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Deutschland spürt das Ende der Behaglichkeit Hunderttausende Flüchtlinge suchen Schutz in Europa. Die EU scheint zu zerfallen. Die Ikone Volkswagen wankt. Ein Kalter Krieg gegen Russland ist plötzlich denkbar. Das Unbehagen der Bürger steigt: Woher kommt all das Chaos? Die Flüchtlinge sind die ersten sichtbaren Zeugen für die globale Dimension des Umbruchs. Nach Jahrzehnten des Friedens werden auch wir von den modernen Kriegen eingeholt, die rund um uns toben. Diese modernen Kriege nützen die Möglichkeiten der technologisch-industriellen Revolution und sind daher besonders effizient. Waffen werden nicht mehr von Soldaten bedient, sondern von Computerspezialisten. Söldner kämpfen anstelle regulärer Armeen. Finanzkrieger und Spekulanten machen Jagd auf die Sparguthaben und den Sozialstaat. Die Königsdisziplin ist der Cyber-Krieg: Stromversorgung, Krankenhäuser, Telefonnetze sind anfällig für Attacken. In den Medien toben Propaganda-Schlachten. Das Merkmal der modernen Kriege: Wir wissen nicht mehr, wer ist Feind, wer Freund. Deutschland und Europa sind nicht gewappnet. Die Eliten haben sich in den vergangenen Jahren hauptsächlich um die Absicherung ihres persönlichen Status Quo gekümmert. Diese Haltung kann uns zum Verhängnis werden – denn die technologisch-industrielle Revolution hat nicht vor, an unseren Grenzen Halt zu machen. Deutschland ist gezwungen, sich selbst neu zu erfinden. Jetzt geht es darum, die Veränderung zu gestalten – oder von ihr überrollt zu werden.
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Seitenzahl: 392
Für Fahira und Sabira
Als ich im Jahr 1996 von Wien nach Berlin geholt wurde, um aus dem ehemaligen SED-Bezirksblatt »Berliner Zeitung« eine ordentliche Zeitung zu machen, war Deutschland für viele europäische Einwanderer die ideale Mischung von Behaglichkeit und Aufbruch. Man konnte viel erleben, ohne etwas zu riskieren. Die Wiedervereinigung war zwar ein radikaler Bruch, traf aber in erster Linie die Ostdeutschen. Den westdeutschen Eliten bot sich die einmalige Chance einer Zeitreise in die Vergangenheit. So verließen junge, neugierige und außerordentlich belesene Journalisten die behaglichen Redaktionsräume der FAZ, um für ein ehemaliges SED-Propagandablatt die Überreste der DDR zu bestaunen. Sie notierten die Aussagen von müden Helden und eloquenten Verrätern, porträtierten die Zeitzeugen und spotteten über die Spießigkeit der Diktatoren von Wandlitz. In meist brillanten Texten gelang es ihnen, von Goethe bis zur Love Parade immer die richtige historische Reminiszenz zu finden.
Überlegungen, welche Folgen die friedliche Revolution von 1989 für das Deutschland der Zukunft haben würde, standen für die meisten nicht im Vordergrund. Die DDR-Bürgerrechtler spielten keine Rolle. Bärbel Bohley, eine Art Jeanne d’Arc des Mauerfalls, lebte immer noch in ihrer verfallenen Wohnung am Prenzlauer Berg. Später ging sie nach Bosnien, um dem Land beim Wiederaufbau nach dem Krieg zu helfen. Die politischen Macher setzten auf einen wilden Bauboom. Der Alexanderplatz, wo die Redaktion liegt, sollte eine Skyline aus Wolkenkratzern erhalten, vor der selbst New York erblassen würde. Zwanzig Jahre später sieht der Platz immer noch aus wie zu Mielkes Zeiten. Nur die Ost-Kneipe »Das Setz-Ei« hat Pleite gemacht und ist verschwunden. Der DDR-Vorzeigebau, der »Palast der Republik«, wurde abgerissen. An dem Ort wird das kaiserliche Stadtschloss rekonstruiert.
