Das Ende des Glaubens an den freien Markt - Johann Baier - E-Book

Das Ende des Glaubens an den freien Markt E-Book

Johann Baier

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Beschreibung

Über dreißig Jahre sind vergangen, seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher die "neoliberale Wende" in der Wirtschaftspolitik einläuteten. Die Finanzkrise 2008, die wachsende soziale Ungleichheit, die Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Stagnation in vielen Regionen sowie die ständig lauernden Schuldenkrisen wecken derzeit Zweifel, ob die Welt wirtschaftspolitisch auf dem richtigen Kurs ist. Diese Zweifel drücken sich in starken Veränderungen der Parteienlandschaften in fast allen Ländern Europas aus: Neue Parteien links von der Sozialdemokratie und rechts von den Konservativen erobern die Parlamente - ähnlich wie nach der Weltwirtschaftskrise 1929. Es ist der Zeitpunkt für eine Entscheidung gekommen, in welche Richtung es wirtschaftspolitisch weitergehen soll. Zu der dazu notwendigen Debatte möchte dieses Buch einen Beitrag leisten. Dabei wird es nicht - wie viele andere Publikationen zu dem Thema - abstrakte Theorien aus dem akademischen Raum zum Ausgangspunkt nehmen, sondern die Wirtschaftsgeschichte: Welche Erfahrungen wurden mit wirtschaftspolitischen Strategien in der Vergangenheit gemacht? Welche Schlussfolgerungen für die Zukunft lassen sich daraus ableiten?

