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»Eine neue, aufschlussreiche Perspektive auf Trauma« - Ein komplett neuer Ansatz basierend auf 30 Jahren Forschungsarbeit - Mit zahlreichen Fallgeschichten Wenn uns das Schlimmste widerfährt, was man sich vorstellen kann – gewalttätige oder lebensbedrohliche Ereignisse oder andere schwerwiegende Widrigkeiten – erwarten wir in der Regel, dass wir traumatisiert werden und wahrscheinlich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass dies tatsächlich eintritt? Auf der Grundlage von drei Jahrzehnten Forschung und anhand zahlreicher Beispiele belegt George A. Bonanno eindrucksvoll seine These, dass die natürliche Reaktion auf traumatische Erfahrungen vielmehr Resilienz und nur in wenigen Fällen wirklich eine PTBS ist. Er zeigt, was uns widerstandsfähig macht, warum wir es manchmal nicht sind und wie wir zukünftig besser mit traumatischem Stress umgehen können. Ein Buch für alle, die das Thema Trauma aus einem neuen Blickwinkel betrachten möchten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 520
George A. Bonanno
Das Ende des Traumas
Wie das Wissen über Resilienz unser Traumaverständnis revolutioniert
aus dem Amerikanischen von Maren Klostermann
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »THE END OF TRAUMA: How the New Science of Resilience is Changing How We Think About PTSD« bei Basic Books, New York
Copyright © 2021 by George A. Bonanno
All Rights Reserved
Für die deutsche Ausgabe
© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart
unter Verwendung einer Abbildung von Djero Adlibeshe / Adobe Stock
Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-98688-4
E-Book ISBN 978-3-608-12267-1
PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20661-6
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Anmerkung des Autors
Einleitung – Warum komme ich eigentlich ganz gut klar?
Teil I
Zwei Drittel
Kapitel 1
Die Erfindung von PTBS
Die Zeit vor dem Trauma
Die Entdeckung des Traumas
Shellschock (Granatenschock)
Das Grauen des Krieges
Die Erfindung der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
Eine willkürliche und expansive Diagnose
Massenphänomen PTBS
Kapitel 2
Die Entdeckung der Resilienz
Erwartete Überwältigung
Trauermuster
Wenn die Welt einstürzt
Ein paar PTBS-Symptome
Der blinde Fleck der Resilienz
Mentale Abkürzungen und statistische Verteilungen
Die Trajektorie der Resilienz
Neue Fragen
TEIL II
Geschichten und Vorhersagen
Kapitel 3
Da steckt mehr dahinter
Will, Reina und Eva
Die Suche nach Antworten
Kapitel 4
Das Resilienzparadox
Das Paradox
Eitle Pfauen und schnelle Geparden
Die Guten, die Bösen und die Hässlichen
Zu viel des Guten
Nicht genug des Schlechten
Das richtige Verhalten in der richtigen Situation zur richtigen Zeit
Teil III
Bringen wir uns selbst ins Spiel
Kapitel 5
Ein flexibles Selbstbild
Frühe Hinweise
Optimismus
Motivation
Nachteile?
Kapitel 6
Synergie
Selbstvertrauen und Herausforderung
Mehr als die Summe der Teile
Frida
Die roten Stiefel
Neuerfindung
Mehr als ein Selbstbild
Teil IV
Die praktischen Grundlagen
Kapitel 7
Die Flexibilitätssequenz
Paul
Sensibilität für den Kontext
Repertoire
Feedbacküberwachung
Erinnern und neu erfinden
Kapitel 8
Flexibel werden
Ich komm da wieder raus
Bewusst oder unbewusst
Erneutes Albtraumszenario
Teil V
Sprich mir nach
Kapitel 9
Selbstgespräche
Die Flexibilität stärken
Selbstgespräche
Ein helles, kaum wahrnehmbares Licht
Das neue Normal
Drehung nach vorn
Kapitel 10
Und dann kam eine weltweite Pandemie
Anmerkungen
Einleitung – Warum komme ich eigentlich ganz gut klar?
1. Kapitel: Die Erfindung von PTBS
2. Kapitel: Die Entdeckung der Resilienz
3. Kapitel: Da steckt mehr dahinter
4. Kapitel: Das Resilienzparadox
5. Kapitel: Ein flexibles Selbstbild
6. Kapitel: Synergie
7. Kapitel: Die Flexibilitätssequenz
8. Kapitel: Flexibel werden
9. Kapitel: Selbstgespräche
10. Kapitel: Und dann kam eine weltweite Pandemie
Danksagung
Sachverzeichnis
Für Raphael und Angie
Dieses Buch enthält persönliche Erfahrungsberichte von mutigen Menschen, die extreme oder potenziell traumatische Ereignisse durchlebt haben. Die Namen und persönlichen Details dieser Personen (mit Ausnahme von Jed McGriffin und Maren Westphal) habe ich aus Gründen der Vertraulichkeit geändert.
Ich lernte Jed kennen, als er sich für das Promotionsprogramm in Klinischer Psychologie am Teacher’s College der Columbia University bewarb, wo ich als Professor tätig bin. Wie die meisten Bewerber, mit denen ich an jenem Tag sprach, betrat Jed mein Büro in gepflegter Kleidung und in respektvoller Haltung. Die Tatsache, dass er überhaupt gehen konnte, war allerdings eine kleine Überraschung. Ich hatte gehört, dass Jed einen schrecklichen Unfall gehabt hatte, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte, und wusste nicht, ob er wieder laufen konnte.
Über den Unfall erzählte Jed an diesem Tag nicht viel. Es gab genügend andere Themen zu besprechen. Erst später erfuhr ich die ganze Geschichte.
Fünf Jahre zuvor hatte Jed versucht, sich seinen Lebensunterhalt in New York als Musiker zu verdienen. Keine leichte Aufgabe. Wie er es formulierte: »Als Musiker in Wartestellung musste ich notgedrungen als Kellner arbeiten.« Obwohl er in einem der besten New Yorker Restaurants, dem Babbo Ristorante im Greenage Village, angestellt war, strebte er eine Veränderung an. Er war gerade mit seiner Freundin Megan zusammengezogen, die eine Ausbildung zur Krankenschwester machte. Jed besann sich darauf, dass er sich schon immer für Psychologie interessiert hatte, und belegte einige Kurse am City College im Norden der Stadt. Es lief gut, und er plante, im kommenden Semester voll ins Studium einzusteigen.
Seine Gedanken kreisten um die Zukunft, als er am 21. Dezember eine lange Nachtschicht beendete. Das Restaurant hatte gerade seine Tore geschlossen. Es war ungefähr 1:30 Uhr nachts. Jed ging ins Untergeschoss zum Sommelier, um ein paar Weine auszuwählen, die er als Weihnachtsgeschenke für seine Familie mitnehmen wollte. Er fand vier edle Tropfen und verstaute die Flaschen in seinem Rucksack, bevor er das Restaurant verließ.
Es war eine bitterkalte Nacht. Fröstelnd zog Jed seine Kapuzenjacke enger um sich und wartete an der Ecke der West Eighth Street. Das Gehsignal der Fußgängerampel schimmerte auf dem gefrorenen Pflaster, und Jed setzte sich in Bewegung, um die Kreuzung zu überqueren. Plötzlich schoss ein Müllwagen um die Ecke und erfasste ihn. Die Kollision riss ihn sofort zu Boden.
»Ich sehe alles noch ganz lebhaft vor mir«, berichtete Jed. »Ich wurde von der vorderen Stoßstange getroffen und dann unter die Vorderräder gezogen. Ich fiel irgendwie ein bisschen nach links, mein linkes Bein ausgestreckt, und das Vorderrad rollte drüber.«
Das Vorderrad zerquetschte Jeds Bein. Dann geschah einen Moment lang nichts.
Eine Sekunde.
Zwei Sekunden.
Jetzt wurde er von den beiden zweiachsigen Hinterrädern erfasst.
»Der ganze Truck mit seinen 25 Tonnen rollte über mich hinweg.«
Die vier Weinflaschen in Jeds Rucksack blieben seltsamerweise unversehrt. Doch Jeds Bein und ein Teil seiner Hüfte waren zu einer breiigen Masse aus Blut und Knochen zermalmt. Es war ein brutaler Unfall. Jed brüllte vor Schmerz.
Ein Einsatzteam der Feuerwehr traf zuerst am Unfallort ein. Es kam relativ schnell, nach nur wenigen Minuten.
Leutnant Adrian Walsh fand Jed und hielt seine Hand.
Jed erinnert sich, dass ihm klar bewusst war, in welcher Gefahr er schwebte.
»Ich wusste, es ging um Leben und Tod. Ich wurde nicht ohnmächtig. Ich schrie. Ich weiß, dass ich eine ganze Weile geschrien habe.«
Dann erfuhr er, die Ankunft des Rettungswagens, der ihn zum St. Vincent’s Hospital bringen sollte, habe sich verzögert. Das Krankenhaus lag zwar nur sechs Häuserblocks entfernt, doch der Rettungswagen steckte im Verkehr fest. Das Warten war die Hölle.
»Da bekam ich es echt mit der Angst zu tun. Einige Feuerwehrleute tauchten auf und sperrten alles ab. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Müllwagen. Von dort, wo ich lag, konnte ich sehen, dass er ein Stück weiter die Straße hoch gehalten hatte, daran kann ich mich noch lebhaft erinnern.«
Bis zum Eintreffen des Rettungswagens konnte man nicht viel tun, aber warum kam er nicht?
