Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin: Der verschollene Mentiglobus - Andreas Suchanek - E-Book

Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin: Der verschollene Mentiglobus E-Book

Andreas Suchanek

4,5

Beschreibung

Neu! Das Spin-Off zur Erfolgsserie. Die Brücke zwischen Staffel 1 und Staffel 2. In den Ruinen von Iria Kon wird ein Mentiglobus entdeckt. Er wurde von Johanna und Leonardo befüllt, doch die beiden haben ihn nie zuvor gesehen. Beide begeben sich auf die Reise in ihre eigene Geschichte, um die Wahrheit zu ergründen. Doch was sie erwartet, treibt sie bis an die Grenzen ... ... und darüber hinaus. Lesereihenfolge: Das Erbe der Macht: E-Books 1-12 Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin Das Erbe der Macht: E-Books 13-24 Das Erbe der Macht ... ... Platz 3 als Buchliebling 2016 bei "Was liest du?"! ... Silber- und Bronze-Gewinner beim Lovelybooks Lesepreis 2017! ... Nominiert für den Skoutz-Award 2017! ... Nominiert für den Deutschen Phantastrik Preis 2017 in "Beste Serie"! Das Erbe der Macht erscheint monatlich als E-Book und alle drei Monate als Hardcover-Sammelband.

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Table of Contents

Die Chronik der Archivarin

Was bisher geschah

Prolog

Der Mentiglobus

1. Das leere Büro

2. Eine klare Ansage

3. Der Neuankömmling

4. In den Trümmern

5. Einer flog über Iria Kon

6. Tödliche Erinnerungen

7. Ein ganz und gar seltsames Artefakt

8. Der Palazzo der Erinnerung

9. Letzte Anweisungen

Wiedergeburt

10. Das etwas andere Jenseits

11. Ein schlagkräftiges Hallo

12. Der Rat der Unsterblichen

13. Ihr Einsatz, Madame Orleans

14. Jede Wacht endet

15. Das neue Leben

16. Die Heilige und der Gelehrte

17. Ein Machtwort

18. Willkommen in den Kolonien

19. Die Blutsteine

20. Das Fort am Ende der Welt

21. Die Gezeichnete

22. Die wispernden Steine

23. Der Hort des Bösen

24. Mein Reich

25. Im Licht des Knochenthrons

26. Die Kinder des Nagi Tanka

27. Ein Siegel für die Ewigkeit

28. Eine verwandte Seele

Falsche Erinnerungen

29. Die glücklichen Jahre

30. Wo ist Piero?

31. Die Lebenslinien vereint

32. Über den Wolken und unter der Stadt

33. Die Schlacht unter Paris

34. Eine Ödnis zwischen den Welten

35. Sein Blut klebt an meinen Händen

36. Der Tod in all seiner Pracht

37. Abschied

Vereintes Blut ist Macht

38. Die Idylle

39. Der Große Geist

40. Dunkle Stunden

41. Die Jagd beginnt

42. Die neue Welt

43. Ein Geist, ein Leib, eine Seele

44. Die Macht des Nagi Tanka

45. Kriegsrat

46. Die letzte Nacht

47. Alles oder nichts

48. Die Schlacht um New York

49. Das Opfer

50. Die andere Seite

51. Vergessen

52. Eine Ruhestätte für den König

Schatten am Horizont

53. Die Zukunft (Johanna)

54. Die Vergangenheit (Leonardo)

55. Whiskey, Wein und Chaos

Epilog

Vorschau

Seriennews

Glossar

Neue Personen

Zauber

Orte

Impressum

Das Erbe der Macht

Die Chronik der Archivarin

»Der verschollene Mentiglobus«

von Andreas Suchanek

 

 

Was bisher geschah

 

Das Rad des Schicksals dreht sich weiter.

Als Archivarin obliegt es mir, Wissen zu erhalten, das sonst im Strom der Zeit vergehen würde. Ich bin keine Seherin, blicke nicht nach vorne in die Schatten des Kommenden, sondern zurück – auf das, was war. Es gilt, Lehren zu ziehen und niemals zu vergessen.

Ein schweres Jahr liegt hinter den Lichtkämpfern. Es begann mit der Erweckung von Alexander Kent, der so viel mehr ist, als jeder in ihm gesehen hat. An der Seite von Jennifer Danvers bestritt er im Namen der Unsterblichen zahlreiche Schlachten. Doch allen Versuchen zum Trotz obsiegte die Schattenfrau und es kam zum Kampf auf Iria Kon. Leben endeten und wurden gerettet. Alte Gefährten opferten sich, andere wurden aus dem Spiel genommen.