Warum hat »die Wende« eigentlich keinen Modernisierungsschub in Deutschland ausgelöst? Die deutschen Eliten haben damals vor allem leidenschaftlich darüber gestritten, welche Folgen die Wiedervereinigung für die Vergangenheit Deutschlands haben würde. Die Zukunft sollte aus der Vergangenheit definiert werden. Ich erinnere mich an nächtelange hitzige Diskussionen mit dem Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin: Es ging um die Frage, ob die Quadriga vom Brandenburger Tor aus heraldischer Sicht als neues Symbol für die »Berliner Zeitung« taugen könnte, oder das als eine Reminiszenz an Preußen missverstanden werden würde. Wir verwarfen die Idee und entschieden uns für die Modernisierung der Zeitung.
Ich gewann damals den Eindruck, dass die deutschen Eliten eine gewisse Aversion gegen wirklich radikale Veränderungen haben. Unberechenbare Erneuerer werden misstrauisch beäugt. Man fürchtet den radikalen Bruch. Deutschland setzt auf die Perfektion des Bestehenden. Bei neuen Dingen will man erst mal abwarten, ob sie sich bewähren. Wenn allerdings einmal eine Neuerung vollzogen wurde, dann können sich die Deutschen wie kein anderes Volk der Welt an der »inkrementellen Verbesserung« erfreuen: Hier noch ein Schräubchen, da ein Rädchen, dort eine Stellschraube – so wird man Export-Weltmeister.
Doch schon um das Jahr 2000 zeigte sich auch in Deutschland, dass die nächste Umwälzung nicht so einfach zu absorbieren sein würde: Die Internet-Revolution machte die Wiedervereinigung über Nacht zu einer welthistorischen Petitesse. In Amerika legte der russische Einwanderer Sergey Mikhaylovich Brin den Grundstein zu einem neuen Imperium. Google sollte nur wenige Jahre später zu einer Macht werden, die im Zusammenspiel mit anderen Technologie-Giganten das Leben der Menschen auf dem Erdball verändert wie kein anderes Unternehmen in der Geschichte zuvor.
So wurden in Berlin Wende und Wiedervereinigung bald abgelöst von den Vibrationen der Internet-Revolution. Ich hatte das Glück, auch bei dieser »Revolution« dabei sein zu dürfen. Ich wurde vom norwegischen Internet-Pionier Knut Ivar Skeid geholt, um mit ihm gemeinsam die erste deutsche Online-Zeitung aufzubauen, die »Netzeitung«. Im Vergleich zu den Goldgräber-Tagen bei der »Berliner Zeitung« blieben die Deutschen für das damals als revolutionär geltende Projekt einer Tageszeitung ohne Papier nicht unter sich, sondern profitierten von der Internationalität des Internets: Hinter dem Projekt standen schwedische Investoren, das Führungsteam kam aus Norwegen, der Kulturchef war ein Schweizer Schriftsteller griechischer Herkunft.
Ich habe Deutschland in all diesen Umbrüchen als ein sehr stabiles Land kennen und schätzen gelernt. Veränderungen nähert man sich hierzulande aus einer unwiderstehlichen »Behaglichkeit« heraus. Das Wort ist altmodisch und für eine SMS schon fast zu lang. Lion Feuchtwanger hat es gerne verwendet, in seiner großen Wartesaal-Trilogie. Dort beschreibt Feuchtwanger, wie die damaligen deutschen Eliten – unter ihnen viele Juden – die Gefahren des Nationalsozialismus nicht kommen sahen. Sie hatten es sich »behaglich« in ihren Villen in Berlin-Dahlem oder in München-Schwabing eingerichtet. Das Donnergrollen, das die Katastrophe ankündigte, interpretierten sie als Laune der Geschichte. Auch Florian Illies schildert in seinem Buch »1913. Der Sommer eines Jahrhunderts« die seltsame Mischung aus behaglichem Gleichmut und nervöser Spannung am Vorabend des Ersten Weltkriegs: Alle dachten: »Wann geht es endlich los?«, wie Illies den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand ironisch denken lässt.1 Doch kaum einer konnte sich vorstellen, dass am Ende des Krieges der Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie und damit die komplette Neuordnung Europas stehen würden.