»Alle brüllten wild durcheinander. Leutnant Walsh brüllte. Sie versuchte, eine Möglichkeit zu finden, mich irgendwie ins Krankenhaus zu bringen, weil die Sorge allmählich wuchs. Sie schrie in Richtung der Feuerwehrleute, deutete auf ihr eigenes Fahrzeug und rief: ›Können wir ihn nicht einfach da reinpacken und nach St. Vincent fahren?‹«
Mit jeder Minute, die verstrich, schwebte Jed in größerer Gefahr. Er hatte eine enorme Menge Blut verloren. Leutnant Walsh meinte später, wenn es in jener schicksalhaften Nacht überhaupt irgendetwas Positives gegeben habe, so sei es wohl der Umstand gewesen, dass Jed auf dem eiskalten Straßenpflaster lag, was den Blutverlust wahrscheinlich verlangsamte. Trotzdem war der Blutverlust lebensbedrohlich. Die Sanitäter mussten ihm insgesamt fünfzig Blutkonserven geben, was etwa dem Fünffachen der körpereigenen Blutmenge entspricht.
Es dauerte 25 qualvolle Minuten, bis der Rettungswagen eintraf. Für Jed war es eine gefühlte Ewigkeit. Ihm blieb keine andere Wahl, als irgendwie damit klarzukommen.
»Ich erinnere mich, dass es fast etwas von Meditation hatte, wie ich da auf dem Pflaster lag, als wäre ich irgendwie entrückt. Vielleicht habe ich mich auf meinen Atem konzentriert. Ich weiß nicht mehr, was ich getan habe. Ich stand unter Schock. Um mich herum war alles in Aufruhr. Die Leute brüllten. ›Wo bleibt der verdammte Bus?!‹ Mit ›Bus‹ meinten sie den Rettungswagen. Da war diese freundliche Frau, Leutnant Walsh, die meine Hand hielt, und versuchte, mich zu beruhigen. Und ich gab einfach irgendwie mein Bestes, in einer Art Trance.«
Endlich traf der Rettungswagen ein. Jed spürte kurz eine gewisse Erleichterung, bevor eine ernüchternde Erkenntnis einsetzte: »Ich wusste, ich meine, mir war klar, dass es übel sein würde, wenn sie mich bewegten. Ich selbst konnte mich nicht rühren, und sie würden den Teil von mir bewegen, der höllisch wehtat. Und dann fingen sie an, mich hin- und herzuschieben, und hoben mich hoch.«
Jed blieb während dieser ganzen Aktion bei vollem Bewusstsein. »Es tat irre weh. Weißt du, so ein gleißender Schmerz, der alles überstrahlt. Auf dem Weg ins St. Vincent habe ich wohl ganz schön gejault. Von da an begannen die Dinge zu verschwimmen, wegen der Schmerzen schwanden mir allmählich die Sinne.«
Die Krankenwagenfahrt zum St. Vincent war kurz, und der Wagen war praktisch im Nu da. Jed schrie nach Schmerzmitteln. Er hatte noch immer nichts bekommen. Dafür war keine Zeit.
»Ich erinnere mich, dass der Rettungssanitäter sagte: ›Halten Sie durch, Sie bekommen etwas, sobald wir im Krankenhaus sind.‹«
Als sie schließlich im St. Vincent eintrafen, drängte sich sofort ein Ärzteteam um Jed und bestürmte ihn mit Fragen. Sie brauchten Details. Jeds Antwort war eindeutig: »Geben Sie mir was gegen die Schmerzen, dann beantworte ich Ihre Fragen.«
Inzwischen verlor er zwischendurch immer häufiger das Bewusstsein. Doch eine Erinnerung steht ihm noch immer kristallklar vor Augen: der Anblick seiner Freundin Megan. Sie war in der gemeinsamen Wohnung in Brooklyn gewesen, als sie die Nachricht vom Unfall erhielt, und hatte sich sofort auf den Weg ins Krankenhaus gemacht.
»Ich weiß noch, dass Megan da war, sich Sorgen um mich machte. Das ist eine schmerzliche Erinnerung. Sie sah so unglücklich aus. Sie weinte. Ich erinnere mich, dass ich mich hilflos fühlte. Ich wollte etwas tun, um sie davon zu überzeugen, dass ich wieder in Ordnung kommen würde. Ich erinnere mich, dass ich mich total zuversichtlich fühlte, als man mich zum OP rollte, und dass ich zu Megan sagte: ›Ich komm da wieder raus. Wir sehen uns!‹ Und dann brachten sie mich weg.«
Das war die letzte Erinnerung, die Jed an jene Nacht hatte.
Als die Blutung im Operationssaal nicht zum Stillstand kommen wollte, diskutierten die Fachärzte für Orthopädie intensiv darüber, wie sie sein übel zugerichtetes Bein am besten retten könnten. Dann traf der leitende Gefäßchirurg ein, der ihre Diskussion kurzerhand beendete. Wie Jed später rekonstruierte, hatte der Gefäßchirurg sinngemäß etwa Folgendes gesagt: »Dieser Mann hat keinerlei Überlebenschance, wenn ihr Idioten hier endlos palavert. Wir müssen eine Möglichkeit finden, die Blutung zu stillen.« Und dann, so Jed, habe der Chirurg die Orthopäden praktisch aus dem OP geworfen.
Jeds Zustand war kritisch. Wie lange es dauern würde, ihn wieder zusammenzuflicken, war unklar. Unklar war auch, ob man sein Bein würde retten können. Jed konnte nicht wissen, dass die Ärzte schon bald Gespräche mit Megan und seinen nächsten Angehörigen führen würden, um ihnen zu erklären, wie schwer seine Verletzungen waren. Und um sie auf die sehr reale Möglichkeit vorzubereiten, dass er es vielleicht nicht schaffen würde.
In dieser ersten Nacht im Traumazentrum wurde Jed viele Stunden lang operiert. Die Ärzte kämpften um sein Leben. Als dann die Schwere der Verletzungen in den Fokus rückte, wurde entschieden, dass er noch zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen müsste und dass die sicherste Methode darin bestand, ihn in ein künstliches Koma zu versetzen. Drei Tage nach dem Unfall wurde klar, dass Jeds Bein nicht zu retten war. Das gesamte linke Bein wurde amputiert. Das Hüftgelenk wurde ebenfalls entfernt. Weitere Operationen standen auf dem Plan. Es sah so aus, als würde Jed eine geraume Weile im Koma liegen müssen.
Ein künstliches Koma hat nur entfernte Ähnlichkeiten mit der Art von Koma, in das man bei einem Unfall fällt, zum Beispiel weil eine traumatische Kopfverletzung zu einer Schwellung des Gehirns führt oder es zu einer Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff kommt. Ein künstliches Koma wird durch gezielt verabreichte, genau dosierte Barbiturate, für gewöhnlich Pentobarbital oder Propofol, herbeigeführt. Die Barbiturate verlangsamen den Hirnstoffwechsel und bewirken einen vorübergehenden Zustand tiefer Bewusstlosigkeit, ähnlich einer Narkose.
Obwohl sich die Hirnaktivität bei einem künstlichen Koma verringert, kommt es immer noch zu gewissen kognitiven Verarbeitungsprozessen. Patienten berichten häufig von wilden und lebhaften Träumen. In diese Träume fließen mitunter Geräusche aus der Umgebung komatöser Patienten, medizinische Behandlungsabläufe oder Sinneserfahrungen wie Berührungen oder Bewegungen mit ein.
In einem unvergesslichen Traum hatte Jed das Gefühl zu fallen. Er war körperlos. Schwerelos. In einem unendlichen Fall gefangen. Es war kein angenehmes Gefühl.
»Ich steckte in einer Art Open-Air-Auto, einem flugzeugartigen Gebilde. Nicht in einem menschlichen Körper. Ich fiel steil nach unten und kam im Fallen direkt neben einem Wasserfall vorbei. Ich fiel rasend schnell. Es fühlte sich nicht an wie Fliegen. Ich hatte keinerlei Kontrolle. Es war irgendwie verschwommen, aber das wesentliche Gefühl, die körperliche Empfindung, war, dass ich mich im freien Fall befand, einem endlosen freien Fall. Es war schrecklich.«
»Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, dieses Fallen, es nahm einfach kein Ende. Es schien, als hätte ich mich schon seit sehr langer Zeit im freien Fall befunden.«
»Und dann bin ich … zack! irgendwie gelandet.«
»Es war ein ziemlich harter Aufprall, aber nicht wirklich schlimm. Es war ein Gefühl wie: ›Oh, ich bin zurück in diesem Körper. Ich falle nicht mehr, und ich bin wieder in meinem Körper.‹ Es war vorbei. Ich hatte mich in einer Art – wie sagt man? – Limbozustand befunden, und dann war ich wieder in mir selbst.«
»Und dann – das klingt ein bisschen verrückt – sprach die Stimme dieses Medizinmanns zu mir, den ich einmal in einer Art Schwitzhütte getroffen hatte. Er sagte etwas wie: ›Du warst mit einem Fluch belegt‹ oder ›Deine Familie war verflucht‹ … Irgend sowas …‚ aber jetzt ist die Schuld beglichen. Alles wird gut.‹«
Bei der Erinnerung an den Medizinmann musste Jed lachen und bezeichnete diese Art von Träumen als »meine komischen psychospirituellen Träume«. In einem weiteren Traum besuchte ihn der berühmte Koch Mario Batali zusammen mit seinem Geschäftspartner Joe Bastianich. Jed kannte die beiden Männer. Sie waren die Inhaber des Babbo. Mario und Joe hatten Jed tatsächlich im Krankenhaus besucht, als er im Koma lag. Er hörte deutlich oder erinnerte sich zumindest, dass er gehört hat, wie seine Mutter ihr Kommen ankündigte. Doch in Jeds barbituratgesättigtem Gehirn fand die Begegnung nicht in einem sterilen Krankenhauszimmer, sondern auf einem grünen Feld statt, »irgendwo im Süden, vielleicht in Virginia, im Frühling«. Jed entsann sich nicht eines bestimmtes Gesprächsinhalts, nur der Anwesenheit von Mario und Joe und der friedlichen Atmosphäre.
Diese idyllische Szenerie war ein wiederkehrendes Motiv in Jeds Komaträumen.
