war, in dem er seine Kindheit verbracht hatte.
Er atmete tief durch. Genoss die wohlige Hitze, die seinen Körper nach der Anstrengung des Lauftrainings durchströmte. Die Daten seiner Sportuhr zeigten, dass er seine selbst auferlegte Zeitnorm knapp unterboten hatte. Jetzt konnte er sich entspannen. Der Rest seines Tages würde bedeutungsloser sein.
Das glaubte er.
Dann sah er das Auto.
Einen VW Passat. Mattes Anthrazitgrau. Berliner Kennzeichen. Abgestellt im Schatten der alten Linde, ein Stück unterhalb seines Hauses. Manchmal waren Parkbesucher so dreist, ihren Wagen direkt vor den Privatgrundstücken stehen zu lassen. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass es sich diesmal anders verhielt. Zumal er auf dem Fahrersitz die Umrisse einer Person auszumachen glaubte.
Ein Klient? Die waren selten geworden in letzter Zeit. Und ein Besuch ohne Anmeldung war zumindest ungewöhnlich.
Jemand von einer Behörde? Ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich.
Doch nur ein Ausflügler, der im Auto döste?
Äußerlich gelassen schlenderte Holland zu seinem Gartentor, zog den Schlüsselbund aus der Tasche seines kurzen Jogginganzugs und schloss die Pforte auf.
Hinter sich hörte er das Geräusch einer sich öffnenden Wagentür. Aha. Da hatte also tatsächlich jemand auf ihn gewartet.
»Herr Holland?«
Er drehte sich um. Neben dem Passat stand eine zierliche Frau in einem stilvollen marineblauen Hosenanzug. Er schätzte ihr Alter auf vierzig, vielleicht ein wenig darüber. Ihre schmalen, kantigen Gesichtszüge wirkten attraktiv und selbstbewusst, und das halblange dunkle Haar verriet sorgfältige Pflege.
»Ja?« Holland versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.
Die Frau schloss die Autotür und kam auf ihn zu. Für einen flüchtigen Augenblick musterte sie ihn. Holland kam es vor, als würde sie ihn unter einer ihm unbekannten Maßgabe taxieren. Dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie streckte ihm die Hand entgegen. »Alina Janowa. Hätten sie vielleicht einen Moment Zeit für mich?« Ein dezenter osteuropäischer Akzent. Russland oder Ukraine, vermutete Holland. Und ein fester Händedruck.
»Entschuldigung.« Er deutete auf seine durchgeschwitzte Sportkleidung und gab ein vorsichtiges Lächeln zurück. »Ich habe keinen Besuch erwartet. Worum geht es denn?«
»Ich muss mich entschuldigen«, sagte die Frau mit einer winzigen Spur von Verlegenheit, die nicht so recht zu ihrem perfekten Äußeren passen wollte und die Holland sehr sympathisch fand. Dann wurde sie ernst. »Ich benötige Ihre Hilfe.«
»Meine Hilfe?«
»Ihre Dienste.« Sie wies auf das kleine Messingschild, das über dem Klingelknopf am Torpfosten angeschraubt war:
WERNER HOLLAND
PRIVATE ERMITTLUNGEN
»Ah.« Also doch eine Klientin. Ihr Anliegen schien von einiger Wichtigkeit zu sein, wenn sie extra vor seinem Haus ausgeharrt hatte, um ihn abzupassen. Er öffnete die Gartentür. »Dann kommen Sie am besten mal mit.«
Er geleitete seine Besucherin zwischen Haus und Garage hindurch auf eine Terrasse, von der sich über die angrenzende Gartenanlage hinweg ein weiter Blick über Babelsberg eröffnete, den beschaulichen Potsdamer Stadtteil, den er sich zu seinem Refugium erwählt hatte.
»Was für eine Aussicht!«, stieß die Frau unvermittelt aus. »Und mitten im Grünen. Sie leben an einem schönen Ort.«
»Ich weiß.« Holland nickte langsam.
Nach dem Tod seiner Eltern war er um ein Haar der Versuchung erlegen, das Grundstück zu Geld zu machen, zumal sich die Immobilienpreise in der gesamten Gegend in einem abnormen Höhenflug befanden. Aber dann hatte er sich daran erinnert, welches Privileg es war, hier oben zu wohnen, zurückgezogen vom Alltagstrubel und nur wenige Schritte vom Park entfernt. So hatte er den Verkauf nicht übers Herz gebracht und diese Entscheidung nie bereut. Zumal das unauffällige Quartier den Erfordernissen seiner Profession durchaus entgegenkam.
»Ich muss Sie um etwas Geduld bitten. Ich ziehe mich schnell um«, meinte er und wies auf einen Holztisch mit einer Reihe rustikaler Gartenstühle. »Nehmen Sie doch so lange Platz. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht.«
»Tut es nicht. Ich koche ohnehin welchen.«
Die Frau neigte ihren Kopf und schmunzelte. »In dem Fall gern.« Sie zog sich einen Stuhl zurecht und setzte sich. Holland mochte ihre Ausstrahlung, die irgendwo zwischen Selbstgewissheit und wacher Aufmerksamkeit lag, und er fand, der Tag hätte durchaus schlechter beginnen können.
»Dann bis gleich«, sagte er, kehrte zur Vorderseite des Hauses zurück, schloss die Eingangstür auf und ging als Erstes in die Küche. Durch das einzige Fenster drang hartes Sonnenlicht herein und zeichnete ein gleißendes Trapez auf die Fliesen. Er schaltete die Kaffeemaschine ein, die er wie immer vor Beginn seines Lauftrainings befüllt hatte und neben der schon eine Tasse samt Zuckerdose und einem Glas Orangensaft bereitstanden. Eine Angewohnheit, die für ihn zu einem festen Ritual geworden war und mit der er sich täglich selbst ein kleines Willkommen bereitete. Holland lebte allein. Die Ehe mit seiner Frau Christiane war vor vielen Jahren zerbrochen, und seine erwachsene Tochter wohnte sechshundert Kilometer entfernt. In der letzten Zeit fragte er sich häufiger, warum er nicht noch einmal eine Familie gegründet hatte. Nach seiner Scheidung war er, von ein paar oberflächlichen Abenteuern abgesehen, nie wieder eine Beziehung eingegangen; immer fehlte ihm das letzte Stück Gewissheit, das letzte Stück Vertrauen. Aber vielleicht wollte er auch gar nicht mehr vertrauen.