Im Jahr 2015 ist die Behaglichkeit der Deutschen einem bedrückten Unbehagen gewichen. Die Heiterkeit ist verflogen. An die Stelle der Gelassenheit ist eine latente Aggressivität getreten. Statt Zuversicht herrschen Beklemmung, Misstrauen, Verzagtheit und Angst. Zehntausende Menschen ziehen unter dem apokalyptischen Slogan »Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes« durch die eiskalten Straßen Dresdens. Die Bilder der fahlen Gestalten mit ihren seltsamen Fahnen sind verstörend. Manche Auftritte wie der des Schriftstellers Akif Pirinçci im Oktober 2015 sind so rassistisch, dass es sogar den Teilnehmern der Pegida die Sprache verschlägt. Die deutschen Eliten verbeißen sich in einem heftigen Streit über »links« oder »rechts«. Doch die Irritationen sind nicht mit neu aufgebrochenen, ideologischen Gräben zu erklären.
Erklärungen und vor allem Lösungen wird es aber bald brauchen, denn mittlerweile ist eine Welle der offenen Gewalt zu registrieren: In Heidenau attackierten Rechtsextreme im August 2015 eine Flüchtlingsunterkunft. In Berlin bedrohte im September 2015 ein verurteilter Terrorist Passanten und verletzte eine Polizistin mit einem Messer, nachdem er sich seiner elektronischen Fußfessel entledigt hatte. In Köln wurde im Oktober die Kandidatin für das Amt des Oberbürgermeisters bei einer Wahlveranstaltung niedergestochen.2
Deutschland ist von einem radikalen Umbruch erfasst worden, der sich in chaotischen Zuständen manifestiert. Die »Stellschraube« als Steuerungsinstrument versagt. Das Land muss sich Problemen stellen, die nichts mit der eigenen Vergangenheit, sondern ausschließlich mit der Zukunft der Welt zu tun haben. Alle die Probleme sind von »externen« Faktoren getrieben. Die Berliner Republik, die sich lange in der Rolle des Zuschauers gefiel, findet sich auf einmal in der Position des Getriebenen wieder. Andere bestimmen das Tempo. Die Herausforderungen sind gewaltig: Die Möglichkeit des Zerfalls der EU, die Gefahr eines neuen Kalten Krieges gegen Russland, der größte Skandal der Automobilgeschichte ausgerechnet bei Volkswagen, hunderttausende Flüchtlinge und Migranten, die scheinbar wie aus dem Nichts plötzlich auftauchen und hier leben wollen.
Deutschland hat jahrelang so getan, als sei der ewige Frieden ausgebrochen, nur weil zwischen Rhein und Oder alles so behaglich ablief. Diese Illusion hat dazu geführt, dass man am liebsten die Zeit angehalten hätte: Alles möge so bleiben, wie es ist. Die »friedliche Revolution« von 1989 hat die Illusion aufkommen lassen, dass Weltveränderungen immer ganz harmonisch vonstattengehen können, wenn man es nur ganz fest möchte. Die fröhliche Begrüßungs-Welle für die Flüchtlinge, als sich die Deutschen mit »Refugees Welcome«-Schildern an ihre nicht mehr existierenden Grenzen aufmachten, war in ihrer Choreografie von der Maueröffnung inspiriert: Auch damals hatten die Wessis die Ossis herzlich in Empfang genommen. Doch anders als bei der Wiedervereinigung leben wir im Jahr 2015 nicht in einer Zeit der globalen Friedenshoffnung. Anders als in den 1990er-Jahren sind die Militärs nicht überall weltweit auf dem Rückzug. Das Gegenteil ist der Fall.
