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Der Auftakt zum großen Finale! Alex und Jen haben erfahren, wie der Wall zerstört werden kann. Dies würde Merlins Macht schwächen und damit auch den Anbeginn. Doch der Preis ist höher als je zuvor. Die Freunde suchen nach einer Lösung und entdecken eine Wahrheit, die alles verändert. Gleichzeitig nimmt das Problem der Immortalis-Magier zu. Chris und Nikki wollen sich um das Problem kümmern, doch es stellt sich heraus, dass das Problem längst furchtbare Ausmaße angenommen hat.
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Seitenzahl: 306
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Titelseite
Vor dem Ende der Ewigkeit
Was bisher geschah
Prolog
Minuten der Stille
Zeit des Kampfes
Zum Anfang des Knotens
In uralten Schriften
Tee auf der Nautilus
Herantasten
Unterzucker
Spurensuche
Zeitfasern
Mutterfreuden
Nur einen Traum weit entfernt
Expedition
Einstein
Ein kurzer Sprung
Echos
Der Schatten des Arsenals
Willkommen in den Neunzigern
Walkmann und Mix-Tape
Eisiges Verhängnis
Aus dunklen Zeiten
Wo ist ein Bücherwurm ...
Grummelige Granny
Die Quelle des Lichts
Saint Germains Erbe
Oceans 2
Die besten Dilettanten des Castillos
My, my
Das Arsenal
Die Römer und ich
Tod in Venedig
Vergangene Expeditionen
Phönixpfad
Zum Palazzo
Der letzte Tanz
Zwischen den Reichen
Phönixsplitter
Palazzo infernale
Blutige Überraschung
Phönixflug
Phönixtempel
Canale mortale
Unterschätzt
Das letzte Puzzlestück
Gefangen
Im Untergrund
Vorbereitungen
Exodus
Ethik und Moral
Im Angesicht des Bösen
Eis und Feuer
Abschiede
Jagd durch Venedig
Drachenfeuer
Nachfolger
Wut und Verzweiflung
Die Entscheidung
Fasern der Ewigkeit
Drei auf einen Streich
Der Anfang …
… vom Ende
Epilog
Seriennews
Glossar
Impressum
Das Erbe der Macht
Band 37
»Vor dem Ende der Ewigkeit«
von Andreas Suchanek
Der Kampf der beiden Zeitlinien ist vorüber und konnte von den Verteidigern der Zuflucht gewonnen werden. Durch die Ereignisse rund um das Memorium ist Christian Grants Geist im Körper seines Gegenparts zurückgekehrt.
Die Magier der Zuflucht können jedoch nicht aufatmen. Chris hat Nachrichten im Gepäck. Der Wall muss fallen, wollen sie Merlin besiegen. Doch endlich enthüllt sich, dass der Wall an die Unsterblichen gebunden ist. Ein Sieg ist nur möglich, wenn kein Unsterblicher mehr existiert.
Auf Antarktika haben Chloe und Ataciaru das Noxanith-Tor zerstört. Die Quelle für den Anbeginn ist erloschen, doch damit steht das Hohe Wesen unter Zugzwang. Will es nicht zurückgetrieben werden in die Schatten, muss es seinen Plan vollenden. Gelingt dies, ist der Weg für die Rückkehr des Anbeginns frei. Andernfalls werden die Kreaturen ins Vergessen fallen.
Auch die Prophezeiung hat sich erfüllt, ein neuer König ist gekrönt. Genauer: eine neue Königin. Tilda wurde mit Talid wiedervereint und sitzt nun auf dem Thron in der Weißen Krypta.
Die Freunde wollen nun herausfinden, ob es eine Möglichkeit gibt, den Wall wieder von den Unsterblichen zu trennen, damit er vernichtet werden kann.
Während die Fäden des Schicksals sich also verknüpfen, muss Chris seine Rückkehr und die Ereignisse der vergangenen Monate verarbeiten. Gemeinsam mit Nikki ist er nach Neuseeland gereist.
Jede Stufe war eine Bürde.
Wind peitschte Tomoe ins Gesicht, in der Ferne rauschte das Meer. Sie stieg in die Höhe, obgleich es sich anfühlte wie ein Fall. Dabei war jede Stufe mit ihren schartigen Unebenheiten gleichzeitig eine Gefahr. Wie schnell konnte ihr Weg zu einem Sturz werden, der alles beenden konnte.
Konnte er?
Sie schnaubte bei dem Gedanken.
Sie, die große Kriegerin, die ihren eigenen Tod im Licht der Zitadelle überdauert hatte. Einst war sie davon ausgegangen, dass es ein heiliger Auftrag war, jetzt wusste sie mehr. Mehr als jeder andere innerhalb der Mauern unter ihr.
Und wie sie gestern hinaufgestiegen war, und vorgestern, so tat sie es auch am heutigen Tag. Stets mit der gleichen Hoffnung.
Die letzte Stufe, das Podest.
Tomoe ging nicht in die Knie.
»Ich bin hier, so wie ich an jedem anderen Tag kommen werde«, sagte sie. »Im Licht der Zitadelle habe ich gestritten, verdiene ich keine Antwort?«
Vor ihr wuchs der ewige Bernstein in die Höhe, in dessen Inneren sich die Archivarin befand. Eingeschlossen bis zum Ende der Zeit durch eine Attacke Merlins, ausgeführt von Eliot Sarin.
»Ich weiß es jetzt.«
Die Worte wogen so schwer wie all der Stein der Zuflucht zusammengenommen.
»Ich sehe es.«
Der Wind wurde stärker.
»Sprich zu mir!«
Doch der Bernstein schwieg, wie an allen Tagen zuvor.
I
Nach dem Sturm
Chris
Dampf stieg auf.
Das Wasser der Quelle umschmeichelte Chris’ neuen Körper. Die Muskeln, die Haut, seine Seele. Nach Monaten ohne eigenen Leib, einzig als Schatten seiner Selbst in einem Memorium verwahrt, pulsierte nun wieder das Leben in seinen Adern.
»Also eines ist sicher: Dein Gegenstück hat seinen Körper auch gepflegt.« Nikkis Finger fuhr über seine Brust, hinunter zum Waschbrettbauch.