Als die Kaffeemaschine ihr geschäftiges Gurgeln begann, ging er hinüber ins Badezimmer und nahm eine Dusche. Dann schlüpfte er in eine bequeme Kombination aus heller Leinenhose und einem beigen Sommerhemd. Er drehte sich zum Spiegel und fuhr sich mit der Hand durch die dichten braunen Haare, die an den Schläfen von kleinen weißen Spitzen durchsetzt waren. Für einige Sekunden begutachtete er sein Spiegelbild. Ja, so konnte er der potenziellen Klientin schon eher entgegentreten als in seinem ausgewaschenen Jogginganzug.
Ein kräftiges Fauchen aus der Küche signalisierte ihm, dass der Kaffee durchgelaufen war. Er ging hinüber, stellte Geschirr und Kanne auf ein Tablett und kehrte zurück auf die Terrasse.
»Oh, das ist wirklich nett von Ihnen«, empfing ihn seine Besucherin.
Trotz der freundlichen Worte registrierte Holland im Klang ihrer Stimme jetzt eine unterschwellige Anspannung. Er stellte das Tablett ab und rückte die Kaffeetassen auf der Tischplatte zurecht. Dann setzte er sich der Frau gegenüber.
Zeit, der unerwarteten Stippvisite auf den Grund zu gehen.
»Also. Frau … Janowa, richtig?«, begann er.
»Ja. Aber nennen Sie mich doch bitte Alina.« Diesmal war das Lächeln beiläufig, beinahe so, als solle es den Beginn des Gesprächs nicht behindern.
»Alina. Gut.« Er nickte. »Sie suchen einen Privatermittler?«
»Na ja … Eigentlich suche ich keinen Ermittler. Ich benötige einen Leibwächter.«
»Einen Leibwächter?« Holland blickte erstaunt auf.
»Sie bieten auch Personenschutz an. Das ist doch richtig, oder?« Für einen Moment wirkte seine Besucherin verunsichert.
»Ja, das ist korrekt«, bestätigte er. Auch wenn der letzte Auftrag in diese Richtung schon eine ganze Weile zurücklag. »Wie sind Sie auf mich gekommen?«
»Ihre Internetseite. Ich wollte niemanden aus Berlin engagieren, sondern jemanden, der sich in Brandenburg auskennt.«
»Und warum brauchen Sie Schutz? Werden Sie bedroht?«
»Nein. Ich benötige Ihre Dienste nur für einen einzigen Tag. Dafür verdopple ich Ihr Honorar.«
Holland hob die Augenbrauen. »Das ist sehr großzügig. Wie kann ich diese Aufstockung verstehen?«
»Ich verlange absolute Diskretion.«
»Diskretion ist selbstverständlich«, versicherte er und versuchte, seine Worte nicht gekränkt klingen zu lassen. Einige Sekunden verstrichen, und sie beide tranken ein paar Schlucke von ihrem Kaffee, so als wollten sie diese Übereinkunft auf stille Weise besiegeln. Dann kam Holland auf Alinas Anliegen zurück. »Wie stellen Sie sich meinen Einsatz konkret vor?«
»Ich werde einen Mann treffen. Und ich möchte dabei nicht allein sein. Ich brauche jemanden, der mich im Falle eines Falles beschützt.«
»Vor diesem Mann?«
»Ja.«
»Ein gefährlicher Mann?«
»Nein, eigentlich nicht … Ich will nur ganz sichergehen. Sozusagen einen doppelten Boden einziehen.«
»Okay.« Auf diese Einschätzung würde er sich nicht so ohne Weiteres verlassen. »Was ist das für ein Mann?«
»Er ist Finanzbuchhalter. Dreiundsechzig Jahre alt. Nicht sehr groß. Dafür ziemlich korpulent. Für Sie kein Problem, denke ich.« Dabei betrachtete sie Hollands durchtrainierten Körper, was ihn einen Wimpernschlag lang befangen machte.
»Ein Buchhalter …«
»Ja.«
»Sein Name?«
»Der tut nichts zur Sache.«
»Hmmm.« Holland sah Alina ernst an. »Das könnte aber wichtig sein. Es kann nicht schaden, wenn ich mich vorher ein wenig über den Mann informiere.«
»Das möchte ich nicht.« Bevor Holland etwas erwidern konnte, fügte sie hinzu: »Ich habe meine Gründe, glauben Sie mir. Und er ist sehr … misstrauisch.«
»Er wird nichts davon merken.«
»Kein Name.«
»Okay.« Langsam wurde es interessant. »Und weshalb wollen Sie den Mann treffen?«
»Ich will ihn zur Rede stellen.«
»Zur Rede stellen? Wofür?«
Seine Besucherin senkte den Kopf. Einige Sekunden verstrichen. Dann hob sie den Blick und sagte: »Er hat meinen Bruder umgebracht.«
Eine Weile schwiegen sie. Der leichte Sommerwind ließ die umliegenden Büsche rauschen, und von den Gärten drang entferntes Vogelzwitschern herüber.
Schließlich forschte Holland vorsichtig nach: »Was ist mit Ihrem Bruder geschehen?«
»Das ist sehr persönlich.« Alina zog die Schultern zusammen, als würde sie trotz der Augusthitze frösteln. »Er ist gestorben. Mehr ist dazu nicht zu sagen.«
Holland spürte, dass er sich hier auf sensiblem Terrain bewegte, und er verzichtete zunächst darauf, weiter nachzubohren. Stattdessen fragte er nur: »Und Sie sind sich sicher, dass dieser Finanzbuchhalter dafür die Verantwortung trägt?«
»Ja.«
»Kennen Sie sich? Sie und dieser Mann?«
»Nein. Das heißt, ich weiß, wer er ist. Was er macht. Und ich habe Fotos gesehen. Aber wir sind uns noch nie persönlich begegnet. Die Sache mit meinem Bruder ist schon viele Jahre her. Die Zusammenhänge habe ich jetzt erst erkannt.« Alinas Stimme bekam einen kühlen Ton. »Ich will den Mann damit bei unserem Treffen überraschen.«
»Haben Sie schon Kontakt zu ihm aufgenommen?«
»Ja. Telefonisch. Ich habe mich mit ihm verabredet. Unter einem Vorwand.«
»Wann und wo?«
»Sonntag. Auf einem Waldparkplatz bei Belzig. Ungefähr eine Autostunde von hier.«
»So weit draußen?«
»So ist es besprochen.«
»Seine Idee?«
»Meine.«
»Warum sollte er kommen?«
»Wegen seines ›Nebenjobs‹. Er verkauft Insiderinformationen für Anlagegeschäfte. Nicht ganz legal, aber sehr lukrativ. Ich habe Interesse signalisiert.« Alina zuckte die Schultern. »Außerdem hat er eine Datsche in der Nähe. Ich mache es ihm ganz bequem.«
Holland dachte kurz über das Gehörte nach. Dann fragte er: »Und dann? Wenn er merkt, dass der Finanzdeal nur eine Finte war? Wenn er alles abstreitet? Oder gar nicht mehr mit Ihnen reden will?«
»Er wird«, entgegnete Alina. »Da bin ich mir sicher.«
»Sie müssen es wissen.« Holland runzelte die Stirn. »Ich will mir ja nicht meinen eigenen Job verderben, aber … haben Sie schon mal darüber nachgedacht, die Polizei einzuschalten?«
»Ich muss etwas wissen, was ich nur von ihm erfahren kann. Das geht nicht, ohne ihn selbst zu sprechen. Danach gehe ich zur Polizei.«
»Aha.« Hatte sie das wirklich vor? Streng genommen war das nicht sein Problem. Trotzdem … Falls er den Job annahm, würde er die Angelegenheit im Blick behalten.