Denn tatsächlich ist die Welt kriegerischer denn je. Die Möglichkeit, Kriege mit »modernen Mitteln« zu führen, hat die Lust vieler Regierungen geweckt, Veränderungen mit Gewalt zu erzwingen. Der Charakter von militärischen Konflikten hat sich nämlich dramatisch verändert. Waffensysteme werden nicht mehr von Soldaten, sondern von Computerspezialisten gesteuert. Kriege werden als Finanzkriege geführt: Mit einer einzigen gezielten Finanz-Spekulation kann eine ganze Volkswirtschaft in die Knie gezwungen werden. Kriege werden als Cyber-Kriege im virtuellen Raum geführt. Ein Angriff auf die Stromversorgung kann ein ganzes Land lahmlegen. Orchestriert werden die Kriege in Propagandaschlachten, die in den Medien und im Internet toben. Die modernen Methoden zeichnen sich dadurch aus, dass Gewalt ausgeübt werden kann, ohne dass die Opfer die Täter kennen. Die modernen Methoden versetzen Kriegs-Parteien in die Lage, anonym, unerkannt oder gar in der Maskerade eines anderen aufzutreten. Kriege werden nicht mit offenem Visier geführt. Der Begriff »Pegida« verweist gerade wegen seiner Absonderlichkeit auf das tiefe Unbehagen: Die Leute wähnen sich im Kriegszustand. Sie wissen aber nicht, wer eigentlich der Feind ist. Sie wissen auch nicht, wie sie auf den unbekannten Feind reagieren sollen. Sie suchen Sündenböcke und konstruieren Erklärungen. Sie fühlen sich bedroht und können sich nicht wehren.
Die Flüchtlinge sind die ersten sichtbaren, stummen Zeugen der modernen Kriege. Sie führen uns vor Augen, dass der Weltfrieden eine Illusion ist. Sie erinnern uns, dass Deutschland auch von den Kriegen, von denen es auf dem Heimatboden nichts gemerkt hat, profitiert – mit Milliardengewinnen für die Rüstungsindustrie. Wir können nicht mehr wegschauen. Die Flüchtlinge ziehen in langen Trecks über die mazedonischen Hügel. Sie kämpfen verzweifelt gegen die unbarmherzigen Wellen in der Ägäis, reißen entnervt die Absperrungen in kroatischen Lagern nieder. Sie ziehen planlos durch die Wälder der Steiermark, und alle haben nur ein Ziel: »Germany«. Dort soll alles besser werden. Ein befreundeter Arzt berichtete mir von einem Pakistani, der es über tausende Kilometer bis nach Berlin geschafft hatte: Der Flüchtling erzählte ihm, er sei mit drei Freunden in Pakistan aufgebrochen, weil sie dort keine Zukunft gehabt hätten. In Afghanistan seien zwei von ihnen erschossen worden. Einer sei in der Türkei verdurstet. Nur er habe es geschafft. Nun sitzt er in der Praxis eines deutschen Arztes indischer Herkunft und beide sind hilflos, weil beide nicht wissen, wie es weitergehen soll.
Die »Modernität« unserer Kriege ist durch die Verschmelzung von Technologie und Industrie möglich geworden, einem globalen Prozess, der sich seit dem Jahr 2000 vollzieht. Wir bezeichnen diesen Prozess daher als technologisch-industrielle Revolution. Die erste Welle dieser Revolution waren die Anfangsjahre des Internet. Heute läuft die zweite Welle: Alle Möglichkeiten der Vernetzung, der Datenerfassung und der globalen Kommunikation werden miteinander verbunden. Diese Welle hat dazu geführt, dass große Technologie-Unternehmen die Weltwirtschaft zu dominieren beginnen.3
Die technologisch-industrielle Revolution hat eine zivile und eine militärische Komponente: In der zivilen werden neue Produkte geschaffen, die den Alltag ebenso verändern wie die Arbeit in den Unternehmen. In der militärischen Komponente werden alle Elemente kombiniert, um politische und wirtschaftliche Interessen mit Gewalt durchzusetzen. In solcherart »modernen« Kriegen werden Technologie und Industrie-Güter als Waffen eingesetzt, erprobt und weiterentwickelt. Viele der großen Technologie-Konzerne sind sowohl im zivilen Bereich als auch für die Rüstungsindustrie tätig. Der Krieg ist die Avantgarde dieser Revolution. Die »Kollateralschäden« in Form von zivilen Opfern, Vertreibung und Zerstörung werden in Kauf genommen, um geopolitische Interessen durchzusetzen und wirtschaftliche Vorteile zu erringen.