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Inhalt

Einleitung: der Glaube an den freien Markt

TEIL I: INDUSTRIELÄNDER

1 Epoche des klassischen Liberalismus (Industrielle Revolution bis 1930er Jahre)

1.1 Theoretische Grundlagen

1.2 Umsetzung

1.3 Wirtschaftliche Entwicklung: Wachstum und Krisen

2 Epoche der keynesianischen Wirtschaftspolitik (1930er bis 1970er Jahre)

2.1 Theoretische Grundlagen

2.2 Umsetzung

2.3 Wirtschaftliche Entwicklung: Wachstum ohne Krisen

3 Neoliberalismus (ab Ende der 1970er Jahre)

3.1 Theoretische Grundlagen

3.2 Umsetzung

3.3 Wirtschaftliche Entwicklung

3.3.1 Rückgang des Wirtschaftswachstums

3.3.2 Zunahme der Arbeitslosigkeit

3.3.3 Zunahme der sozialen Ungleichheit

3.3.4 Zunahme von Finanz- und Wirtschaftskrisen

3.3.5 Zunahme der Staatsverschuldung

3.3.6 Blockierung der Umweltpolitik

3.3.7 Verringerung der Lebensqualität

3.3.8 Entdemokratisierung der Gesellschaft

4 Schlussfolgerungen aus dem historischen Rückblick

5 Zukunft 1: Fortsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik

5.1 Konzept

5.2 Umsetzung

5.3 Wirtschaftliche Entwicklung

5.3.1 Nullwachstum

5.3.2 Zunahme der sozialen Ungleichheit

5.3.3 Zunahme der Instabilität

5.3.4 Blockierung der Umweltpolitik

5.3.5 Verringerung der Lebensqualität

6 Zukunft 2: Nationalistischer Staatsinterventionismus

6.1 Konzept

6.2 Umsetzung

6.3 Wirtschaftliche Entwicklung

6.3.1 Null- oder Negativwachstum

6.3.2 Zunahme der sozialen Ungleichheit

6.3.3 Zunahme der Instabilität

6.3.4 Scheitern der Umweltpolitik

6.3.5 Verringerung der Lebensqualität

7 Zukunft 3: sozial-ökologische Reformpolitik

7.1 Konzept

7.2 Umsetzung

7.2.1 Umverteilung der Arbeit

7.2.2 Umverteilung des Einkommens

7.2.3 Reform der sozialen Sicherungssysteme

7.2.4 Regulierung des Finanzsektors

7.2.5 Ausbau der öffentlichen Infrastruktur mit nachhaltiger Fiskalpolitik

7.2.6 Solidarische Handelspolitik

7.2.7 Ökologischer Umbau der Gesellschaft

7.2.8 Demokratisierung der Gesellschaft

7.3 Wirtschaftliche Entwicklung

7.3.1 Nullwachstum

7.3.2 Verringerung der sozialen Ungleichheit

7.3.3 Verringerung der wirtschaftlichen Instabilität

7.3.4 Verringerung des Ressourcenverbrauchs und der Umweltbelastung

7.3.5 Erhöhung der Lebensqualität

8 Fazit: Lehren für die Wirtschaftspolitik der Industrieländer

TEIL II: DRITTE WELT

9 Epoche des klassischen Liberalismus (Industrielle Revolution bis 1930er Jahre)

9.1 Theoretische Grundlagen

9.2 Umsetzung in der Dritten Welt

9.3 Wirtschaftliche Entwicklung

10 Epoche der keynesianischen Wirtschaftspolitik (1930er bis 1970er Jahre)

10.1 Theoretische Grundlagen

10.2 Umsetzung in der Dritten Welt

10.3 Wirtschaftliche Entwicklung

11 Neoliberalismus (ab Ende der 1970er Jahre)

11.1 Theoretische Grundlagen

11.2 Umsetzung in der Dritten Welt

11.3 Wirtschaftliche Entwicklung

12 Zukunft 1: Fortsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik

12.1 Maßnahmen

12.2 Ergebnis: Wachstum ohne Entwicklung

13 Zukunft 2: Nationalistischer Staatsinterventionismus

13.1 Maßnahmen

13.2 Ergebnis: Negativwachstum

14 Zukunft 3: sozial-ökologische Wirtschaftspolitik

14.1 Maßnahmen zur Veränderung des Wachstumsmusters

14.1.1 Binnenmarktorientiertes Wachstum

14.1.2 Beschäftigungsintensives Wachstum

14.1.3 Verteilungsgerechtes Wachstum

14.2 Ausbau der öffentlichen Infrastruktur

14.3 Reform des Finanzsektors

14.4 Ökologisch angepasste Entwicklung

14.5 International: Reregulierung der Weltwirtschaft

14.5.1 Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte

14.5.2 Bekämpfung von Steuerflucht und -vermeidung

14.5.3 Abbau der Verschuldung der Dritten Welt

14.5.4 Reform der internationalen Institutionen

14.5.5 Reform der Entwicklungsfinanzierung

14.5.6 Begrenzung der Handelsliberalisierung

14.5.7 Keine Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte

14.5.8 Kontrolle der multinationalen Konzerne

14.5.9 Internationale Umweltabkommen

14.6 Ergebnis: Wachstum

und

Entwicklung

15 Fazit: Lehren für die Wirtschaftspolitik der Dritten Welt

16 Plädoyer für eine sozial-ökologische Wirtschaftswende

Einleitung: der Glaube an den freien Markt

Über dreißig Jahre sind vergangen, seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher die ‚neoliberale Wende’ in der Wirtschaftspolitik einläuteten. Auf die keynesianische, nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, die sich als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise 1929 weltweit durchgesetzt hatte, folgte in den 1980er Jahren die Rückkehr zum Wirtschaftsliberalismus – also zu derselben Wirtschaftspolitik, die der Weltwirtschaftskrise vorausging.

Die Finanzkrise 2008, die wachsende soziale Ungleichheit, die Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Stagnation in vielen Regionen sowie die ständig lauernden Schuldenkrisen wecken derzeit Zweifel, ob dieWelt wirtschaftspolitisch auf dem richtigen Kurs ist. Diese Zweifel drücken sich in starken Veränderungen der Parteienlandschaften in fast allen Ländern Europas aus: neue Parteien links von der Sozialdemokratie und rechts von den Konservativen erobern die Parlamente - ähnlich wie nach der Weltwirtschaftskrise 1929.