Sie war so nackt wie er, ihr Haar bildete einen Schleier, der ihren Kopf im Wasser umrahmte.
»Es gibt ein paar Narben mehr«, gab er zurück. »Und den Blinddarm habe ich wieder.«
Sie lagen gemeinsam in einer heißen Quelle, die Kleidungsstücke daneben. Einen verschlungenen Pfad hinab stand ein Holzhaus, in dem sie die vergangenen Tage verbracht hatten. Chris genoss jeden Augenblick seiner wiedergefundenen Körperlichkeit, genau wie Nikki. Nacktheit war mittlerweile für sie zur Normalität geworden.
Er hatte die Arme auf dem Rand der Quelle ausgebreitet, lag auf dem Rücken im Wasser und blickte hinauf in den Himmel. Nikki hauchte einen Kuss auf seine Brust, dann glitt sie wieder zur Seite.
»So könnte es immer sein«, sagte sie.
»Ein ferner Traum von Frieden.« Chris lächelte, allerdings konnte er die Bitterkeit nicht aus seiner Stimme vertreiben.
»Da steckt eindeutig noch zu viel von der anderen Seite in dir. Dunkel und so.« Nikki knuffte ihn unter Wasser.
Sie war aufgeblüht in den letzten Tagen. Sein angeblicher Tod hatte sie mitgenommen, ihr jede Lebensfreude geraubt. Trotzdem hatte sie sich in den Kampf gegen den Anbeginn und Merlin eingebracht. Es war so viel passiert, während er fort gewesen war.
Talanis war gefunden worden und gewachsen. Die Wehrtürme, eine ganze Schiffsflotte … Aus einer Zuflucht, die von einem Ort zum nächsten gewandert war, hatte sich ein Bollwerk entwickelt. Im Garten gab es jetzt Babyphönixe, Hüterhunde und Titiks. Einer davon hatte Max adoptiert, der nun selbst ein Unsterblicher war, seltsamerweise mit einem Phönix-Sigil.
Und dann war da noch Kevin.
»Du denkst über Kevin nach.« Nikki schürzte die Lippen, sie bemerkte es mittlerweile sofort. »Schon wieder.«
»Natürlich tue ich das.«
»Ich bin ihm dankbar.«
»Er hat eine komplette Zeitlinie erschaffen und zum Untergang verdammt. Die anderen werden ihm nie wieder vertrauen nach dieser Aktion. Er hat den Onyxquader zerstört!«
Nikki zuckte nur mit den Schultern. »Davon haben doch einige von uns geträumt: die Zeit zurückzudrehen und alles zu ändern. Dein Bruder war lediglich konsequent. Am Ende ist es gut ausgegangen.«
»Ich weiß.« Prompt fühlte er sich schuldig. »Auf der einen Seite liebe ich ihn dafür, dass er mich nie aufgegeben hat. Auf der anderen ist mein Leben dies alles sicher nicht wert …«
Patsch.
Das Wasser schwappte ihm ins Gesicht. Seine Worte gingen im Husten unter.
»Oh, entschuldige. Wolltest du wieder irgendwas sagen, in dem ein ›ich bin es nicht wert‹ vorkommt? Davon kenne ich mittlerweile nämlich alle Varianten.«
»Du bist eine böse Springerin.«
Nikki lächelte hinterhältig. »Das hat dich die letzten Tage nicht gestört.«
Chris hustete das verbliebene Wasser aus. »Du sprichst von verrucht. Ich meinte böööööse.«
Sie wurde ernst. »Ich verstehe deine Gedanken, ich kann sie sogar nachvollziehen. Nicht das mit dem Böse sein, ich meine deine Schuldgefühle. Magier sind gestorben, diese andere Seite hat sie umgebracht, ersetzt, gefoltert … Aber das war nicht deine Schuld. Alles, was uns widerfahren ist, beginnend mit der Schattenfrau, ist auf Merlin zurückzuführen. Oder eigentlich auf den Anbeginn.«
In einige Dinge war Chris erst nach seiner Rückkehr eingeweiht worden. Noch immer schwirrte ihm der Kopf darüber, was seit seinem körperlichen Tod in der Blutnacht von Alicante geschehen war. Immerhin, Chloe gehörte wieder zu ihnen, das hatte er allerdings schon gewusst. Und ein Kindergarten war irgendwie entstanden.
»Ha, jetzt denkst du über Nils nach«, sagte Nikki.
»Hör auf, meine Denkgrimassen zu lesen.«
Sie kicherte. »Hat er dich neulich so sehr geschockt?«
»Er hat sich mitten in der Nacht auf mich teleportiert, meine Augenlider hochgezogen und gebrüllt: Ich bin ein Monster.« Chris war hektisch im Bett hochgeschossen, noch im Halbschlaf.
Als Nikki ebenfalls wach geworden war, war Nils natürlich schon wieder weg gewesen und sie unterstellte ihm einen Albtraum.
Erst in der Folgenacht, als Nils und Piro auf ihm erschienen und beide brüllten, dass sie Monster seien, war auch sie wach geworden. Ein Gespräch mit der übernächtigten Johanna hatte ergeben, dass die Jungs ständig zu Erkundungstouren verschwanden, um dann irgendwo in Talanis erschöpft einzuschlafen. Früher oder später wurden sie gefunden und Papa Leonardo trug die Racker zurück. Die Da Vinci-Orleans hatten Nils auf gewisse Art adoptiert, zusammen mit dem Husky-Rudel.
»Wundert mich, dass du noch kein Tier oder Kind hast«, sagte er.
»Im Gegensatz zu dir.«
Hitze schoss durch Chris’ Körper. Eine Mischung aus glückseliger Freude und noch mehr Schuld. Die Erkenntnis, dass er einen Sohn hatte, Tyler, der mit Sigilschwingen fliegen konnte und aus dem One-Night-Stand mit Shairi entsprungen war, fühlte sich unwirklich an.