Die technologisch-industrielle Revolution verläuft global, gleichzeitig und ohne Hoheitsabzeichen. Es ist nicht mehr zu erkennen, wer der Urheber einer Aktion ist. Die Folgen jeder Aktion können überall auf der Welt auftreten.
Wegen des universalen Charakters dieser Kriege kann sich niemand der Entwicklung entziehen – auch Deutschland nicht. Die Stärke der deutschen Wirtschaft, die politische Stabilität und der Wohlstand sind keine Garanten mehr für die Zukunft. Im Gegenteil: Vom Erfolg verwöhnt und allem Neuen eher mit Skepsis als mit Mut zum Risiko begegnend, hat Deutschland die ersten beiden Wellen der technologisch-industriellen Revolution glatt verschlafen. Das hat gravierende Folgen: Die neuen Weltkonzerne heißen nicht mehr Volkswagen oder BMW, sondern Google, Apple, Yandex, Symantec oder Alibaba. Die jungen Giganten exportieren ihre Produkte in alle Welt.4 Deutschland droht eine Zukunft als Werkbank der global tätigen Technologie-Konzerne, mit einschneidenden Veränderungen für Wirtschaft und Gesellschaft.
Die Schwäche Deutschlands liegt auch in dem bequem und an manchen Stellen morsch gewordenen, politischen Establishment. Die Erfolge der Untertanen haben die Regierungen träge und selbstgefällig gemacht. »Heute können wir feststellen: Deutschland geht es so gut wie lange nicht«, sagte Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung im Januar 2014.5 Im Herbst 2013 hatte die Kanzlerin vor der Wahl gesagt: »Ganz grundlegend neue Sozial- und Wirtschaftsreformen brauchen wir nicht.«6
Unter Angela Merkel hat sich der Wandel Deutschlands zur »Postdemokratie« vollzogen. Dieser Begriff des Soziologen Colin Crouch bezeichnet einen Zustand, in dem die offizielle Politik nur noch als Marketing funktioniert. Die Sachfragen werden ohne Mitwirkung der Wähler in elitären Zirkeln entschieden. Was die Wähler in wichtigen politischen Fragen denken, kümmert die Politik nicht. Politik und Gesellschaft driften auseinander. Das zeigte sich in den vergangenen Jahren in fast allen wichtigen Fragen: Meinungsumfragen ergaben im Herbst 2015 übereinstimmend, dass eine klare Mehrheit der Deutschen in der Flüchtlingskrise eine andere Politik will als die Bundesregierung.7 Es war die Stunde der Opportunisten: Nachdem den Bürgern jahrelang versichert worden war, Griechenland sei »auf einem guten Weg«8, und der Aufschwung sei nahe, empfahl Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Juni überraschend den vorübergehenden Austritt Griechenlands aus der Währungsunion. Im Konflikt mit Russland ergaben Umfragen, dass die Mehrheit der Deutschen eher der russischen Position glaubte als der der eigenen Regierung.9 Trotz der gegenteiligen offiziellen Lesart sehen die Deutschen Russland nicht als Aggressor im Konflikt, der um die Ukraine erbittert geführt wird.10 Der Skandal um Volkswagen traf die Deutschen im Mark. Erstmals hegten sie fundamentale Zweifel an der Integrität ihrer Industrie-Kapitäne. Millionen Existenzen sind direkt oder indirekt von der Automobil-Industrie abhängig.11 Experten sagen, der VW-Skandal könnte für Deutschland teurer werden als ein Griechenland-Crash.12
Die Bruchlinien zeigen, dass die restaurativen Kräfte in Deutschland gegen den Willen der Bevölkerung agieren. Die von den Parteien dominierten politischen Entscheidungen zielen allein darauf ab, den Status quo zu erhalten. Doch die Bevölkerung braucht eine Perspektive für ihre Zukunft in den Wirren der technologisch-industriellen Revolution. In einer solchen Situation kommt es sehr auf die Fähigkeit einer Regierung und auf die Aufgeschlossenheit der Eliten an. Sie muss der Bevölkerung die Angst nehmen und einen Rahmen schaffen, in dem sich ein Land erneuern kann.
