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Um Alex zu retten, gibt es nur eine Chance: Er muss entführt werden. Jen, Kevin, Chris und Max dringen in die Holding ein, doch der Plan geht gnadenlos schief. Unterdessen begibt sich Leonardo auf die Suche nach Informationen zu Bran, nicht ahnend, dass dieser noch lebt und längst dabei ist, seine Macht auszubauen. Das Erbe der Macht ... ... Gewinner des Skoutz-Award 2018 in der Kategorie "Fantasy"! ... Silber- und Bronze-Gewinner beim Lovelybooks Lesepreis 2017! ... Platz 3 als Buchliebling 2016 bei "Was liest du?"! ... Nominiert für den Deutschen Phantastrik Preis 2017 in "Beste Serie"! Das Erbe der Macht erscheint monatlich als E-Book und alle drei Monate als Hardcover-Sammelband.
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Seitenzahl: 141
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Table of Contents
Titelseite
Was bisher geschah
Prolog
1. Oceans 4
2. Einmal Neuseeland und zurück
3. Ein Auftrag
4. Lange nicht gesehen
5. Die Blutchronik
6. Es geht los
7. Ein diebisches Trio
8. Der Kent-Faktor
9. Vom Heute ...
10. ... ins Gestern
11. Farbe wechsle dich
12. Hieb- und stichfest
13. Die Ausgrabungsstätte
14. Ein Zauber zu vollenden
15. Wo Chaos regiert
16. Seid ihr mal wieder unfähig
17. Bis ins Mark
18. Vereint unter dem Banner
19. Im Namen des Herrn
20. Aus und vorbei
21. Wo kommst du denn her?
22. Der Puppenspieler
23. Die Liste
24. Atempause
25. Auf die Plätze, fertig, los
Epilog
Vorschau
Seriennews
Glossar
Impressum
Das Erbe der Macht
Band 14
»Chronikblut«
von Andreas Suchanek
In der Welt der Magie herrscht Chaos. Nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Schattenfrau ist der Wall vollständig entstanden und dämpft die Magie immer stärker. Gleichzeitig sind die Sprungportale versiegelt und es gibt keine neuen Kontaktsteine und Essenzstäbe. Mit Ausnahme von Nikki wurden alle Sprungmagier von der Schattenfrau getötet.
Gemeinsam mit Kevin und Chris konnte Jen auf dem Schattenmarkt herausfinden, dass Alex mit einem der stärksten Vergessenzauber belegt wurde, der je existierte. Sein Leben ist in Gefahr. Die Freunde müssen den Zauber ausfindig machen und an das Blut von Annora Grant gelangen, um ihn retten zu können. Was sie nicht wissen: Alex‘ Geist wurde von Jules Verne auf die Traumebene in Sicherheit gebracht. Dort eignet er sich neues Wissen an. Doch die Zeit drängt, denn der vermeintlich sichere Ort beginnt bereits, sich aufzulösen.
Jen beschließt, dass es nur einen Weg gibt: Sie müssen Alex aus der Holding, wo er ständig überwacht wird, entführen.
Im Castillo ist der mystische Onyxquader zerbrochen. Aus dem Inneren kommt ein Mann zum Vorschein, der anscheinend sein Gedächtnis verloren hat. Niemand ahnt, dass es sich dabei um Bran handelt, der die Erschaffung des Walls mit in die Wege geleitet hat. Durch einen Zauber zieht er Chloe und Eliot Sarin auf seine Seite und beginnt, den Zusammenhalt der Lichtkämpfer von innen heraus zu unterminieren.
Bei den Schattenkriegern erfährt Moriarty erstmals von einem uralten Pakt, der Alexander Kent und einen Konterpart auf der dunklen Seite beinhaltet. Ein Teil des Rätsels wird gelüftet. Alex hätte niemals zum Magier werden dürfen, weil sein Pendant dies ebenfalls nicht ist und dadurch das Gleichgewicht der beiden Seiten der Magie – zwischen Spiegelsaal und Opernhaus – verletzt wurde. Im Archiv der Schattenkrieger, in den endlosen Tiefen, erhält Moriarty Zugriff auf gewaltige Ressourcen. Er macht sich daran, die Wahrheit aufzudecken.
Das herrschaftliche Anwesen lag am Hang des Kunlun Shanmai. Wo das Geäst der Bäume im übrigen Jahr von dichtem Grün und Kirschblüten bedeckt war, ragte es nun dünn und starr in die Winternacht. Schneeflocken fielen herab, weich wie Daunenfedern.
Der Atem kondensierte vor Leonardos Gesicht.