»Da war diese ganze Traumrealität, die sich rund um meine Genesung in einer noblen Langzeitpflegeeinrichtung gebildet hatte. Dazu gehörte ein Pavillon in einer sanften Hügellandschaft. Die Sonne schien. Es war warm und schön.«
Der Pavillon ließ Jed an ein ähnliches Gebäude in der Kleinstadt denken, in der er aufgewachsen war. Er tauchte in mehreren weiteren Träumen auf. Jed rief sich in Erinnerung, dass er mehrmals davon träumte, Megan zu heiraten. Diese Hochzeitsträume wurden mitunter recht bizarr.
»Der erste«, berichtete Jed, »war wirklich merkwürdig. Der Freund meiner Schwester, der inzwischen mein Schwager ist, suchte online im koreanischen Untergrund, in so einer Art Internetuntergrund, nach einem Vintagekleid für Megan, so ein altmodisches Kleid im Stil der Sechzigerjahre, der Beatles-Ära. Und dann fuhren wir auf einer Serpentinenstraße um diesen runden Berg herum, hoch zu einem Kuppelbau, einem Pavillon auf dem Gipfel. Mit einem roten Sportwagen, einem Cabriolet. Megan war glücklich. Es hatte alles etwas von den frühen Sechzigerjahren. Eine Sechziger-Jahre-Vintage-Hochzeit.«
»Im Traum kamen nicht allzu viele Einzelheiten der Hochzeit vor. Aber ich erinnere mich, dass wir sie wiederholen mussten. Megans Vater war mit irgendwas an der Hochzeit unzufrieden, deshalb mussten wir sie noch mal vollziehen. Wir heirateten zweimal.«
Jeds Krankenhausträume waren alle bizarr, aber einige waren auch zutiefst verstörend. Sie hatten etwas Paranoides und umfassten Bestrafungen für irgendein Fehlverhalten. Jed nannte sie seine »schrägen Träume«.
»Einmal steckte ich zwei Wochen lang in einem U-Boot fest. Als Koch. Es war die Strafe für eine böse Tat, irgend sowas in der Art. So als hätte ich mich schlecht benommen und würde dafür bestraft.«
In einem weiteren Traum wurde Jed von einer Krankenschwester oder einem Pfleger rasiert. Dabei könnte es sich durchaus um ein Bruchstück eines realen Ereignisses gehandelt haben, das zu den Vorbereitungen einer Operation gehörte. Doch im Traum beobachtete Jed die Handlung aus der Distanz. Er sah sich selbst, wie er eine extrem schmerzhafte Rasur erhielt. Die Pflegekraft quälte ihn absichtlich, um ihn zu bestrafen.
»Es war unheimlich. Da war dieses Verfolgungselement, so als wäre ich ein böser Junge gewesen. Ich weiß nicht mehr, was sie gesagt haben, aber sie waren eindeutig wütend und wollten mich bestrafen.«
In einem der schlimmsten Träume befand er sich auf einer Farm. »Das war kein nettes Genesungsheim, eher ein Lager für Fettleibige. Grauenvoll. Wieder war es eine Einrichtung, irgendwo im Süden. In einer schönen Landschaft. Aber die Patienten spuckten alle über ihre Betten. Alle waren … furchtbar fett. Es war schrecklich, fast wie eine Foie gras-Farm, eine Stopfleberfarm für Menschen, aber trotzdem ein Krankenhaus. Die Insassen wurden alle intravenös ernährt. Auch ich lag in einem der Betten, wurde ebenfalls intravenös ernährt und hatte einen enormen Leibesumfang. Auch ich spuckte über das Bett und wurde gemästet.«
Überraschenderweise ist wenig darüber bekannt, welcher Mechanismus solchen albtraumartigen Bildern zugrunde liegt, oder wie häufig sie bei Menschen, die in ein künstliches Koma versetzt werden, auftreten. Bekannt ist allerdings, dass viele Menschen, die aus einem künstlichen Koma erwachen, von solchen bizarren halluzinatorischen Träumen berichten.[1]
Sie klagen häufig, die Träume seien unheimlich und beängstigend. Manche Leute berichten, sie hätten das Gefühl, von »Wesen« umgeben zu sein, die dunkel oder böse waren, und dass sie an »alle möglichen Orte« gebracht wurden und »schreckliche Dinge« erlebten. Das künstliche Koma macht dieses albtraumhafte Erleben tendenziell noch verstörender, einfach weil es schier endlos erscheinen kann. Das hängt damit zusammen, dass künstliche Komata sehr lange dauern können. Und anders als bei den Träumen, die wir im normalen Schlaf erleben, werden Komaträume nicht durch Schlaf- und Wachzyklen durchbrochen. Die Träume, in die ein Mensch im künstlichen Koma fällt, können unter Umständen immer weiter gehen. Einer meiner ehemaligen Patienten meinte, es sei wie »ein einziger unendlicher Albtraum, aus dem ich einfach nicht aufwachen konnte«. Ein weiterer beschrieb »einen Albtraum, der scheinbar ewig weiterging … eine endlose Abfolge von schrecklichen Ereignissen, bei der eine Situation zur nächsten führte.«
Etwas an der Tatsache, dass die Träume einfach immer weitergehen, lässt sie »unglaublich lebendig und detailreich«, fast hyperreal erscheinen. Viele Menschen, die in ein künstliches Koma versetzt wurden, berichten, sie hätten auch nach dem Erwachen aus dem künstlichen Koma mehrere Tage gebraucht, bis sie erkannten, dass sich die Traumereignisse nicht wirklich zugetragen hatten. Noch schlimmer, nachdem sie ihr normales Wachbewusstsein wiedererlangt hatten, stellten viele fest, dass ihre durch das Koma herbeigeführten Träume nicht verschwanden. Sie schienen einen Bodensatz von etwas Unheimlichem, ähnlich einer traumatischen Erinnerung, hinterlassen zu haben.
Ein weiterer ehemaliger Patient erklärte: »Die Albträume(1), die ich während des Komas hatte, halten bis heute an, und sie waren und sind immer noch unglaublich real.«
Manche klagten, dass die Traumerinnerungen schlimmer seien als die Verletzungen, die das Koma überhaupt erst notwendig machten. Zum Beispiel: »Die Überwindung der Albträume war schwieriger als die körperliche Genesung.« Oder: »Ich habe viel länger gebraucht, um mich von den Bildern in diesem Koma zu erholen, als von den physischen Verletzungen(1).«
Die Bedeutung dieser retrospektiven Erinnerungen ist unklar, weil sie noch nie systematisch erforscht wurden. Möglicherweise nehmen sich nur die Menschen, die besonders schlimme Reaktionen erlebt haben, die Zeit, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Und tatsächlich berichten nicht alle Komaüberlebenden von Albträumen. Einige geben an, sich an überhaupt keine Träume im Koma zu erinnern.
In einer jüngeren Studie äußern sich ehemalige Patienten und Patientinnen von Intensivstationen dennoch über erstaunlich ähnliche Erfahrungen. Halluzinatorische Erfahrungen (zum Teil ausgelöst durch psychoaktive Medikamente) sind auf Intensivstationen so verbreitet, dass dieses Phänomen einen Namen erhalten hat, (1)nämlich ITS-Psychose (ICU, Intensive Care Unit Psychosis).[2] In der Studie erklärten 88 Prozent der Befragten, sie hätten sich an die Halluzinationen(1) und Albträume(1) während ihrer Zeit auf der Intensivstation erinnert – zum Beispiel von Krankenschwestern, die Patienten in Zombies verwandelten, von Gewehren, aus denen Blut sprudelte, oder von Vögeln, die sich gegenseitig auslachten. Sie berichteten außerdem, dass diese Bilder auch noch Monate nach ihrer Entlassung immer wieder ungewollt ins Bewusstsein drangen.
All das verhieß nichts Gutes für Jed. Nicht nur, dass er ein entsetzliches Trauma erlitten hatte. Nicht nur, dass er sich an alle Einzelheiten erinnern konnte: die Reifen des Lasters, die sein Bein zerquetschten, das Schreien, das Blut, das gefrorene Straßenpflaster, den grauenvollen Schmerz, die Tränen in Megans Gesicht. Dazu würde er jetzt auch noch unauslöschliche Erinnerungen an seine merkwürdigen, »schrägen« Träume haben. Und als wäre das noch nicht genug, würde das Ärzteteam ihn aus dem Koma holen, und er würde entdecken, dass sein ganzes Bein, bis hoch zur Hüfte, amputiert worden war.
Jeds Familie machte sich Sorgen. Er hatte sechs lange Wochen im Koma gelegen. Während dieser Zeit war sein Körper behandelt, umgelagert, neu ausgerichtet und zusammengeflickt worden. Er hatte fast zwanzig unterschiedliche Operationen über sich ergehen lassen müssen. Zusätzlich zur Amputation hatte man ihm einen Luftröhrenschnitt gesetzt, und sein Darm war neu verlegt worden. Was würde geschehen, wenn er wieder zu Bewusstsein kam? Woran würde er sich erinnern? Wie würde er darauf reagieren, dass sein Bein amputiert war? Wie sollten sie es ihm sagen? Und wie würde er mit dem Trauma dieses ganzen schrecklichen Martyriums umgehen?
Zur allgemeinen Überraschung wusste Jed praktisch sofort, dass er sein Bein verloren hatte. Er konnte nicht sagen, woher er es wusste, aber er wusste es. Vielleicht hatte er auch im Koma etwas von den Gesprächen mitbekommen, die die Ärzte an seinem Bett geführt hatten. Vielleicht hatte er die medizinischen Behandlungen irgendwie gespürt oder wahrgenommen. Oder vielleicht war ihm einfach klar, dass die Verletzungen zu schwerwiegend waren.