Das Ende der Behaglichkeit bedeutet für Deutschland, sich schleunigst von der Haltung des Bewahren-Wollens zu verabschieden. Deutschland muss dazu sein postdemokratisch-starres System überwinden und in Europa eine Führungsrolle übernehmen. Diese muss sie nutzen, um die ungeheuren Potenziale der technologisch-industriellen Revolution für eine nachhaltige Entwicklung zu heben. Für sinnvolle Produkte gibt es echten gesellschaftlichen Bedarf, einen wirtschaftlichen Markt und die politische Notwendigkeit.
Dazu müssen keine Kriege geführt werden. Die Welt sucht noch immer eine Antwort auf die entscheidende Frage in der fundamentalen Auseinandersetzung um die neuen Technologien: Werden sich jene durchsetzen, die die neuen technischen Möglichkeiten zum Schaden der Menschheit zu kapern versuchen? Oder gewinnen jene, die mit dem Bruch einen Neuanfang zum Wohle der Gesellschaft setzen können? In den USA wird diese Debatte aktuell geführt: In einem offenen Brief des MIT wiesen Technologie-Experten, Ökonomen und Investoren im Sommer 2015 darauf hin, dass »wir uns in der sehr frühen Phase eines großen technologischen Wandels befinden«. Sie benennen all die Gefahren, die die technologisch-industrielle Revolution mit sich bringt. Zugleich kommen sie zu dem Schluss, dass die Menschheit dieser Entwicklung nicht »machtlos« gegenübersteht. Sie glauben, dass die Gesellschaft in der Lage ist, darüber zu entscheiden, ob die Revolution zur Zerstörung oder zu mehr Gerechtigkeit und einem besseren Leben für viele führen wird.13 Jerry Kaplan, der sich mit den Auswirkungen der Revolution auf die Menschen befasst hat, sagt, der radikale Umbruch werde in jedem Fall »brutal« verlaufen, weil viele Menschen ihren Job verlieren werden.14
Dieses Welten-Getöse hat auch der deutschen Behaglichkeit ein Ende bereitet. Die heitere Zuversicht der rheinischen Republik ist einer gespannten Ängstlichkeit gewichen. Mein Eindruck ist, dass die Verunsicherung nicht daher kommt, dass die Deutschen die Probleme für unlösbar halten. In der Flüchtlingskrise etwa hat man gesehen, dass die ehrenamtliche Hilfsbereitschaft enorm ist. Die moralische Kraft ist vorhanden, vor allem bei der Bevölkerung. Doch strukturell ist Deutschland schlecht vorbereitet auf die rapiden Veränderungen: Eine Statistik zeigt, dass Deutschland im Jahr 2014 nicht mehr unter den zehn führenden Nationen im Technologie-Bereich aufscheint.15
Das Unbehagen findet seinen Ausdruck in dem massiven Dissens zwischen dem, was die Bürger denken, und dem, was die Regierung ihnen einzureden versucht: Man traut den politischen und wirtschaftlichen Führern nicht zu, dass sie die intellektuelle, charakterliche und fachliche Kompetenz haben, die anstehenden Probleme zu lösen. In seinem Buch »Why Nations Fail« hat der angesehene US-Ökonom Daron Acemoglu an zahlreichen Fallbeispielen analysiert, warum Nationen zerbrechen. Auch wenn die regionalen, politischen oder kulturellen Umstände sehr unterschiedlich sein mögen: Der Zusammenbruch von Staaten lässt sich immer auf einen zentralen Grund reduzieren. Staaten zerfallen, wenn sich eine kleine politische und wirtschaftliche Elite, in deren Händen die Geschicke des Gemeinwesens liegen, nicht mehr um das Wohl des ihnen anvertrauten Volkes kümmert, sondern sich nur noch für den Ausbau und den Erhalt ihrer eigenen Macht interessiert. In solch einer Situation können äußere Einflüsse den entscheidenden Anstoß geben, um ein innerlich morsches Gebilde zum Einsturz zu bringen. Acemoglu schildert sehr anschaulich, wie im Jahr 1346 die Pest über das Schwarze Meer und den Don-Fluss nach Europa hereinbrach. Während einige Staaten nach dem Ende der Epidemie aufblühten und gestärkt aus der Krise hervorgingen, versanken andere im Totalitarismus und fielen für Jahrhunderte in ihrer Entwicklung zurück.