Eine wichtige Information brauchte er noch. Behutsam begann er: »Wie hat er das damals gemacht? Ich meine, wie hat er Ihren Bruder getötet?«
Die Frau gegenüber antwortete nicht.
»Alina?«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, das ist meine persönliche Angelegenheit. Er ist für seinen Tod verantwortlich. Das ist alles, was zählt.«
»Die Frage habe ich nicht zum Spaß gestellt. Was ich meine, ist: Muss ich damit rechnen, dass er bewaffnet ist? Mit einer Pistole? Oder mit einem Messer?«
»Das halte ich für ausgeschlossen. Dafür ist er nicht der Typ.«
»Was für ein Typ ist er denn? Ein Schreibtischtäter?«
»So was in der Art …«
»Na gut.« Holland schenkte Kaffee nach. Dann nahm er den Faden wieder auf. »Wie haben Sie sich das genau vorgestellt? Was ist meine Legende, wenn wir den Mann treffen?«
»Ihre Legende?«
»Meine offizielle Rolle. Ich nehme an, er erwartet Sie eigentlich allein.«
»Ja, sicher.«
»Wenn ich Sie beschützen soll, muss ich in Ihrer Nähe sein. Ganz in Ihrer Nähe. Sie werden meine Anwesenheit also erklären müssen.«
Alina sann einen Moment nach. Mit dieser Frage hatte sie sich offenbar noch nicht befasst. Dann schlug sie vor: »Ganz einfach. Sie sind mein Ehemann.«
»Ihr …« Holland hustete.
Unversehens platzte ein Lachen aus Alina heraus. Augenscheinlich war sie selbst davon überrascht, denn sie gab sich alle Mühe, den kurzen Ausbruch umgehend in den Griff zu bekommen.
»Was ist los?«, erkundigte sich Holland irritiert.
»Sie hätten Ihr Gesicht sehen sollen!« Dann winkte sie ab. »Vergessen Sie’s. Der Ehemann war nur eine spontane Idee.«
»Warum nicht? Die Idee ist gar nicht so schlecht.«
»Dann übernehmen Sie den Auftrag?«
Holland überlegte. Ein Tag Arbeit. Der Aufwand war überschaubar. Das Risiko auch. Und es gab doppeltes Honorar. Geld, das er zweifellos gut gebrauchen konnte. Außer seinem Haus hatte er wenig Reserven, und die Auftragslage war, wenn er es realistisch betrachtete, schon seit Längerem mehr als dürftig.
»Sind wir im Geschäft?« Seine Besucherin fixierte ihn erwartungsvoll.
»In Ordnung.« Holland reichte ihr die Hand. »Wir sind im Geschäft.«
»Das freut mich. Ehrlich.« Alina schlug ein. »Übrigens, eine Frage hätte ich noch. Werden Sie bewaffnet sein, wenn Sie mich begleiten?«
»Sie haben einen Personenschützer gebucht.«
»Ist das ein Ja?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Ich bin nur neugierig.«
»Machen Sie sich um Ihre Sicherheit keine Sorgen.« Holland straffte den Rücken. »Wo wir einmal dabei sind: Ich gehe davon aus, dass Sie mich dem Mann gegenüber nicht als Druckmittel einsetzen wollen …«
»Seien Sie ganz beruhigt.« Alina schob ihren Stuhl zurück. »Das wird nicht notwendig sein.« Sie stand auf und strich den Stoff ihres Hosenanzugs glatt.
Holland erhob sich ebenfalls. »Warten Sie. Ich hole Ihnen noch eine Visitenkarte. Dann haben Sie auch meine Handynummer. Die steht nämlich nicht im Internet.«
»Ja. Das wäre gut.«
Holland ließ Alina auf der Terrasse zurück und ging zu dem kleinen Anbau hinter seiner Garage, den sein Vater seinerzeit als Hobbyraum eingerichtet hatte und den er jetzt als Büro nutzte. In dem niedrigen Zimmer herrschte Schlichtheit. Ein altmodischer Schreibtisch mit Drehstuhl und zwei grüne Blechschränke waren die einzigen Möbel darin, und die Wände hatten nichts zu bieten außer einer angegrauten Raufasertapete. Doch was andere als trostlos empfinden mochten, folgte lediglich Hollands ausgeprägtem Pragmatismus, denn bei seiner Tätigkeit zog er Zweckdienlichkeit jeglichem Luxus vor.
Aus der untersten Schublade seines Schreibtischs angelte er die kleine gelbe Box heraus, in der er seine Visitenkarten aufbewahrte. Er benötigte sie nicht sehr oft, da er seine Aufträge fast ausschließlich durch persönliche Kontakte oder Empfehlungen erhielt. Laufkundschaft kam selten. Öffentlichkeit war nicht Hollands Sache, und auch seine Website besaß, wenn man es freundlich ausdrückte, wenig Marktschreierisches. Aber immerhin hatte sie ihm gerade einen neuen Job eingebracht.