Ty war gerade mal ein paar Jahre jünger als Chris. Zweimal hatte er sie hier bereits besucht, sie hatten Strandspaziergänge unternommen und geredet. Es hatte Chris gefreut zu hören, dass Shairi einst dem Untergang von Iria Kon entkommen war. Sie hatten die Himmelsstädte in einem Splitterreich erschaffen. Dort war auch Ty aufgewachsen.
Chris rieb sich die Schläfen. »Es ist einfach so viel.«
»Weil du zu sehr über die Vergangenheit nachdenkst.« Nikki verließ die Quelle. »Warte hier, ich habe eine Überraschung für dich.«
Chris’ Blick haftete an ihrem nackten Hintern. »Ich könnte auch mitkommen.«
»Danach. Jetzt warte hier.«
Plopp.
Weg war sie.
Chris nutzte den Augenblick und tauchte unter Wasser. Hitze umgab ihn, löste seine Verspannung. Er verweilte im Hier und Jetzt.
Gerade als die Luft knapp wurde, spürte er den Sog an seinem Fuß. Ruckartig wurde er in die Tiefe gezerrt. Er fühlte die Magie, doch sein Essenzstab lag bei dem Kleiderbündel neben der Quelle.
Ein Angriff!
Wehrlos sank er in die Schwärze.
Chris gab sein Bestes, konnte den magischen Sog jedoch nicht abschütteln, der ihn in die Tiefe zog. Unweigerlich kehrte die Erinnerung an den anderen Sog zurück, der ihn in die Dunkelheit gezerrt hatte.
Eine Sekunde vor seinem Tod hatte Kevin ihn aus dem Körper gerissen. Fast wartete er auf die Magie des Memoriums, doch sie kam nicht. War das hier sein zweites Ende? In diesem neuen Körper, der sich fremd und vertraut gleichermaßen anfühlte?
Er trieb in der warmen Dunkelheit am Grund der Quelle. Sein Leib zuckte, seine Lunge schrie.
Plopp.
Die Umgebung verschwand. Plötzlich war die Schwere zurück, Chris krachte in die Knie. Wasser ergoss sich aus seinem Mund, durchnässte Erde und Gras.
»Contego!« Eine Schutzsphäre etablierte sich, Nikki hielt ihren Essenzstab fest umklammert.
»Na, so was.« Ein breitschultriger Kerl kam näher, in seinen Augen ein kaltes Blitzen. »Und da dachte ich, ich kann deinen Muskelfreund zu den Fischen schicken und mich dann mit dir vergnügen, kleine Lady.«
Seine Worte waren seltsam schleifend und schwer. Er sprach Englisch, aber mit starkem Akzent. Das dunkelblonde Haar war sauber geschnitten, doch der Vollbart wucherte.
»Tja, falsch gedacht«, gab Nikki zurück.
»Oho, die hier hat Feuer. Was macht sie dann nur mit dir? Muskeln hast du, aber du wirkst so weich wie alle Männer dieser Zeit.«
Endlich kam Chris wieder auf die Beine. Mit einem schnellen Aportate lag der Essenzstab in seiner Hand. Dass er nackt kämpfen musste, spielte keine Rolle. »Potesta.«
Er schleuderte den Kraftschlag mit aller Wucht. Doch der glitt durch den Angreifer hindurch, als sei dieser nur ein Geist. Seine Konturen verschwammen, wurden kurz darauf wieder fest. »Haben schon andere versucht. Liegen jetzt alle bei den Fischen.«
Nikki versteifte sich.
»Was ist los?«, fragte Chris leise.
»Das ist Patrick O’Maley. Landete vor über sechzig Jahren im Immortalis-Kerker. Johanna und Leonardo haben Akten zu jedem Magier angelegt, der dorthin verfrachtet wurde.«
Der Zusammenbruch des Immortalis-Kerkers war ebenfalls eine Konsequenz von Merlins Tun, die Gefangenen hatte er zuvor befreit. Sie zogen über die Welt und knüpften dort an, wo sie aufgehört hatten: Mord und Folter.
»Ah, die kleine Lady kennt mich«, sagte O’Maley. »Das macht es leichter für dich, meinen Namen zu stöhnen.«
»Er hat Dutzende von Nimags körperlich misshandelt und ihnen danach die Kehle aufgeschlitzt«, erklärte Nikki. »Meist, um an ihre Frauen zu kommen. Von einer Sonderfähigkeit war allerdings nicht die Rede.«
Ein widerliches Grinsen war die Antwort. »Wir können weitaus mehr, als du denkst, kleine Lady. Wir alle. Aber lass uns weiterreden, wenn ich deinen Freund zu den Fischen geschickt habe.«
»Ignis.« O’Maley erschuf das Symbol blitzschnell und entzündete damit das Gras unter ihnen.
Noch während Chris zur Seite sprang, nahm er das Essenzecho auf, das jeden Zauber begleitete.
Das Platschen eines ausgeworfenen Ankers. Männerschweiß und Gnadenlosigkeit. Dazu eine Essenzspur in schlammigem Grün.
Nikki stolperte durch das Feuer beiseite, hielt aber die Balance. Die Hitze leckte über Chris’ Haut, er sog scharf die Luft ein.
O’Maley sprang vor und schlug zu. Ihre Essenzstäbe krachten gegeneinander wie bei einem Schwertkampf. Essenzfunken stoben.
»Ich mag die alte Form des Kampfes Mann gegen Mann.« Er betrachtete Chris von oben bis unten. »Auch wenn meine Gegner nie nackt waren.«
»Gesprochen wie ein wahrer Höhlenmensch«, kommentierte Chris trocken und tauchte unter dem nächsten Hieb weg.
O’Maley besaß rohe Kraft, seine Schläge zeugten außerdem von Erfahrung in dieser Art des Essenzstabkampfes. Viel Zeit blieb nicht, das hier zu entscheiden.
Nikki ploppte hinter ihn und holte aus. Sofort wurde er wieder auf jene seltsame Art durchscheinend, der Schlag ging ins Leere.
»Aqua manifeste«, rief Chris.
Sein eigenes Essenzecho lag in der Luft. Das Geräusch von Wind, der über Gras strich. Der Duft nach Moos und Erde. Ein Gefühl von Freiheit. Dazu das vertraute Rostrot.