Eine ähnlich einschneidende Wirkung haben in der Regel tiefgreifende technologische Revolutionen: Acemoglu erzählt in seinem Buch das Beispiel des Londoner Erfinders William Lee, der im Jahr 1583 den ersten Webstuhl erfunden hatte. Lee hatte sich daran gestoßen, dass seine Frau so viel unnötige Zeit mit dem Stricken von Strümpfen vergeudet. Er kam auf die Idee, das Problem maschinell zu lösen und erfand den ersten Handkulierstuhl. Er war stolz und überzeugt, dass diese Erfindung das Leben der Menschen verbessern würde, weil man mit der Industrialisierung der Textilwirtschaft eine Menge Zeit und Geld werde sparen können. Doch als er die Maschine Königin Elizabeth I. vorstellte, war diese nicht begeistert, sondern empört: Er möge doch bedenken, wie viele Menschen ihre Arbeit verlieren, wenn diese Arbeit künftig von einer Maschine verrichtet werden würde. Dann müssten ihre Untertanen betteln, und das wünsche sie nicht. Die Königin schickte Lee fort und weigerte sich, seine Erfindung zu patentieren.16
In jeder industriell getriebenen Revolution gibt es Gewinner und Verlierer. Revolutionen sind wichtig für die Gesellschaft, weil sich bestimmte Prozesse verändern und unnütze Ressourcen-Verschwendung beendet wird: Solange man Nachrichten den Menschen nur in Papierform übermitteln konnte, musste man Bäume fällen und das bedruckte Papier mit Lastwägen und Boten an die Konsumenten bringen. Für eine Internet-Zeitung wird kein Baum gefällt, aber eben auch kein Drucker oder Fahrer mehr beschäftigt. Stattdessen werden Arbeitsplätze für Programmierer, Designer und Video-Macher geschaffen.
Fünfzehn Jahre nach der Jahrtausendwende befinden wir uns heute in der zweiten Phase der technologisch-industriellen Revolution. Die Zeit des unbefangenen Experimentierens ist beendet. Wir erleben hautnah und greifbar, was der Ökonom Joseph Schumpeter die »kreative Zerstörung« genannt hat. Alte Industrien werden gnadenlos ersetzt, neue treten an ihre Stelle. Dieser Ablösungsprozess betrifft nicht nur die Wirtschaft, er betrifft auch die Staaten und damit die Gesellschaften in einem umfassenden Sinn. Staaten oder Staatenbünde stehen immer in Konkurrenz zueinander. Die technologische Revolution hat auch die Möglichkeiten der Staaten radikal verändert. Sie nutzen alle neuen Werkzeuge bedenkenlos für ihre Kriege. Die großen Technologie-Unternehmen wollen Geschäfte machen. Sie profitieren von der militärischen Nutzung ihrer Entwicklungen. Profit kennt keine moralischen Grenzen.
Die modernen Kriege tragen einen ganz anderen Charakter als die klassischen Kriege, die um Macht und Territorien geführt wurden. Die modernen Kriege werden virtuell geführt, als Finanzkrise, als Cyber- und Propagandaschlachten. Nicht Armeen bestimmen das Kampfgeschehen, sondern Bilder, Illusionen und artifizielle Intelligenzen. Die modernen Kriege sind in gewisser Weise »platonische Kriege«: Sie folgen der uralten Idee des griechischen Philosophen Plato, der die Welt als Idee verstanden hat: In seinem berühmten Höhlengleichnis hat er erklärt, dass die Welt nichts anderes ist als die Idee, die wir von ihr haben. Im Alten Testament spricht der Verfasser des Buchs »Kohelet« davon, dass »alles eitel und vergänglich« sei, Schopenhauer sieht die »Welt als Wille und Vorstellung« – eine Idee, die der österreichische Schriftsteller Robert Menasse in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung mit dem originellen Titel »Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung«17 paraphrasiert hat.