Es ist der Zeitpunkt für eine Entscheidung gekommen, in welche Richtung es wirtschaftspolitisch weitergehen soll. Zu der dazu notwendigen Debatte möchte dieses Buch einen Beitrag leisten. Dabei wird es nicht - wie viele andere Publikationen zu dem Thema - abstrakte Theorien aus dem akademischen Raum zum Ausgangspunkt nehmen, sondern die Wirtschaftsgeschichte: welche Erfahrungen wurden mit wirtschaftspolitischen Strategien in der Vergangenheit gemacht? Welche Schlussfolgerungen für die Zukunft lassen sich daraus ableiten?

Es gibt in der politischen Diskussion eine verwirrende Vielfalt von Bezeichnungen für wirtschaftspolitische Strategien zur Steuerung der Marktwirtschaft. Beim näheren Hinsehen lassen sich jedoch im Wesentlichen drei Ansätze unterscheiden:

Wirtschaftsliberalismus

(oder: Neoliberalismus, Marktradikalismus, Marktfundamentalismus, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, Neoklassik). Parteien, Medien, Lobbyverbände und Wirtschaftsforschungsinstitute, die diesen Ansatz vertreten, verwenden oft keinen dieser Begriffe, sondern sprechen einfach von ‚Reformpolitik’ oder ‚Strukturreformen’ ohne weitere Zusätze. Gemeinsames Merkmal ist die Ablehnung staatlicher Eingriffe in den Markt, d.h. der Glaube an die Selbstregulierung der Marktwirtschaft.

nationalistischer Staatsinterventionismus

(oder: Wirtschaftsnationalismus, Protektionismus): staatliche Eingriffe in den Markt sind gerechtfertigt, wenn sie der Stärkung des nationalen Kapitals bzw. der eigenen Nation dienen. Der Merkantilismus der absolutistischen Feudalstaaten des 18. Jahrhunderts, der teilweise von konservativen, monarchistischen Kräften als Gegenspieler des klassischen Liberalismus bis ins 20. Jahrhundert weiter getragen wurde, die Wirtschaftspolitik der NSDAP in den 1930er Jahren, die Kriegswirtschaft während der beiden Weltkriege, sowie die Programmatik der heutigen rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien lassen sich als Varianten eines „nationalistischen Staatsinterventionismus“ betrachten.

sozial-ökologischer Staatsinterventionismus

(oder: (Neo-/ Öko-) Keynesianismus, nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, sozial-ökologische Reformpolitik, u.a.

1

): staatliche Eingriffe in den Markt sind gerechtfertigt und notwendig, wenn sie Rezessionen überwinden oder verhindern, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit schaffen, Arbeitnehmer-, Mieter-, Verbraucherinteressen und die Umwelt schützen vor der Macht des Privatkapitals.

Die Wirtschaftsgeschichte seit Beginn der Industrialisierung lässt sich in Epochen gliedern, in denen die Wirtschaftspolitik von jeweils einer dieser Konzepte geprägt ist, auch wenn die Konzepte nie völlig in ‚Reinkultur’ zur Anwendung kommen:

Merkantilismus (zu Beginn der Industrialisierung im 18. Anfang 19. Jahrhundert)

klassischer Liberalismus (bis 1930er Jahre),

nationalistischer Staatsinterventionismus (vor und während des 2. Weltkriegs)

Keynesianismus (1930er bis Ende 1970er Jahre),

Neoliberalismus (seit 1980er Jahre).

Es stellt sich die Frage, welches wirtschaftspolitische Konzept unsere Zukunft prägen soll: Fortsetzung des Neoliberalismus, nationalistischer Staatsinterventionismus oder sozial-ökologische Reformpolitik?

Der vorliegende Text möchte in zwei Schritten zur Beantwortung der Frage beitragen:

Historischer Rückblick: die wirtschaftspolitischen Epochen (klassischer Liberalismus, Keynesianismus, Neoliberalismus) werden hinsichtlich Wachstum, Beschäftigung, Verteilung, Stabilität, Erhalt der ökologischen Ressourcen, Lebensqualität verglichen

Anschließend werden auf dieser Basis in einem Gedankenexperiment Prognosen aufgestellt bezüglich Wirtschaftswachstum, Beschäftigung, Verteilung, Stabilität, Erhalt der ökologischen Ressourcen, Lebensqualität - jeweils für die drei möglichen Szenarien: Fortsetzung des Neoliberalismus (Zukunft 1), nationalistischer Staatsinterventionismus (Zukunft 2) und eine nachfrageorientierte, sozial-ökologischen Reformpolitik (Zukunft 3).