Er kehrte auf die Terrasse zurück, wo Alina in die Ferne blickte oder in sich selbst hinein; das konnte er nicht genau feststellen. Jedenfalls machte sie einen abwesenden Eindruck und zuckte erschrocken zusammen, als er mit der Visitenkarte voran neben sie trat. »Bitte, da steht alles drauf.«
»Oh. Danke.« Alina nahm das Kärtchen entgegen und studierte es beiläufig. »Ich hole Sie am Sonntag um acht Uhr morgens ab. Ist das für Sie in Ordnung?«
»Natürlich. Wir können von hier aus meinen Wagen nehmen, wenn Sie möchten.«
»Das ist sehr freundlich, aber ich denke, das müssen wir nicht.« Sie ließ die Geschäftskarte in einer Tasche ihres Anzugs verschwinden. »Ich stehe dann um acht Uhr draußen vor dem Haus.«
»Einverstanden.«
»Jetzt muss ich auch los.«
Während sie nach vorn zur Straße gingen, fragte Holland: »Was machen Sie eigentlich beruflich?«
»Ich arbeite im Kulturmanagement. Künstleraustausch, Ausstellungen, Stipendien, solche Sachen. Nicht so spannend wie Ihr Metier, aber es füllt mich aus.«
»Ah … interessant.« Das waren Dinge, von denen er wenig verstand.
Er folgte Alina hinaus vor das Gartentor.
»Bis Sonntag dann«, verabschiedete sich seine neue Klientin.
»Ja, bis Sonntag.« Holland blieb stehen. Er wusste nicht, ob es sein erwachender Beschützerinstinkt war, aber aus einem spontanen Impuls heraus fragte er: »Alina? Sind Sie sich auch wirklich sicher?«
»Wie bitte?«
»Sind Sie sich sicher, dass Sie das wollen? Einen Mann in Ihr Leben lassen, der Ihren Bruder auf dem Gewissen hat?«
»Ich werde nicht allein sein. Sie passen auf mich auf.«
Er sah sie an, und einige Sekunden verstrichen. »Ihren Körper kann ich schützen. Ihren Seelenfrieden nicht.«
Alina nickte kaum merklich. »Danke für den Kaffee. Wir sehen uns Sonntag.«
Damit drehte sie sich um und ging zu ihrem Wagen. Ohne noch einmal zurückzublicken, stieg sie ein und fuhr davon.
Holland blieb noch eine Weile an seinem Gartentor stehen. Er musste sich eingestehen, dass diese Frau ihn beeindruckt hatte und dass ihn der Gedanke, einen Tag an ihrer Seite zu verbringen, mit einer gewissen Vorfreude erfüllte. Auch wenn er diesen Auftrag mehr als seltsam fand.
Eine Verabredung mit einem Mörder.
2
Der Sonntagmorgen war frisch, aber der wolkenlose Himmel versprach baldige Hitze. Genau fünf Minuten vor acht Uhr trat Werner Holland aus seiner Haustür. Die Straße lag verwaist vor ihm, und von den Nachbargrundstücken drang kein einziges Geräusch herüber. Der Tag konnte nicht friedlicher beginnen.
Alina Janowa hatte sich seit ihrem Treffen nicht noch einmal bei ihm gemeldet. Holland zweifelte jedoch in keiner Weise daran, dass es bei ihrer Vereinbarung geblieben war. Dass er heute einen Schutzauftrag hatte. Er trug ein dunkles Jackett über einem weißen Hemd, dazu eine graue Jeanshose und Sportschuhe, und er hoffte, mit seiner Wahl einen guten Kompromiss zwischen zweckmäßiger Einsatzkleidung und seiner Rolle als Alinas Ehemann gefunden zu haben.
Gerade als der große Zeiger seiner Armbanduhr auf die volle Stunde vorrückte, vernahm er am Fuß des Hügels ein Motorengeräusch, das schnell anwuchs. Ein schwarzer Mitsubishi Pajero rauschte die Alleestraße herauf und stoppte vor ihm am Straßenrand. Durch die getönten Glasfenster konnte er nicht ins Innere blicken, aber einen Atemzug nach dem Anhalten senkte sich die Scheibe in der Beifahrertür, und Alina Janowa nickte ihm zu.
»Guten Morgen, Herr Holland! Sind Sie bereit?«
»Bin ich.« Holland öffnete die Autotür und ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten. »Hallo. Ich hoffe, es geht Ihnen gut!«
»Es könnte nicht besser gehen.«
Sobald er die Tür zugezogen hatte, gab seine Klientin Gas. Beim Anschnallen ließ Holland die Augen über die luxuriöse Innenausstattung des Geländewagens wandern. »Neues Auto?«
»Gemietet. Etwas robuster als der VW. Und zum Image einer verwöhnten Investmentkundin passt er auch besser.« Alina lächelte hintersinnig. »Finden Sie nicht?«
»Zweifellos.« Er staunte. Offenbar hatte sich die Frau sehr kalkuliert auf ihren heutigen Auftritt vorbereitet. Sie trug ein beiges Hemd mit cremefarbener Steppweste darüber, eine olivgrüne Stretchhose und Lederstiefel. Ihre Kleidung sah sportlich und zugleich teuer aus und erinnerte an Hochglanzkataloge für gehobene Jagdmode.
Holland strich prüfend über sein einfaches Jackett und drehte sich zu Alina. »Sie hätten mir sagen können, dass Sie stilistisch aufrüsten. Da kann ich nicht ganz mithalten.«
Alina warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Kommen Sie, so schlecht passt das gar nicht. Sie sind der entspannte Ehemann mit der fetten Kreditkarte. Da ist ein bisschen Understatement erlaubt.«
Obwohl sie sich locker, ja fast übermütig gab, erspürte Holland in ihrer Stimme eine schlecht kaschierte Nervosität. Kein Wunder, dachte er, die Verabredung mit dem vorgeblichen Mörder ihres Bruders war nichts, was sie kaltlassen konnte.
»Wann sind wir mit dem Buchhalter verabredet?«, lenkte er das Gespräch auf das bevorstehende Treffen.