Die Fenster des Anwesens waren geöffnet, die Dunkelheit wurde nur von der Luxsphäre vertrieben, die er erschaffen hatte. In diesem Haus wohnte schon lange niemand mehr – seit Generationen. Die Möbel waren von dickem Staub bedeckt, Papiere verblichen und Raureif lag auf dem feinen Holz des Bodens.
Ein Zauber hatte dafür gesorgt, dass niemand das Anwesen bemerkte.
Den Essenzstab fest umklammert, betrat Leonardo die Bibliothek. Die Hinweise hatten ihn hierhergeführt, doch er wusste nicht, was ihn erwartete.
»Agnosco!« Kobaltblaue Essenz waberte in der Luft, als er den Indikatorzauber nutzte, um Magie aufzuspüren.
Tatsächlich, da war etwas.
Leonardo zeichnete mit dem Essenzstab ein magisches Symbol auf das Holz des Regals, ließ es einfach zu Nebel werden. Geschickt lenkte er das Gebilde zur anderen Seite des Raumes und manifestierte es wieder zu ursprünglichem Holz und Papier.
Das Mondlicht fiel durch das einzige Fenster in den Raum und enthüllte die eingeschlagenen Zeichen in der Wand – ein magisches Symbol im Zentrum von kreisförmig angeordneten kleineren Glyphen. Stirnrunzelnd trat er näher. Es gab eine Aussparung in der Mitte, die über feine Linien mit dem eigentlichen Symbol verbunden war. Wenn er es richtig deutete, gehörte es mit seinen speziellen Schnörkeln zu einem der Zeichen, die von der Quing-Dynastie entwickelt worden waren. Magisches Mandarin.
»Ein Kurzsprung«, stellte er fest.
Solche Zauber wurden gerne benutzt, um nahe gelegene Orte aufzusuchen. Sie funktionierten wie ein Sprung, waren jedoch nur über sehr kleine Distanzen möglich. Das Ziel musste sich also in der Nähe des Grundstücks befinden.
Leonardo berührte mit der Spitze seines Essenzstabes die Aussparung und leitete magische Essenz hinein. Ein kobaltblauer Ball entstand. Wie flüssiges Feuer rannen Essenzlinien in das Symbol.
Eine wispernde Stimme erklang.
Leonardo zuckte zusammen. »Cixi«, hauchte er.
Die ehemalige Oberste Unsterbliche des Rates flüsterte einen Zauber.
Entschlossen legte Leonardo seine Hand mitten in das Glühen des Symbols. »Gradus Sanctus«, wiederholte er die Worte Cixis.
Ein Wirbel erfasste ihn.
Im nächsten Moment stand er an einer Höhlenwand, die Hand auf das Gegenstück jenes Symbols gelegt, das auf der Wand der Bibliothek angebracht war.
Pwap!
Der Kraftschlag schlug direkt neben ihm in den Stein ein. Fluchend hechtete Leonardo zu Boden, riss den Essenzstab in die Höhe und zielte. Die Spitze des gegnerischen Essenzstabes deutete direkt auf seine Stirn.
Leonardo riss die Augen auf. »Du!«
»Mir gefällt das nicht«, sagte Chris erneut.
Er stand vor dem mannshohen Spiegel, den Jen aus Claras altem Zimmer herbeigeschafft hatte. Die schwarze Skimaske saß hauteng und verlieh ihm das Aussehen eines Verbrechers, der im Begriff war, eine Bank zu überfallen.
Oder eben eine Holding.
»Steht dir«, kommentierte Max. Ihm schien das Ganze Spaß zu machen. Es gab kaum eine Minute, in der er nicht breit grinste.
Zur Einstimmung hatten sie am gestrigen Abend noch den neuesten der Oceans-Filme geschaut. Doch obwohl sie unter Hochdruck planten, ließ die Unruhe Jen nicht los. Alex‘ Leben war in Gefahr. Der Lord des Schattenmarktes, Brian D. Forge, hatte ihnen erklärt, dass sich das Sigil dabei auszehrte, einen letzten Rest der Erinnerungen von Alex zu erhalten. Am Ende stand unweigerlich das Aurafeuer.
Dass ihnen auch noch der dringend benötigte Zauber fehlte und das Blut einer gewissen schlagkräftigen Granny, machte es nicht besser.