Es kam zum finalen Kampf, der durch ein letztes großes Opfer gewonnen werden konnte. Die Schattenfrau fiel und das Licht obsiegte. Doch der Preis war hoch. Nicht nur für die Lichtkämpfer.

Denn Johanna von Orleans musste handeln und versiegelte die Erinnerungen von Alexander Kent.

Gleichwohl kann ich spüren, dass dies den Sturm nur verzögern wird. Krallen schaben über den Stein eines uralten Gefängnisses. Böse Kräfte erwachen, geboren aus dem Pesthauch des Todes. Vergessenes kehrt zurück.

Ich beginne zu begreifen.

Was war, wird wieder sein. Was ist, wird nie mehr sein.

 

Aus der Chronik der Archivarin

Prolog

 

Die eine Seite der Münze …

Die Kerze flackerte im Hauch des hereinziehenden Windes. Eine Gänsehaut überzog seine Arme, ihn fröstelte. Trotzdem erhob er sich nicht, um das Fenster zu verriegeln. Der Schmerz in seinen Gelenken verhinderte es. Der Wind trug den Geruch von Essen herein. Saftiges Fleisch, frische Beeren, Wein. Lachen drang an sein Ohr.

Obgleich es längst nach Mitternacht war, feierten sie noch immer. Die Kraft der Jugend, ungebändigt und roh. Glatte Haut, hübsche Gesichter, Muskelkraft – wie er dies alles vermisste.

Leonardo lachte leise und strich mit zittrigen, von Gicht gekrümmten Fingern durch seinen Bart. Ja, er war alt. Sein Körper versagte ihm den Dienst, obgleich sein Geist noch so viel mehr erreichen wollte.

Er war mit einem langen Leben gesegnet gewesen, hatte es in den Dienst von Kunst und Wissenschaft gestellt. Manch eine seiner Apparaturen wurde von Magiern noch heute benutzt. Gerade gestern hatte er eines der hölzernen Flügelgestelle auf dem Rücken eines Mannes betrachtet. Die in den Bernsteinintarsien gespeicherte Magie neutralisierte die Schwerkraft.

Magie und Wissenschaft gingen Hand in Hand.

Er liebte es.

Und obschon er selbst kein Magier war, so hatte er doch stets nach seinem inneren Feuer gehandelt. Aus leeren Leinwänden war manifestierte Fantasie geworden. Grober Stein erhielt Rillen, Vertiefungen und verwandelte sich unter seinem Meißel in Skulpturen, die ihresgleichen suchten.

Sie nannten ihn einen ›Universalgelehrten‹, weil er von Wissenszweig zu Wissenszweig sprang wie über die Steine in einem See. Doch wo war das Ziel? Das fragten sich alle.

Leonardo lachte erneut, hustete und hielt sich schnell ein Tuch vor den Mund. Kein Blut. Trotzdem fiel ihm das Atmen schwer.

Sie suchten nach dem Ziel seines Lebens, erhöhten ihn zu einem Genie. Doch alles, was er je getan hatte, war, nach seinem inneren Feuer zu leben. Die Ergebnisse hatte er geteilt, vielleicht war das der Unterschied. Das Feuer hatte ihn dazu getrieben, die Welt zu verändern: Durch die Kunst mit Schönheit und durch sein Wissen mit Erfindungen. Er mochte bald gehen, doch sein Erbe würde überdauern. Was die Nimags wohl daraus machen würden? Und die Magier?

Er schüttelte den Kopf.

Die Menschen!

Denn das waren sie alle. Egal, mit welcher Macht sie ausgestattet waren: Sie handelten doch alle gleich. Die Könige und Kaiser, die Bauernjungen und Händler. Kampfmagier, Heilmagier und welche es sonst noch gab.

Leonardo bedauerte nichts.

Er hatte Fehler begangen in seinem Leben, doch niemals aus böser Absicht. Nur eines bereute er: Erst in den letzten Jahren seines Lebens hatte er damit begonnen, sich für jene zu interessieren, die im Verborgenen lebten. Magische Kreaturen. Angeblich gab es sogar Drachen.

Wie gerne hätte er einen von ihnen gesehen.

Doch er konnte spüren, dass die letzten Sandkörner zu Boden rieselten. Wieder kam ein Windhauch auf, wurde stärker.