Diese Systematik – Rückblick auf die wirtschaftspolitischen Epochen und Skizzierung der wirtschaftspolitischen Alternativen für die Zukunft – wird zweimal durchlaufen: einmal für die Industrieländer, ein zweites Mal für den „Globalen Süden“ bzw. die „Dritte Welt“. Industrieländer und Dritte Welt haben aufgrund ihrer unterschiedlichen Geschichte eine unterschiedliche Wirtschaftsstruktur und –dynamik, so dass sich die wirtschaftspolitischen Ideologien jeweils auf eine spezifische Weise niederschlagen. Gleichzeitig sind der „Globale Norden“ und der „Globale Süden“ durch die Globalisierung miteinander verbunden (über Handel, Kapitalströme, Direktinvestitionen, Migration), d.h. die geforderten Strategien für die Industrieländer und Dritte Welt müssen konsistent sein.

Das Ergebnis des Rück- und Ausblicks lässt sich in folgenden Kernthesen zusammenfassen:

Der Rückblick auf 200 Jahre Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass der Wirtschaftsliberalismus zwangsläufig zu wachsender Ungleichheit, Armut, wirtschaftlicher Instabilität und Übernutzung der ökologischen Ressourcen führt. Soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Stabilität, nachhaltige Ressourcennutzung und eine Erhöhung der Lebensqualität sind nur durch einen geeigneten (nachfrageorientierten, sozialökologischen) Staatsinterventionismus zu haben.

Der Wirtschaftsnationalismus versucht, die eigene Nation auf Kosten anderer Nationen zu bereichern – eine Strategie, die nicht in allen Nationen gleichzeitig Erfolg haben kann und zwangsläufig zu Konflikten, Handelskriegen, Vertreibung von Migranten, Hass und u.U. realen Kriegen führt.

Das Wirtschaftswachstum der Industrieländer wird sich bei allen wirtschaftspolitischen Alternativen zwangsläufig aus demografischen und technologischen Gründen abschwächen und einem Nullwachstum annähern.

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Die Armut in der Dritten Welt lässt sich nur durch ein binnenmarktorientiertes, beschäftigungsintensives, verteilungsgerechtes Wachstum verringern.

Fazit: die Geschichte belegt, dass Wirtschaftsliberalismus („Der Glaube an den freien Markt“) und Wirtschaftsnationalismus gefährliche Irrwege sind. Wir brauchen eine aktive gesellschaftliche Steuerung der Marktwirtschaft, um das unvermeidliche Nullwachstum der Industrieländer möglichst sozial, nachhaltig und lebenswert zu gestalten, bzw. um in der Dritten Welt ein Wachstum zu erzeugen, das die Einkommen der Armen, nicht der Reichen erhöht.

TEIL I: INDUSTRIELÄNDER

Die Wirtschaftsgeschichte der Industrieländer ist geprägt von den jeweils vorherrschenden wirtschaftspolitischen Ideologien: Merkantilismus, klassischer Liberalismus, Keynesianismus, Neoliberalismus. Die Ideologien unterscheiden sich primär hinsichtlich des Vertrauens in die Kräfte des freien Marktes und des Umfangs der notwendigen bzw. zulässigen Staatsinterventionen in die Marktwirtschaft. Ein Wechsel zu einer neuen Ideologie findet immer dann statt, wenn die bestehende in eine Krise gerät.