Chris zog sich die Maske vom Gesicht. »Das ist so Nimag-like.«
»Keine Magie«, betonte Max erneut. »Ab dem Moment, in dem wir loslegen, haben wir nur wenige Minuten. Falls wir Magie einsetzen, merken die Ordnungsmagier, dass es kein gewöhnlicher Überfall ist. Dann werden aus den Minuten Sekunden.«
»Ist ja gut«, grummelte Chris. »Wehe, Alex spendiert am Ende kein Bier.«
»So ist mein Bruder, er denkt immer an die wichtigen Dinge im Leben.« Kevin legte den rechten Arm auf die Schulter seines Zwillingsbruders.
Der schlug kurzerhand seinen Ellbogen in Kevins Magen. »Alles klar, Bruderherz? Oder hast du dich übernommen?«
Bevor die beiden sich wieder raufen konnten – Männer! –, schritt Jen ein. »Hast du mit Nikki gesprochen?«
Chris wehrte seinen Bruder ab und schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Mache ich aber gleich. Sie hat doch heute mal ausgeschlafen und lange gefrühstückt. Tilda hat es sich zur Mission gemacht, Nikki aufzupäppeln.«
»Was ist mit Chloe?« Bei dieser Frage warf Jen einen Blick in die Ecke, wo Ataciaru zusammengerollt schlief. Normalerweise waren der Husky und die Freundin unzertrennlich. Doch seit Kurzem lag der Hund entweder hier im Turmzimmer oder unterstützte Nils bei seinen Flausen.
»Die kannst du gerade vergessen«, erwiderte Max. »Sie kümmert sich um diesen Ellis und wenn sie das nicht tut, ist sie daheim und verbringt Zeit mit ihrem Bruder. Heute soll sie dem Rat berichten.« Etwas leiser ergänzte er: »Dem ganzen Rat.«
Jen konnte nicht anders, als zu kichern. »Du hast wohl mächtig Eindruck gemacht. Rennst da einfach eine Unsterbliche um. Wenn ich nicht wüsste, dass du schwul bist …«
Ein Kissen segelte durch die Luft und knallte frontal gegen Jens Gesicht.
»Das ist nicht lustig!«, rief Max. »So ein erster Eindruck brennt sich ein.«
»Sei lieber froh, dass sie dich nicht mit ihrem Säbel aufgespießt hat«, sagte Kevin sinnierend. »Ich meine, wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Anne Bonny, eine der berüchtigtsten Piratinnen, eine Unsterbliche wird? Sind Piraten nicht per se böse?«
»Ich habe ein wenig recherchiert, …«, begann Max.
»Natürlich hast du das«, warf Kevin mit einem Lächeln ein und zerzauste Max‘ Haare.
»… sie war nicht immer eine Piratin. Und um die letzten Jahre ihres Lebens ranken sich Mythen. Sie wurde mit anderen Piraten gefangen genommen und sollte hingerichtet werden. Doch diese Exekution fand nicht statt. All ihre Mitgefangenen starben, aber Anne … tja, entkam. Oder wurde gerettet. Vielleicht hat sie am Ende ihres Lebens etwas Gutes getan, was alle vorherigen Taten aufgewogen hat.«
»Oder irgendwer da oben schickt uns Unterstützung für harte Zeiten«, überlegte Chris. »Ist ja nicht so, als könnten wir das nicht brauchen.«
Jen winkte ab. »Die Schattenfrau ist Geschichte und in ein paar Monaten haben wir uns an den neuen Zustand gewöhnt. So schlimm sind die Zeiten nicht. Bedenken wir doch, dass die Schattenkrieger auch einiges abbekommen haben.«
»Aber Moriarty wird keine Zeit damit verschwenden, seine Wunden zu lecken«, warf Max in die Runde. Gedankenverloren fuhr er sich über die Brust.
»Sollte ich ihm jemals gegenüberstehen, werfe ich ihn persönlich noch einmal die Reichenbachfälle hinunter«, knurrte Kevin.
Jen wollte sich nicht vorstellen, wie es für ihn gewesen sein musste. Hilflos hatte er mit ansehen müssen, wie der Mensch, den er am meisten liebte, vor seinen Augen starb. Ohne das Opfer von Thomas Alva Edison säße Max nun nicht hier bei ihnen. »Konzentrieren wir uns.«
»Genau!« Max hob seine Skimaske auf und hielt sie in die Höhe. »Keine Magie. Wir entführen Alex als Nimags. Als radikale Nimags, um genau zu sein. Wir sind gegen die Wall Street, großes böses Geld und so weiter.«
Nun kam ihnen zugute, dass die Sprungtore versiegelt waren. »Du sorgst dafür, dass Nikki zu dem Zeitpunkt nicht erreichbar ist.« Jen deutete auf Chris. »Tomoe steckt dank des Brexits sowieso bis zum Hals in Problemen.«
Die Politik der Nimags spielte ihnen – so traurig es auch war – in die Hände. Die Holding würde in Kürze von London nach Frankfurt in Deutschland umziehen. Alles war in die Wege geleitet. Tomoe befand sich an jenem Tag, den sie für ihre Entführung geplant hatten, im neuen Gebäude, um letzte magische Sicherungen anzubringen.