»Als ich da auf der Straße lag, hatte ich das Gefühl, dass mein Bein völlig kaputt war«, erinnerte sich Jed. »Ich konnte sehen, dass es wirklich schlimm war. Ich stand an der Schwelle des Todes. Auf einer gewissen Ebene habe ich es also schon gewusst. Und aus welchem Grund auch immer … ich wachte schon mit dem Gedanken auf, dass mein Bein nicht mehr da ist. Es hat mich nicht überrascht.«
Jemanden aus einem künstlichen Koma aufwachen zu lassen, ist ein allmählicher Prozess, der sich über mehrere Tage hinzieht. Das gibt dem Patienten Gelegenheit, sich mental wieder in Raum und Zeit zurechtzufinden, und dem Gehirn die Möglichkeit, die Kontrolle über den Körper zurückzugewinnen. Es trägt auch dazu bei, den plötzlichen Schock des Erwachens in einer fremden Umgebung zu verringern. Jed erinnerte sich, er sei sich seiner Umgebung »stückchenweise« bewusst geworden. »Es war nicht so, dass ich gedacht hätte: ›Aha, alles klar, ich bin hier also auf einer Intensivstation‹. So war es nicht«, erklärte er. »Es kam eher Schritt für Schritt. Ich habe ganz langsam eins und eins zusammengezählt. Das mit dem Bein war mir klar, aber ich weiß noch, dass ich an mir herunterschaute und dieses Loch in meinem Bauch entdeckte, und dann die Schläuche überall und all die Narben.«
Außerdem gab es unangenehme Nebenwirkungen, mit denen er zurechtkommen musste. »Ich erinnere mich, dass ich aufwachte und merkte, dass ich nicht sprechen konnte. Jemand erklärte mir, dass ich erst wieder sprechen könnte, wenn der Beatmungsschlauch vollständig entfernt sei.«
Erst fünf Tage nach dem Aufwachen war Jed wieder imstande zu sprechen. Bis dahin musste er sich durch Gesten verständigen oder kommunizieren, indem er kurze Notizen schrieb. Zudem bedeutete das Tragen eines Beatmungsschlauchs, dass seine Kehle extrem ausgetrocknet war.
»Besonders schlimm und unangenehm am Aufwachen war, dass ich am Verdursten war. Meine Kehle war wie ausgedörrt. Und man ließ mich nichts trinken. Sie müssen erst alles frei machen, damit du schlucken kannst. Dazu kommt extra ein ganzes ›Schluck‹-Team vorbei.«
Einige der ersten Erfahrungen, nachdem er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, sind Jed als angenehm in Erinnerung geblieben. Er weiß noch, dass er den starken Wunsch hatte, Megan zu sehen, und »wie ungemein beruhigend ihre Anwesenheit« war.
Aber schon bald wurden die Erinnerungen wesentlich schwieriger. Jed fing an, sich damit auseinanderzusetzen, wie er sein Bein verloren hatte. Innerhalb weniger Tage stürzten die Erinnerungen an den Unfall auf ihn ein.
»Ich konnte immer noch nicht sprechen. Ich weiß noch, dass die Erinnerungen schlagartig auf mich einstürmten. Im Kopf spielte ich immer wieder den Unfall durch. Diese Erinnerungen wogen sehr schwer, hatten so eine Art hohe traumatische Wertigkeit. Ich dachte: ›Oh, wow! Unfassbar, was ich alles zu verarbeiten habe!‹«
Auch die genauso schlimmen, wenn nicht noch schlimmeren Erinnerungen an das Koma machten ihm zu schaffen.
»Ich habe immer öfter versucht, diese auffälligen Trauminhalte zu verdrängen. Themen wie Paranoia, Gewalt, Strafe oder Misstrauen gegenüber meiner Umwelt waren alle ungemein stark.«
Und dann hörte das Ganze zu Jeds Überraschung einfach auf.
Die intrusiven Bilder überfielen ihn immer seltener und dann schließlich gar nicht mehr. Er konnte sich noch genau an alle Einzelheiten des Unfalls erinnern. Er konnte sich auch mühelos an die lebhaften Träume erinnern. Doch schon nach wenigen Tagen drangen diese Erinnerungen nicht mehr ständig wider Willen in sein Bewusstsein. Keine Flashbacks. Keine beängstigenden Bilder, die ihn verfolgten. Er konnte sie nach Belieben wachrufen, wenn er es wollte, aber genauso gut gelang es ihm, sie auch aus seinen Gedanken zu verbannen.
»In den ersten Tagen wurde ich eindeutig von den Erinnerungen überwältigt. Aber dann wurde es weniger. Ganz schnell. Ich fand es komisch, dass die besondere Bedeutung dieser Erinnerungen verblasste und ich nicht mehr so stark darauf reagierte wie kurz nach dem Aufwachen.«
Für Jed bedeutete das eine einschneidende Veränderung.
»Ich hatte brennende Fragen. Oft fragte ich mich, warum ich nicht viel verkorkster war, warum ich nicht so total fertig und durcheinander war, wie ich es eigentlich erwartet hätte. Das hat mich echt verwirrt. Wenn alle möglichen Leute unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden, warum kam ich dann ganz gut zurecht? Das war tatsächlich meine Hauptfrage. Warum kam ich eigentlich ganz gut klar?«
Warum kam Jed ganz gut klar?
Wie ist es möglich, dass ein Mensch nach einer so schrecklichen Erfahrung ganz gut zurechtkommt?
Das scheint eine grundlegende und zugleich unlösbare Frage zu sein.
Und doch gibt es eine Antwort. Wir werden natürlich nie mit absoluter Sicherheit wissen, warum Jed in psychischer Hinsicht unversehrt blieb. Aufgrund der Tatsache, dass er lange Zeit im Koma lag, bleibt zumindest ein Teil seiner Erfahrung etwas Rätselhaftes. Doch alles andere können wir erklären, nicht nur für Jed, sondern für alle Menschen, die mit ernsthaften Widrigkeiten konfrontiert werden.
Die Geschichte fängt damit an, wie wir über Trauma denken. Nach herkömmlicher Auffassung hätte Jed psychisch überwältigt sein sollen, wäre die scheinbar rasante Besserung nur eine Illusion, eine kurzlebige Verleugnung der gefährlicheren seelischen Verletzungen, die in den tieferen Abgründen seiner Seele verborgen sind. Doch diese Sichtweise, die unser Verständnis über die vergangenen fünfzig Jahre geprägt hat, ist leider erschreckend unvollständig.
Bis vor Kurzem kam der Großteil dessen, was wir über Trauma wissen, aus der Erforschung der schwersten Reaktionen, wie der Posttraumatischen Belastungsstörung(1) oder PTBS. Es versteht sich von selbst, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun müssen, um schwere Traumata zu begreifen. Problematisch wird es, wenn wir uns ausschließlich auf dieses eine Ziel konzentrieren und die Erfahrungen jener Menschen, die solche extremen Reaktionen nicht zeigen, außer Acht lassen. Wenn das geschieht, erfahren wir eine Menge darüber, was alles schiefgehen, aber nicht viel darüber, was gut laufen kann. Und leider neigen wir allmählich zu der Überzeugung, alles könne immer nur schiefgehen, traumatischer Stress führe unweigerlich zu dauerhaftem Trauma und PTBS.
Diese Art der Beweisführung ist als Essentialismus(1) bekannt. Sie wurzelt in der Überzeugung, dass ein traumatisches Ereignis »eine natürliche Art« ist, dass es eine unveränderliche und unsichtbare Essenz umfasst, die ganz bestimmte Gefühls- und Verhaltensmuster bei uns auslöst.[3] Wir neigen dazu, PTBS auf diese Weise zu sehen. Wenn wir diese Konzepte essentialisieren, gehen wir davon aus, dass sie nicht von Menschen erfunden oder erschaffen wurden, sondern dass sie vielmehr schon immer existierten und der Mensch sie einfach nur irgendwann entdeckt hat. Essentialistische Annahmen sind nicht zwangsläufig falsch. Ein Hund ist etwas anderes als eine Katze. Ein Stein ist etwas anderes als Wasser. Doch mitunter verfehlen essentialistische Konzepte ihr Ziel, vor allem, wenn sie sich auf mentale Zustände beziehen. Und, wie ich in Kürze darlegen werde, geht die konventionelle Auffassung von Trauma sehr weit am Ziel vorbei. Weder Trauma noch PTBS sind statische, unbewegliche Kategorien. Sie sind dynamische Zustände mit unscharfen Grenzen, die sich im Laufe der Zeit erweitern und verändern.
Tatsächlich gibt es Posttraumatische Belastungsstörungen(2) oder zumindest etwas, das ihnen gleicht. Und leider sind sie, wenn sie denn auftreten, sehr einschränkend und kräftezehrend. Doch eine extreme Reaktion wie PTBS zeigt sich nicht einfach unverzüglich, weil man einem Trauma auslösenden Ereignis ausgesetzt ist. Gewaltsame oder lebensbedrohliche Ereignisse(1)(1) sind zweifellos schwierig, und die meisten Menschen, die damit konfrontiert werden, erleben zumindest eine gewisse Form von traumatischem Stress. Sie fühlen sich möglicherweise wie gelähmt und ängstlich oder kämpfen darum, mit verstörenden Gedanken, Bildern und Erinnerungen umzugehen. Die Reaktionen unterscheiden sich von Mensch zu Mensch und von Ereignis zu Ereignis. Normalerweise sind sie kurzlebig und dauern nicht länger als ein paar Tage, manchmal auch Wochen an. In dieser vorübergehenden Form ist traumatischer Stress eine absolut natürliche Reaktion, aber keine PTBS.
Zur PTBS kommt es, wenn der traumatische Stress(1) anhält, wenn er gärt, sich ausweitet und sich schließlich zu einem dauerhafteren Stresszustand verfestigt. Dieses Ergebnis ist jedoch nicht annähernd so verbreitet, wie man vielleicht denkt. Wie die Forschung der vergangenen Jahrzehnte eindeutig nachgewiesen hat, entwickeln die meisten Menschen, die gewaltsamen oder lebensbedrohlichen Ereignissen ausgesetzt waren, keine PTBS. Und das kann nur bedeuten, dass die Ereignisse(1) als solche nicht von sich aus traumatisch sind. Tatsächlich ist kein Ereignis, nicht einmal ein gewaltsames oder lebensbedrohliches Ereignis, von sich aus traumatisch. Derartige Vorkommnisse sind lediglich »potenziell traumatisch(1)«. Der Rest liegt zu einem Großteil bei uns.