Der klassische Liberalismus setzte sich im 19. Jahrhundert durch, als der feudalistische Obrigkeitsstaat zur Fessel der sich dynamisch entwickelnden kapitalistischen Marktwirtschaft wurde. Die Weltwirtschaftskrise 1929 beendete die Epoche des klassischen Liberalismus und führte zum Wechsel zur nachfrageorientierten, staatsinterventionistischen (‚keynesianischen’) Wirtschaftspolitik. Die Ölkrisen von 1973 und 1978 führten dann wieder zur Rückkehr zum klassischen Liberalismus, der zunächst unter dem Etikett ‚Neoliberalismus’ propagiert wurde, um nicht mit dem Desaster der Weltwirtschaftskrise in Verbindung gebracht zu werden. Seit dem Beginn der 80er Jahre prägt der ‚Neoliberalismus’ die Wirtschafts- und Sozialpolitik aller Industrieländer, wenn auch Teile des in der keynesianischen Epoche entstandenen Sozialstaats noch erhalten geblieben sind.

Im Folgenden soll kurz, stichwortartig in Erinnerung gerufen werden: welche wirtschaftspolitischen Instrumente wurden in den drei wirtschaftspolitischen Epochen zum Einsatz gebracht? Wie haben sich als Folge Wachstum, Beschäftigung, Verteilung, wirtschaftliche Stabilität entwickelt?

1 Epoche des klassischen Liberalismus (Industrielle Revolution bis 1930er Jahre)

1.1 Theoretische Grundlagen

Zu Beginn der Frühindustrialisierung Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts besteht eine starke Steuerung und Kontrolle der Wirtschaft durch die absolutistischen Feudalstaaten. Durch enge Kooperation von entstehendem Unternehmertum und Staat soll der Reichtum des Landes, zumindest des Adels und Bürgertums, vermehrt werden (Merkantilismus). Durch Importbeschränkungen und Exportförderung soll eine positive Handelsbilanz erreicht werden, was wiederum den Wohlstand des ganzen Landes mehren soll.

Gegen die Bevormundung des Privatkapitals durch den Staat wendet sich der klassische Liberalismus (Adam Smith: Wohlstand der Nationen 1776)3. Die Steuerung der Wirtschaft durch die unsichtbare Hand des Marktes und die Reduzierung der Rolle des Staates auf das Niveau eines Nachtwächters wird gefordert, damit der Markt Vollbeschäftigung und Wohlstand für alle erzeugen kann. Bezogen auf den Außenhandel wird der Freihandel und damit die internationale Konzentration der Produktion auf den jeweils kostengünstigsten Standort propagiert (D. Ricardo 1817).

Ab den 1870er Jahren wird an den wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühlen Europas Adam Smiths klassische Wirtschaftstheorie abgelöst durch die Neoklassik (z. b. Leon Walras: Mathematische Theorie der Preisbestimmung der wirtschaftlichen Güter 1874, Carl Menger als Begründer der ‚Österreichischen Schule’4): Güterpreise werden nun anders erklärt (aus dem subjektiven Nutzen der Konsumenten anstatt aus der aufgewandten Arbeitszeit der Produzenten), die Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik sind aber dieselben: der freie Markt führt automatisch zu einem allgemeinen Gleichgewicht mit Vollbeschäftigung und maximalem Wohlstand, staatliche Wirtschaftspolitik ist überflüssig und schädlich. Während sich Adam Smith hundert Jahre zuvor gegen den Merkantilismus der absolutistischen Feudalstaaten wandte, sahen die Neoklassiker die aufkommende Arbeiterbewegung als Gegner der freien Marktwirtschaft und ergriffen entsprechend Partei in den öffentlichen Debatten.

1.2 Umsetzung

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzt sich der klassische Liberalismus in der Wirtschaftspolitik durch - zunächst in Großbritannien und den USA („Manchester-Kapitalismus“), später nach den Napoleonischen Kriegen ab 1815 auch im übrigen Europa. Entgegen der liberalen Ideologie gibt es gelegentlich staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen (Beispiele Deutsches Reich: Schutzzölle für Getreide oder Stahl im nationalen Interesse, Verstaatlichung der Eisenbahn, um deren Ausbau zu forcieren, Einführung einer rudimentären Kranken- und Rentenversicherung, um die unruhige Arbeiterschaft zu befrieden), die jedoch keine Abkehr vom liberalen Dogma darstellen. Nach der staatlich gesteuerten Kriegswirtschaft 1914-18 gibt es noch einmal eine Rückkehr zum Liberalismus bis zur Weltwirtschaftskrise 1929.