Alle Mitarbeiter, die sich an dem Abend noch in der Holding aufhalten würden, waren Nimags. Die Ordnungsmagier, die Alex bewachten, waren vor dem Gebäude stationiert.
»So weit, so gut.« Kevin öffnete eine Holzschatulle, die auf dem Tisch stand. »Vergessen wir aber nicht, dass unser Alibi wirklich hieb- und stichfest sein muss. Wenn Eliot etwas ahnt oder die Unsterblichen aufmerksam werden, sind wir erledigt. Es reicht schließlich nicht, Alex zu entführen, wir müssen ihn auch verstecken.«
Und das, obwohl Alex gar nicht entführt und versteckt werden wollte. Jen dachte lieber nicht darüber nach, wie er reagieren würde, sobald sie auftauchte. Nach ihrem nächtlichen Besuch in seinem Penthouse hielt er sie für eine verrückte Stalkerin. »Du machst es einem nie leicht, Kent. Es wäre so einfach, könnte man Vergessenszauber mit einem Schlag auf den Hinterkopf neutralisieren.«
»Und darin wärst du eine Meisterin.« Max zwinkerte ihr frech zu.
»Kevin«, blaffte Jen gespielt böse, »bring deinen Verlobten unter Kontrolle«.
»Schon versucht. Keine Chance. Viel Glück.« Prompt begannen die beiden damit, sich zu küssen.
»Das war nicht der Plan.« Jen lächelte gespielt böse.
Chris‘ Kopf tauchte neben dem knutschenden Pärchen auf. »Ihr versperrt mir die Sicht!« An Jen gewandt erklärte er: »Ich schaue mal nach Nikki.«
»Guter Plan.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Tomoe verlässt in sieben Stunden die Holding. Dann legen wir los.«
»Aye, Ma’am.« Chris salutierte mit einem Zwinkern und verließ das Turmzimmer.
Jen sank auf die Couch.
Ihr Blick wanderte zu dem Tresor, in dem neben dem Folianten von Joshua auch der Essenzstab von Alex lag.
Ab jetzt hieß es: alles oder nichts.
»Halte noch ein wenig durch«, murmelte sie. »Wir sind auf dem Weg.«
Neuerweckte schwangen ihre Essenzstäbe gegen Hexenholzkrieger in immer wiederkehrenden Mustern. Zwischen den Kämpfenden schritt Annora Grant umher und begutachtete die Ergebnisse.
»Das geht mit mehr Wumms«, kommentierte sie den Kraftschlag eines sommersprossigen Neuerweckten in den Dreißigern.
Die Granny von Chris und Kevin schien diebischen Spaß an dieser Art Unterricht zu haben. Immer wieder ließ sie sich neue Dinge einfallen, um ihre Schüler zu überraschen, womit sie eine würdige Nachfolgerin von Thomas Edison war. Sie winkte Chris kurz zu, als dieser den Raum betrat.
»Nikki?«, rief er.
»Kleiner Übungsraum!«, antwortete seine Granny, nur um sich sofort wieder einem Schüler zu widmen. »Gut so, Randolph, direkt zwischen die Beine.«
Ein Hexenholzkrieger fiel zu Boden.
»Die armen Schattenkrieger«, murmelte Chris.
Auf der anderen Seite der schmalen Durchgangstür fand er Nikki, die ziemlich aufgebracht wirkte. Mit in die Hüften gestemmten Fäusten stand sie vor Nils. »Ich gebe dir keine Euros fürs Springen.«
Nils zuckte mit den Schultern. Plopp. Er war fort.
»Aaaarrrgh! Welcher Idiot hat ihm beigebracht, Geld fürs Springen zu nehmen?!«
Das war wohl ich. »Gute Frage, keine Ahnung.«
»Chris!« Erst jetzt bemerkte sie ihn, sah sich vorsichtig um und eilte dann herbei. »Bist du allein?«
»Einsam und verlassen.«
Sie lächelte ihn an. »Das können wir ändern.«
Ihre Lippen schmeckten nach Salz und dem frischen Duft von Neuseeland. »Ich fühle mich immer noch einsam«, hauchte er ihr ins Ohr.