Leonardo betrachtete das Pergament, das vor ihm auf dem Tisch lag. Seine letzten Worte für die Nachwelt.

Ich gehe ohne Reue. In dem Wissen, wahrhaft gelebt zu haben.

Die Schwäche übermannte ihn.

Seine Muskeln erschlafften.

Aus dem Wind wurde ein sanftes Wispern. Und war da ein Licht? Lächelnd ließ er los und ergab sich der Stimme.

 

… die andere Seite

Kälte. Sie kroch in Haut und Knochen, ließ sie zittern und schluchzen. Nein! Sie wischte die Nässe fort. Das war es, was sie wollten.

Johanna würde sterben, doch ihren Stolz würden sie nicht brechen.

Zu dritt waren sie hereingestürmt, hatten ihr das Kleid vom Leib gerissen und ihr eine Hose hingeworfen. Gierige Blicke waren über ihren Körper gekrochen, hatten sie gemartert. Sie musste die Hose anziehen, andernfalls hätten die drei ihr mit stinkendem Atem und brutalen Stößen ihre Tugend geraubt. Doch damit hatte Johanna ihr Schicksal besiegelt.

Frauen durften keine Männerkleidung tragen.

Vorbei.

Sie hatte auf die innere Stimme gelauscht, war ihrem Feuer gefolgt. Ihr Glaube, im Namen Gottes zu handeln, hatte sie angetrieben. Doch Verrat hatte ihr alles genommen. So war sie in den Händen der Engländer gelandet. Und um den einzig wahren König zu Fall zu bringen, mussten sie zuerst sie ins Feuer werfen.

Sie war nie eine Soldatin gewesen. All jene armen Burschen, die sie mit dem Schwert erschlagen hat, sind einer Mörderin zum Opfer gefallen.

Die Stimme ihres Anklägers hallte aus der Erinnerung an Johannas Ohr. Sie hatte auf dem Schlachtfeld gestritten und sollte nun eine Mörderin sein? Sie verdrehten die Wahrheit, wie es ihnen beliebte.

Sie lachte bitter auf.

Doch das Todesurteil würde nun durch diese Hose besiegelt werden. Es war lächerlich. Ein Kleidungsstück zeichnete sie als Unbelehrbare aus, als Ketzerin.

Schritte erklangen, Ketten klirrten.

Ihre Mörder kamen, um sie zu holen.

Zwei Wachen. Ein Nimag, ein Magier. Lancaster hatte vorgesorgt. Beim letzten Mal hatte sie zu fliehen versucht. Eine kleine Tätowierung, die mit Bernsteinpulver eingestochen war, hatte es ihr ermöglicht, zwei Schlösser zu öffnen. Doch die Wachen hatten sie zurückgeschleift.

Kein Zauber konnte sie mehr retten, kein Fluchtversuch, kein Kampf.

Im Hof grölte der Mob.

Die grob behauenen Steine glitten an ihr vorbei wie in einem Fiebertraum. Ihre nackten Fußsohlen patschten in Pfützen aus kalter Nässe, der Geruch von Exkrementen hing in der Luft. In den anderen Zellen wimmerten die Gefangenen bei ihrem Anblick, wurden an das Schicksal erinnert, das auch ihnen drohte.

Ein Stoß ließ sie taumeln, doch nicht fallen.

Der Pöbel grölte, als Johanna durch ihre Reihen schritt. Es gab keine Schutzsphäre, Obst und Gemüse trafen sie mit voller Wucht. Natürlich hatte Lancaster jene herbeigerufen, deren Väter und Ehemänner Johanna auf dem Schlachtfeld zu Fall gebracht hatte. Der Hass und die Gier nach Rache loderten in ihren Augen.

Angst schlug ihre Krallen tief in Johannas Herz, brachte sie erneut zum Taumeln. Höhnisches Gelächter folgte. Der Pöbel wollte sie brennen sehen.

Hatte sie etwas falsch gemacht?

War es tatsächlich so, wie alle sagten? Hatte der Teufel das innere Feuer geschickt und die Visionen kamen nicht von Gott? Mit jedem Schritt in Richtung Scheiterhaufen wuchsen Furcht und Zweifel in ihr.

Neunzehn Sommer hatte sie gesehen. Genug für ein Leben? Wohl kaum!

Krieg und Tod und Trauer waren ein Teil ihres Weges gewesen. Ja, sie liebte das Kämpfen für ein höheres Ziel. Doch wie konnte man auf dem Scheiterhaufen landen, wenn man das Richtige tat?

