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George A. Bonanno räumt mit der in modernen westlichen Zivilisationen dominierenden Vorstellung auf, Trauer müsse ein überwältigender, lang dauernder Prozess sein, der intensive „Trauerarbeit“ (Freud) erforderlich mache. Andernfalls würden Depressionen, psychosomatische Störungen usw. drohen. Doch das ist falsch. Das zeigen langjährige Untersuchungen der internationalen Trauerforschung, von denen dieses Buch in fesselnder Weise berichtet. Sie revolutionieren das Verständnis von Trauerprozessen. George A. Bonanno und seine ForscherkollegInnen zeigen durch ihre Studien und anhand zahlreicher konkreter Beispiele: Traumata können überwunden werden, und Trauer macht produktive Verarbeitungsprozesse möglich, weil die meisten Menschen über Resilienz – eine natürliche Überwindungskraft – verfügen, die es ihnen ermöglicht, auch nach dem Verlust geliebter Menschen in konstruktiver Weise weiterzuleben. Bonannos Buch hat eine positive Botschaft: Es kann Trauernden bei der lösungsorientierten Verarbeitung eines schweren Verlustes helfen, aus eigener Kraft die innere Balance wiederzufinden, das eigene Leben wieder in den Griff zu bekommen und dabei im Trauerprozess als Mensch zu wachsen. Für Angehörige und Freunde bietet es grundlegende Verstehenshilfen zum Trauergeschehen, und Menschen in helfenden Berufen – ÄrztInnen, PsychotherapeutInnen, Pflegekräfte, SeelsorgerInnen, HospizmitarbeiterInnen – ist dieses Buch eine unverzichtbare Informationsquelle.
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Seitenzahl: 462
Vergleichende Psychotherapie, Methodenintegration, Therapieinnovation
Eine Reihe der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit (EAG)
Begründet 1979 vonHilarion G. Petzold, Klaus Grawe, Eckart Wiesenhütter
Herausgegeben vonUniv.-Prof. Dr. mult. Hilarion G. Petzold, Düsseldorf
EAG Hückeswagen, Freie Universität Amsterdam
In Verbindung mit:
Univ.-Prof. Dr. phil. Franz Caspar, BernVerhaltenstherapie, psychologische Psychotherapie Universität Bern
Prof. Dr. phil. Silke Brigitta Gahleitner, BerlinGenderspezifische PsychotherapieAlice Salomon Hochschule Berlin
Prof. Dr. med. Luise Reddemann, Köln Psychodynamische Therapie Universität Klagenfurt
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Remmel,Eggenburg Integrative Therapie, psychiatrische Psychotherapie Donau-Universität Krems
Univ.-Prof. Dr. phil. Günter Schiepek, MünchenSystemische TherapieUniversität München
Dr. phil. Gerhardt Stumm, WienHumanistische und klientenzentrierte Psychotherapie
George A. Bonanno
Die andere Seite der Trauer
Verlustschmerz und Trauma aus eigener Kraft überwinden
Aus dem Amerikanischen vonMichael Halfbrodt
Mit einem Vor- und Nachwort vonHilarion G. Petzold
AISTHESIS VERLAGBielefeld 2012
Titel der amerikanischen Originalausgabe:The Other Side of Sadness.What the New Science of Bereavement Tells Us About Life After Loss. Copyright © 2009 by George A. Bonanno.Published by Basic Books, A Member of the Perseus Books Group (New York).
Der Verlag dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung der Übersetzung.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© AISTHESIS VERLAG GmbH & Co. KG 2012Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Bildes von Hans Haessig (Basel)Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.deE-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbhAlle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-8498-1111-2www.aisthesis.de
Vorwort[1]
Hilarion G. Petzold
Als ich vor mehr als zwanzig Jahren die ersten Arbeiten von George A. Bonanno zu den Themen Verlust, Trauer und »natürliche Resilienz« las, über die Kraft, Kummer und Niedergeschlagenheit zu überwinden und nach Schicksalsschlägen wieder aufzustehen – nach dem Motto: »I can, I do, I am« (Bauer, Bonanno 2001) –, da war ich fasziniert. Beiträge wie über Trauer und Lachen, »Laughter during bereavement« (ders. 1999a) brachten damals gänzlich neue Aspekte in das Feld der Trauerliteratur, die in ihrer traditionellen Orientierung in der Folge von Sigmund Freud (1915) auf Leid, Schmerz, Belastung, Traumatisierung, Hilflosigkeit zentriert war und Trauer in die Nähe der Pathologie rückte. Schon George Engel hatte 1961 die Frage gestellt: »Ist Trauer eine Krankheit?« und sah hier eine Herausforderung für die Forschung: »Is Grief a Disease?: A Challenge for Medical Research«. Nun, diese Herausforderung wurde lange nicht aufgenommen, bis Bonanno auf den Plan trat. Seine Forschungen haben gezeigt, dass man Trauer nach Verlusten als einen natürlichen Vorgang sehen kann, der das Vorhandensein einer genuinen Widerstandskraft (resilience) des Menschen dokumentiert. Eine große Zahl von Betroffenen, die trotz belastender Situationen das »Lächeln nicht verlieren« (Papa, Bonanno 2008), verfügt über diese Widerstandskraft.
Ich hatte Arbeiten von Bonanno und KollegInnen schon vor seinen Publikationen zum Trauerthema im Kontext integrativtherapeutischer Entwicklungen in der klinischen Psychologie und Psychotherapie zur Kenntnis genommen (Bonanno 1990), die mich als profilierten Vertreter des »neuen Integrationsparadigmas« (Petzold 1992g) natürlich besonders interessiert haben, denn er publizierte einige Artikel zusammen mit einem der Protagonisten der Integrationsbewegung Louis G. Castonguay (2011; Castonguay, Goldfried 1994). Ihre Texte setzten breit an und thematisierten für mich wichtige Fragestellungen für die Psychotherapie: die Fragen der Indikationsstellung, der Motivationslagen und der Persönlichkeit.[2]Vor diesem konzeptuellen Hintergrund nimmt es nicht Wunder, und darin sehe ich eine seiner herausragenden Leistungen, dass Bonanno eine integrative Perspektive für das komplexe Themenfeld »Verlust, Trauer, Trauma« entwickelt hat (Bonanno, Kaltman 1999), denn Trauertherapie braucht genauso wie Traumatherapie integrative Modelle (Petzold 2002e). Er hat damit die monomethodischen, ideologielastigen und – wie er aufzeigen konnte – in vieler Hinsicht auch falschen, ja eventuell schädigenden Betrachtungsweisen und Praxen der Trauertherapie und teilweise der Traumatherapie in den traditionellen Therapieschulen überschritten. In einer theoretisch und empirisch breiten, forschungsgestützten Auseinandersetzung mit der Trauerthematik zeigt er, dass sie in vielfältigen Dimensionen und Bereichen untersucht werden muss, denn die Formen von Verlust und Trauer sind vielfältig (Bonanno, Kaltman 2001). Und das gilt auch für die Möglichkeiten von Menschen, wieder »auf die Beine zu kommen«, in »flexibler Weise« auf die Herausforderungen des Lebens zu reagieren, »Selbstwirksamkeit« wiederzugewinnen (Bonanno, Papa et al. 2004) und für die eigene Integrität und die anderer Menschen einzutreten. Das Integritätsthema wird damit eine wesentliche ethische und praxeologische Grundlage im Engagement für Menschen, das hinter aller Arbeit mit Trauernden und Traumatisierten stehen muss (Sieper, Orth Petzold 2010).[3]Von einem solchen Engagement, das war und ist mein starker Eindruck, sind die Arbeiten von George Bonanno getragen. Sie akzentuieren eine auf »Salutogenese« (Antonovsky 1997; Lorenz 2004) gerichtete, auf »Ressourcen«[4]und »Potentiale«[5]zentrierte, lösungsorientierte Sicht, die allerdings die im Trauer- und Traumakontext unverzichtbare Problemorientierung nicht vernachlässigt.[6]Es gibt Berührungspunkte mit der »positiven Psychologie«[7], die auf die Stärken von Menschen gerichtet ist und ihre altruistischen Seiten betont. Auch das hat mich angesprochen, weil ich ähnliche Positionen vertrete (Petzold, Sieper 2011).
Als 2009 dann sein Buch »The Other Side of Sadness: What the New Science of Bereavement Tells Us About Life After Loss« herauskam, war ich nach der Lektüre sofort fest entschlossen: Das muss auch in deutscher Übersetzung herauskommen. Ich habe meinen Verleger kontaktiert, und er sah die Sache genauso: Dieses Buch ist ein »Muss« für jeden, der mit den Themen Verlust, Sterben und Trauer in seinem Leben in Kontakt kommt – und wer ist davon ausgenommen? – oder der Traumaerfahrungen durchleiden muss. Und da »alles, was einem geschehen kann, jedem zu passieren vermag«, wie Seneca den Publilius Syrus zitierte, so geht das Thema jeden an.
Univ. Prof. Dr. mult. Hilarion G. Petzold, Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Hückeswagen, Beversee
Die persönlichen Details und die Namen der in diesem Buch genannten Personen (mit Ausnahme von Sondra Singer Beaulieu) wurden aus Gründen der Vertraulichkeit geändert.