Dieser »Rest« kann sehr viel stärker variieren, als die Standardsichtweise von Traumata nahelegt. Auch wenn die meisten Menschen keine PTBS entwickeln, leiden einige doch durchaus in anderer Hinsicht. Sie haben unter Umständen einige Monate oder auch länger mit traumatischem Stress(2) zu kämpfen, bevor sie sich allmählich erholen, oder sie zeigen anfangs vielleicht weniger schwere Stressreaktionen, die sich dann aber im Laufe der Zeit verschlimmern. Doch sogar wenn wir diese unterschiedlichen Muster berücksichtigen, stellen wir dennoch fest, dass die meisten Menschen – eine klare Mehrheit – fähig sind, traumatischen Stress relativ gut zu bewältigen. Die meisten Personen, die potenziell traumatischen Ereignissen(2) ausgesetzt waren, sind in der Lage, ihr normales Leben recht schnell wieder aufzunehmen, ohne unter irgendwelchen langfristigen Problemen zu leiden. Kurzum: Die meisten Menschen sind resilient. Meine eigene Forschung hat dies wiederholt, in Studie auf Studie, bestätigt. Auch die Forschung anderer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommt zu diesem Schluss. Wenn wir die ganze Bandbreite der durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen betrachten – Studien über die unterschiedlichsten Formen von extrem widrigen oder potenziell traumatischen Ereignissen –, zeigt sich, dass Resilienz(1) fast immer die häufigste Reaktion ist.
Doch auch wenn man die empirische Tatsache berücksichtigt, dass wir Menschen extrem widerstandsfähig sind, bleibt die noch größere Frage nach dem Warum. Warum sind wir fähig, schreckliche Geschehnisse so gut zu verkraften, die Erfahrung hinter uns zu lassen und unser normales Leben wieder aufzunehmen? Wie sieht das Handeln oder Verhalten aus, das uns diese Widerstandskraft(1) ermöglicht?
Ironischerweise offenbaren sich die Unzulänglichkeiten des herkömmlichen Traumaverständnisses(1) bei dieser Frage besonders deutlich. Wenn eine Posttraumatische Belastungsstörung(3) einfach aufgrund eines traumatischen Ereignisses auftritt, dann sind die meisten Menschen nach derselben essentialistischen Logik einfach deshalb resilient gegen ein Trauma, weil sie resilient sind. Mit anderen Worten: Die konventionelle Auffassung lässt uns keine andere Wahl als die Annahme, dass widerstandsfähige Menschen etwas in sich haben, irgendeine Essenz, die sie immun macht.
Die meisten Beschreibungen der Resilienz(2), auf die man stößt, stecken in dieser statischen, essentialistischen Argumentation fest. Sie erklären uns, es gehe bei der Resilienz darum, die richtigen Eigenschaften zu besitzen, die fünf oder sieben Merkmale extrem widerstandsfähiger Menschen. Wenn man über die aufgeführten Merkmale verfügt, ist man resilient. Wenn nicht, dann nicht. Die Schnörkellosigkeit dieses Ansatzes hat etwas Reizvolles. Er ist klar und einfach. Und er lässt die hoffnungsvolle Möglichkeit offen, dass man immer versuchen kann, diese Merkmale zu entwickeln, um schließlich resilient zu werden.
Doch ein genauerer Blick offenbart die Schwachstelle in dieser Logik. Problematisch ist nicht die Zahl der aufgelisteten Eigenschaften. Meine eigene Forschung hat recht viele Merkmale aufgedeckt, die im Zusammenhang mit resilienten Reaktionen stehen. Letzten Endes werden wir sicherlich noch mehr solcher Merkmale ausmachen. Die Anzahl spielt keine Rolle. Problematisch ist, dass wir, wenn wir von einer allgemeingültigen Liste mit Schlüsselmerkmalen der Resilienz(3) ausgehen, das Ziel immer wieder verfehlen. Ich bezeichne das als das Resilienzparadox.(1) Wir können statistische Korrelate der Resilienz ermitteln – die sogenannten Merkmale von widerstandsfähigen Menschen –, aber wenn etwas Widriges geschieht, sagen diese Korrelate paradoxerweise nicht viel darüber aus, wer sich als widerstandsfähig erweisen wird und wer nicht.
Der Grund dafür ist, dass Resilienz ebenso wie Trauma ein bewegliches Ziel ist. Der Stress, der durch ein potenziell traumatisches Ereignis(1) ausgelöst wird, entwickelt sich im Laufe der Zeit. Er verlagert und verändert sich, sogar wenn wir versuchen, ihn zu bewältigen. Schlimme Ereignisse beeinträchtigen unser Leben häufig auch in einer Weise, die neue Stressbelastungen(1) und neue Probleme mit sich bringt. Sie können zu körperlichen Einschränkungen oder zum vorübergehenden Verlust des Arbeitsplatzes oder der Wohnung führen. Es braucht Zeit, sich an solche Auswirkungen anzupassen. Und die Anpassung erfordert mehr als ein einfaches Repertoire feststehender Merkmale.
Eine Fülle von Studien belegt, dass es in Wahrheit kein einzelnes Merkmal und nicht einmal ein bestimmtes Repertoire von Merkmalen gibt, die sich ausnahmslos als erfolgreich erweisen. Und wie wir später sehen werden, hat buchstäblich jede erdenkliche Eigenschaft oder Verhaltensweise sowohl Vorteile als auch Nachteile. Einfach ausgedrückt: Was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Situation funktioniert, funktioniert in einer anderen Situation zu einer anderen Zeit möglicherweise gar nicht oder stellt sich sogar als schädlich heraus. Sogar Eigenschaften und Verhaltensmuster, die ganz offensichtlich nützlich erscheinen – sagen wir, die Fähigkeit, Gefühle auszudrücken oder andere um Hilfe zu bitten –, sind nicht in allen Fällen hilfreich. Und in gewissen Situationen können Merkmale und Verhaltensweisen, die wir normalerweise für problematisch halten, wie etwa das Unterdrücken von Gefühlen(1), genau das sein, was wir brauchen. Das bedeutet im Effekt, dass wir uns die beste Lösung in einem fortwährenden Prozess immer wieder neu erarbeiten und immer wieder neu anpassen müssen. Mit anderen Worten: Wir müssen flexibel sein.
Obwohl es einfach klingt, ist diese Art von Flexibilität(1) etwas sehr Vielschichtiges. Und weil sie eine solche Schlüsselrolle dabei spielt, wie wir uns an Widrigkeiten anpassen, werde ich einen Großteil dieses Buches darauf verwenden, sie genau zu analysieren. Zunächst einmal ist Flexibilität kein passiver Prozess. Potenziell traumatische Ereignisse sind schmerzlich und verstörend, und normalerweise wollen wir uns so schnell wie möglich davon befreien und sie aus unseren Gedanken vertreiben. Die Anpassung an derartige Ereignisse erfordert, dass wir – aktiv und systematisch – über unser Erleben und seine Ursachen nachdenken. Und damit wir dabei erfolgreich sind, müssen wir motiviert und engagiert sein. Dafür brauchen wir eine bestimmte innere Haltung, die unser Denken und Handeln prägt, und die ich als flexibles Selbstbild oder Mindset bezeichne. (1)(1)
Sobald wir dieses Mindset, diese Überzeugung, entwickelt haben, können wir uns im Detail damit beschäftigen, was wir konkret tun müssen, um die anstehende Herausforderung zu bewältigen. Das löst eine Abfolge von Schritten aus, die ich Flexibilitätssequenz(1)nenne. Während wir diese Schritte durchlaufen, arbeiten wir heraus, was mit uns geschieht und was wir tun können, um erfolgreich damit umzugehen. Zu dieser Abfolge gehört auch ein sehr wichtiger Korrekturschritt, durch den wir ermitteln, ob die von uns gewählte Strategie funktioniert oder ob wir zu einer anderen Strategie wechseln sollten. Die Gesamtheit dieser Schritte ermöglicht uns, die uns zur Verfügung stehenden Mittel, ganz gleich um welche Eigenschaften, Verhaltensweisen oder Ressourcen es sich dabei handelt, flexibel zu nutzen, sodass wir uns erfolgreicher anpassen und vorankommen können. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das keine seltenen Begabungen, sondern einfach unterschätzte Eigenschaften des menschlichen Geistes sind, die man fördern und verbessern kann.
Wenn ich öffentliche Vorträge über diese Konzepte halte, meldet sich unweigerlich jemand zu Wort, der erklärt, es sei schwer zu glauben, die gängige Meinung zum Thema Trauma solle so falsch sein. Vielleicht denken Sie das auch, was durchaus verständlich wäre. Immerhin widersprechen die gerade beschriebenen Ideen dem meisten, was man uns fast ein Leben lang erzählt hat. Und natürlich wäre es falsch zu behaupten, die herkömmliche Auffassung sei völlig unbegründet. Diese Auffassung und insbesondere das Konzept der PTBS waren ein unverzichtbarer Schritt auf dem langen Weg zu einem Verständnis von Trauma. Doch inzwischen sind wir auf diesem Weg viel weiter vorangeschritten. Und wie wir in Kürze sehen werden, lassen die Erkenntnisse und Nachweise, die wir auf diesem Weg gesammelt haben, wenig Zweifel daran, dass die traditionelle Konzeption einfach nicht mehr tragfähig ist.