1.3 Wirtschaftliche Entwicklung: Wachstum und Krisen

Die wirtschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts ist geprägt von stürmischen Wachstumsphasen und häufigen Krisen (u.a. 1837, 1857, 1873-1896, 1907, 1929),5 sowie von Armut und großen Einkommensunterschieden.

Trotz Wirtschaftswachstum gab es im Europa des 19. Jahrhunderts immer ein Überangebot an Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt. Dies war auf die ständige Freisetzung von Arbeitskräften aus Landwirtschaft und Handwerk sowie auf das hohe Bevölkerungswachstum zurückzuführen, das wiederum bedingt war durch den medizinischen Fortschritt bei Fortbestand einer hohen Geburtenrate (analog zur Dritten Welt heute). Das Überangebot an Arbeitskräften führte auf dem unregulierten Arbeitsmarkt – ungestört durch Gewerkschaften, Tarifverträge, Mindestlöhne, Kündigungsschutz, Arbeitslosenhilfe etc. – zu niedrigen, stagnierenden oder phasenweise sogar sinkenden Reallöhnen und zu sich verschlechternden Arbeitsbedingungen6. Die Armut löste folgende Entwicklungen aus:

Millionen Europäer wanderten zwischen Mitte des 19.Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg nach Nordamerika und Australien aus. Die meisten weißen Amerikaner haben Vorfahren, die in dieser Periode eingewandert sind.

angesichts des offensichtlichen Elends kümmerten sich zahlreiche bürgerliche und religiöse Wohltätigkeitsvereine um Arme, Waisen, Kranke und Alte, die sich nicht selbst helfen konnten. Der Wohlstand des Bürgertums löste bei einem Teil seiner Angehörigen offensichtlich ein ‚schlechtes Gewissen’ aus, da Gleichheit und Gerechtigkeit zu den Werten ihrer Kultur gehörten.

es entstand die Arbeiterbewegung, die für höhere Löhne, das Recht auf Gründung von Gewerkschaften, Begrenzung der Arbeitszeit, Kündigungsschutz, bessere Arbeitsbedingungen, Anspruch auf staatliche Hilfe bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Invalidität kämpfte (anstatt um Almosen bei mildtätigen Organisationen betteln zu müssen). Von den Forderungen wurden bis zum Ende der 1920er Jahre nur wenige umgesetzt.

Der klassische Liberalismus endete mit der Weltwirtschaftskrise: der Wirtschaftsaufschwung der 20er Jahre („Roaring Twenties“, Wachstum durch neue Technologien: Elektrizität, Radio, Automobil, Fließbandfertigung) ging mit einer stark wachsenden Einkommensungleichheit einher (USA: die Produktivität stieg vier Mal so schnell wie das Lohnniveau7). Das Kapital, das sich bei Unternehmen und der wohlhabenden Oberschicht ansammelte, floss mangels ausreichender produktiver Investitionsmöglichkeiten (Überkapazitäten in der Industrie) zunehmend in die Aktien- und Immobilienspekulation, wo sich höhere Renditen erzielen ließen. Die Spekulationsblase an den Aktienbörsen platzte in den USA im Oktober 1929, was aufgrund der unzureichenden Bankenregulierung zu einigen Bankenzusammenbrüchen führte und die bereits kurz vorher eingesetzte Rezession verschärfte.

Die amerikanische Regierung unter Präsident Hoover interpretierte die Rezession im Lichte der herrschenden neoklassischen Wirtschaftstheorie: nicht nur die Aktienkurse, sondern das gesamte Preis- und Lohnniveau waren überhöht, die Geldmenge war aufgebläht. Folglich war eine Deflationspolitik angesagt: die Preise und Löhne mussten wieder auf den ‚Gleichgewichtswert’ sinken, um die Nachfrage nach Waren und Arbeitskräften anzuregen und so die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Staatsausgaben wurden gekürzt, um Verschuldung zu vermeiden, Geldmenge und Zinsen zu senken und billiges Kapital für Unternehmensinvestitionen bereitzustellen. Die zusammenbrechenden Banken wurden bewusst nicht gerettet, um die Geldmenge zu reduzieren. Die Krise wurde als eine vorübergehende, notwendige „Reinigungskrise“ betrachtet.