Heather Lindquist war gerade in der Küche beim Abwasch nach dem Mittagessen, als sie ein dumpfes Geräusch hörte. Es klang, als käme es aus dem Flur und war gerade laut genug, dass man es nicht überhörte.
»Jungs«, rief sie, »was stellt ihr jetzt schon wieder an?« Es kam keine Antwort. Sie fand ihre beiden Söhne friedlich spielend auf der Wohnzimmercouch vor. Sie kicherten. »Ihr Witzbolde«, sagte sie lächelnd.
»Was war das für ein Geräusch?« Sie zuckten mit den Schultern. »Wo ist euer Vater?« Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte sie auf den Flur hinaus. Sie schrie auf vor Schreck, als sie John, ihren Mann, zusammengekrümmt auf dem Boden liegen sah. John hatte schweres Asthma. Er nahm neue Medikamente und diese schienen auch anzuschlagen, doch plötzlich führte der schlimmste Anfall, den er je erlitten hatte, zum Zusammenbruch. Heather tat alles Erdenkliche, um das Leben ihres Mannes zu retten. Dann rief sie einen Krankenwagen. Der Rest verschwand im Nebel. John starb auf dem Weg ins Krankenhaus an einem Herzstillstand.
Heather war vierunddreißig. Ihre Söhne waren fünf und sieben. In diesem Augenblick empfand sie Johns Tod als das Schlimmste, was ihr überhaupt nur hätte passieren können.
Die meisten von uns fürchten sich so sehr davor, dass denen, die wir lieben, etwas zustoßen könnte, dass es uns schwer fällt, überhaupt nur daran zu denken. Doch irgendwann bleibt uns nichts anderes übrig. Bei Untersuchungen über belastende Lebensereignisse steht der Tod eines Angehörigen ganz oben auf der Liste.[8]Wir stellen uns Trauer als Schatten vor, der sich gnadenlos an uns heftet und uns überallhin folgt. Unserer Vorstellung nach verwandelt die Trauer Licht in Dunkelheit und vertreibt die Freude aus allem, womit sie in Berührung kommt. Sie ist übermächtig und unnachgiebig.
Trauer ist zweifellos problematisch. Aber ist sie wirklich immer übermächtig?
Heather Lindquist hat ihr ganzes Leben in derselben ruhigen Vorstadtgemeinde im Norden von New Jersey verbracht. Sie und John waren schon auf der Highschool ein Paar. Sie heirateten und kauften ein Einfamilienhaus. Sie bekamen Kinder und schafften sich einen Hund an. Die Schulen waren gut, und die Gemeinde bildete einen festen Zusammenhalt. Heather meinte zwar, der Fernseher liefe öfter, als es sein müsste, aber ansonsten schien alles in bester Ordnung zu sein.
Dann starb John, und sie musste völlig umlernen.
Sie war jetzt alleinerziehende Mutter. Sie musste neue Wege finden, um Geld zu verdienen und mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Und irgendwie musste sie den Kummer aller in Grenzen halten. Sie entdeckte eine Stärke, die sie nie an sich vermutet hatte. Es war eine schmerzhafte und bisweilen auch sehr einsame Zeit. Doch Heather fand Sinn und Kraft und sogar Freude in dem Gedanken, dass sie es schaffen würde.
»Ich dachte, ich würde zusammenbrechen. Ja, wirklich. Zumindest wollte ich es. Das wäre das Einfachste gewesen«, erklärte Heather.
»Doch … ich konnte nicht. Jeden Tag stand ich auf und tat, was zu tun war. Die Tage vergingen und irgendwie funktionierte es. Die Jungs waren toll. Anfangs waren sie natürlich völlig verstört. Wie wir alle. Aber sie haben sich gefangen. Und wir hielten zueinander. Wie sehr ich die Jungs liebe. John wäre stolz auf sie gewesen.«
* * *
Heathers Geschichte verdeutlicht eine seltsame Ironie in unserer Art des Nachdenkens über Leid und Trauer. Wir können uns der Erkenntnis nicht entziehen, dass Verlustschmerz unvermeidlich ist. Wie Tod und Steuern, sagt das Sprichwort. Schließlich ist jeder mit Leid konfrontiert und wahrscheinlich mehr als einmal im Leben. Doch trotz seiner Allgegenwart wissen die meisten Menschen so gut wie nichts über das, was sie erwartet. Selbst Menschen, die bereits einen großen Verlust erlitten haben, wissen oft nicht, ob die Trauer, die sie empfunden haben, normal war und ob sie etwas entfernt Ähnliches empfinden werden, wenn sie dergleichen noch einmal durchmachen müssen.
Wir könnten uns Fragen ohne Ende stellen: Was bedeutet es wirklich, jemanden zu verlieren? Fühlt sich Trauer jedes Mal gleich an? Ist sie für jeden gleich? Wird sie immer von Schmerz und Qual beherrscht? Wie lange dauert sie? Wie lange sollte sie dauern? Was, wenn jemand scheinbar nicht genug trauert? Was, wenn jemand davon spricht, er habe eine fortdauernde Beziehung zu der verstorbenen Person? Ist das normal? Das sind große und wichtige Fragen. Wenn wir etwas davon verstehen, wie unterschiedlich Menschen auf Verlust reagieren, dann verstehen wir etwas vom Sinn des Menschseins, etwas über die Art, wie wir Leben und Tod, Liebe und ihre Bedeutung, Kummer und Freude erfahren.
An Büchern über Trauer und Verlust besteht kein Mangel. Die meisten nehmen eine erstaunlich enge Perspektive ein und gehen den ernsteren Fragen aus dem Weg. Ein Grund dafür ist, dass viele dieser Bücher von praktizierenden Ärzten und Therapeuten geschrieben sind. Das ist nicht überraschend, erweist sich aber als ziemlich problematisch, wenn wir ein erweitertes Verständnis von Trauer erlangen wollen. Trauertherapeuten neigen dazu, nur jene Gruppe von Hinterbliebenen wahrzunehmen, deren Leben bereits vom Leiden gezeichnet ist, Menschen, für die professionelle Hilfe die einzige Chance auf ein Weiterleben darstellt. Solche menschlichen Dramen mögen ergreifend sein, aber sie sagen uns wenig darüber, was Trauer für die Mehrzahl der Menschen bedeutet.
Die Ratgeberliteratur neigt demselben Ende des Spektrums zu. Sie schildert Trauer als lähmenden Schmerz, als tiefen Kummer, der uns vom gewohnten Lebensweg abbringt und es uns schwer macht, so zu funktionieren, wie wir es früher taten. Die Hinterbliebenen in diesen Büchern können nur darauf hoffen, sich allmählich aus einem Zustand halb bewusster Verzweiflung zu befreien. Ratgeber bringen diese dramatische Sicht in Titeln wie Rückkehr ins Leben oder Aus der Trauer erwachen zum Ausdruck.[9] Übermächtige Gefühle der Trauer sind keineswegs trivial, und schon gar nicht für diejenigen, die unter ihnen leiden. Doch sie entsprechen nicht dem, was die Mehrheit der Menschen beim Verlust eines Angehörigen empfindet. Bei der Untersuchung von Trauerfällen haben meine Kollegen und ich Hunderte von Personen interviewt. Teil der Untersuchung war, dass wir die Leute baten, uns ihre persönliche Geschichte zu erzählen, wie sie den Verlust erlebt haben und wie es um ihre Trauer beschaffen war. Viele der freiwilligen Teilnehmer unserer Studie geben an, dass sie versucht hätten, sich in das Thema Trauer und Verlust einzulesen. Sie fügen jedoch rasch hinzu, dass sie in ihrer Lektüre nichts finden konnten, was sich mit ihrem eigenen Erleben deckte.
Stattdessen bekommen wir oft von ihnen zu hören, sie hätten nur deshalb an unserer Forschungsarbeit teilnehmen wollen, um die Gelegenheit zu erhalten, den sogenannten Experten zu zeigen, wie Trauer von innen aussieht.
* * *
Kurz nach meiner Promotion in Klinischer Psychologie 1991 erhielt ich ein merkwürdiges Stellenangebot: Ich sollte eine Forschungsstudie über Trauerarbeit an der University of California in San Francisco leiten. Ich sage merkwürdig, weil ich zu dieser Zeit so gut wie keine Erfahrung mit Trauer und Verlust hatte, weder auf beruflicher noch auf persönlicher Ebene. Ich hatte bis dahin einen großen Verlust erlebt: Mein Vater war ein paar Jahre zuvor gestorben, und ich hatte unsere Beziehung im Rahmen meiner Ausbildung zum Therapeuten erforscht. Doch seither hatte ich über meine eigenen Trauerreaktionen nicht viel nachgedacht. Ich muss zugeben, dass ich den Gedanken, mich mit Tod und Trauer zu beschäftigen, ein wenig beunruhigend fand. Ich fragte mich, ob das nicht womöglich ein zu deprimierender Forschungsgegenstand sei, über den ich selbst depressiv werden könnte.
Als ich mich jedoch in Bücher und wissenschaftliche Abhandlungen zum Thema Trauer vertiefte, war mein Interesse schnell geweckt. Obwohl Trauer ein Teil des Lebens ist, etwas, womit nahezu jeder fertig werden muss, ist sie erstaunlich wenig beachtet oder systematisch untersucht worden.