Weil böse Menschen dich für ihre Zwecke missbrauchen, gab sie sich selbst die Antwort.

Politik.

Niemand interessierte sich dafür, ob wirklich der rechtmäßige Mann auf dem Thron saß. Die Magier ließen sich von jedem Fürsten anheuern, dessen Schatzkisten voll waren.

Hände stießen sie grob die Leiter empor. Schnüre schnitten in ihr Fleisch, die Flammen der Fackeln kamen näher.

Feuer.

Rein wie die Essenz eines Magiers und doch zerstörerisch, wenn von Menschenhand geführt.

Johannas Körper zitterte, sie konnte es nicht verhindern. War das nicht der Augenblick, an dem ihr bisheriges Leben an ihr vorbeiziehen sollte? Doch nichts geschah. Sie spürte nur Angst.

Schon brannten die ersten Holzscheite.

In Kürze würde sie es wissen.

Das Himmelreich oder die Hölle, eines von beiden erwartete sie.

Johanna blickte empor.

Unter ihr nahm die Hitze zu. Die Flammen schienen zu flüstern, sie wisperten Worte in einer fremden Sprache, die sie nicht verstand.

So also endete alles.

Was blieb, war ein Vermächtnis der Schande.

Ihr Leben, als Opfer auf dem Altar machtgieriger Männer. All jene, die ihr einst zugejubelt hatten, atmeten erleichtert auf. Sie war fort.

Die Flammen leckten über ihre Haut.

Schmerz!

Johanna schrie. Innerlich flehte sie um Gnade. Sie gab ihr Leben im Zeichen Gottes, doch dieser Schmerz …

Ihr logisches Denken verging in den Flammen. Da war nur noch Qual. Eine grausame, klare Empfindung ohne Erinnerung, ohne Wissen. Sie wurde zur reinsten Form eines Gefühls.

Dann ebbte es ab.

Einfach so.

Die Flammen züngelten noch immer, die Menschen grölten. Es roch nach verbranntem Fleisch, Haut verkohlte und platzte auf. Ihr Haar hatte längst Feuer gefangen.

Doch obgleich sie noch nicht tot war, spürte sie keinen Schmerz mehr. Die Flammen sangen. Es war ein Lied, so wunderschön, dass sie geweint hätte, wäre es ihr möglich gewesen. Doch ihre Augen waren längst ausgetrocknet.

Sie ergab sich dem Lied.

Und schritt ins Licht.

 

 

 

 

 

 

Laßt vergehn, was vergeht!

Es vergeht, um wiederzukehren,

es altert, um sich zu verjüngen,

es trennt sich, um sich inniger zu vereinigen,

es stirbt, um lebendiger zu werden.

Kreise vollenden.

 

Friedrich Hölderlin (1770 – 1843)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

I

 

Der Mentiglobus

1. Das leere Büro

 

Gegenwart

 

Vor ihren Augen verschwand ein Steinsockel, auf dem eine Glühbirne montiert war.

»Es tut weh«, sagte Leonardo leise.

Johanna nickte. »Wir haben schon so viele gehen sehen.« Ihre Worte waren nicht mehr als ein Flüstern. »Aber es wird nie einfacher.«

Viel war nicht mehr übrig von Thomas‘ Büro. Nachdem er sich geopfert hatte, um einen Lichtkämpfer vom Tod zurückzuholen, würde nun alles verschwinden, was ihn ausgemacht hatte. Der Globus war bereits fort, ebenso der Schreibtisch und die Gemälde. Bald wäre all das nur noch ein leerer Raum, der sich selbst verschloss. Irgendwann würde das Siegel fallen und zusammen mit einer neuen Einrichtung würde ein frisch ernannter Unsterblicher sie erwarten.

»Was meinst du, wen bekommen wir als Verstärkung?« Leonardo hatte die Hände in die Taschen geschoben.

Seine Augen wirkten müde. Er hatte viel durchgemacht. Die Brustmuskeln spannten sich unter dem schwarzen Shirt, die Jeans saß eng. Sein Essenzstab hing in einem Gürteletui – glatte Oberfläche, dunkles Holz, Bernsteinintarsien. Der Dreitagebart war frisch gestutzt worden. Trotz all der Männlichkeit und Stärke sah sie in seinen Augen noch immer den stets zu Scherzen aufgelegten Kindskopf. Viel davon war nicht geblieben.