Wasser schoss aus der Quelle und umgab O’Maley. Der fuchtelte noch mit dem Essenzstab, doch lediglich aus Magie bestand auch der Klang seiner Stimme. Unter Wasser war das ein Problem. Seine Augen quollen hervor, er versuchte, aus dem schwebenden Wasser herauszuschwimmen. Chris dirigierte es so, dass ihm das nicht möglich war.
Zwei Minuten dauerte der Kampf, dann verlor O’Maley das Bewusstsein.
»Aqua demanifeste.« Das Wasser fiel zu Boden und versickerte in der Erde.
Chris nahm den Essenzstab des Mannes auf und wandte sich Nikki zu. »Das nenne ich mal eine nette Spezialfähigkeit. Auf diese Art kann er problemlos den meisten Attacken ausweichen. Ich will gar nicht wissen, was er in seiner Zeit außerhalb des Kerkers angerichtet hat.«
»Er muss unsere Magie gespürt haben.« Nikki ging neben ihm in die Hocke. »Merlin lässt sie alle ausschwärmen und nach Magiern suchen. Manchmal vergesse ich, dass wir immer noch Gejagte sind.«
Chris ging es ähnlich. Im Licht seines neu gewonnenen Lebens entfiel ihm oftmals, dass die alte Freiheit nicht mehr existierte. Sie mussten vorsichtig sein. Wäre Merlin hier aufgetaucht, die Sache wäre nicht so glimpflich verlaufen. »Zeit, unsere Sachen zu packen und die Zelte hier abzubrechen.« Er trocknete sich mit einem Zauber und schlüpfte in seine Kleidung. »Was machen wir mit ihm?«
»Für die Immortalis-Magier gibt es mittlerweile ein neues Gefängnis«, sagte Nikki. »Leider befinden sich noch nicht viele darin. Bringen wir ihn dorthin. Das wird dir gefallen.«
»Ach?«
»Es ist unter Wasser«, erklärte Nikki. »Da kannst du ein paar weiteren Freunden Hallo sagen. Nemo und Suni werden sich freuen.«
Sie holten ihre verbliebenen Sachen aus dem Cottage, und einen Zauber später sah alles so aus, als wären sie nie hier gewesen. Bei der Überraschung von Nikki handelte es sich um einen Geburtstagskuchen, zur Feier seines neuen Lebens. Eines war sicher: Es begann auf die gleiche Art, wie sein altes geendet hatte.
Der Kampf ums Überleben ging weiter.
Alex
Er saß auf der Brüstung und ließ die Beine baumeln. Sonne lugte zwischen den Wolken hervor, und Alex betrachtete ein paar Seevögel, die in der Ferne über dem Meer kreisten.
»Kent, bist du noch bei uns?«, erklang Jens Stimme.
Niemand konnte so liebevoll ›Kent‹ sagen wie sie. Selbst wenn dabei ein genervter Unterton mitschwang.
»Total«, erwiderte er.
»Dann wäre es nett, wenn du dich wieder zu uns herumdrehst.«
Er tat wie befohlen. Vor ihm standen neben Jen auch Kyra und Chloe mit Ataciaru. Der durchdringende Blick des Huskys ruhte auf Alex.
»Erste Gerüchte machen die Runde«, sagte Jen.
»In diesen Mauern gibt es keine Geheimnisse.« Chloe zuckte fatalistisch mit den Schultern und ließ ihre Fingerknöchel in den nietenbesetzten Handschuhen knacken. »Mal ehrlich, es muss doch nur jemand einen Zeitschattenzauber durchgeführt haben, kurz nachdem wir Tildas Küche verlassen haben. Aus Neugier.«
Kyra war vor einigen Minuten aufgeregt mit Chloe und Ataciaru auf die Zinnen gekommen. Leider, denn Alex und Jen waren gerade überaus beschäftigt gewesen. Der Wechselbalg hatte zuvor eine neue Tierform ausprobiert – ein Faultier, was wohl einer meditativen Erfahrung gleichkam –, da waren zwei Magier an ihr vorbeigekommen. Sie hatten sich darüber unterhalten, dass Merlin nur besiegt werden konnte, wenn es keine Unsterblichen mehr gab. Eine Information, die Chris unter dem Siegel der Verschwiegenheit an Jen, Alex, Kevin, Max, Chloe, Clara und Kyra weitergegeben hatte. Keiner von ihnen hätte das leichtfertig ausgeplaudert.
Außer natürlich an Tilda, weil diese ja Königin war und diese Situation aktuell mit den Unsterblichen selbst besprach.
»Tja, da hat es eine Person zu viel erfahren«, kommentierte Alex.
»Ach, was du nicht sagst.« Jen verschränkte die Arme. »Das hat Chloe vor ein paar Minuten auch schon gesagt.«
Er räusperte sich. »Ich war kurz abgelenkt, okay. Aber es ist letztlich egal, woher sie es wissen. Eine Lösung benötigen wir so oder so.«
»Einige haben da bereits Ideen«, berichtete Chloe. »Wenn alle Unsterblichen freiwillig ihre Wacht beenden, wäre das Problem gelöst, der Wall nicht mehr gebunden – und Merlin würde den Zugriff auf unsere Essenzen verlieren.«
»Das ist lächerlich.« Alex ließ seinen Blick nach Zustimmung heischend von einem zum anderen wandern.
»Wir hier sehen das so«, erwiderte Kyra, »aber vergesst nicht, dass Merlin Freunde und geliebte Menschen mit seinem Pakt des Glücks an sich bindet. Er könnte ihnen befehlen, sich selbst oder wen auch immer zu töten, und sie würden es tun. Davor haben eine Menge Personen in diesen Mauern Angst. Sie wollen ihn endlich besiegen.« Ihr Blick traf Alex. »Tut mir leid.«
Seine gute Laune verschwand in einem tiefen, schwarzen Loch. »Schon gut. Sprich weiter.«
»Einige sagen, dass die Unsterblichen doch lange genug gelebt haben«, führte Kyra aus. »Sie waren es, die uns mit dem Onyxquader Merlin überhaupt erst eingebrockt haben. Wenn sie gehen, könnte es Freiheit für alle übrigen Magier bedeuten.«
»Ich traue mich kaum, das zu sagen«, kam es von Jen: »Aber der Grundgedanke ist aus logischer Sicht nachvollziehbar. Ihr wisst, was ich meine. Natürlich suchen wir eine andere Lösung, doch der Gedankengang ist verständlich. Und wir wissen, dass Johanna und andere Unsterbliche durchaus auch bereit waren, uns zu opfern.«
Ein Argument, das gerade für Alex kaum von der Hand zu weisen war. Immerhin verdankte er es dieser Denkweise, für eine gewisse Zeit als Nimag ohne Erinnerung existiert zu haben. Ohne Jen und seine Freunde wäre er gestorben.