Als ich mich für das Thema zu interessieren begann, setzte allerdings in dieser Hinsicht gerade ein Prozess des Umdenkens ein.
Durch den Vietnamkrieg war ein großes Interesse an psychologischen Traumata entstanden. Anfangs beschränkte sich die Forschung größtenteils auf Kriegstraumata. Doch allmählich erweiterte sich das Spektrum auf andere Arten belastender Ereignisse, wie Naturkatastrophen, Vergewaltigung, tätliche Angriffe und, schließlich, Verlust durch Todesfälle.
Überraschenderweise bestätigten diese frühen Untersuchungen nur sehr bedingt das traditionelle Bild des Trauerns. Einige der Forschungsergebnisse deuteten sogar darauf hin, dass die vorherrschenden Meinungen über den Trauerprozess eigentlich nicht zutreffen. Noch spannender wurde es, als zwei prominente Wissenschaftlerinnen, Camille Wortman und Roxanne Silver, 1989 einen Aufsatz mit dem gewagten Titel »The Myths of Coping with Loss«[10]veröffentlichten, in dem sie behaupteten, dass die Grundannahmen über den Vorgang der Verlustbewältigung faktisch falsch seien. Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigte, umso mehr tendierte ich dazu, ihnen Recht zu geben. Der »aktuelle Wissensstand« über Trauerbewältigung war offenkundig hoffnungslos überholt. Was für eine interessante und verlockende Perspektive für einen Forschungsneuling! Trotz meiner Vorbehalte wegen des vermeintlich heiklen Charakters der Sache beschloss ich, das Angebot anzunehmen. Ich zog nach San Francisco.
Ich nahm an, ich würde mich allenfalls für ein paar Jahre mit Trauerforschung befassen, um dann zu größeren und lukrativeren Dingen überzugehen. Nun, fast zwanzig Jahre später, stelle ich zu meiner Überraschung fest, dass Trauer immer noch im Mittelpunkt meiner Forschungstätigkeit steht. Der Grund ist ein einfacher: Über Trauerbewältigung war so wenig bekannt, dass jede neue Studie und jede neue Frage etwas Neues zutage förderte. Oft machten meine Kollegen und ich unerwartete Entdeckungen, und zwar einfach deshalb, weil wir Fragen über Trauer und Verlust stellten, die niemand vorher gestellt hatte.
Unser Ansatz war denkbar schlicht. Das Originelle daran, wenn man es so nennen will, war, dass wir einfach Standardmethoden aus anderen Gebieten der Psychologie auf das Thema Trauer und Verlust anwendeten. Trauerexperten zum Beispiel mutmaßten, dass es wesentlich sei, über den eigenen Schmerz nach einem Verlust zu sprechen. Allerdings hatten sie diesen Gedanken nie experimentell überprüft. Die Mainstreampsychologie stellte uns eine Vielzahl möglicher Testmethoden zur Verfügung. Wir benutzten zum Beispiel experimentelle Paradigmen, bei denen wir Personen, die unlängst einen Trauerfall erlitten hatten, baten, uns über ihren Verlust und andere wichtige Ereignisse aus ihrem Leben zu berichten, und dann verglichen wir beide. Während unsere Probanden sprachen, zeichneten wir ihre Mimik und die Funktionen ihres vegetativen Nervensystems auf, um so ihre Gefühlsregungen messen zu können. Ferner transkribierten wir die Aussagen unserer Probanden, um quantitativ erfassen zu können, wie oft sie über ihren Verlust sprachen und wie sehr sie dabei auf ihre emotionalen Reaktionen eingingen. An sich war keine dieser Techniken neu, doch keine von ihnen war jemals zuvor zur Erforschung des Trauerprozesses eingesetzt worden.
Die Tatsache, dass ich so wenig über den Trauervorgang wusste, erwies sich als großer Vorteil. Meine Naivität hätte zum Problem werden können, was bisweilen auch geschah, doch in den meisten Fällen eröffnete sie mir eine unverstellte Sicht auf die Dinge. Ich hatte wenige vorgefasste Meinungen hinsichtlich der zu erwartenden Ergebnisse und tendierte deshalb dazu, einfache Fragen zu stellen, die bis dahin noch nicht angesprochen worden waren. Ich fragte mich zum Beispiel, wie der typische Trauerverlauf aussieht.
Bis vor Kurzem vertraten die meisten Theorien über Trauer und Verlust die Ansicht, Trauer sei eine Art kontinuierlicher Arbeitsprozess, der lange braucht, bevor er zu einem Abschluss gelangt. Experten haben sogar den Begriff der »Trauerarbeit« benutzt, um diesen langwierigen Prozess zu beschreiben, den ihrer Meinung nach jeder Trauernde durchlaufen müsse, um einen Verlust erfolgreich zu bewältigen. Sie haben diesen Gedanken bis ins kleinste Detail ausformuliert. Bücher und Zeitschriften zum Thema enthalten häufig Tabellen und Listen, in denen die einzelnen Phasen und Stadien aufgeführt sind, die der Trauerprozess umfasst. »Erfolgreiches« Trauern, so wird oft behauptet, hänge von diesen Phasen und Stadien ab, und das Unvermögen, sie vollständig zu durchlaufen, führe nur zu noch größerem Schmerz.
Diesen Listen und Tabellen liegt auch die Annahme zugrunde, dass Trauer mehr oder minder für alle gleich sei, und dass etwas nicht stimmen könne, wenn manche Menschen schnell über ihre Trauer hinwegkommen oder wenn sie anscheinend einige »Stadien« des Trauerns übersprungen haben. Mit solchen Ideen im Gepäck wird man leicht argwöhnisch, wenn Hinterbliebene einen entspannten oder sogar glücklichen Eindruck machen. »Ob es sich wohl um eine Art Verleugnung handelt?«, ist man geneigt, sich zu fragen. Oder schlimmer noch, vielleicht war der betreffenden Person von vornherein nie viel an dem Verstorbenen gelegen? Oder vielleicht wird sie, wenn ihr niemand hilft, Zugang zu ihrer Trauer zu finden, irgendwann in Jahren unter einer Art Spätreaktion leiden.
Bemerkenswerterweise habe ich in den vielen Jahren, seit ich Trauer und Verlust erforsche, keinerlei Beweis für irgendeine dieser Ideen gefunden. Vielmehr legt ein Großteil dessen, was meine Kollegen und ich herausgefunden haben, ein völlig anderes Bild des Trauervorgangs nahe.
Einer der konstantesten Befunde lautet, dass Trauer keine eindimensionale Erfahrung ist. Sie ist weder für alle gleich noch gibt es Anzeichen für bestimmte Stadien, die jeder durchlaufen müsste. Vielmehr weisen die Trauerreaktionen Hinterbliebener langfristig unterschiedliche Muster und Verläufe auf. Ich habe in Abbildung 1 die häufigsten Muster dargestellt. Einige Hinterbliebene leiden unter chronischer Trauer. Der Verlustschmerz überwältigt sie schlicht und einfach und macht es ihnen unmöglich, zu ihrer normalen Alltagsroutine zurückzukehren.
Bedauerlicherweise kann sich dieser Kampf bei einigen über Jahre hinziehen. Andere machen die Erfahrung einer allmählichen Erholung. Sie leiden intensiv, besinnen sich aber allmählich und bekommen ihr Leben dann langsam wieder in den Griff.
Abbildung 1. – Die drei häufigsten Trauerreaktionsmuster nach G.A. Bonanno, »Loss, Trauma, and Human Resilience: Have We Underestimated the Human Capacity to Thrive After Extremely Adverse Events?«, American Psychologist 59: 20-28.
Die gute Nachricht für die meisten von uns lautet, dass Trauer weder etwas Übermächtiges noch etwas extrem Langwieriges ist. So furchtbar der Verlustschmerz sein kann, die meisten von uns sind widerstandsfähig. Manche von uns gehen mit der Situation so erfolgreich um, dass kaum irgendwelche Auswirkungen auf unser Alltagsleben zu spüren sind. Ein Verlust mag uns betroffen machen, ja sogar erschüttern, dennoch sind wir nach wie vor in der Lage, unser Gleichgewicht wiederzuerlangen und weiterzuleben. Dass Trauer mit Kummer und Schmerz einhergeht, ist unbestritten. Doch das ist nicht alles. Trauer ist in erster Linie eine menschliche Erfahrung, etwas, wofür wir geschaffen sind, und sicherlich nichts, was uns überfordern soll. Vielmehr scheinen unsere Trauerreaktionen darauf ausgelegt zu sein, uns dabei zu helfen, Verluste relativ schnell zu akzeptieren und zu überwinden, um weiterhin ein erfülltes Leben führen zu können. Widerstandsfähigkeit bedeutet natürlich nicht, dass jeder einen Verlust vollständig verarbeiten oder zu einem »Abschluss« gelangen muss. Selbst die Robustesten scheinen zumindest ein Quäntchen stiller Wehmut zu bewahren. Doch sind wir in der Lage, unser Leben fortzusetzen und diejenigen zu lieben, die noch unter uns sind.