In den folgenden Kapiteln werden wir die verschiedenen Teile für einen neuen kohärenteren Bezugsrahmen zusammensetzen, der nicht nur verständlich macht, warum traumatische Erlebnisse unterschiedliche Auswirkungen wie Resilienz(4)(4) oder PTBS haben können, sondern auch erklärt, wie sich diese unterschiedlichen Ergebnisse entwickeln. Wir werden tief eintauchen in die Fragen und Ideen, die zu dieser neuen Auffassung führten, und wir werden einen gründlichen Blick auf einige der Forschungsarbeiten werfen, die ihr zugrunde liegen. Dabei werden wir auch die Geschichte von Jed im Blick behalten. In mehreren Passagen im Buch werden wir auf ihn zurückkommen und außerdem von den Erfahrungen weiterer Menschen hören, die mit ähnlich schweren Erlebnissen zu kämpfen hatten. Doch bevor wir das alles tun, müssen wir ganz am Anfang beginnen. Wir müssen in der Zeit zu dem Punkt zurückgehen, an dem der Mensch erstmals versuchte, das Phänomen Trauma zu verstehen.
Teil I
Kapitel 1
In der Hall of Human Origins des(1) Naturgeschichtlichen Museums in New York befindet sich ein eindrucksvolles Diorama. Es ist riesig. Wenn es möglich wäre hineinzuklettern, könnte ein Mensch darin mühelos aufrecht stehen und herumwandern. Außerdem wirkt es unglaublich lebensecht.
Das Licht ist absichtlich gedämpft. Die Augen brauchen eine Zeit lang, um sich daran zu gewöhnen. Das Erste, was einem auffällt, ist, dass mindestens eine der Figuren in dem Schaukasten, diejenige, die sich am dichtesten am Glas befindet, ein menschenähnliches Aussehen hat. Sie wirkt wie ein kleiner urgeschichtlicher Vorfahre von uns. Die nackte Gestalt sitzt in der Hocke.
Das Diorama zeigt eine Szene aus dem Pleistozän, also aus einer Zeit vor etwa einer Million oder noch mehr Jahren. Bei der Figur handelt es sich um den Homo erectus. Er beugt sich über einen Bach, um etwas frisches Wasser aus der hohlen Hand zu trinken. Der behaarte, nackte Körper wirkt entspannt. Der Bach liegt in der Dämmerung, am Fuß eines Berges.
Wenn die Augen sich allmählich besser an das gedämpfte Licht gewöhnt haben, entdeckt man weitere Gestalten, darunter offenbar einige Tiere. Ein Rudel Hyänen. Sie spitzen aufmerksam die Ohren und schleichen sich von hinten an unseren Urahn heran. Betrachtet man eine der Hyänen genauer, erkennt man, dass sie eine geduckte Angriffshaltung eingenommen hat. Sie wirkt bedrohlich. Dann kommt die Silhouette einer zweiten Hyäne in den Blick. Sie ist noch viel, viel näher: Zusammengekauert, mit zurückgelegten Ohren und nach vorn gereckter Schnauze setzt sie gerade eindeutig zum Sprung an. Prähistorische Hyänen waren große, furchterregende Raubtiere. Unser Vorfahr hat offenbar überhaupt keine Ahnung, was auf ihn zukommt. Nichts deutet darauf hin, dass er eine Waffe besitzt. Er wirkt völlig entspannt und scheint sich keiner Gefahr bewusst zu sein. Erschrocken wird einem klar, dass ihn mit ziemlicher Sicherheit ein grausames Schicksal erwartet.
Und wenn es ihm doch irgendwie gelänge, den Angriff zu überleben? Hätte er unter Flashbacks(1) gelitten? Unter beängstigenden Bildern von heranstürmenden Raubtieren? Von gefletschten Zähnen, Kampf, Flucht, Blut und Schmerz? Wäre er ständig von Gedanken an die Begegnung verfolgt worden? Hätte er unter quälenden Erinnerungen und Albträumen(2) gelitten?
Wir werden es nie erfahren. Alles, was aus dem Pleistozän überliefert ist, sind versteinerte Knochen und andere archäologische Hinweise, die uns ermöglicht haben, einige Puzzleteile des damaligen Lebens zusammenzusetzen. Es gibt keine schriftlichen Überlieferungen. Keine Kunstwerke. Keine Aufzeichnungen über Gedanken oder Erfahrungen.
Erst wesentlich später, in einer Zeit, die nur etwa 40 000 Jahre zurückliegt, begann der Mensch erstmals, seine Erfahrungen in kleinen Statuen und Höhlenbildern darzustellen. Zu den häufigsten Motiven, die in diesen frühen Kunstwerken abgebildet wurden, gehörten Tiere, Jagdgruppen und Waffen. Damit brachten unsere Vorfahren zweifellos zum Ausdruck, was ihre vorherrschenden Beschäftigungen waren. Die Menschen waren verwundbar, und das Leben war gefährlich. Doch etwa zur selben Zeit fingen sie auch an, den Gefahren zu trotzen. Sie begannen, sich selbst zu verteidigen und ihre Überlebenschancen dadurch zu verbessern. Die Beute verwandelte sich allmählich in das Raubtier.
Doch gab es psychische Traumata? (1)Jagen und Waffen bedeuten Gefahr. Das ist klar. Nur wie bringt man Traumata in einem Höhlenbild zum Ausdruck? Wir können Waffen und eine Jagd oder einen Angriff in einer Zeichnung darstellen. Trauma indes ist eine psychische Reaktion, die sich am leichtesten in Worten wiedergeben lässt. Und das bedeutet, dass wir noch weiter an unsere heutige Zeit heranrücken müssen. Erst vor etwa fünftausend Jahren setzte die Entwicklung der Schriftsprachen ein. Von daher könnte man vielleicht erwarten, irgendeine Form von anhaltendem psychischem Trauma habe jetzt erstmals Erwähnung gefunden. Wenn nicht genau vor fünftausend Jahren, dann vielleicht bald darauf.
Doch wenn wir auf dieses schriftliche Vermächtnis, auf etwa fünftausend Jahre aufgezeichneter Sprache blicken, stellen wir etwas wirklich Bemerkenswertes fest: Das Konzept des psychischen Traumas scheint eine überraschend moderne Idee zu sein.
Zu den frühesten schriftlichen (1)Texten, in denen wir eine Erwähnung psychischer Traumata erwarten würden, gehört zweifellos Homers episches Gedicht über den Trojanischen Krieg, die Ilias. Das Epos entwickelte sich wahrscheinlich über lange Zeit durch mündliche Überlieferung.[1] Schließlich wurde es dann schriftlich niedergelegt, wahrscheinlich erstmals um etwa 1000 v. Chr. Auch wenn ein Großteil der Geschichte aus Mythen besteht, basiert das Epos doch auch auf den Einzelheiten eines tatsächlichen Krieges zwischen den Mykenern und den Hethitern, besser bekannt als »Trojaner«, der viele Jahrhunderte zuvor stattgefunden hatte. Dabei hat Homer in seiner Ilias quasi nichts ausgespart. Die Kampfszenen werden in allen blutigen Details geschildert. Krieger werden verwundet, verstümmelt und getötet. Und in den beschreibenden Darstellungen geht der Autor ausführlich auf Angst, Qual, Schmerz und Mut ein. Beide Seiten erlitten vernichtende Verluste. Sie weinten bittere Tränen. Sie klagten und stöhnten. Und trotz der Tatsache, dass sich beide Parteien in unmittelbarer Nähe zueinander aufhielten, machten die Soldaten keinerlei Versuch, ihr Leid und ihre Trauer zu verbergen.
Der Psychiater Jonathan Shay stellte fest, dass diese Beschreibungen erstaunliche Ähnlichkeiten mit Berichten über »toxische Kampferfahrungen(1)« aufweisen, die er von zeitgenössischen Soldaten im Vietnamkrieg(1) gehört hatte.[2] Wie Shay ausführt, verlieh Homer dem angenommenen emotionalen Trauma(1), unter dem die Griechen und Trojaner nach dem Ende des Krieges möglicherweise litten, dennoch keine Stimme.[3] Der Trauer dagegen schon. Es gibt zahlreiche Schilderungen der tiefen Trauer(1), die die Krieger wegen ihrer gefallenen Kameraden empfanden, oder des Kummers von Freunden und Familienangehörigen über den Verlust ihrer Liebsten. Doch traumatische Reaktionen nach dem Krieg wie albtraumhafte oder intrusive Flashbacks werden mit keinem Wort erwähnt.
Uns liegen zahlreiche weitere historische Berichte vor, die ebenfalls erschütternde Ereignisse beschreiben, die wir heute, ohne zu zögern, als traumatisch bezeichnen würden. Doch auch hier gilt, dass in diesen Darstellungen die Begriffe »Trauma« oder »traumatisch« nicht zu finden sind. Auch werden keine der Symptome beschrieben, die wir heute mit PTBS verbinden. Die Vorstellung, ein gefährliches und furchterregendes Ereignis(1)(1) könnte dauerhafte psychische Probleme verursachen, kommt in der aufgezeichneten Geschichte buchstäblich nicht vor, sondern taucht erst vor relativ kurzer Zeit auf.
Nur sehr wenige geschichtliche Darstellungen enthalten Hinweise auf etwas, das auch nur entfernte Ähnlichkeiten mit einem anhaltenden psychologischen Trauma(2) hat. Einer der berühmtesten und möglicherweise der erste jemals schriftlich festgehaltene Text in diese Richtung ist eine Szene aus Shakespeares Heinrich IV., entstanden irgendwann im späten 16. Jahrhundert. In einem kurzen Abschnitt macht sich die Königin, Lady Percy, Sorgen um die sich verschlechternde psychische Verfassung des Königs, der offenbar kriegsbedingt unter Albträumen(3) und Zwangsvorstellungen(1) leidet. Ob diese Probleme die Kriterien echter PTBS-Symptome erfüllen, ist schwer zu sagen. Abgesehen von dieser kurzen Passage erwähnen weder Lady Percy noch der König das Thema je wieder.