»Wenn wir die bisherige Wahl der Zitadelle bedenken, dann wird es wohl wieder ein auf Kampfkunst spezialisierter Magier.«

Leonardo lachte auf. »William mag ja schon zeit seines Lebens als Nimag ein Krieger gewesen sein, aber der berühmte Thomas Alva Edison war das nicht.«

»Die Veranlagung trug er wohl in sich«, konterte Johanna.

»Aber niemand wusste davon. Insofern könnten wir überrascht werden.«

»Du darfst gerne die Geschichtsbücher wälzen.«

Leonardo rieb sich müde über die Augen. »Dafür habe ich keine Zeit. Da Albert ja erst einmal außen vor und Thomas fort ist, gibt es zu viel zu tun.«

Der Kampf gegen die Schattenfrau lag nur wenige Tage zurück und das Wort ›Chaos‹ traf den aktuellen Zustand exakt. Überall auf der Welt gab es Neuerweckte, doch der Onyxquader zeigte sie nur verschwommen. Gleichzeitig war das Portalnetzwerk instabil. Teile davon waren noch immer versiegelt, weshalb die Teams auf altmodische Art ans jeweilige Ziel gelangen mussten. Kontaktsteine besaß nur die Gruppe von Jennifer Danvers, da die Schattenfrau alle anderen zerstört hatte. Gleichzeitig nahm die erdrückende Präsenz des Walls immer weiter zu und dämpfte die Kraft der Sigile und der Essenzen.

»Immerhin konnte Tilda unsere Vorräte wieder auffüllen«, kam es von Leonardo, der sich bemühte, das Positive herauszustreichen.

»Dafür hat sie auch mehr Leute zu versorgen«, grummelte Johanna.

Die Schattenfrau hatte zahlreiche Häuser der Lichtkämpfer zerstört. Andere waren ohne das Portalnetzwerk nicht mehr zugänglich, zum Beispiel das geheime Trainingslager auf der Zugspitze. Das Castillo platzte aus allen Nähten und dank des Walls kollabierten die ersten Dimensionsfalten, wodurch zahlreiche Räume wieder ihre tatsächliche Größe besaßen.

Leonardo ging zum Fenster, auf dessen Bank er seinen heiß geliebten Energydrink abgestellt hatte. Tilda hatte ihn gebraut und ihm den klangvollen Namen ›Essenzfeuer‹ verliehen. Nach etlichen Zwischenfällen mit explodierenden Essenzflammen konnte man das Gebräu jetzt tatsächlich trinken; vorausgesetzt, man mochte den Geschmack toter Gummibärchen. Ein weiterer Nebeneffekt war, dass die Augen des Trinkenden einige Sekunden lang in der Farbe seiner Essenz aufleuchteten.

Kobaltblaue Augen schauten nun Johanna an, ein breites Grinsen lag auf Leonardos Gesicht. »Cool, oder?«

Sie seufzte. »Ja, total. Mach das bitte nicht, wenn Neuerweckte in der Nähe sind. Die stürzen sich darauf. Und am Ende haben wir lauter hibbelige Neumagier, die Unfug anstellen und mit leuchtenden Augen herumrennen.«

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du viel zu ernst bist?«

»Das nennt man Verantwortung.«

»Zu viel davon ist nicht gesund.«

»Wenn du auf dem Scheiterhaufen verbrannt wärst, …«

»Nein, nein, nein«, stoppte Leonardo ihren Redefluss. »Nicht die Scheiterhaufen-Nummer. Das ist dein Totschlagargument, entschuldige die Wortwahl. Aber das gilt nicht. Ich habe es mir nicht ausgesucht, dass ich friedlich an hohem Alter gestorben bin. Davon abgesehen hatte ich dafür einen qualvoll langen Lebensabend mit Rheuma und Gicht und ausfallenden Zähnen.«

»Ich hatte nur neunzehn Jahre.

»Ich hatte viel zu viele.«

»Du warst ein Mann in einer männerdominierten Zeit.«

»Du warst schon immer hübsch«, sagte Leonardo süffisant.

»Ich starb als Jungfrau.«

»Ooooookay, du gewinnst.« Er streckte die Waffen. »Aber das ist das zweite Totschlagargument. Beim nächsten Mal gilt es auch nicht mehr.«

Johanna seufzte herzerweichend. »Jungfrau und Feuertod.« Sie zwinkerte ihm zu. »Dafür darfst du mich heute Abend zum Essen einladen.«

»Mit Kerzenschein?« Er setzte sein Herzensbrecher-ich-bestehe-aus-reinem-Charme-Lächeln ein.