Ein weiterer Befund meiner Forschung lautet, dass Trauer keineswegs Sturm und Drang bedeutet. Natürlich stellt Kummer einen Großteil der Trauer dar. Ich werde Kummer in Kapitel 3 eingehender untersuchen und z.B. erläutern, warum wir ihn während der Trauer so tief empfinden und in welcher Hinsicht er uns beim Umgang mit einem Verlust behilflich ist. Ich werde ferner zeigen, dass Trauernde zu ungetrübter Freude in der Lage sind, dass sie lachen und Momente des Glücks genießen können, sogar in den Tagen und Wochen unmittelbar nach einem Verlust. Die frühe Trauerliteratur tendierte meist dazu, derartige positive Erfahrungen unter den Teppich zu kehren oder als Beispiele für Verleugnung und Nichtwahrhabenwollen zu werten. Meine Forschungsarbeiten legen das Gegenteil nahe. Positive Erfahrungen sind nicht nur weit verbreitet, sondern sie haben auch tendenziell einen wohltuenden Einfluss auf andere Menschen und können dem Trauernden sogar helfen, sich nach einem Verlust schneller zu erholen.
Der Schwerpunkt dieses Buches liegt auf der natürlichen Widerstandskraft von Hinterbliebenen, doch möchte ich das große Leid nicht bagatellisieren, dass manche über einen Verlust empfinden. Wenn wir allerdings beides in den Blick nehmen, tiefen Schmerz und gesunde Widerstandskraft, erkennen wir den Gegensatz zwischen diesen beiden Extremreaktionen nur umso deutlicher und können deshalb genauer erforschen, warum manche Menschen mehr leiden als andere und was man, wenn überhaupt, dagegen unternehmen kann.
Wenn wir die ganze Bandbreite von Trauerreaktionen betrachten, erkennen wir auch, dass es um mehr geht, als einfach den Schmerz zu überwinden und weiterzumachen. Trauer ist eine mächtige Erfahrung, selbst für die Robustesten von uns, und verändert manchmal dramatisch unsere Sicht des Lebens. Normalerweise lassen sich die meisten von uns durch ihren hektischen Alltag treiben, ohne im Mindesten über Leben und Tod oder all die anderen lästigen existentiellen Fragen nachzudenken: Woher kommen wir? Welche Rolle spielen wir im großen Weltenplan? Der Tod eines geliebten Menschen ist oft der Anlass, sich, zumindest zeitweilig, diesen existentiellen Fragen zu stellen und die Welt und unseren Platz in ihr mit mehr Abstand zu betrachten.
Hinterbliebene ertappen sich häufig bei der Frage, wohin ihre geliebten Verstorbenen wohl gegangen sein mögen. Sind sie einfach verschwunden, oder besteht die Möglichkeit, dass sie an einem anderen Ort in veränderter Gestalt weiterexistieren? Tatsächlich empfinden zahlreiche Hinterbliebene eine starke, konkret wahrnehmbare Beziehung zu ihren verstorbenen Angehörigen, so etwas wie eine fortdauernde Bindung, als wäre die Person noch am Leben und würde von einer anderen Wirklichkeitsebene aus mit ihnen kommunizieren. Solche Erfahrungen können tröstlich, ja sogar großartig sein, aber, aufgrund der in der westlichen Kultur verankerten Normen wissenschaftlicher Objektivität, auch für eine tiefe Verstörung sorgen.
Keinerlei Verunsicherung dieser Art ist in Teilen der Welt anzutreffen, in denen eine fortgesetzte Beziehung zu verstorbenen Angehörigen gang und gäbe ist, wenn sie nicht gar zum Grundbestand der jeweiligen Kultur gehört. In Teilen Afrikas oder in Mexiko zum Beispiel nehmen Hinterbliebene an Jahrhunderte alten Ritualen teil, die es den Verstorbenen ermöglichen, zurückzukehren und unter den Lebenden zu wandeln. In der chinesischen und anderen asiatischen Kulturen haben Zeremonien auf der Grundlage ritueller Kommunikation mit den Ahnen die Jahrtausende überdauert und widersetzen sich bis heute dem durch politische Umwälzungen und die Globalisierung auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet bedingten Verschleiß.
Was geschieht, wenn wir versuchen, einige dieser kulturellen Elemente miteinander zu kombinieren? Dem Neuen ein wenig vom Alten beizumischen? Die Kapitel 10 und 11 sind eine Aufforderung an den Leser, mich auf einer kleinen Weltreise zur Erforschung dieser Art von Fragen zu begleiten.
Doch so weit ist es noch nicht. Wir wollen der Reihe nach vorgehen und uns zunächst genauer anschauen, was passiert, wenn eine uns nahestehende Person stirbt.
Der Tod eines Kindes ist ein unvorstellbarer Verlust, eine Umkehrung der naturgegebenen Ordnung. Eigentlich sollen Kinder ihre Eltern überleben, nicht umgekehrt. Karen Everly hatte keinen Grund zu der Annahme, dass es in ihrem Fall anders sein würde. Sie und ihr Mann waren gute Eltern gewesen, und ihre Kinder schienen sich gut entwickelt zu haben. Ihr halbwüchsiger Sohn Bradley studierte Kunst. Er war selbstbewusst und talentiert und stand kurz vor dem Eintritt ins College. Ihre Tochter Claire hatte das College schon einige Jahre zuvor abgeschlossen und befand sich auf dem besten Wege zu einer erfolgreichen Karriere im Finanzsektor. Und dann, mit einem Mal, war Claire tot.
Ihr Todestag geriet zu einem Alptraum, nicht nur für Karen Everly, sondern für Tausende von Menschen. Dieser Tag war der 11. September 2001. Karen Everly war auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz in Manhattan, als sie die Nachricht bekam. Claire arbeitete in einem der oberen Stockwerke im Nordturm des World Trade Center, der Turm, in den das erste Flugzeug einschlug. Es war von Anfang an grausam offensichtlich, dass sie mit größter Wahrscheinlichkeit nicht überlebt hatte.
Claires gewaltsames Ende versetzte Karen in einen Schockzustand. Sie verlor den Boden unter den Füßen. Sie spürte, wie das Leben aus ihr herausfloss, und dann nur noch Stille. Die Leere, die das Geschehene hinterließ, verwirrte und verunsicherte sie. Sie wusste nicht mehr, was real war und was nicht. Sie erzählte mir, dass sie eines Tages, in den Wochen nach dem 11. September, allein auf der Dachterrasse eines Freundes stand, der im achtzehnten Stock wohnte. Als sie über die Stadt blickte, fühlte sie sich plötzlich von so etwas wie der Gegenwart Gottes umgeben. In diesem Moment schoss ihr ein unabweisbarer Gedanke durch den Kopf; sie bräuchte nichts weiter tun, als von dieser Terrasse zu springen, sich in die Tiefe zu stürzen, und Gott würde ihre Tochter zurückkehren lassen. Das waren Gottes Worte, davon war sie überzeugt. Sie konnte den Riss, der durch das Universum ging, einfach dadurch kitten, dass sie den Platz ihrer Tochter einnahm. Sie spürte, wie ihr Herz raste und das Blut in ihr Gesicht strömte. Dann trat sie von der Balkonbrüstung zurück.
Karen Everly hörte nicht auf diese Stimme. Eigentlich tat sie überhaupt nichts Irrationales. Ganz im Gegenteil, sie war der Inbegriff der Verantwortung.
Bei unserer ersten Begegnung war ich von Karens Auftreten beeindruckt. Das ist augenscheinlich eine Person, die sich durchzusetzen versteht, dachte ich. Sie war gut gekleidet und selbstsicher, und obwohl man ihr den Kummer anmerkte, lag in ihrer Art zu sprechen etwas Klares und Prägnantes. Karen war auch eine sympathische Erscheinung. Sie hatte eine Führungsposition in einem Großunternehmen inne. Sie war die Art von Chefin, die gerne die Zügel fest in der Hand hält, aber gleichzeitig stolz darauf ist, gute Beziehungen zu ihren Untergebenen zu unterhalten. Daran änderte der 11. September nicht das Geringste. Trotz des Schmerzes, ihre Tochter bei einem blutigen Terroranschlag verloren zu haben, war Karen innerhalb einer Woche wieder bei der Arbeit. »Das ist mein Job«, sagte sie mir. »Die Leute auf der Arbeit brauchten mich.«
Nach Claires Tod gönnte sich Karen keine Ruhe. Sie fand Trost darin, die Einzelheiten der Beerdigung zu regeln. Sie arrangierte eine private Gedenkfeier für Freunde und Verwandte und organisierte eine öffentliche Veranstaltung in Claires Namen, um dafür zu sorgen, dass man in der Gemeinde, in der sie aufgewachsen war, ihrem Leben ein ehrenvolles Andenken bewahrt. Im Haus der Everlys gaben sich Freunde und Angehörige die Klinke in die Hand. Karen hieß sie willkommen. Sie gefiel sich in der Rolle der Gastgeberin. Es half ihr, den Schmerz zu verdrängen, stärkte ihr Zugehörigkeitsgefühl und bestätigte sie in ihrer Zielstrebigkeit.