Die Deflationspolitik bewirkte jedoch genau das Gegenteil des Erwarteten: die Wirtschaft der USA schrumpfte 4 Jahre kontinuierlich, bis sie 1933 den Tiefpunkt erreichte. Obwohl das Preisniveau um 25%zurückgegangen war, sank das BSP real um ein Drittel, obwohl das Lohnniveau um 60% zurückgegangen war, stieg die Arbeitslosenrate auf 25%. Ein Drittel der Banken war zusammengebrochen, der Dow Jones lag 90% unter seinem Höchststand8. (Analog verlief die Entwicklung in Deutschland unter Reichskanzler Brüning).

In der Weltwirtschaftskrise offenbarte sich der Denkfehler der neoklassischen (angebotsorientierten) Wirtschaftstheorie: die Verbesserung der Investitionsbedingungen (Senkung von Löhnen, Steuern und Zinsen) führt zu keinerlei Investition, wenn die bestehenden Produktionskapazitäten mangels Nachfrage nicht ausgelastet sind. Stattdessen verringern die sinkenden Löhne und Staatsausgaben die Nachfrage und damit die Kapazitätsauslastung weiter und verschärfen die Krise. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessert sich nicht, wenn alle konkurrierenden Industrieländer dieselbe Politik betreiben. Das angebotsorientierte Krisenmanagement ist nicht nur wirkungslos, sondern kontraproduktiv (Spirale abwärts).

2 Epoche der keynesianischen Wirtschaftspolitik (1930er bis 1970er Jahre)

Die Weltwirtschaftskrise 1929 erschüttert das Vertrauen in die Kräfte des freien Marktes und die zugrunde liegende Ideologie des klassischen Liberalismus. Das offensichtliche Scheitern des liberalen Kapitalismus löst folgende Gegenbewegungen aus:

In Deutschland, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Portugal, Griechenland, Österreich, Spanien kommen zwischen 1930 und 1939 rechtsnationale und faschistische Kräfte an die Macht. In Italien und Polen sind sie es schon seit den 1920er Jahren. Sie praktizieren einen nationalistischen Staatsinterventionismus, der nahtlos in die Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkriegs übergeht. Infrastruktur und Rüstungsindustrie werden ausgebaut. Durch Im- und Exportbeschränkungen soll eine maximale wirtschaftliche Autarkie erreicht werden. Der Krieg soll den Wohlstand der eigenen Nation durch Annektion, Plünderung, Ausbeutung anderer Nationen erhöhen. Die Ära des nationalistischen Staatsinterventionismus endet 1945 in den Ruinen des Zweiten Weltkriegs.

In Frankreich und Spanien kommen 1936 kurzzeitig linke Volksfrontregierungen an die Macht, in Spanien gefolgt vom Bürgerkrieg, in dem sich die faschistischen Gegner durchsetzen. Als Folge des 2. Weltkriegs kann die Sowjetunion nach 1945 den von ihr vom Faschismus befreiten osteuropäischen Ländern ihre sozialistische Planwirtschaft aufoktroyieren. 1990 kollabiert dieses Wirtschaftsmodell.

John M. Keynes macht die Fehler der vorherrschenden neoklassischen Wirtschaftstheorie verantwortlich für die falsche Wirtschaftspolitik während der Weltwirtschaftskrise und entwickelt eine neue makroökonomische Theorie und Politik. In den USA unter Präsident Roosevelt („New Deal“) und Großbritannien kommt die Politik schon in den 1930er Jahren erfolgreich zum Einsatz, nach 1945 wird sie zum Standard in allen marktwirtschaftlichen Ländern.

In dem vorliegenden historischen Rückblick soll nur die keynesianische Wirtschaftspolitik weiter betrachtet werden – Faschismus und sozialistische Planwirtschaft haben sich bekanntlich nach kurzer Zeit aus der Geschichte verabschiedet.