»Wir können wohl kaum alle Unsterblichen für etwas verurteilen, was Johanna und Leonardo ausgebrütet haben«, merkte Chloe an. »Außerdem würde das auch Max betreffen. Vergesst das nicht. Er ist jetzt ebenfalls einer von ihnen.«
Alex wedelte mit der Hand. »Lassen wir die anderen diskutieren, so viel sie wollen. Die Frage ist, was wir tun können. Denn eine Lösung brauchen wir. Der Wall muss fallen. Nur so haben wir eine Chance, Merlin zu schwächen und auf diese Art den verdammten Pakt des falschen Glücks irgendwie zu lösen.«
Tilda würde gemeinsam mit den Unsterblichen sowieso nach einer Lösung suchen. Als neu ernannte Königin war das jetzt ihr Ding. Es fiel Alex noch immer schwer zu glauben, dass die Köchin vor langer Zeit eine Art von Agentin gewesen war. Sie hatte zu den Besten gehört. Doch nach dem Tod ihres Teams und der Schwester ihres Geliebten, weil diese den geheimen Ort des Arsenals nicht preisgegeben hatte, war ihr Kampfeswille erloschen. Erst seit Kurzem war sie wieder mit ihrem Sigil vereint und saß auf dem Thron in der Weißen Krypta.
»Könnte einer der Unsterblichen selbst die Lösung kennen?«, überlegte Chloe laut.
»Dann gäbe es keine Diskussionen darüber«, sagte Alex. »Und mal ehrlich, die Zitadelle wäre ja dämlich, wenn sie eine solche Bindung vollführt und den Unsterblichen gleich mit auf den Weg gibt, wie der Zauber wieder gelöst werden kann.«
»Womit genau genommen nur ein Ort bleibt, an dem wir erfahren können, auf welche Weise diese Bindung tatsächlich erfolgt ist.« Jen setzte sich neben ihn auf die Zinnen. »Die Zitadelle.«
Sie wechselten Blicke.
»Ich wüsste nicht einmal, wie wir dorthin gelangen könnten, ohne den Eingang auf Antarktika zu benutzen«, sagte Chloe. »Aber hat Max nicht sowieso gesagt, dass die Tore zur Zitadelle sich geschlossen haben? Wir sind auf uns allein gestellt.«
Einer seiner dramatischeren Auftritte. Kurz nach dem Tod kehrte er zurück, war ein Unsterblicher, und obendrein verkündete er den Verschlusszustand der Zitadelle.
»Das Wissen kann nicht allein nur in der Zitadelle zu finden sein«, sagte Kyra plötzlich.
»Gibt es da etwas, was du mit der Klasse teilen willst?«, fragte Alex.
»Du bekommst gleich die Rute, das war früher doch auch gängig, oder?« Jen lächelte gemein.
Alex zwinkerte ihr anzüglich zu. »Aber auf den nackten Hintern.«
»Kent!«, blaffte sie.
»Es ist schön, euch beide wieder in alter Form zu haben.« Chloe räusperte sich. »Aber ich würde wirklich gerne wissen, wen es denn da noch so gibt?«
Kyra, die dem Schlagabtausch fasziniert gefolgt war, nickte eifrig. »Die Bindung ist entstanden, als der Wall erschaffen wurde. Dieser wurde dann ja erst mit den Unsterblichen verwoben. Und der Zauber dafür stammte letztlich – wenn man zum Ursprung aller Intrigen zurückgeht – von Merlin selbst. Er hat die Erschaffung gewollt.«
»Dreh ruhig das Messer in der Wunde um«, kommentierte Alex.
»Den Zauber für die Bindung des Walls muss er aber irgendwann entwickelt haben«, sagte Kyra. »Oder nicht?«
Stille.
Gleichzeitig riefen Chloe, Alex und Jen: »Morgana.«
Sie hatte ihn gekannt.
Eine Affäre mit ihm gehabt.
Praktisch, dass die Unsterbliche sich hier auf Talanis befand. Zusammen mit der Bibliothek von Camelot.
Sie nutzten den Sprungkreis in der Eingangshalle, um auf direktem Weg in die Katakomben zu gelangen. Diese waren zu einem großen Teil vom Eis befreit worden. Überall schwebten Leuchtsphären, es gab Schutzzauber, Magier patrouillierten.
Einzig Morganas Barriere hielt den Anbeginn davon ab, hierher nach Talanis durchzudringen. Hier unten befanden sich außerdem die Weiße Krypta, die Bibliothek von Camelot und weitere Räume, deren Zwecke noch nicht ergründet waren.
Sie fanden Morgana in der alten Bibliothek. Es gab keinerlei Mentigloben, alles war voller Schriften, Pergamenten und Papyri. Es waren Texte, die von Magiern am Hofe geschrieben worden waren, aber auch Hinterlassenschaften, die Archäomagier gefunden hatten.
Morgana hatte sich seit ihrer Ankunft aus dem Splitterreich gewandelt. Bei ihrem Eintreten sah sie von den Schriften auf, in denen sie gerade las. »Ah, wenn das nicht meine Lieblingsgruppe ist. Zumindest ein Teil davon. Kommt nur herein.«
Sie war beschwingter, jetzt, wo ihr ein Teil der Verantwortung abgenommen worden war. Die Oberaufsicht über die von ihr beschützten Sigile oblag jetzt der Zuflucht. Es war eine gegenseitige Balance. Die Kinder erhielten einen Ort, an dem sie geschützt waren, gleichzeitig boten sie im Notfall eine immense Machtquelle.