»Neun Uhr. Nach dem Navigationsgerät werden wir es genau schaffen.«
»Gibt es seit Montag etwas Neues? Etwas, das ich wissen muss?«
»Nein, alles ist so, wie ich es Ihnen erzählt habe. Es hat sich nichts geändert.«
»Das heißt, Sie wollen den Mann wirklich mit dem Tod Ihres Bruders konfrontieren …«
»Sonst säßen wir nicht in diesem Auto.«
»Wie stellen Sie sich den Ablauf vor?«
»Wir finden den Mann, begrüßen ihn freundlich, ich präsentiere Sie als meinen Mann, und dann geht’s los.«
»Wann wollen Sie ihm sagen, weshalb Sie wirklich gekommen sind? Gleich am Anfang? Oder spielen wir erst eine Runde Investment-Poker?«
»Das wird sich ergeben.« Alina zuckte mit den Schultern. »Keine Sorge. Sie müssen nichts machen. Nur dabei sein und aufpassen.«
»Sie scheinen sich Ihrer Sache verdammt sicher zu sein.«
»Darauf können Sie wetten.«
Wusste sie tatsächlich, worauf sie sich einließ? Holland blieb nichts anderes übrig, als dieses ungewöhnliche Abenteuer auf sich zukommen zu lassen. Die Erfahrung hatte ihm mehr als einmal gezeigt, wie emotional und unberechenbar Menschen reagieren konnten. Oft überraschend für andere, aber manchmal auch für sich selbst. Er war sich bewusst, dass er bei dem heutigen Einsatz eine doppelte Verantwortung trug. Wenn das Treffen aus dem Ruder lief, musste er möglicherweise nicht nur Alina vor ihrem Gesprächspartner schützen, sondern diesen Mann auch vor Alina.
Potsdam lag schon lange hinter ihnen, und sie folgten der Autobahn stoisch in westlicher Richtung. Die meiste Zeit saßen sie schweigend nebeneinander. Links und rechts zogen weite Felder und Waldgebiete vorbei, während die Sonne ihr gleißendes Licht über der flachen Landschaft ausschüttete.
Holland warf einen Blick auf seine attraktive Schutzperson und überlegte, was er eigentlich über sie wusste. Viel war es nicht, aber etwas mehr, als sie ihm bei ihrer ersten Unterredung anvertraut hatte. In den vergangenen Tagen hatte er den Namen seiner Klientin durch die gängigen Suchmaschinen geschickt. »Alina Janowa, Wohnung oder Arbeitsstelle in Berlin, Tätigkeit im Kulturbereich«. Drei Personen hatte das Netz daraufhin preisgegeben. Eine Kindergärtnerin. Eine Blumenhändlerin. Und eine Angestellte in der Botschaft der Russischen Föderation. Die Erzieherin konnte er relativ schnell ausschließen. Sie war auf der Website des Kindergartens abgebildet und besaß keinerlei Ähnlichkeit mit der Frau, die ihn aufgesucht hatte. Die Blumenhändlerin schied ebenso aus. Zwar fand sich von ihr kein Foto, aber in einer Zeitungsnotiz wurde erwähnt, dass sie ihren kleinen Laden noch immer mit Herzblut führte, obwohl sie bereits dreiundsiebzig Jahre alt war. Blieb die Botschaftsangestellte. Sie tauchte in einer Übersicht der diplomatischen Vertretungen in Berlin auf und wurde als Mitarbeiterin der russischen Kulturabteilung geführt. Nach dieser Liste arbeitete in derselben Botschaft ein gewisser Grigorij Janow als stellvertretender Militärattaché. Interessant. Der echte Ehemann? Eine zufällige Namensgleichheit?
In den Botschaftsnachrichten war Holland schließlich auf ein Foto vom Eröffnungskonzert eines deutsch-russischen Klassikfestivals gestoßen und hatte Alina eindeutig wiedererkannt. Auf dem Schnappschuss strahlte sie über das ganze Gesicht und schien die Veranstaltung zu genießen. Neben ihr saß ein schlanker Fünfzigjähriger in einer dunkelgrünen Paradeuniform, dessen strenges, beherrschtes Gesicht wenig von seinen Emotionen preisgab. Grigorij Janow. Laut der Bildunterschrift war er tatsächlich Alinas Mann.
Wenn seine Klientin im diplomatischen Dienst arbeitete, so stellte sich die Frage, ob diese Erkenntnis Auswirkungen auf den bevorstehenden Einsatz hatte. War Alina etwa im Auftrag der Botschaft unterwegs? Doch wozu hätte sie dann ausgerechnet ihn als Personenschützer engagieren sollen? Die Vertretung in der Hauptstadt hatte da zweifellos die besseren Ressourcen. Und warum bestand Alina auf strikte Vertraulichkeit? Auf jemanden, der ausdrücklich nicht aus Berlin stammte. Nein, Holland war sich sicher – das hier war keine Angelegenheit der russischen Botschaft. Das war persönlich.
»Es ist jetzt nicht mehr sehr weit«, riss ihn Alina aus seinen Gedanken. »Ungefähr fünfzehn Kilometer, dann sind wir am Treffpunkt.« Sie fuhren von der Autobahn ab und setzten ihre Fahrt auf engen Landstraßen fort, die nach und nach immer einsamer wurden. Die ausgedehnten Kiefernwälder, die sie jetzt durchquerten, rückten von beiden Seiten dicht an die Fahrbahn heran und ließen nur gebrochenes Licht zu ihnen durch. Minutenlang begegnete ihnen kein einziges Fahrzeug.
Dann beschrieb die Straße eine lange Linkskurve.
»Was ist denn das?«, stieß Alina plötzlich aus. Im selben Moment entdeckte Holland die improvisierte Straßensperre. Eine Holzstange auf zwei Dreibeinen aus Kiefernästen. In der Mitte ein Stoppschild. Darunter ein gelbes Licht, das periodisch aufblitzte.
»Anhalten!«, rief er. Alina trat die Bremse durch und brachte den Wagen schlitternd zum Stehen.
Hollands rechte Hand zuckte instinktiv in Richtung seiner Hüfte, wo in einem verdeckten Holster seine Waffe steckte.
Fünfzehn Meter Abstand bis zur Sperre.
Er sah sich hektisch nach allen Seiten um. Nichts. Weit und breit niemand zu sehen. Nur dichter Wald und das blitzende Licht in der Mitte der grauen Asphaltpiste.