Die modernen Kriege schaffen neue Realitäten. Sie werden mit den Mitteln der technologisch-industriellen Revolution geführt. Krieg war immer ein wichtiges Experimentierfeld für die Zivilgesellschaft. Kriege sind aus humanistischen wie aus religiösen oder politischen Gründen grundsätzlich abzulehnen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hält fest, dass das Recht auf Leben für jeden Menschen universell gilt und durch niemanden beschnitten werden dürfe. Und doch führen die Nationen Kriege, seit die Menschheit denken kann. Joseph Schumpeter hat in seinem Buch »Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie« erklärt, wie sich mit der Modernisierung der Kriege auch die Struktur von Unternehmen und Wirtschaft der Zivilgesellschaft ändert – bis hin zum Typ des »Unternehmers«, der früher dem Typen des »Feldherren« entsprach, der selbst noch in die Schlacht zieht. Je technischer und abstrakter die Kriege, desto anonymer werden auch die Feldherren oder die Fürsten, in deren Namen die Armeen ihre Schlachten schlagen.18
Diese Anonymität, das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wer Feind, wer Freund ist, prägt die technologisch-industrielle Revolution, deren zweite Welle jetzt über uns zusammenschlägt.
In diesem Buch soll es darum gehen, den Zusammenhang dieser »modernen Kriege« mit der technologisch-industriellen Revolution sichtbar zu machen. Zugleich soll gezeigt werden, welch ungeheure Chancen die neuen Technologien bieten, wenn sie menschenfreundlich eingesetzt werden. Um zu verstehen, warum diese Revolution auch Deutschland radikal verändern wird, möchte dieses Buch den Kontext herstellen zwischen dieser technologisch-industriellen Revolution und ihren Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wir werden sehen, dass der Sog der Veränderung unwiderstehlich ist. Wie bei jeder Innovation gibt es, wenn der Geist einmal aus der Flasche ist, kein Zurück mehr.
Das ist faszinierend, weil wir Geschichte »live« erleben und sogar gestalten können. Es macht freilich auch Angst, weil wir wissen, dass vertraute Gewohnheiten über Bord geworfen werden müssen. Im Hinblick auf Deutschland ist die Situation sehr kritisch. Es besteht eine realistische Gefahr, dass die politischen Eliten die Zeichen der Zeit nicht erkennen und damit die Zukunft des Landes für mindestens eine Generation verspielen könnten. Dies liegt zum einen an der sehr restaurativen deutschen Real-Verfassung: Sie ist auf Bewahren angelegt und nicht auf Veränderung. Zum anderen ist die Zukunft Deutschlands nur im europäischen Kontext vernünftig zu gestalten. Die Verdrossenheit über die »EU 1.0« hat den europäischen Gedanken diskreditiert. Die EU muss sich dekonstruieren und radikal neu erfinden.
Mit der Ankunft der Flüchtlinge hat eine fremde, unbekannte Welt Einzug gehalten in den romantischen, teutonischen Wäldern. Die EU befindet sich in der tiefsten Krise ihrer Geschichte. Der für Deutschland existentiell wichtige Automobil-Sektor ist in seinen Fundamenten erschüttert. Die vielen modernen Kriege verschieben die Gleichgewichte in der Welt. Die technologisch-industrielle Revolution fegt über den Globus. Der Sturm rüttelt an den Balken. Die Fenster klirren. Die Tür steht plötzlich weit offen. Es zieht.
Erhard Busek ist kein Mensch der Düsterkeit, im Gegenteil: Der frühere österreichische Vizekanzler gilt als heiter und gelassen, ein Intellektueller, der viel erlebt und das meiste mit Humor getragen hat. Manche würden ihn als eine K&K-Figur sehen: Er engagierte sich in Osteuropa, als der Eiserne Vorhang noch hermetisch geschlossen war und Europa unerbittlich in zwei Teile teilte. Er hatte die Öffnung erlebt, wurde zum glühenden Europäer. Er ist ein Möglichkeitsmensch.
Im September 2015 hatte sich sein Gesicht jedoch verfinstert: »Wir stehen vor einem schleichenden Dritten Weltkrieg«, sagte Busek im Herbst 2015 in einem Interview. Ich war überrascht von dieser apokalyptischen Vision.
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