Vor allem war Karen entschlossen, sich durch die Trauer nicht von der Verfolgung ihrer eigenen Lebensziele abhalten zu lassen. »Also, ich kann keine großen Veränderungen in unserem Leben – in meinem Leben – erkennen. Ich glaube, mein Leben wird nahezu genauso weitergehen, wie es auch ansonsten verlaufen wäre. Claire mochte Hunde. Das teilten wir miteinander. Wir hatten sogar vor, eine kleine Zuchtstation zu eröffnen. Daran arbeite ich immer noch. Vielleicht sollte ich auf manche Vorlieben verzichten, weil ich sie nicht mehr mit Claire teilen kann. Denn, wissen Sie, sie konnte so gut mit Tieren umgehen, allen Tieren, besonders Hunden. Aber ich bin sicher, wenn ich zuerst gestorben wäre, vor ihr, hätte sie keine Hemmung gehabt, mit der Zucht fortzufahren. Und sie hätte ihrer Familie erzählt, wie gern ihre Mutter Hunde gehabt hat. Also, ich bin sicher, wir werden – ich werde weitermachen.«
Sie nannte noch andere Dinge, die in ihrem Leben für Beständigkeit sorgten und die sie unbedingt fortzuführen gedachte. Sie hatte ihre einzige Tochter verloren, aber es blieben ihr noch ein Mann und ein Sohn, der gerade aufs College kam. Sie sprach darüber, wie sie sicherstellen könne, auch weiterhin für ihre Familie da zu sein, und es bereitete ihr Vergnügen, über ihre Zukunft zu reden. »Unser Leben hat sich stark verändert – so viel ist sicher. Und es wird nie wieder so sein wie zuvor. Aber auf eine Art bin ich wahrscheinlich ein besserer Mensch, als ich es ohne den Verlust unserer Tochter gewesen wäre. Und zwar deshalb, glaube ich, weil man sich bewusster wird, wie man andere behandelt, wie man über andere denkt.«
Haben wir irgendeinen Grund, an Karens Worten zu zweifeln? Vielleicht war das alles ja bloß eine Form von Verleugnung: eine rosarote Fassade, um ihren tief sitzenden Schmerz zu verbergen. Karen begann auffallend schnell nach Claires Tod wieder mit der Arbeit, doch war sie wirklich mit dem Herzen bei der Sache? Vielleicht ging es ihr ja nur darum, ihrem Kummer zu entfliehen. Und was hatten ihre Zielstrebigkeit, ihre Umtriebigkeit zu bedeuten? Drückte sich darin eine echte Hinwendung zum Leben aus, oder war das nicht eher ein verzweifelter Versuch, die Auseinandersetzung mit der durch Claires Tod zwangsläufig entstandenen Leere zu vermeiden?
In Bezug auf einen tragischen Todesfall derartige Mutmaßungen anzustellen, ist nicht unangemessen. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie tief der Schmerz reicht, den jemand nach einem solchen Verlust zu erdulden hat, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass die betreffende Person ihn tatsächlich verdrängt und innerhalb kurzer Zeit ihr gewohntes Leben fortsetzt.
Doch sollte es sich bei Karen um einen Fall von Verdrängung gehandelt haben, so war es keine sehr effektive. Als ich sie erstmals interviewte, etwas mehr als drei Monate nach Claires Tod, war ihr Verlustschmerz immer noch unübersehbar. Sie weinte heftig und ungeniert. Doch war sie nach wie vor in der Lage, ausführlich über Claire und ihren Tod zu erzählen, sie machte nie Anstalten, meinen Fragen auszuweichen, egal, wie schwierig oder indiskret sie waren. Wichtiger noch, als ich eine eingehende klinische Bewertung vornahm, ließen alle Befunde nur einen Schluss zu: Karen war ohne jeden Zweifel gesund und ausgeglichen.
Freud wurde einmal gefragt, was ein normaler, psychisch gesunder Mensch seiner Meinung nach können sollte. Seine berühmte, oft zitierte Antwort lautete: »Lieben und arbeiten.«[11]Karen konnte beides. Selbst in den ersten Monaten der Trauer war sie fähig, sich zu konzentrieren, ihren Job zu erledigen; sie konnte ihre emotionalen Reaktionen kontrollieren, sie schlief und aß normal; und sie unterhielt weiterhin beiderseits zufriedenstellende Beziehungen zu Freunden und Nachbarn, zu Arbeitskollegen und vor allem zu ihrem Mann und ihrem Sohn. Natürlich war sie in Gedanken weiter bei Claire und empfand immer mal wieder tiefen Kummer, doch stets in Maßen. Sie ließ solchen Gefühlen zumeist nur dann freien Lauf, wenn sie es sich leisten konnte, nach Feierabend im Gespräch mit ihrem Mann, oder wenn sie allein war und Zeit hatte für stille Besinnung. Doch wenn sie in der Verantwortung stand, war Karen fast stets in der Lage, den Gedanken an Claires Tod aus ihrem Kopf zu verbannen. Mit anderen Worten, obwohl sie der frühe Tod ihrer Tochter zutiefst getroffen hatte, war sie mit der Situation außerordentlich gut fertig geworden. Es gab gelegentliche Gefühlswallungen und emotionale Ausbrüche, besonders in den ersten Wochen nach Claires Tod, doch im großen Ganzen lebte Karen genauso weiter, wie sie es immer getan hatte und kam über die Tragödie ihres Verlustes hinweg.
Ende der Geschichte? Nun, nicht ganz. Egal, was für einen ausgeglichenen Eindruck Hinterbliebene machen, egal, wie schnell sie ihre gewohnte Alltagsroutine wieder aufnehmen, wir neigen dazu, ihnen zu misstrauen. Trauerexperten haben diese Art des Argwohns in eine hohe Kunst verwandelt. Es ist fast so, als hätten wir die »Beweislast« umgekehrt. Verbrecher sind unschuldig, so lange ihre Schuld nicht bewiesen ist, aber Hinterbliebene gelten so lange als leidend, bis sie für gesund befunden werden.
Warum dieses ganze Misstrauen? Wo kommt das alles her?
1917 veröffentliche Sigmund Freud einen Aufsatz, in dem er Trauer und Depression verglich.[12]Er interessierte sich für die auffälligen Parallelen zwischen beiden Störungen. Beide, Depression wie Trauer, beinhalten, nach seiner Feststellung, das Verlangen nach etwas Verlorenem.[13]Doch unterscheiden sie sich in wichtigen Punkten. Auch wenn beide, Trauer und Depression, mit Leiden verbunden seien, betrachten wir Trauer für gewöhnlich nicht als pathologischen Zustand. Deshalb, mutmaßte Freud, müsse Leid ein normaler Teil des Trauerprozess, Teil der »Trauerarbeit« sein. Dieser scheinbar harmlose Begriff der »Trauerarbeit« sollte einen enormen Einfluss darauf haben, wie zukünftige Generationen sich den Trauerprozess vorstellten.
Nach Freuds Ansicht besteht die Trauerarbeit darin, dass wir uns die psychische Energie zurückholen, die wir in den Verstorbenen oder, wie er es einigermaßen unromantisch ausdrückte, »das vernichtete Objekt«[14]investiert haben. Nach seiner Auffassung verwenden wir, wenn wir eine psychische Bindung zu einer anderen Person herstellen, eine Art elementaren emotionalen Leim, den er als »Libido« bezeichnet. Diese Libido ist auch die Antriebskraft, die unsere Reaktionen auf all das bestimmt, was uns wichtig ist, darunter, natürlich, Sex. Doch Libido ist mehr als Sex, und ihr Vorrat ist begrenzt. Jeder von uns hat nur ein bestimmtes Quantum an psychischer Besetzungsenergie, und deshalb müssen wir sparsam mit ihr umgehen; was wir in eine Person investieren, steht für etwas anderes nicht mehr zur Verfügung. Nach Freuds mechanischer Lehre verursacht der Tod einer geliebten Person nicht nur deshalb Leid, weil der Geist schlecht funktioniert, wenn er mit verringerter psychischer Energiezufuhr auskommen muss, sondern auch, weil wir uns in einem Zustand ständigen Verlangens nach jemandem, der nicht mehr da ist, befinden. Dieser Zustand hält, wie Freud glaubte, so lange an, bis wir die notwendige Trauerarbeit leisten und die Energie zurückholen, die in dieser Person gebunden ist.
Freud hätte das »Trauerroutine« oder »Trauerpflicht« oder gar »Trauerzwang« nennen können, aber er wählte die Arbeitsmetapher, weil er glaubte, dass, wenn wir uns durch Besetzung mit psychischer Energie an etwas – eine Person oder Idee – binden, die Sache funktioniert wie Klebstoff. Wir haben Probleme, davon wieder loszukommen. Wenn eine geliebte Person stirbt, dann schwelgen, Freud zufolge, die Hinterbliebenen so intensiv in Erinnerungen an den Verstorbenen, dass »eine Abwendung von der Realität … zustande kommt.«[15]Diese Reaktion hat etwas geradezu Halluzinatorisches, als könne und wolle der Trauernde den Tod der betreffenden Person nicht akzeptieren, als könne diese per Willensakt wieder zum Leben erweckt werden. Joan Didion beschreibt diesen Wunsch in ihrem autobiographischen Bestseller Das Jahr magischen Denkens folgendermaßen: »Ich dachte, wie kleine Kinder denken, so, als könnten meine Gedanken oder meine Wünsche die Macht haben, die Handlung zurückzuspulen, den Schluß zu verändern.«[16]
Nach Freud besteht der einzige Weg, sich von dem Wunsch nach Wiederbelebung des Verstorbenen zu befreien und seine psychische Energie zurückzugewinnen in dem aufwändigen Vorgang, sich »jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war«[17], noch einmal vorzunehmen. Freud hielt es für notwendig, alle Erinnerungen, Erwartungen, Gedanken an, sowie alle Formen des Verlangens nach der geliebten Person »einzeln« aufzuarbeiten. Ihm war bewusst, dass dieser Prozess langwierig und »außerordentlich schmerzhaft« sein würde, doch sah er keinen anderen Weg, um die Bindung an den Verstorbenen zu lösen, die Libido freizusetzen und Fortschritte zu erzielen.