»Alina? Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja.« Sie atmete hörbar aus. »Haben Sie eine Ahnung, was das hier soll?«
Bevor Holland etwas sagen konnte, trat die Antwort in Gestalt eines dürren Forstarbeiters zwischen den Bäumen hervor. Der Mann trug eine orangegelbe Warnweste und war mit einem langen Reisigbesen ausgestattet, den er wie ein ungeliebtes Kind neben sich herzog. Er ging bis zur Mitte der Fahrbahn und schaute gelangweilt zu ihnen herüber. Dann streckte er den Arm in die Höhe. Irgendwo erhob sich ein voluminöses Schnaufen, und wenig später schob sich ein Stück weiter vorn ein monströser Forsttraktor aus dem Wald. Im Stahlgreifer seines Hydraulikarms pendelte ein Bündel Baumstämme hin und her, und ihr Gewicht schien den Koloss fast aus den Angeln zu heben. Im Schritttempo überquerte er die Straße und wurde schließlich auf der anderen Seite wieder vom Wald verschluckt. Nachdem das Fauchen des eisernen Dinosauriers verstummt war, begann der Forstarbeiter gemächlich damit, verlorene Zweige und Rindenstücke von der Straße zu fegen.
Holland schüttelte den Kopf und schielte zu Alina, die nur stur geradeaus blickte. Verstohlen mogelte er seine Hand von seiner Waffe weg. Er ärgerte sich über sich selbst. Fast hätte er überreagiert. Sah er jetzt schon Gespenster? Es war doch klar, dass unterwegs keine Gefahr drohte. Immerhin ahnte der Buchhalter nichts von Alinas wahren Motiven. Und er war gewiss nicht auf die Idee gekommen, sie auf freier Strecke in einen Hinterhalt zu locken.
Rhythmisch, aber keineswegs eilig kratzte der Besen des Forstarbeiters über den Asphalt. Der Mann versah seine Arbeit mit stoischer Ruhe, gerade so, als wolle er ein ärgerliches Hupen provozieren, um sich dann noch mehr Zeit zu lassen. Holland griente säuerlich. Die Situation war gleichermaßen absurd wie aussichtslos. Sie erinnerte ihn an die Sommer bei seinen Großeltern auf dem Dorf. An die gemeinsamen Ausflüge im überhitzten Trabant. Wenn der Melker es wieder einmal geschafft hatte, genau vor ihnen die fleckige Leine mit dem Schild »Vorsicht Viehaustrieb« über die Straße zu spannen, hinter der dann minutenlang teilnahmslose Kühe von der linken Weide auf die rechte schlichen oder umgekehrt. Da hatte Fluchen auch nie geholfen, sondern nur Gelassenheit. Oder wenigstens Selbstbeherrschung.
»Endlich«, vernahm er Alinas Stimme. Der Waldarbeiter räumte die Straßensperre zur Seite.
Der Weg war frei.
»Wurde auch Zeit.« Holland sah auf die Uhr. Sie hatten fast eine Viertelstunde verloren. Inzwischen war es vier Minuten nach neun Uhr. Vier Minuten nach ihrer Verabredung. Und sie hatten ihr Ziel noch nicht erreicht. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät.
»Er wird warten«, sagte Alina, die seine Überlegungen zu erraten schien. »Wir sind gleich da.« Sie ließ den Pajero anrollen und beschleunigte zügig. Wie ein ungestümer Eindringling fegte der Geländewagen durch das abgelegene Revier. Niemand folgte ihnen, und niemand kam ihnen entgegen. Hier gab es nur den allumfassenden Wald und das schmale Asphaltband vor ihnen, von dem hin und wieder unbefestigte Forstwege abzweigten und in ein noch tieferes Nichts führten. Holland versuchte sich zu orientieren. Sie mussten sich jetzt irgendwo nordwestlich von Belzig bewegen. In dieser Gegend kannte er sich eigentlich ziemlich gut aus, zumindest hatte er das früher einmal. Allerdings war er schon etliche Jahre nicht mehr hier gewesen. Aber sie hatten ja das Navi, das Alina immer im Blick behielt.
Tatsächlich dauerte die Fahrt nicht mehr sehr lange.
»Da vorn ist es!«, verkündete seine Begleiterin, als vor ihnen am Fahrbahnrand ein grünlich verwittertes Parkplatzschild auftauchte. Ein darunter montierter Holzpfeil wies nach links. »Das ist unser Treffpunkt.«
Alina bog von der Straße auf einen Schotterweg, der von kräftigen Grasbüscheln durchsetzt war. Die Zufahrt wurde offensichtlich wenig frequentiert. Nach etwa zehn Metern eröffnete sich eine mehr oder weniger ebene Fläche. Sie war kaum als Parkplatz zu erkennen, sondern wirkte eher wie eine gewöhnliche Lichtung. Alina gab vorsichtig Gas, und der Geländewagen schaukelte in die Mitte des kleinen Platzes, wo sie anhielt und den Motor ausschaltete.
Holland spähte in die Runde. Der Pajero war das einzige Fahrzeug. Vom Buchhalter keine Spur.
Der Ort wirkte völlig verlassen.
»Sind wir hier richtig?«, fragte er.
»Ja. Das ist die vereinbarte Stelle.«
Holland sah auf die Uhr. »Neun Uhr fünfzehn. Eine Viertelstunde zu spät.«
»Ich glaube nicht, dass er schon da war und wieder gegangen ist.«
»Gut. Warten wir.«
Sie stiegen aus dem Geländewagen. Nach der Fahrt tat es gut, sich ein wenig die Füße zu vertreten. Der Parkplatz war von hohen Kiefern umgeben. Die Luft stand warm und bewegungslos zwischen den Bäumen. Außer Insektenbrummen und gelegentlichen Vogelrufen war nichts zu hören.
Eine Weile schlenderten sie auf und ab. Die Minuten verstrichen. Holland nutzte die Zeit, um das Terrain noch etwas gründlicher in Augenschein zu nehmen, aber er konnte nichts Verdächtiges ausmachen. Ihm fiel auf, dass auch Alina ihre Umgebung aufmerksam inspizierte.
Irgendwann blieb er stehen. »Sieht so aus, als ob Ihr Buchhalter kneift.«
»Warum sollte er?« Alina hob die Hände. »Er ist nicht mehr der Jüngste. Vielleicht braucht er einfach länger.« Sie grinste schief.
»Glauben Sie wirklich? Sie haben gesagt, er habe eine Datsche in der Nähe. Da sollte es ihm nicht schwerfallen, pünktlich zu sein. Nein, ich befürchte, er hat es sich anders überlegt.«
»Er steht zu seinem Wort. Vertrauen Sie mir.«
»Wenn er sich nur verspäten würde, hätte er Sie längst angerufen.«
»Nicht unbedingt.« Alina hielt ihr Mobiltelefon hoch. »Hier gibt es keinen Empfang.«
»Hmmm.«
Sie schwiegen.