»Ich habe gehört, du warst unterwegs.« Chloe zwinkerte Morgana zu.
Alex hatte keine Ahnung, worum es ging.
»Es war herrlich.« Sie seufzte und sank zurück in den Ohrensessel.
Die Bibliothek war mit Lesetisch, Sesseln und deckenhohen Regalen ein gemütlicher Ort. Im Kamin brannte ein Feuer.
»Am Anfang musste ich mich ja an das gewöhnen, was ihr so Musik nennt. Allein der Name: Techno.«
»Das ist keine Musik«, stellte Alex klar, was ihm einen mordlüsternen Blick von Chloe einbrachte. »Also nicht so ganz. Nur für einige von uns.«
»Ich liebe es.« Morgana hob ihre Arme in die Höhe und wiegte ihren Körper in lautlosem Geschepper (anders konnte Alex es nicht bezeichnen). »In meinem Splitterreich hat sich ja nie etwas verändert. Wir waren vor Merlin geschützt, aber es war eben immer das Gleiche: London. Ich konnte Scones und clotted Creme irgendwann nicht mehr sehen.«
Über eine magische Apparatur unter Paris war das Splitterreich von Morgana mit der Welt verbunden gewesen. Gleichzeitig hatte der Wall dort keine Wirkung gehabt. Erst später hatten sie begriffen, dass dies eine Sicherung vor Merlin war, der es nicht wagte, Morgana anzugreifen. Sie war ihm magisch ebenbürtig, durch die ganzen Sigile in ihrer Obhut übertraf sie seine Macht allerdings bei Weitem. Sie war die Bewahrerin der Bibliothek von Camelot, der Sigile und der Wahrheit um die damaligen Ereignisse am Königshof von Artus.
»Wir brauchen deinen Rat«, sagte Alex.
Morgana wurde wieder ernst. Sie ließ ihre Arme sinken und versuchte, möglichst erhaben dreinzuschauen. Da sie mittlerweile moderne Jeans, eine Bluse und Boots trug, ihr Haar außerdem zu einem Pferdeschwanz gebunden war, wirkte sie aber eher wie eine Frau der heutigen Zeit. Ganz ohne staubiges Mysterium.
Sie setzten sich nebeneinander auf die Couch. Das Feuer warf zuckende Schatten in den Raum und schuf gleichzeitig eine behagliche Atmosphäre. Was gab es Besseres als Kaminfeuer und Bücher? Es fehlten nur die Kekse.
»Es geht um Merlin«, begann Chloe.
»Verflucht sei sein Name.« Morgana bedeutete ihr mit einem Lächeln weiterzusprechen.
»Oder genauer: um den Zauber, der bei der Erschaffung des Walls genutzt wurde«, warf Jen ein.
Ataciaru trottete zum Kamin und ließ sich direkt davor auf den Bauch nieder. Aus wachen Augen beobachtete er sie alle.
»Denn letztlich geht der Wall ja auf Merlin zurück«, ergänzte Alex.
»Verflucht sei sein Name«, kam es erneut von Morgana. »Du hast natürlich recht. Gäbe es den alten Pakt noch, würdest du dich sogar daran erinnern, immerhin warst du damals dabei.« Sie deutete abwechselnd auf Alex und Jen. »Ihr beide. Doch da diese Wissensquelle versiegt ist, bleibt nicht mehr viel. Mordred wird euch nicht helfen und Merlin – verflucht sei sein Name – schon dreimal nicht.« Morgana lehnte sich im Ohrensessel zurück, ihr Blick wanderte zu den Flammen. »Vergesst nicht, dass ich einst mit ihm das Bett geteilt habe. Zu diesem Zeitpunkt stand er noch auf unserer Seite. Erst später, nachdem ihm die Unsterblichkeit verwehrt worden und er von der Herrin vom See zurückgekehrt war, streckte der Anbeginn seine Klauen nach ihm aus. Mit Erfolg. Doch den Zauber der Bindung, den kannte auch der Anbeginn nicht. Sie wussten, dass der erste Wall über eine Bindung mit der Zitadelle verknüpft war. Aber die Struktur blieb ihren Sinnen verwehrt. So konnten sie niemals einen Gegenzauber weben.«
Was in Alex’ Augen Sinn ergab und von Weitsicht zeugte. Bis heute hatte der erste Wall Bestand. Der zweite leider auch. »Aber wie kam Merlin dann daran? Oder ist es nicht derselbe Zauber?«
Morgana hob beide Hände in einer Geste der Ratlosigkeit. »Er zog sich immer öfter in seine Räumlichkeiten zurück. Selbst Artus wird euch nicht sagen können, was Merlin – verflucht sei sein Name – damals getrieben hat. Während Artus nicht alterte, musste Merlin sich stets in Bernstein begeben, um nicht zu verfallen.«
Sie hatten sich nie gefragt, was Merlin in all der Zeit getan hatte. Natürlich waren da die Grundlagen für seine spätere Herrschaft, der Stab von Maginus und all das. Doch sein Wirken durch die Jahrhunderte war nie vollständig geklärt worden. Wie auch?
»Er hat nach dem Zauber gesucht«, schloss Alex.
»Das muss er getan haben. Der Onyxquader enthielt eindeutig Material vom Anbeginn – allerdings verborgen, sonst hätten die Magier ihn niemals genutzt. Aber das reicht nicht für eine Bindung, da der Anbeginn den Zauber dafür eben nicht kannte. Merlin muss recherchiert, gesucht und geborgen haben. Irgendwie gelangte er an das Geheimnis.« Morgana suchte nacheinander ihre Blicke. »Ich nehme an, ihr wollt die Bindung lösen.«
»Bleibt uns eine andere Wahl?«, fragte Kyra.
»Wohl nicht«, erwiderte sie. »Die einzige Alternative wäre es, wenn alle Unsterblichen ihre Wacht beenden. Freiwillig. Das würde mich allerdings mit einschließen, daher wäre ich euch verbunden, wenn ihr eine alternative Lösung findet.«
Alex war froh, dass Morgana die zweite Variante nicht laut aussprach. Schon einmal hatte es eine Strömung gegen die Unsterblichen gegeben. Es mochte durchaus ein paar Idioten geben, die die schnelle Antwort für das komplexe Problem einer nachhaltigen Lösung vorzogen. Auch Unsterbliche konnten durch Gewalteinwirkung ein Ende finden.