Hätte Freud Recht, wären unsere Zweifel an Karen Everlys seelischer Verfassung begründet. Ihr vermeintlich tadelloser Zustand müsste sich als bloße Fassade entpuppen. Sie konnte unmöglich in so kurzer Zeit ihre »Trauerarbeit« abgeschlossen haben und dabei allenfalls eine Art verborgenen Kummer aufweisen. Früher oder später würde sie ihren Trauerprozess zum Abschluss bringen und zu einer echten Lösung gelangen müssen. Sie würde ihn vielleicht für einen längeren Zeitraum aufschieben können – ein oder zwei Jahre, eventuell länger –, aber schließlich würde sie sich ihm stellen müssen.
Wenn man von der altertümlichen Sprache absieht, in der sie formuliert ist, besitzt die Idee der Trauerarbeit eine gewisse Sinnfälligkeit. Hinterbliebene empfinden oft ein schmerzliches Verlangen nach verstorbenen Angehörigen. Auch quasi-halluzinatorische Erfahrungen sind nichts Ungewöhnliches, zum Beispiel, dass man jemanden, den man flüchtig sieht, einen Moment lang für die verstorbene Ehefrau hält, oder Schritte im Flur hört und kurzfristig vergisst, dass es nicht der kürzlich verstorbene Gatte sein kann, der nach Hause kommt. Es liegt auch etwas Wahres in der Vorstellung, dass wir für persönliche Beziehungen nur eine begrenzte Energie zur Verfügung haben. Wir können nicht herumgehen und zu jedem, der uns über den Weg läuft, eine enge freundschaftliche Beziehung aufbauen. Das wäre zu anstrengend. So beschränken wir unsere emotionalen Investitionen normalerweise auf die Familie und einen ausgewählten Kreis von Freunden und Bekannten.[18]
Allerdings weisen Freuds Gedanken zum Thema Trauer erstaunliche Ungereimtheiten auf. Ungeachtet aller Kontroversen, die seine Theorien hervorgerufen haben, war Freud ein sehr gewissenhafter Theoretiker – außer wenn es um Trauer ging. Denn seine Texte über Trauerarbeit wirken, für ihn untypisch, eher unausgereift, haben etwas geradezu Beiläufiges. Und er selbst war der Erste, der das zugestand. Als er das Konzept der Trauerarbeit vorstellte, formulierte er mehrere Vorbehalte bezüglich des spekulativen Charakters seiner Ideen.[19]Tatsächlich hat Freud nie genau erklärt, wie sein emotionaler Leim funktionieren soll und warum er während des Trauerns entfernt werden muss. Die Idee der »Trauerarbeit« ist unklar und idealistisch. Es wäre schön, wenn wir die psychische Energie, die wir in jemanden investiert haben, einfach dadurch zurückgewinnen könnten, dass wir alle mit der betreffenden Person verknüpften Erinnerungen und Gedanken noch einmal durchgehen, als wären Menschen alte Aktenordner: ausmisten, wegstellen und fertig. Das Problem ist nämlich, dass unser Seelenleben viel zu komplex ist; da hätten wir mit dem Aussortieren viel zu tun.
Seit Freuds Tagen haben wir in unserem Verständnis dessen, was Erinnerung ist, oder was affektive Bindungen sind, einen weiten Weg zurückgelegt. Aus heutiger Sicht haben wir Grund zu der Annahme, dass die Art von Prozess, die Freud für das gewöhnliche Trauern ins Auge fasste, wahrscheinlich das genaue Gegenteil bewirken würde; ein solcher Prozess würde die affektive Bindung an den Verstorbenen eher verstärken. Erinnerungen an Menschen oder Orte sind nämlich keine Gegenstände in unseren Köpfen. Sie sind Bündel verschlungener Neuronen, die sich auf verästelten Bahnen durchs Gehirn ziehen. Die Stärke einer Erinnerung hat mit den Neuronenverbindungen zu tun, ihren Verknüpfungen mit anderen Gedanken und anderen Erinnerungen. Je komplexer eine Erinnerung ist, umso leichter ist ihre »neuronale Adresse« auffindbar.
Wir können eine Erinnerung nicht rückgängig machen oder löschen, aber wir können sie abschwächen[20], und zwar indem wir gerade nicht an sie denken, indem wir sie vergessen, bis sie uns nicht länger im Kopf herumgeht. Wenn wir lange nicht an etwas denken, so sind seine neuronalen Gedächtnisspuren zwar immer noch vorhanden, werden aber tendenziell von anderen Erinnerungen und Assoziationen überlagert und sind deshalb schwerer aufzufinden. Das Problem bei der Übertragung dieser Art von Prozess auf den Vorgang des Trauerns besteht allerdings darin, dass es äußerst schwierig ist, nicht an etwas so Wichtiges und emotional Aufwühlendes wie den Tod eines jüngst verstorbenen Angehörigen zu denken. Faktisch braucht das allmähliche Verblassen von Erinnerungen Jahre, und bei den mächtigen, verzweigten Erinnerungen, die wir an geliebte Menschen haben, reicht vermutlich ein Leben dafür nicht aus. Wir können den Prozess auch nicht beschleunigen. Wenn wir vorsätzlich versuchen, nicht an etwas zu denken, erreichen wir genau das Gegenteil: Die Erinnerung wird gefestigt, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie uns in den Sinn kommt, steigt.[21]
Und was, wenn wir angestrengt oder wiederholt über etwas nachdenken, wie in der Trauer»arbeit« vorgesehen? Dann werden unsere Erinnerungen an einen geliebten Verstorbenen ebenfalls leichter zugänglich und die Wahrscheinlichkeit, dass sie unser Bewusstsein beherrschen, erhöht sich. Je mehr uns etwas geistig beschäftigt, umso mehr verstärken wir tendenziell seine neuronalen Bahnen. Und wenn wir mehrere Gedanken gleichzeitig denken, verstärken wir die Verbindungen, die Assoziationsbahnen zwischen ihnen. Wenn wir also »jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen«, die mit einem Verstorbenen verknüpft sind, durchmustern, wird höchstwahrscheinlich eine Stärkung dieser Verbindungen dabei herauskommen.
Freud hat seine vorläufigen Überlegungen zur Trauerarbeit nicht weiter ausgeführt. Tatsächlich hat er sich nie wieder intensiver mit dem Thema Trauer beschäftigt. Trotz dieser kursorischen Behandlung hat die Idee der Trauerarbeit Anklang gefunden. Das ist allerdings nicht Freud selbst zu verdanken, sondern seinen Nachfolgern.[22]
Zwanzig Jahre nach Freuds erstmaligem Nachdenken über Trauerarbeit veröffentlichte eine Vertreterin seiner psychoanalytischen Lehre, Helene Deutsch, einen Aufsatz mit dem eigenartigen Titel »Absence of Grief«.[23]Deutsch schilderte darin ihre Beobachtungen an vier, in therapeutischer Behandlung befindlichen Patienten. Jeder von ihnen litt an scheinbar unerklärlichen Symptomen, die keine erkennbare Ursache oder Vorgeschichte hatten. Ein Patient zum Beispiel litt unter »zwanghaftem Weinen, das von Zeit zu Zeit ohne adäquates Motiv auftrat«, während ein anderer Patient »scheinbar ohne neurotische Schwierigkeiten« in die Therapie kam, aber unfähig war, Gefühle zu entwickeln oder irgendwelche wie auch immer gearteten Lebensinteressen aufzubringen. Aus ihrer Analyse der Patienten zog Deutsch den Schluss, dass diese Symptome sich nur als »fehlende Trauerarbeit« deuten ließen. Obwohl sie diesen Zusammenhang nicht konkret nachweisen konnte, glaubte Deutsch, dass ihre Patienten die Trauerarbeit nicht vollendet hätten und dass die Probleme, die sie dazu brachten, sich in therapeutische Behandlung zu begeben, ein verspäteter Ausdruck anhaltender Trauerreaktionen sein müssten.