2.1 Theoretische Grundlagen

Keynes begründet, dass Rezessionen und Arbeitslosigkeit nicht aus überhöhten Löhnen, sondern aus Mangel an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage zu erklären sind. Folglich ist als Krisenmanagement nicht eine deflationistische Politik, sondern eine kreditfinanzierte Steigerung der Staatsausgaben zu fordern (antizyklische Fiskalpolitik).

Grundaussage der keynesianischen bzw. nachfrageorientierten Ansätze der Wirtschaftswissenschaften: der Marktmechanismus allein ist nicht in der Lage, alle wirtschaftspolitischen Ziele (Wachstum, Wohlstand, Vollbeschäftigung, Stabilität, soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit) zu realisieren. Nur durch geeignete Eingriffe des Staates in den Marktmechanismus kann der Wirtschaftsprozess so gelenkt werden, dass die wirtschaftspolitischen Ziele erreicht werden. Die zentrale Variable im Wirtschaftskreislauf und Ansatzpunkt für wirtschaftspolitische Eingriffe ist die Nachfrage: Produktion, Beschäftigung, Investitionen setzen eine ausreichende monetäre Nachfrage voraus.

2.2 Umsetzung

Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg findet überall auf der Basis einer keynesianischen Wirtschaftspolitik statt, wobei der Wohlfahrtsstaat („soziale Marktwirtschaft“) eine Verelendung wie in den Dreißiger Jahren verhindern soll. Ziel ist, eine politische Radikalisierung wie in der Vorkriegszeit zu verhindern, sowie eine positive Alternative zu den entstehenden sozialistischen Staaten zu bieten (Armut galt als „Nährboden des Kommunismus“).

Einzelne Maßnahmen:

Regulierung des Arbeitsmarktes:

Kündigungsschutz, Flächentarifverträge, Gewerkschaftsrechte, Streikrecht, betriebliche Mitbestimmung, Mindestlöhne, Arbeitszeitgesetze, Verkürzung der Wochenarbeitszeit, 5-Tage-Woche, Urlaubsanspruch, Vorruhestand

Aufbau von sozialen Sicherungssystemen:

Kranken-, Renten-, Pflege-, Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen

Erhöhung von Staatsausgaben

, speziell von staatlichen Subventionen (Nahrungsmittel, sozialer Wohnungsbau, Kultur, Forschung, Gesundheitswesen, Landwirtschaft, Bergbau, strukturschwache Gebiete, öffentlicher Nahverkehr etc.), sowie von Bildungs- und Sozialausgaben

Erhöhung der Unternehmens-, Vermögens-, Einkommenssteuern:

Ziel ist Einkommensumverteilung (Steuerprogression) und die Finanzierung der staatlichen Infrastruktur

Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen:

Bildung, Gesundheit, Pflege, Wasser, Energie, Öffentlicher Nahverkehr, Bahn, Straßenbau, Häfen, Flughäfen, Post, Telekom, Müllabfuhr, Sparkassen, Sicherheitsdienste, kommunaler Wohnungsbau, etc.

Staatliche Regulierungen:

Finanzwesen, Luftfahrt, Rundfunk/TV, Telekom, Energiewirtschaft, Arbeits-, Verbraucher-, Mieter-, Umweltschutz, Gesundheit, Sicherheit

Preiskontrollen, Preisstabilisierung:

Grundnahrungsmittel, Rohstoffe, Energie, Wasser, Zinsen

Konjunkturpolitik:

Rezessionen werden durch kreditfinanzierte Konjunkturprogramme (deficit spending) bekämpft, flankiert von expansiver Geldpolitik

Regulierung der internationalen Finanzmärkte:

Devisen-, Kapitalverkehrskontrollen, feste Wechselkurse

Regulierung der internationalen Güter- und Dienstleistungsmärkte:

Zölle und anderen Importrestriktionen

Nach dem Krieg wurden zahlreiche internationale Institutionen geschaffen, die eine Regulierung und Steuerung der Ökonomie auf internationaler Ebene zum Ziel hatten:

Der 1944 gegründete IWF hatte die Aufgabe, die Einhaltung der in dem Abkommen von Bretton Woods definierten festen Wechselkurse sicherzustellen.