Etwas eindeutiger ist ein in der Ich-Form geschriebener Bericht, der im 17. Jahrhundert in den Tagebüchern des britischen Aristokraten Samuel Pepys (ausgesprochen Pieps) auftauchte. Pepys war ein Intellektueller, ein Vertrauter von König Charles II. und ein Freund von Isaac Newton. Er führte ein bemerkenswertes Leben, baute eine riesige Bibliothek auf und vollbrachte auch darüber hinaus viele eindrucksvolle Leistungen. In Erinnerung geblieben ist er allerdings hauptsächlich wegen seiner Tagebücher. Zehn ereignisreiche Jahre lang hielt Pepys gewissenhaft seine Gedanken und Aktivitäten, Beobachtungen über seine Freunde, den Königshof und Alltagsereignisse fest und bewahrte die Aufzeichnungen sorgfältig auf.
Dass in Pepys’ Tagebüchern möglicherweise Traumareaktionen(1) erwähnt werden, während andere Quellen sich über dieses Thema ausschweigen, ist wahrscheinlich kein Zufall. Pepys machte seine Aufzeichnungen nicht öffentlich bekannt. Er verfasste seine Erinnerungen in altertümlichem Englisch, benutzte eine Geheimschrift und hat die Tagebücher, soweit man weiß, zu seinen Lebzeiten nie herumgereicht. Nach seinem Tod wurde seine große Büchersammlung zusammen mit den Tagebüchern der Cambridge University gestiftet. Dort blieben sie über ein Jahrhundert lang unbeachtet und offenbar auch unberührt, bis sie schließlich wiederentdeckt, entschlüsselt und veröffentlicht wurden.
Eine der bedeutendsten Passagen aus Pepys’ Tagebüchern beschreibt das große Feuer, das 1666 in London wütete. Pepys wurde mitten in der Nacht wach und entdeckte in einiger Entfernung den Lichtschein eines Feuers, doch er nahm an, dass keine größere Gefahr drohte und ging wieder ins Bett. Am nächsten Tag musste er zu seiner großen Bestürzung feststellen, dass das Feuer die ganze Nacht getobt und Hunderte von Häusern zerstört hatte. Er nahm das Ausmaß der Zerstörung in Augenschein, überprüfte es zuerst vom Londoner Tower und dann von einem Boot aus. Da die Feuersbrunst offenbar unvermindert weiterwütete, eilte er an den Königshof, um über seine Beobachtungen zu berichten.
Pepys passte sich diesem Ausnahmezustand an und lebte – jedenfalls für einen Adligen des 17. Jahrhunderts – diese ganze schwierige Zeit hindurch relativ einfach und spartanisch. Er schlief wenig und aß nur sporadisch. Er beschäftigte sich damit, seinen Haushalt, seine riesige Sammlung kostbarer Bücher und natürlich sein Gold umgehend an sichere Orte zu verbringen. Pepys’ Geschäftsinteressen und Pflichten am Hof erforderten allerdings, dass er regelmäßig auch die verheerenden Auswirkungen des Großbrands inspizierte. Diese Aufgabe erfüllte er, wenn möglich, von einem Boot aus, aber meistens zu Fuß.
»Wir verbrannten uns beim Gehen durch die heiße Asche fast die Füße«, klagt er in seinen Memoiren.
Auch wenn er die Haltung des souveränen Tagebuchschreibers aufrechterhielt, scheute er sich nicht, den Schmerz, den er angesichts der schrecklichen Zerstörung empfand, aufzuzeichnen. Die ganze Situation brachte ihn häufig zum Weinen, und mitunter fühlte er sich von Furcht überwältigt. In einem Abschnitt schreibt er: »Wir sahen in den von Flammen geröteten Himmel, ein schrecklicher Anblick, der einen um den Verstand bringen konnte; besonders deshalb, weil man meinen konnte, es sei direkt über uns und der ganze Himmel würde brennen.«
Nach fünf langen Tagen war das Feuer schließlich größtenteils erloschen. Doch Pepys ließen die Erlebnisse nicht los. In der letzten Nacht des Feuers bringt er zu Papier: Ich »schlief sehr gut, hatte aber noch solche Furcht vor dem Feuer, dass ich mich nicht erholte«. Einige Wochen später klagt er immer noch: »Ich schlief schlecht und träumte, die ganze Stadt stehe in Flammen.«[4] Und auch noch ein halbes Jahr nach dem Brand stellt Pepys überrascht fest, dass diese Ängste(1) ihn nach wie vor heimsuchten: »Ich kann auch heute noch keine Nacht ohne Furcht vor einem neuen Brand schlafen. In der letzten Nacht lag ich bis zwei Uhr früh wach und malte mir die Schrecken des Feuers aus.«[5]
Pepys hat den Begriff »Trauma(1)« nie benutzt. Laut dem Oxford English Dictionary war der Begriff damals zwar geläufig, aber ausschließlich der Beschreibung einer akuten körperlichen Schädigung(1) im medizinischen Sinne vorbehalten. Bezugnahmen auf physische(1) Traumata erschienen mit einiger Häufigkeit erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals war die Industrielle Revolution in vollem Gange, und mit ihr war ein deutlicher Anstieg von Arbeitsunfällen mit schwerwiegenden Verletzungen zu verzeichnen. Die Ärzte, die die Opfer dieser Unfälle im 19. Jahrhundert behandelten, erwähnten gelegentlich seltsame Verhaltensweisen oder rätselhafte, unerklärliche Symptome. Doch nach allgemeiner Überzeugung lag solchen Symptomen eine tiefere körperliche Ursache zugrunde, auch wenn man diese Ursache noch nicht entdeckt hatte.
Das berühmteste Beispiel für die Traumaauffassungen, die im 19. Jahrhundert herrschten, ist das Konzept vom »Eisenbahnrückgrat« (Railway Spine),(1) einem Rückenleiden, das wohl erstmals in Veröffentlichungen des dänischen Arztes John Eric Erichsen auftauchte.[6] Damals eroberte die Eisenbahn die westliche Welt. Die Anfänge des Bahnreisens waren allerdings alles andere als ein Vergnügen. Die Züge waren verdreckt und laut und vor allem gefährlich. Unglaublich schwere Unfälle waren keine Seltenheit, und wenn es dazu kam, gab es kaum Schutz vor Verletzungen. In den Eisenbahnwaggons mit ihren Holzrahmen und dünnen Wänden waren Sicherheitsvorkehrungen kaum vorgesehen, was zu grauenvollen Unglücken führte.
Immer öfter berichteten auch Reisende, die nur kleinere Unfälle erlebt hatten, ihren Ärzten von eigenartigen und psychisch seltsam anmutenden Symptomen, zum Beispiel von Gedächtnisstörungen(1), Appetitmangel(1), Albträumen(4), Wahrnehmungsstörungen(1), Angst(2) und unerklärlicher Erschöpfung(1) und Reizbarkeit(1). Besonders irritierend war, dass sie typischerweise keine erkennbaren Anzeichen irgendwelcher physischen (2)Verletzungen aufwiesen. Erichsens bekannte Erklärung dieses Problems lautete, diese Patienten und Patientinnen würden unter Mikroläsionen der Wirbelsäule leiden – unter winzig kleinen und im Grunde nicht erkennbaren Abschürfungen des Rückenmarks, wodurch diffuse Signale ans Gehirn gesendet würden, was verheerende Auswirkungen auf ihre Psyche habe.
Erichsens Ideen lösten hitzige Diskussionen aus. Seine Versuche, eine skeptische Ärzteschar zu überzeugen, wurden nicht unbedingt erleichtert, als er zugestand, einige der Patienten, die Anzeichen von Railway Spine(2) zeigten, hätten möglicherweise simuliert, um eine Entschädigung von der Eisenbahn zu erhalten. Vermutlich ist es mehr als ein bloßer Zufall, dass zu dieser Zeit auch die Haftpflichtversicherung eingeführt wurde.[7]
Ob man ihnen glaubte oder nicht, die Opfer von Arbeitsunfällen im Industriezeitalter tauchten weiterhin in Arztpraxen auf, um von ihren seltsamen Symptomen zu berichten. Einige Betroffene fanden ihren Weg in die Berliner Praxis des bekannten Neurologen Hermann Oppenheim. Oppenheim gelangte allmählich zu der Überzeugung, dass diese merkwürdigen Beschwerden andere Ursachen als rein physische(2) Traumata hatten und von einem tiefer liegenden psychischen Problem zeugten. Im Jahr 1889 stellte er seine kontroverse These in einem Buch mit dem Titel Die traumatischen Neurosen vor.[8] Das Buch hatte keine nachhaltige Wirkung. Nur einige wenige ideengeschichtlich interessierte Leute erinnern sich heute noch an Oppenheim. Dennoch hat er seine Spuren hinterlassen. Sein Buch steht bis heute für die erste medizinische Verwendung des Begriffs »Trauma« zur Beschreibung einer rein psychischen Reaktion.
Als die (1)(1)Vorstellung vom psychologischen Trauma Aufsehen zu erregen begann, trat die Welt ins 20. Jahrhundert ein. Wenig später wurde das Ganze virulent. Über Europa brach 1914 das Inferno des Ersten Weltkrieg(1)s herein, der als erster globaler Konflikt in die Geschichte einging. Allen Berichten zufolge war es ein absolut entsetzlicher Krieg, beherrscht von ausgedehnten, tödlichen und letztlich sinnlosen Stellungskämpfen in Schützengräben. Die Anzahl der Toten war schwindelerregend. Als die Soldaten, die dieser Hölle lebend entkommen waren, schließlich in ihre Heimat zurückkehrten, wirkten viele auf seltsame Weise verändert: kaum fähig, das Erlebte zu überwinden, nicht wirklich in der Lage zu beschreiben, was es war, das ihnen Probleme bereitete.