»Ich würde ja gerne mit dir nach Hause springen, aber ich muss dieses kleine Monster unterrichten.« Schweren Herzens machte Nikki sich von ihm los. »Wenigstens hat Kleopatra mir einen Stärkungstrank gebracht, dadurch werde ich nicht mehr so schnell müde. Man könnte doch meinen, dass unter den Neuerweckten weitere Sprungmagier sind, aber nein, keiner.«
Rote Flecken erschienen auf Nikkis Wangen, wie immer, wenn sie sich aufregte. Chris spürte das altbekannte Kribbeln im Magen, als er sie betrachtete. Sie trug ein bauchfreies, marineblaues Top und enge Jeans. Die Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Die Erinnerung an jenen ersten Abend kehrte zurück. Nach dem Sieg gegen die Schattenfrau hatten sie alle gemeinsam auf dem Areal des Castillos im Freien gesessen. Überall waren Lagerfeuer aufgeflammt, es wurden Speisen verteilt und Wunden geleckt. Besonders Nikki ging es damals sehr schlecht, da sie all ihre Sprungmagier-Freunde verloren hatte. Chris hatte sie getröstet.
In den darauffolgenden Tagen hatten sie viel Zeit gemeinsam verbracht und geredet. Nikki hatte ihn mit heim genommen, nach Neuseeland. Sie waren auf Pferden über die grünen Hügel geritten und hatten in heißen Quellen gebadet. Dort war es dann auch passiert. Der erste Kuss. Am Ende der Welt, unterm Sternenhimmel.
Es stand völlig außer Frage, dass niemand etwas davon erfahren durfte. Das Letzte, was er wollte, war eine weitere ›wohl durchdachte‹ Entscheidung der Unsterblichen. Als Max damals aus der Gruppe entfernt worden war, hatte das Kevin hart getroffen. Chris traute Leonardo und Johanna ohne Weiteres zu, dass sie Nikki überall in der Welt herumschicken würden, um sie von ihm fernzuhalten.
»Ist es soweit?«, fragte sie.
»Hm?«
»Alex.«
»Oh, ja.« Chris nickte eifrig. »Heute Abend legen wir los. In zwei Stunden muss ich in die Holding, um es vorzubereiten.«
»Ich bin bereit. Fällt sowieso nicht auf, wenn ich weg bin. Und heute Abend schalte ich mein Smartphone ab. Manchmal ist es ganz praktisch, keine Kontaktsteine mehr zu haben.«
»Halte dich von Wasserflächen fern«, sagte Chris. »Kleopatra findet dich sonst überall. Die ist ein Ass, wenn es darum geht.«
»Keine Angst, ich werde …«
Sie verstummten, als eine wutschnaubende Tilda hereingestürmt kam. Die Köchin des Castillos war gleichzeitig auch dessen Herz. Sie trug Nils in ihren Armen, der zufrieden auf einem Sandwich kaute.
»Wie könnt ihr diesen armen Jungen nur so quälen?!«, ereiferte sie sich. »Da bekommt er nichts zu essen und muss den ganzen Tag springen. Von dir hätte ich mehr erwartet, Nikki.«
»Aber, aber …«
»Nein«, unterbrach Tilda sie. »So geht das nicht. Ein Kind in seinem Alter benötigt Ruhephasen.«
»Und spielen«, flüsterte Nils.
»Und spielen sollte er auch können«, ergänzte Tilda schnell. »Findet man alles in dem Ratgeber.«
»Ratgeber?«, fragte Chris verdattert.
Tilda zog ein Smartphone aus der Tasche. »Dazu gibt es ein App, …«
»Eine App«, korrigierte Nikki.
»… in der steht alles drin.«
»Wie kommst du zu einem Smartphone?«, fragte Chris.
»Albert war so nett, mir davon zu erzählen, bevor er«, eine Träne kullerte über ihre Wange, »verschwand. Aber er kommt ja zurück. Ganz bestimmt. Und bald.«
Nils streichelte mit seiner linken Hand über Tildas Wange, während er sein Sandwich weiteraß. Der Effekt glich einem aus der Hüfte abgefeuerten maximalen Kraftschlag. Tilda begann bitterlich zu schluchzen.
»Aber er kommt doch wieder«, sagte Chris zaghaft.
»Ach ja?!«, fauchte sie ihn an. »Woher willst du das wissen? Dort drüben kann alles passieren. Und hat er überhaupt die richtige Kleidung an? Und genug zu essen? Du weißt doch, wie schusselig er ist, bestimmt passiert ihm etwas, während er über Gravitationswellen und den Masseerhaltungssatz sinniert.«