»Es tut mir leid, Alina«, erklärte Holland dann. »Aber ich bin sicher, der Mann hat Sie versetzt.« Er drehte sich noch einmal zur Straßenzufahrt. Nein, da war nichts. Kein Auto. Kein Motorrad. Kein Fahrrad. Kein Fußgänger. Niemand. Er sah zu Alina und schüttelte den Kopf. »Lassen Sie uns nach Hause fahren.«
In diesem Moment fiel sein Blick auf ihre Hand.
Auf die Pistole, die sie hielt. Und die mitten auf seine Brust gerichtet war.
»Sie haben recht. Er kommt nicht mehr«, sagte Alina kalt. »Er ist längst da. Der Mörder meines Bruders steht genau vor mir.«
Holland war so perplex, dass er die Bedeutung der Worte kaum erfasste. Seine ganze Aufmerksamkeit wurde von der mattschwarzen Waffe beansprucht, die auf ihn zielte. Eine Jarygin, russische Produktion, neun Millimeter, registrierte sein Unterbewusstsein nutzloserweise, denn Pistole war Pistole, und mehr war jetzt nicht interessant.
Mit einem winzigen Verzug reagierte sein Körper, und seine Muskeln spannten sich.
»Halt!«, rief Alina mit schneidender Stimme. »Keine Bewegung!« Katzenhaft wich sie einige Meter zurück und brachte sich damit aus der Zone, in der Holland vielleicht noch eine Chance gehabt hätte, sie zu entwaffnen.
»Sind Sie wahnsinnig?«, brüllte er, nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte. »Nehmen Sie die Waffe runter!«
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, konterte Alina unbeeindruckt. »Heben Sie langsam die Hände und machen Sie nacheinander genau das, was ich sage.«
»Was soll das Ganze? Das ist kein Spaß!«
»Richtig. Sie ziehen jetzt mit zwei Fingern Ihrer rechten Hand vorsichtig Ihre Pistole aus dem Holster und lassen sie auf den Boden fallen.«
»Ich habe keine Waffe bei mir.« Ein wenig aussichtsreicher Versuch, dachte Holland, aber etwas Besseres fiel ihm spontan nicht ein.
»Dann haben Sie Pech. Wenn ich nicht gleich eine Pistole zwischen Ihren Fingern sehe, sind Sie Geschichte. Also …«
Er nestelte die kompakte Glock 19 aus ihrer Halterung, was mit zwei Fingern ein kleines Kunststück war, und warf die Waffe vor sich ins Gras. »Bitte sehr.«
»Gut. Jetzt das Telefon!«
Innerhalb weniger Sekunden landete Hollands Mobiltelefon neben der Glock. Dann sein Jackett, sein Gürtel mit den zwei Reservemagazinen und der Inhalt seiner Hosentaschen.
»Sechs Schritte nach hinten und stehen bleiben!«, befahl Alina. Sie rückte nach, sammelte die Gegenstände auf und warf sie ins Auto. Bei allem, was sie tat, ließ sie ihn keinen Moment aus den Augen. Allmählich begriff er, dass sich hier etwas völlig Verrücktes abspielte. Seine Schutzperson verwandelte sich in seine Gegnerin.
Aber, zum Teufel, warum?
Alina schloss den Wagen ab und kam auf ihn zu. »Na, haben Sie sich etwas beruhigt?«, fragte sie spitz.
»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Ich habe niemanden umgebracht. Weder Ihren Bruder noch sonst jemanden. Wie kommen Sie überhaupt darauf?«
»Alles zu seiner Zeit.« Sie deutete mit der Pistole in Richtung Wald. »Wir machen jetzt einen kleinen Spaziergang.«
Holland sah in die angedeutete Richtung. Zwischen den Bäumen entdeckte er einen unscheinbaren Weg.
»Genau dort geht es lang.« Alina trat hinter ihn, achtete aber offenbar auf einen sicheren Abstand. »Abmarsch.«
Sie betraten den Wald und folgten dem engen Steig.
Holland ließ die letzten Minuten noch einmal Revue passieren und lachte freudlos auf. »Finanzbuchhalter. Dreiundsechzig Jahre. Klein und korpulent? Wirklich eine tolle Geschichte.«
»Sie haben sie mir abgekauft. Das allein zählt«, gab Alina trocken zurück.
»Das teure Auto, Ihr schickes Outfit, mein Schutzauftrag – nichts als ein einziges großes Ablenkungsmanöver. Stattdessen hatten Sie es von Anfang an auf mich abgesehen?«
»Exakt erfasst.«
»Eins zu null für Sie«, stellte Holland bitter fest. Er stoppte und drehte sich zu Alina um. »Aber verraten Sie mir auch, was wir hier eigentlich spielen?«
»Das ist kein Spiel.«
»Sondern?«
»Sie erfahren es früh genug. Jetzt halten Sie den Mund und gehen Sie weiter!«
Holland tat es. Aber er verstand es nicht. Was geschah hier gerade?
Es konnte sich bloß um eine Verwechslung handeln! Um ein Missverständnis, das sich im Handumdrehen aufklären würde. Alles andere ergab überhaupt keinen Sinn. Doch das Verstörende war – die Frau hinter ihm wirkte nicht im Geringsten so, als würde sie zweifeln.
Es half nichts. Er musste sich fügen.
Erst einmal.
Sie marschierten zügig voran. Auf Pfaden, die sich kaum vom Untergrund abhoben, die Alina aber augenscheinlich kannte. Es war eine entlegene und menschenverlassene Gegend, durch die sie sich bewegten. Ein nicht enden wollendes Meer aus Kiefern, Fichten und versprengten Laubbäumen. Was auch immer sie vorhatte – hier musste Alina nicht befürchten, gestört zu werden.
Nach etwa dreißig Minuten stießen sie auf eine aufgegebene Forststraße. In regelmäßigen Abständen kreuzte sie weitere Trassen, die rechtwinklig und schnurgerade durch das Unterholz schnitten. An den Ecken ragten verrostete Stromkästen aus dem Boden, und durch das Moos zogen sich erodierende Wegeinfassungen. Allem wohnte eine zweckgerichtete Struktur inne, auch wenn die Natur längst dabei war, die alte Ordnung zu verwischen.
Holland sah sich überrascht um. Das Bild erschien ihm auf einmal merkwürdig vertraut. Aber das konnte doch nicht –
»Kommt Ihnen etwas bekannt vor?«, kam es von Alina, die sein Stutzen bemerkt hatte. »Folgen Sie dem Mittelweg. Wir haben es gleich geschafft.«
Holland schwieg und ging weiter.