»Die Lösung mag hier irgendwo in den Schriften verzeichnet sein.« Morgana deutete auf die Papiere. »Aber es wird nicht leicht, sie aufzuspüren.«
Alex betrachtete die Werke und konnte ein Seufzen nicht unterdrücken. »Dann fangen wir am besten gleich an.«
Chris
Die Wiedersehensfreude war groß.
Suni umarmte Chris und wollte ihn nicht mehr loslassen. Die alte Freundin aus Indien hatte bei Nemo ein neues Zuhause gefunden und stand in ständigem Kontakt mit dem Volk der Aquarianer.
Bevor O’Maley wieder erwachen konnte, wurde er in karge Räumlichkeiten gebracht, das Metallschot schloss sich.
»Ihr habt Glück, dass ihr ihn besiegen konntet«, sagte Nemo. »Wir haben bisher erst drei Zellen belegt.«
Chris wandte den Blick vom Bullauge ab, hinter dem O’Maley langsam wieder zu sich kam, und stattdessen dem Herrn der Unterwasserstadt zu. »Wie ist das möglich? Ihr habt hier die besten Kämpferinnen und Kämpfer.«
Suni presste die Lippen zusammen, offensichtlich verärgert.
Nemo machte eine beruhigende Geste in ihre Richtung. »Lasst uns das nicht hier besprechen.«
Erst als sie das zweite Schott hinter sich brachten, realisierte Chris, weshalb. Sie hatten sich in einer Art Schleuse befunden, die nun mit Wasser geflutet wurde. Die Gefängnisse der Immortalis-Magier waren einzelne kleine Kuppeln, die durch sternförmig abgehende Tunnel mit einem Außenring verbunden waren. Dazwischen gab es nur Wasser. Die Tunnel zogen sich zurück, nachdem sie diese verlassen hatten.
»Auf diese Art können sich die Gefangenen nicht demanifestieren und durch die Wände fliehen.« Nikki klang ebenfalls verblüfft.
Sie schritten über metallenen Boden und erreichten schließlich die gemütlicheren Bereiche der Unterwasserstadt. Nemo führte sie durch eine Schleuse auf die Nautilus; seine wahre Heimat.
Die Bibliothek wirkte noch genau so, wie Chris sie in Erinnerung hatte. Ein flauschiger Teppichboden, Regale bis zur Decke mit einer verschiebbaren Leiter daran. Auf den Lesetischen standen Lämpchen mit grünen Schirmen.
»Nehmt Platz«, forderte Nemo auf.
»Er ist nicht der Einzige, habe ich recht?«, fragte Chris, nachdem er in den Sessel gesunken war. »Im Verlauf des Kampfes hat er es bereits angedeutet.«
»Alle Immortalis-Magier haben die Fähigkeit entwickelt, sich eine Phase neben die Realität zu verschieben«, erklärte Suni. »Etwas von der Substanz des Kerkers muss an ihnen haften geblieben sein. Wir können es uns nicht genau erklären, doch alle Teams melden es zurück. Die Verluste sind auf unserer Seite massiv angestiegen.«
Nemo kam mit Tassen aus feinem Porzellan heran, die er von einem Teeservice genommen hatte. Dazu eine Kanne. Er schenkte ihnen ein, und der Duft nach Zimt erfüllte den Raum. »Ich musste unsere Teams zurückholen. Die Zuflucht wurde informiert, doch mit der Bedrohung durch die andere Zeitlinie verloren die Immortalis-Magier an Bedeutung.«
»Sie wüten unter den Nimags«, sagte Suni erbost. »Im Kerker saßen Mörder, Schänder, Folterer - die schrecklichsten Verbrecher, die die Gesellschaft der Magier hervorgebracht hat. Sie dürfen nicht aus unserem Fokus geraten.«
Vermutlich war genau dass der Grund, weshalb Merlin sie befreit hatte. Er wollte, dass die Verteidiger ihre Kräfte aufteilten. Doch hatte er mit dieser Sonderfähigkeit gerechnet, die von den Immortalis-Magiern entwickelt wurde?
»Deshalb haben wir auch diese Art des Gefängnisses erbaut«, erklärte Suni. »Selbst einen Schritt neben der Realität muss dieser Abschaum atmen. Es gab einen Fluchtversuch, doch der betreffende Magier kehrte ganz schnell wieder um.«
»Wir haben bereits Kontakt zu den Aquarianern aufgenommen, die mit uns an weiteren Lösungen arbeiten wollen. Aber auch diese haben aktuell keine Idee.« Nemo saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in seinem Sessel und nippte an der Tasse.
Äußerlich wirkte der Unsterbliche gelassen, vermutlich waren diese Probleme im Vergleich zu zahlreichen weiteren seines langen Lebens marginal. Andererseits konnte die Brutalität, mit der die Immortalis-Magier vorgingen, ihn kaum kaltlassen.
»Unsere Teams behalten jene weiterhin im Blick, zu denen wir eine Spur gefunden haben. Sie greifen jedoch nicht ein«, erklärte Nemo. »Ein paar der Brutaleren haben ganze Gruppen unserer Leute ausgelöscht. Auf blutige Art.« Seine Wangenmuskeln traten hervor, ein Zeichen dafür, dass er die Angelegenheit eben doch nicht so locker nahm.
»Je länger wir keine Lösung finden, desto mehr Unheil können sie anrichten«, sagte Suni. »Die Nimags sind völlig schutzlos. Dort draußen rennen Serienkiller mit magischen Kräften herum, die Leben nehmen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich stand bereits kurz davor, persönlich in die Zuflucht zu kommen und ein paar der Unsterblichen ordentlich anzuschreien.«
»Sie geben ihr Bestes«, sagte Chris. »Aber letztlich können wir nicht jedes Mal erwarten, dass sie alle Probleme lösen.«
»Dieses hier haben sie angerichtet«, konterte Suni.