Mit dem Ersten Weltkrieg hielt ein neuer Begriff Einzug in die Alltagssprache, um dieses Phänomen zu erklären: Shellschock. Der Terminus bezog sich eindeutig eher auf einen umfassenden mentalen als einen rein körperlichen Zusammenbruch. Doch dem Begriff hafteten auch klare Hinweise auf die anhaltende Ambivalenz an, die mit dem Traumaverständnis(2) einherging. Das Wort »Schock« suggeriert Intensität, aber auch einen vorübergehenden Zustand, der nach relativ kurzer Zeit von allein wieder nachlassen sollte. Verstörte Soldaten, so nahm man an, würden einfach »darüber hinwegkommen«. In dem Begriff schwingt auch ein eindeutig misstrauischer, wenn nicht kränkender Unterton mit. Was war die wahre Ursache für diese Art von Gebrechen? War es vielleicht schlicht Schwäche? Oder schlimmer noch – Feigheit und Simulantentum?
Diese Zweifel waren beileibe nichts Harmloses, vor allem nicht für die Soldaten, die diesem Misstrauen ausgesetzt waren. Während der Krieg sich weiter durch Pattsituationen und bitterkalte Winter hinzog, wurden Tausende Fälle von Shellschock registriert. In der grausamen Realität der Schützengräben wurden sie jedoch häufig abgetan. Soldaten, die über psychische Probleme klagten, wurden ignoriert, als unglaubwürdig abgestempelt oder – schlimmer noch – hart bestraft. Hunderte von Soldaten wurden wegen Feigheit vor dem Feind exekutiert, indem sie »im Morgengrauen erschossen« wurden. Einige waren desertiert; andere hatten sich geweigert, Befehle zu befolgen, oder waren einfach unfähig, sie auszuführen, und viele litten ganz zweifellos unter einem echten Kriegstrauma(1).
Der 25-jährige britische Gefreite Henry Farr war einer von ihnen. Nachdem er zwei erschöpfende Jahre lang praktisch ohne Pause im Schützengraben gekämpft hatte, wurde Farr in der Schlacht an der Somme an die Front beordert. Die Somme-Offensive war eines der größten und blutigsten Gefechte des Krieges, das fast fünf Monate lang dauerte und unglaublich viele Tote forderte. Mehr als eine Million Soldaten wurden in dieser Schlacht getötet oder verwundet. Farr hatte genug. Er war erschöpft und weigerte sich, an die Front zurückzukehren. Seine Vorgesetzten wollten davon nichts hören. Sie beschuldigten ihn »des Fehlverhaltens vor dem Feind, das auf Feigheit schließen ließ«, und stellten ihn vors Kriegsgericht. Unklugerweise entschied er sich dafür, sich bei der Anhörung selbst zu vertreten. Der Prozess dauerte nur zwanzig Minuten. Am folgenden Tag wurde Farr hingerichtet.[9]
Im Rückblick, nach fast hundert Jahren psychologischer Traumaforschung, kommt uns dieses Verhalten barbarisch vor. Das empfanden die Familien der Soldaten genauso. Jahrzehntelang kämpften Freunde und Angehörige der hingerichteten Soldaten um eine Korrektur der historischen Darstellungen. Erst im Jahr 2006, fast neunzig Jahre nach Kriegsende, wurden viele dieser Soldaten schließlich posthum begnadigt.
Die Tochter von Henry Farr, Gertrude, lebte lange genug, um die Genugtuung zu erfahren, dass der Name ihres Vaters reingewaschen wurde.
»Ich habe immer argumentiert«, erklärte sie, »dass die Weigerung meines Vaters, wieder an die Front zu gehen … die Folge eines Granatenschocks war, und ich bin überzeugt, dass nicht nur mein Vater, sondern auch viele andere Soldaten darunter litten.«[10]
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs(2) im Jahr 1918 ging ein riesiger Seufzer der Erleichterung durch Europa. Der Krieg war einer der blutigsten und tödlichsten in unserer gesamten bisherigen Geschichte gewesen, und die Öffentlichkeit war nur allzu bereit, den Begriff des Granatenschocks in den Hintergrund treten zu lassen. Das Problem war nur, dass er nicht verschwinden wollte.
Ein Grund war erstaunlicherweise die Dichtung. Viele junge Briten der intellektuellen Elite, einschließlich einer neuen Dichtergeneration, hatten im Krieg gekämpft. Bis dahin hatten Kriegsgedichte(1) immer einen patriotischen Ton angeschlagen, die Kameradschaft der Soldaten romantisiert und die unvergleichliche Ehre des Heldentods auf dem Schlachtfeld gepriesen.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war Wilfried Owen, einer der Vertreter der neuen Dichtergeneration, noch in Lage, dieses Gefühl aufzugreifen:
O meet it is and passing sweet
To live in peace with others,
But sweeter still and far more meet
To die in war for brothers.[11]
Doch Owen und seine Gedichte sollten bald eine dramatische Veränderung durchlaufen. Owen war in die Artists’ Rifles, eine Freiwilligeneinheit der Britischen Armee, eingetreten. Nach einer siebenmonatigen Ausbildung befand er sich auf dem Weg ins Ausland. Anfangs klangen die Briefe, die er in die Heimat schrieb, noch heiter. Doch schon bald setzte die Realität ein. Owen war an die Front geschickt worden, mitten ins Gemetzel der Schlacht an der Somme. In Briefen an seine Mutter gestand er sein Entsetzen: »Ich sehe keinen Sinn darin, Dir über die Geschehnisse der vergangenen vier Tage etwas vorzumachen. Ich habe Höllenqualen ausgestanden.«
Tod und Zerstörung waren allgegenwärtig, doch was Owen vor allem zu schaffen machte, war »die universelle Durchdringung von Hässlichkeit!«
»Widerliche Landschaften, abstoßende Geräusche, widerwärtige Sprache – nichts als widerwärtig, auch aus meinem Mund (denn alle sind vom Teufel geritten), – alles ist unnatürlich, alles gebrochen, alles zersprengt. Die Toten, deren Körper nicht bestattet werden konnten und den ganzen Tag und die ganze Nacht vor den Gräben sitzen – der schrecklichste Anblick auf Erden«, schrieb er. »In der Poesie nennen wir ihn den Glorreichsten. Aber da mit ihnen zu sitzen, den ganzen Tag, die ganze Nacht … und eine Woche später wieder zurückzukommen, und sie dort genauso wiederzufinden, wie sie in ihren reglosen Gruppen dort sitzen – DAS ist es, was den ›Soldatischen Geist‹ auslaugt …«.
Owen wurde auf einen vorgeschobenen Posten entsandt, nicht »an die Front«, wie er es ausdrückte, sondern »vor die Front«, ins »Niemandsland« zwischen den Stacheldraht- und Grabensystemen der kriegführenden Parteien.
»Die Deutschen«, so Owen an seine Mutter, »wussten, dass wir dort stationiert waren, und sie entschieden, dass wir das lieber nicht sein sollten.«
Die Deutschen beschossen den Bereich wiederholt mit Granaten. Um ihre Anwesenheit zu verbergen, legten sich Owen und 25 weitere Männer dicht an dicht in einen Schützengraben, der im Grunde nur ein großes Erdloch war. Eine Granate war neben einem der Eingänge explodiert und hatte ihn versperrt. Eine Flucht durch den anderen Ausgang war unmöglich. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis der Angriff vorüber war. Und während sie warteten, füllte sich ihr Versteck allmählich mehrere Fuß hoch mit Wasser.
»Diese fünfzig Stunden waren die qualvollsten meines sonst glücklichen Lebens. Beinahe wäre ich zusammengebrochen und wäre im Wasser, das jetzt schon über meine Knie stieg, ertrunken«, schrieb Owen später.
»Ich habe mir weder das Gesicht gewaschen, noch meine Stiefel ausgezogen oder tief und fest geschlafen. Zwölf Tage lang lagen wir in Erdlöchern, wo wir jede Minute damit rechnen mussten, von einer Granate ausgelöscht zu werden.«
Dann schlug eine dieser Granaten ganz in der Nähe ein, nur wenige Meter vom Kopf des schlafenden Owen entfernt. Er wurde in die Luft und aus dem Schützengraben herausgeschleudert. Irgendwie gelang es ihm, Schutz in einem anderen Erdloch zu finden, das gerade groß genug war, um darin zu liegen, und bedeckte sich mit einem Stück Wellblech, das er gefunden hatte. Das Schlimmste für Owen war jedoch, dass einer seiner Offizierskollegen, Leutnant Hubert Gaukroger, zusammen mit ihm aus dem Graben geschleudert wurde. Doch Gaukroger hatte weniger Glück. Er überlebte nicht. Sein zerfetzter, lebloser Körper blieb halb mit Erde bedeckt dicht neben Owen liegen.
Owen saß mit Gaukrogers Leiche neben sich mehrere Tage lang fest. Als er schließlich von seiner Einheit gefunden und befreit wurde, stellte man fest, dass er »verwirrt war, zitterte und sich seltsam verhielt.«[12]
Das Ereignis hatte ihn tief erschüttert.
»Weißt Du, es waren nicht nur die Boche (Deutschen), die mich fertig gemacht haben, und auch nicht die Explosionen«, schrieb er, »sondern dass ich so lange mit dem armen Cock Robin zusammen war, wie wir Leutnant Gaukroger nannten, der nicht nur in meiner Nähe lag, sondern verteilt über mehrere Stellen überall um mich herum, wenn Du verstehst, was ich meine, auch wenn ich für Dich hoffe, dass Du es nicht verstehst!«
Owen war nur vier Monate im Kampfeinsatz gewesen. Man diagnostizierte einen Granatenschock(2)(2) bei ihm und schickte ihn zur Erholung in ein Krankenhaus nach Schottland.
Dort verfasste er seine berühmt gewordenen Kriegsgedichte(2). Doch in den neuen Gedichten hatte Owen seine früheren romantischen Darstellungen der Soldatenkameradschaft gegen wesentlich dunklere Visionen von der Hölle des Krieges ausgetauscht. Er schrieb von Albträumen(5)