Nach zweihundert Metern schälte sich plötzlich ein umzäuntes Gelände aus dem Dämmer des Waldes. Hinter einer Palisade aus Stacheldraht und einem Filz aus wilden Büschen lugten weißgraue Baracken hervor. Dazwischen Plattenwege, Laternenmasten und brüchige Terrassen. Das Anwesen war lange verlassen, die Anlagen waren von Gestrüpp überwuchert.
Das hatte nichts mehr mit Zufall zu tun! Jetzt wusste er, wohin ihn Alina gelotst hatte. Er wurde langsamer und ließ seinen Blick über das abgesperrte Areal schweifen, das in dieser Abgeschiedenheit wie eine entrückte Insel anmutete.
Verlorenwasser.
Das alte Trainingscamp seiner Gruppe.
Er war mehr als einmal hier gewesen. In einer anderen Zeit. In einem anderen Leben.
»Gehen Sie zum Tor und bleiben Sie da stehen!«, riss ihn Alina aus seiner Betrachtung.
Er befolgte die Anweisung. Vor dem Maschendrahtgatter drehte er sich um. »Und nun?«
»Jetzt schließen Sie auf.« Sie warf ihm einen Schlüsselbund vor die Füße. »Der Kleine ist für das Vorhängeschloss.«
Holland bückte sich und hob den Bund auf. Alina hielt weiterhin Abstand, bestimmt verfolgte sie jede seiner Bewegungen. Keine Chance, sie zu überwältigen.
Er suchte den kleinsten Schlüssel aus. Registrierte das nagelneue Vorhängeschloss. Öffnete es und zog den Sperrriegel zurück.
Die Torflügel quietschten, als er sie aufzog, aber sie bewegten sich erstaunlich leichtgängig.
Dann trat er zur Seite und wartete.
»Nach Ihnen.« Alina machte eine schroffe Armbewegung. »Zu der linken Baracke dort.«
Er atmete tief aus. Dann passierte er das Tor. Arbeitete sich durch kniehohes Unkraut und dornige Ranken. Ein aufwühlendes Gefühl ergriff von ihm Besitz.
Der Ort sog ihn förmlich auf. Gab sich gleichermaßen bizarr wie familiär. Holland erkannte alles wieder. Die steinerne Tischtennisplatte neben dem Volleyballplatz. Das Heizhaus mit dem Schornstein. Die Garagenzeile. Den kleinen Kultursaal, der auch als Kantine gedient hatte. Und natürlich ihre Baracke.
Da stand er nun wieder. Nach wie viel Jahren?
»Jetzt den eckigen Sicherheitsschlüssel!«, drang Alina in sein Bewusstsein. »Die Barackentür öffnen und den Schlüssel stecken lassen.«
Er tat wie geheißen. Auch hier war das Schloss neu. Hatte Alina es eingebaut?
Das Türblatt schwang auf. Vor ihm lag ein dunkler Gang, der durch die gesamte Länge des Gebäudes führte. Links und rechts befanden sich Räume. Einige waren verschlossen, aus anderen dämmerte fahles Tageslicht in den Flur. Abgestandene Luft drückte ihm entgegen. Es roch nach Staub und altem Linoleum.
»Geradeaus, bis ich ›Halt‹ sage.« Alinas Stimme bekam einen warnenden Klang. »Und keine Experimente. Ich schieße sofort.«
Holland wusste, warum seine Begleiterin jetzt misstrauisch wurde. Das düstere Interieur eröffnete ihm Vorteile. Er traute sich zu, Alina mit einem Sprung in eines der seitlichen Zimmer zu entwischen. Aber dann? Wie weiter? Dort gab es keinen separaten Ausgang, wie er wusste. Spätestens nach drei Schritten hätte sie ihn wieder im Visier. Also blieb er ruhig und folgte dem Flur, bis Alina ihn aufforderte, erneut stehen zu bleiben.
»Sehr gut«, lobte sie ihn. »Und nun bitte in den linken Raum.«
Holland zögerte und bemerkte den Türrahmen, der sich deutlich von allen anderen unterschied. Es war eine Einfassung aus solidem Eisen, und statt eines Türblatts gab es hier ein massives Gitter.
In diesem Moment erkannte er Alinas Absicht. Aber es war zu spät.
»Bitte eintreten und weitergehen bis zur gegenüberliegenden Wand«, hörte er sie sagen.
Er tat es.
Hinter ihm schlug das Eisengitter zu, und ein sattes Schließgeräusch beraubte ihn jeder Hoffnung auf ein schnelles Entkommen. Es brauchte nicht viel, um zu erkennen, dass er endgültig festsaß. Denn er wusste, wo er sich befand. Im sichersten Raum des ganzen Camps. In der ehemaligen Waffenkammer.
»Ein bisschen karg, das Quartier. Aber was tut man nicht alles für ein doppeltes Honorar«, stellte er bissig fest.
Alina reagierte nicht. Sie stand im Gang hinter dem Türgitter und sah ihn einfach nur an. Nicht hämisch, nicht triumphierend, sondern auf beängstigende Weise gefasst.
»Können Sie mir jetzt bitte sagen, was das alles soll?«, fragte er.
»Sie wissen, worum es geht.«
»Sie möchten den Mörder Ihres Bruders zur Rede stellen.«
»Richtig. Zur Rede stellen …« Alinas Ton wurde frostig. »Und bestrafen!«
»Sie wollen Rache. Ich verstehe.« Holland schluckte. »Aber ich sage es Ihnen noch einmal: Sie haben den Falschen. Ich bin nicht Ihr Mann. Ich kenne Ihren Bruder nicht.«
Alina kniff die Augen zusammen. »Sie waren nicht immer Privatermittler, nicht wahr?«
Woher …?
»Nein. Das war ich nicht.«
»Sie waren Polizist.«
»Stimmt.«
»Damals. In der DDR.«
»So ist es.«
»Ein besonderer Polizist …«
»Nicht mehr als andere.« Holland zuckte die Schultern. »Ich habe bei den Versorgungsdiensten gearbeitet. Technikbeschaffung, Fahrzeuge, Gebäude, Bewaffnung. Ein stressiger Job, ohne Frage. Aber besonders? Eher nicht.« Er winkte lustlos ab. »Ist alles lange her.«