Deutschs Grundgedanke beruht auf einer für den klassischen psychoanalytischen Ansatz charakteristischen Vorstellung. Die unbewusste Psyche wird als primitiv, aber zugleich und paradoxerweise auch als selbständig und intelligent gedacht, als eine Art schlaues, aber kindisches Wesen in uns. Wenn wir das Unbewusste verleugnen, wird es über uns die Oberhand behalten. Es wird einen Weg finden, seine Bedürfnisse zu äußern, wenn nötig in getarnter Form. Wenn diese Sicht des Unbewussten mit der Vorstellung kombiniert wird, dass Trauern eine Form von Arbeit ist, dann wird die Trauer zu einer Art innerpsychischem Bedürfnis mit eigenem Willen und der Macht, sich Gehör zu verschaffen.
Auf den ersten Blick sprach alles dagegen, dass Deutschs Interpretation eine nachhaltige Wirkung erzielen könnte. Vier Patienten waren eine zu schmale Basis, um darauf eine so provokante Theorie zu gründen. Vielleicht fischte Deutsch einfach im Trüben. Vielleicht war sie in der Verlegenheit, eine Erklärung für etwas zu finden, was man ansonsten wohl als gescheiterte Therapien hätte werten müssen. Dass man Angehörige verliert, gehört zum Leben. Man kann also damit rechnen, in der Vergangenheit nahezu eines jeden Patienten auf einen Trauerfall zu stoßen. Diese früheren Verluste mit den aktuell ungeklärten Symptomen des Patienten in Verbindung zu bringen, war demnach eine elegante Methode, um den Fall zu lösen und eine Basis für die therapeutische Behandlung zu schaffen. Allerdings war diese Verbindung auch in hohem Maße subjektiv und konnte nicht belegt werden. Doch auf solche Kleinigkeiten kam es offenbar nicht an. Deutschs Aufsatz avancierte nämlich quasi zu einem Klassiker. Zur Zeit seiner Veröffentlichung galt die Psychoanalyse nämlich in Psychologenkreisen als geeignetste Methode, um in die verborgensten Regionen des menschlichen Geistes vorzudringen. Und eine Forschung, die Deutschs Thesen hätte widerlegen können, gab es noch nicht.
Dennoch wäre die Idee fehlender Trauerarbeit vermutlich im Mülleimer wissenschaftlicher Gelehrsamkeit verschwunden, hätte es nicht einen weiteren, nur wenige Jahre später erschienenen Text gegeben.
1944 veröffentlichte der amerikanische Psychiater Erich Lindemann die nach allgemeiner Einschätzung erste Trauerstudie, die zugleich ein Meilenstein der Erforschung dieses Themas ist.[24]Lindemann arbeitete nicht nur mit einer viel größeren Gruppe von Hinterbliebenen, sondern unter ihnen befanden sich auch zahlreiche Überlebende des berüchtigten Großfeuers, das sich 1942 im Bostoner Cocoanut Grove Nightclub ereignet hatte. In der Brandnacht war der Club überfüllt mit ausgelassen feiernden Besuchern eines Footballspiels zwischen Harvard und Yale, und nahezu fünfhundert Menschen verloren bei diesem Unglück ihr Leben. Es war eine schreckliche Katastrophe, durch die Lindemanns Arbeit eine gewisse traurige Berühmtheit erlangte.
Lindemann war noch ganz den konzeptuellen Beschränkungen seiner Zeit verhaftet. Er betrachtete Trauer vorrangig als medizinisches Problem und machte sich die von Deutsch eingeführte Idee fehlender Trauerarbeit zu eigen. Er führte diesen Gedanken sogar noch einen Schritt weiter. Er glaubte nicht nur, dass psychische Probleme auf eine unbewältigte Trauerreaktion aus der Vergangenheit zurückverfolgt werden könnten, er vertrat obendrein die Ansicht, dass selbst nach außen hin heilsam erscheinende Reaktionen auf einen Verlust verdächtig seien. Lindemann war überzeugt: Egal, wie gesund Hinterbliebene auch wirken, wie groß die Fortschritte sein mochten, die sie vermeintlich gemacht hatten, oder sogar, wie lange der Verlust zurücklag, irgendwo in ihrem Unbewussten lauerte weiterhin eine versteckte, unbewältigte Trauer.
Doch welchen Beweis gab es für diese kühne Vermutung? Überraschenderweise keinen einzigen. Lindemann tat nichts weiter, als eine Gruppe von Hinterbliebenen zu versammeln, sie zu interviewen und anschließend seine »psychologischen Beobachtungen« zu resümieren. Seine Vorgehensweise war nicht sonderlich objektiv, und es gab keine Möglichkeit, seine Schlussfolgerungen zu erhärten.
Das ist nicht die Art, wie wir heutzutage wissenschaftliche Forschung betreiben. Der Grund, weswegen wir bei der Aufstellung psychologischer Theorien so großen Wert auf Forschungsergebnisse legen, ist der, dass sie ein relativ objektives Bild ergeben, dass sie einen Blick auf die »psychologische Wahrheit« all dessen, was wir beobachten, eröffnen. Heutige Forscher bemühen sich sehr um den Nachweis, dass die von ihnen vorgenommenen Messungen und die von ihnen gemachten Beobachtungen verlässlich sind, das heißt, dass sie jedes Mal gleich sind, egal, wer diese Messungen vornimmt. Weiterhin ist von größter Wichtigkeit, dass die in wissenschaftlichen Arbeiten verwendeten Methoden in aller Ausführlichkeit beschrieben werden, damit andere Forscher die Qualität der Untersuchung beurteilen und die Experimente wiederholen können, um die Richtigkeit der Ergebnisse zu bestätigen. Lindemann befolgte keine dieser Regeln, und deshalb haben wir keine Möglichkeit herauszufinden, ob seine Beobachtungen korrekt waren.
Es sollten fünfzig Jahre vergehen, bevor die Forschung einen Weg fand, das Problem der verspäteten Trauer zu untersuchen. Mittlerweile hatten sich allerdings die Beweisstandards verändert, und die neueren Studien, die zuverlässige und überprüfbare Messungen verwendeten, um die Existenz verspäteter Trauer zu überprüfen, fanden absolut keinen Hinweis auf deren Vorhandensein.[25]Menschen, die sich nach einem Verlust als psychisch stabil erwiesen, waren auch Jahre später fast immer in guter Verfassung. Eine verspätete Trauer gab es schlicht und ergreifend nicht.
Ungeachtet der Beweise, will sagen, des Mangels an Beweisen, ist der Gedanke, dass nicht ausreichendes Trauern zu verspäteten Trauerreaktionen führt, zu einer Art kulturellem Gemeinplatz geworden. Nicht nur die meisten Fachleute bekennen sich nach wie vor zu dieser Idee, auch sonst glaubt fast jeder daran. Auch wenn moderne Trauertheorien elaborierter und von ihrer Anlage her weiter gefasst sind als die Grundlagentexte von Freud, Deutsch und Lindemann, halten sie dennoch an dem Gedanken fest, dass Trauer Arbeit ist – eine Arbeit, die viel Zeit in Anspruch nimmt, aber getan werden muss, damit es zu einer vollständigen Gesundung kommen kann. Moderne Trauerkonzeptionen haben schlicht die Leerstellen im Freud’schen Gedanken der Trauerarbeit gefüllt. Trauerarbeit wird nun gemeinhin als etwas betrachtet, das eine Reihe von Phasen oder Stadien durchlaufen müsse.
Das vielleicht bekannteste Phasenmodell der Trauer ist das von Elisabeth Kübler-Ross.[26]Ihrer Überzeugung nach müssen Hinterbliebene fünf verschiedene Trauerphasen durchlaufen: Nichtwahrhabenwollen, Zorn, Verhandeln, Depression und schließlich Akzeptanz. Kübler-Ross ging davon aus, dass jede Phase ein wesentlicher Bestandteil des Trauerprozesses sei und dass die meisten Hinterbliebenen die mit jeder dieser Phasen verbundenen Kämpfe durchstehen müssten, bevor sie zur nächsten übergehen könnten.
Genau genommen bezog das Kübler-Ross-Modell seine Inspiration aus einer früheren Theorie des britischen Psychiaters John Bowlby.[27]
Das Besondere an beiden Phasentheorien, der von Kübler-Ross und der von Bowlby, ist, dass keine sich vorrangig aus der Arbeit mit Hinterbliebenen ableitete. Kübler-Ross widmete ihr Berufsleben dem Umgang mit Sterbepatienten, denen sie half, sich ihrem eigenen Tod zu stellen. Ihr Konzept der Trauerphasen beruhte überwiegend auf Beobachtungen an diesen Patienten. Aber über einen Angehörigen zu trauern ist nicht das Gleiche, wie dem eigenen Tod ins Auge zu sehen. Sicherlich gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Sterben und Trauern, und wir werden später noch darauf zu sprechen kommen. Aber im Großen und Ganzen ist die Konfrontation mit dem eigenen Tod nicht die Art von Erfahrung, die als Modell für den Umgang mit dem Verlust einer geliebten Person optimal geeignet wäre.