»Die Unsterblichen haben einen Ort geschaffen, an dem Gefangene auf humanitäre Art festgehalten wurden.« Chris beugte sich nicht unter ihrem Blick. »Vergiss nicht, was die Schattenkrieger im Gegensatz dazu entwickelt hatten. Stunden wurden dort zu Jahren. Sprich mit Tomoe darüber, sie hat eine Ewigkeit dort festgesessen.«
Die Kriegerin war, innerlich zerrüttet, befreit worden und hatte sich lange Zeit zurückgezogen. In der Frankfurter Holding in Deutschland hatte sie die finanziellen Geschicke der Lichtkämpfer geleitet, bis Merlin seinen Umsturz ausgeführt hatte. Seit jenem Tag war Tomoe wieder Kriegerin. Dass sie den Weg zurückgefunden hatte, bewies ihre Stärke.
»Grundsatzdebatten über die Art des Umgangs mit Mördern können wir ein anderes Mal führen.« Suni stellte ihre Teetasse so laut ab, dass Nemo aufstöhnte.
»Dieses Porzellan entstammt einer Manufaktur, die es seit über einem Jahrhundert nicht mehr gibt«, erklärte er. »Ein wenig Vorsicht, bitte. Ich verstehe deine Wut und Ungeduld, doch keiner von uns kann Lösungen herbeizaubern. Auch Magier haben Grenzen.«
Bedauerlicherweise mehr als eine. Chris war grundsätzlich ganz bei Suni. Jedes Leben war es wert, gerettet zu werden. Da spielte nichts anderes eine Rolle. Leider hatten sie selbst erlebt, dass O’Maley fast unangreifbar war.
»Was wäre, wenn wir Wasser benutzen?«, sagte Chris.
»Das haben wir bereits getan, doch es hat sich herumgesprochen, und seitdem rennen alle mit Spezialartefakten herum, die Wasser sofort zu Dampf werden lassen«, erklärte Nemo. »O’Maley hatte davon wohl nur noch nichts erfahren.«
»Habt ihr eine Lösung?«, fragte Suni. »Wenn es ein Team gibt, das schon so ziemlich alles erlebt und tausend Gefahren gegenübergestanden hat, dann seid ihr das.«
»Nicht immer mit Erfolg«, sagte Chris trocken. »Ich war tot.«
»Und sitzt jetzt wieder hier.«
»Der Punkt geht an sie.« Nikki lächelte ihn an.
Nemo schmunzelte und erhob sich. »Ich lasse euch allein und melde der Zuflucht die Gefangennahme von O’Maley.« Er nickte in die Runde und verließ die Bibliothek.
»Damit liegt es wohl an uns«, sagte Chris.
Leider hatte er keine Ahnung, wie sie die Immortalis-Magier aufhalten sollten.
Hier unten konnte man die Zeit vergessen.
Chris hatte sich im Schneidersitz vor eines der Bullaugen gesetzt, die hier in der Bibliothek vom Boden bis zur Decke reichten. Die Außenscheinwerfer der Nautilus entrissen weite Strecken des Meeresbodens der Dunkelheit.
»Wunderschön, nicht wahr?« Suni sank neben ihm herab.
Sie trug eine Stoffhose, Schnürschuhe und ein ärmelloses Shirt. Es war lange her, dass Alex und Jen ihr erstmals in Indien begegnet waren, um mit ihr die Feuerblut-Träne zu bergen.
»Das ist es.« Chris schenkte ihr ein kurzes Lächeln, bevor er wieder hinausblickte.
»Ich habe um dich getrauert.« Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass auch Suni versonnen in die Dunkelheit hinter dem Licht blickte. »Zu viele sind bereits gestorben. Ich denke, jedem Menschen sollte ein Leben in Frieden und Sicherheit vergönnt sein. Ohne die Angst vor Schüssen, vor Inakzeptanz oder dem Tod.«
»Sag das der Welt dort oben. Gestorben zu sein, verändert die Perspektive. Ich habe von Weitem beobachtet, konnte nachdenken, und irgendwie …«
»… verliert aus der Distanz alles an Bedeutung.« Suni nickte verstehend. »Du könntest Wochen hier unten verbringen und die Welt käme dir in Ordnung vor. Doch dann gehst du hinauf in eines der Länder, die sich im Krieg befinden, und realisierst, dass es nur eine Illusion war. Wir sind selbst Gejagte. Merlin, der Anbeginn – die Welt der Magie hat ihre Ordnung verloren.«
»In den Jahren meines Heranwachsens haben mir meine Eltern immer wieder von Mentigloben erzählt, in denen sie gesehen haben, was in der Zeit vor dem Wall geschehen ist. Ich habe nie geglaubt, dass unsere Ordnung zerbrechen könnte. Alles wirkte so fest, so unerschütterlich. Aber wie man sieht, reicht ein Mann aus, der sich die Schwäche zunutze macht.«
»Ein Grund mehr, dass wir niemals aufgeben und uns um jene kümmern, die nicht für sich selbst einstehen können«, sagte Suni.
Chris drehte sich im Schneidersitz so, dass er ihr zugewandt war. Er hatte längst bemerkt, dass Nikki nicht mehr las. Sie lauschte ihnen.
»Du musst mich nicht überzeugen, Suni«, sagte er. »Ich will nicht, dass irgendwer seine Eltern verliert, seine Geschwister. Aber wir haben noch keine Lösung, keinen Ansatz.« Er deutete auf die Bücher. »Nemo hat alles Mögliche zusammengetragen in seiner Zeit auf Reisen. Doch der Immortalis-Kerker wurde von … Ich weiß nicht mal, welche Zusammensetzung der Rat bei der Schaffung hatte.«
Die Vergangenheit der magischen Welt war dank Mentigloben in all ihren Facetten erhalten geblieben. Bis diese durch die endgültige Erschaffung des Walls ihre Magie und schließlich die gespeicherten Erinnerungen abgegeben hatten. Wissen, das zuvor nicht niedergeschrieben oder mündlich weitergegeben worden war, existierte nicht mehr.
»Wir könnten eine Zeitreise …«, begann Suni.