Bowlbys Überzeugungen resultierten aus seinen detaillierten Beobachtungen der Bindungsmuster zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Bowlby seine Ideen entwickelte, war es nicht unüblich, dass Frauen in den westlichen Industrienationen nach einer Entbindung noch eine Woche oder länger im Krankenhaus blieben. Da die meisten Frauen mehr als ein Kind hatten, musste sich eine Mutter von ihren anderen Kindern trennen, wenn sie ein weiteres Baby zur Welt brachte. Bowlby beobachtete, dass die Reaktionen von Kleinkindern auf die Trennung eine Reihe von Phasen zu durchlaufen schienen, beginnend mit einer Protestreaktion, gefolgt von Zorn, dann Kummer, Verzweiflung, Rückzug und Desorientierung. Später modifizierte er seine Beobachtungen, um sie mit dem in Einklang zu bringen, was er für ähnliche Reaktionen bei trauernden Erwachsenen hielt. Aber auch hier gilt, dass die Art, wie Kleinkinder auf die Trennung von ihren Müttern reagieren, nicht unbedingt vergleichbar ist mit der Reaktion eines Erwachsenen, der mit dem Tod einer geliebten Person zurechtzukommen versucht.
Und noch ein weiterer Umstand an der »Phasen«theorie ist höchst merkwürdig: Wie bei den meisten gängigen Meinungen über Trauer gibt es nur wenige empirische Belege zu ihrer Beglaubigung. Das Phasenkonzept hat unbestreitbar seinen Reiz. Es fungiert als klar strukturiertes Modell zum Verständnis von Trauer und bietet eine beruhigende Perspektive hinsichtlich dessen, worauf Menschen sich gefasst machen müssen, wenn ihnen schwere Zeiten bevorstehen. Doch könnte man dem entgegenhalten, dass eine solche Vorstellung auch gefährlich sein kann, wenn diese Phasen nicht korrekt sind. Vielleicht richtet sie mehr Schaden an als dass sie Gutes bewirkt.
Das Hauptproblem bei solchen Ideen ist, dass sie dazu tendieren, strenge Maßstäbe für »richtiges« Verhalten aufzustellen, die dem Empfinden der meisten Menschen nicht gerecht werden. Folglich nähren sie Zweifel und Misstrauen hinsichtlich einer erfolgreichen Bewältigung, und wenn wir einem Hinterbliebenen bloß deshalb mit Misstrauen begegnen, weil wir meinen, er sei mit dem Todesfall zu gut fertig geworden oder habe zu schnell sein gewohntes Leben wieder aufgenommen, dann machen wir den Verlust nur noch unerträglicher. Mir sind unzählige Geschichten über wohlmeinende Freunde und Familienangehörige zu Ohren gekommen, die eigentlich gesunde Personen drängten, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, um »einen Zugang zu finden« zu ihrer verborgenen Trauer. Tatsache ist, dass es diese verborgene Trauer zumeist gar nicht gibt. Es mögen Fragen nach der Art der Beziehung fortbestehen oder durch den Tod mögen Veränderungen eingetreten sein, auf die man sich einstellen muss, aber wenn die Trauer abgeklungen ist, hat sich der Fall damit normalerweise erledigt. Selbst wenn der Kummer nur von kurzer Dauer war, hat das in der Regel nicht mehr zu besagen, als das die betroffene Person ihre Trauer erfolgreich bewältigt hat und ihr Leben weitergeht.
Die Geschichte von Julia Martinez verdeutlicht diese Art von unberechtigtem Verdacht, der häufig entsteht, wenn Hinterbliebene nicht den üblichen Erwartungen hinsichtlich der Ableistung ihres Trauerpensums entsprechen. Julia war für die Winterferien vom College zu ihren Eltern zurückgekehrt. Ihre Mutter befand sich in der Küche und machte das Abendessen. Julia hörte das Telefon klingeln und dann den verzweifelten Aufschrei ihrer Mutter. Ihr Vater war auf dem Heimweg von der Arbeit mit seinem Fahrrad von einem Auto erfasst worden. Er lag im Krankenhaus auf der Intensivstation und befand sich in einem kritischen Zustand. Julia und ihre Mutter kamen gerade noch rechtzeitig, um mitzuerleben, wie das Krankenhauspersonal sich intensiv, aber letztlich vergebens darum bemühte, ihn wiederzubeleben. Sie waren wie gelähmt.
»Danach erinnere ich mich nicht mehr an viel«, erzählte mir Julia, »außer, dass viel geweint wurde.« In den folgenden Tagen zog sie sich von ihrer Mutter zurück und verbrachte viele Stunden allein in ihrem Zimmer. Sie machte sich Sorgen um die Zukunft und das Schicksal ihrer Familie und litt unter Schlafstörungen. Als ihr Bruder vom College heimkam, bedeutete das eine große Erleichterung für Julia. Sie und ihr Bruder standen sich nahe, und sie verbrachten in den ersten Wochen nach dem Tod ihres Vaters die meiste Zeit zusammen.
Sie waren mitunter gedrückter Stimmung, entschieden jedoch, dass sie auch ausgehen, Spaß haben und ihre Sorgen vergessen sollten, wenigstens für ein Weilchen. Schließlich war es an der Zeit, wieder zur Schule zu gehen. Es waren auch noch andere Verwandte da, die sich um ihre Mutter kümmerten, und alle kamen überein, dass es das Beste für Julia und ihren Bruder sei, weiterhin zur Schule zu gehen.
Zurück auf dem College, stürzte sich Julia in ihr Studium. Sie verbrachte Zeit mit ihren Freunden. Als diese sie fragten, ob sie über den Tod ihres Vaters reden wolle, meinte sie, dass ihr das nicht recht sei, dass sie lieber wie zuvor mit ihnen zusammen sein würde. In den nächsten Monaten schien alles ziemlich gut zu laufen. Julia sagte, dass sie während dieser Zeit versucht hätte, möglichst wenig an den Tod ihres Vaters zu denken. Gelegentlich war sie traurig und verstört und weinte auch hin und wieder. Doch in diesen Fällen, sagte sie, »machte ich mir die meisten Sorgen um meine Mutter, und auch um meinen Bruder. Er hatte eine schwere Zeit auf der Schule.«
Als sie im Sommer wieder zu Hause war, bekam sie ein Praktikum bei einer Lokalzeitung. Sie war begeistert, etwas Neues ausprobieren zu können: »Ich dachte, alles käme ins Lot.« Dann, eines Abends, gestand ihr die Mutter, dass sie beunruhigt sei, weil Julia ihren Vater anscheinend vollkommen vergessen hätte. Sie frage sich, ob Julia nicht ihre Trauer verdränge.
»Vielleicht solltest du einen Trauerberater aufsuchen«, sagte Julias Mom und wirkte dabei besorgt und unschlüssig.
»Anfangs dachte ich nicht, dass sie es ernst meinte«, erzählte mir Julia, »aber sie blieb hartnäckig. Da wusste ich, dass ich in der Klemme steckte. Wenn meine Mutter sich etwas in den Kopf setzt, dann passiert es auch.« Anstatt mit ihrer Mutter zu streiten, willigte Julia ein. Die Sitzungen mit ihrem Therapeuten erstreckten sich über acht Wochen und waren ihr von Anfang bis Ende verhasst. »Er fragte mich ständig nach meinem Vater aus, wie unser Verhältnis gewesen sei, und ähnliches Zeug. Ich meine, ich habe in der Schule auch ein bisschen von Psychologie mitbekommen. Ich bin nicht blöd. Ich wusste, worauf er hinauswollte.« Julia erzählte, dass sie versucht hätte, »mitzuspielen«, aber zumeist gelangweilt und verärgert gewesen sei. Sie sagte, dass für sie außer Frage stand, dass sie ihren Vater geliebt hätte, dass sie sich aber gegen die Versuche des Therapeuten verwahrte, die Beziehung unter die Lupe zu nehmen. Als schließlich die Kosten für die Sitzungen nicht mehr von der Versicherung gedeckt wurden, war ihre Mutter einverstanden, dass sie nicht mehr hinzugehen bräuchte.
Julia tat vermutlich gut daran, eine Therapie zu hinterfragen, bei der sie sich nicht wohlfühlte, und ihre Mutter tat vermutlich gut daran, den Abbruch ihrer Therapie zu akzeptieren. Eine Psychotherapie ist hilfreich, wenn sie für die richtige Art von Problem eingesetzt wird, doch nach meiner Erfahrung ist die Tatsache, dass jemand nicht »genug« trauert, selten ein Problem, das eine Behandlung erfordert, eigentlich ist sie selten überhaupt ein Problem.
Wie Julia Martinez weisen viele Menschen, die schwere Verluste erlitten haben, eine natürliche Widerstandskraft auf. Sie leiden sehr, aber der Schmerz vergeht, und schon relativ bald nach dem Verlust sind sie wieder auf der Höhe und können das Leben genießen. Das trifft natürlich nicht auf jeden zu. Nicht alle Hinterbliebenen haben das Glück, dass es ihnen so gut ergeht. Wir werden auf dieses ernste Problem noch zurückkommen. Doch einstweilen wollen wir uns auf die empirische Tatsache konzentrieren, dass die meisten Hinterbliebenen besser alleine zurechtkommen, ohne irgendwelche professionelle Begleitung. Sie mögen tiefe Trauer empfinden, sie mögen sogar vorübergehend die Orientierung verlieren, aber schließlich findet ihr Leben in die richtige Spur zurück, und das oft sogar leichter als sie selbst für möglich gehalten hatten. Das liegt in der Natur der Trauer. Das liegt in der Natur des Menschen.
Wenn Trauer keine Arbeit ist, was ist sie dann?