»Von mir aus. Solange du mich damit nicht anzündest.«

»Das Einzige, womit ich dich entflamme, ist meine …«

»Urgh. Jetzt hätte ich mich beinahe übergeben.«

Sie lachten beide.

Die Zeit, in der sie Kampfgefährten und Liebhaber gewesen waren, lag lange zurück. Sehr lange. Ebenso die Zeit als Familie. Sie schluckte den Kloß hinunter, der sich erneut zu bilden begann.

»Du musst mit Jen reden«, sagte Leonardo aus dem Hintergrund.

Johanna ging auf den Stuhl zu, um sich zu setzen. Doch kurz bevor sie ihn erreichte, lösten sich Holz und Metall auf. Frustriert hielt sie inne. »Was soll ich ihr denn sagen? Tut mir leid, dass ich die Erinnerungen von Alexander Kent gelöscht habe, aber es war notwendig, um uns alle vor einer Katastrophe zu bewahren und außerdem sein Leben zu schützen?«

Leonardo dachte kurz darüber nach. »Zum Beispiel. Nach allem, was war, bin ich mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, es geheim zu halten.«

»Nicht einmal die anderen Ratsmitglieder wissen Bescheid«, gab Johanna zurück. »Ich habe ihnen erklärt, dass ein Fluch dafür verantwortlich ist und wir beide uns darum kümmern.«

Leonardo stöhnte auf. »Das macht es vermutlich noch schlimmer. Was für ein Schlamassel.«

Er trank den letzten Schluck des Essenzfeuers. »Hoffentlich bekomme ich von Tilda Nachschub. Momentan schluchzt sie ständig und jammert, weil sie sich Sorgen um Albert macht. Ob er dort, wo er ist, auch genug zu essen bekommt. Und zwischen ihr und Ataciaru …« Er winkte ab. »Vielleicht sollten wir einfach hierbleiben und darauf warten, dass sich das Büro mit uns darin versiegelt.«

»Ein verlockender Gedanke«, fand Johanna.

Die Tür wurde aufgerissen, knallte gegen die Wand und zerschlug jede Hoffnung auf Ruhe und Frieden.

Jennifer Danvers wirkte wie ein gestaltgewordener Rachezauber, als sie den Raum betrat.

2. Eine klare Ansage

 

Jennifer Danvers war eine ausgezeichnete Lichtkämpferin. In früheren Zeiten hatte sie allzu oft leichtsinnig agiert, doch das hatte sich geändert. Mittlerweile war sie eine Anführerin, die wohlüberlegt handelte und der ihr Team über alles ging. Zu Beginn hatte es den Anschein erweckt, als hätten Alexander Kent und sie sich nicht ausstehen können. Johanna hatte die Funken jedoch erkannt. Unter der brodelnden Oberfläche mochten die beiden sich, die verbalen Schlagabtäusche machten das mehr als deutlich.

An jenem Abend, als Johanna nach London gegangen war, um den Geist von Alexander Kent zu versiegeln und ihm damit jede Erinnerung an seine magischen Fähigkeiten und die übernatürliche Welt zu nehmen, hatte Johannas Seele aufgeschrien. Doch es war notwendig. Zu seinem Wohl. Und dem Wohl aller.

Bedauerlicherweise sah Jen das ein wenig anders.

»Ihr habt sein Gedächtnis gelöscht!«, brüllte sie. »Ich dachte, er versetzt mich oder kümmert sich um seine Mum, aber die scheint gar nicht mehr zu wissen, dass er existiert!«

Vor dem Fenster flog ein Vogel hektisch in die Höhe, um Abstand zwischen sich und den Klang des Weltuntergangs zu bringen.

»Jen«, sagte Johanna ruhig. »Es war notwendig, dass ich das getan habe. Es ging nicht anders.«

Gefährlich langsam kam die junge Lichtkämpferin näher, den Zeigefinger ausgestreckt wie einen Essenzstab, aus dem jeden Augenblick ein Kraftschlag zischen konnte. »Alex hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um uns zu retten. Er musste gegen seinen eigenen Bruder kämpfen, verdammt noch mal! Gerade jetzt brauchen wir ihn dringender denn je! Und du löschst sein Gedächtnis?! Warum?«

Das war der komplizierte Teil. Johanna wappnete sich innerlich. »Das kann ich dir leider nicht sagen.«

Jen schien zu brodeln. Leonardo verlagerte sein Gewicht ein wenig, um notfalls in Deckung springen zu können. Mittlerweile wussten alle um Jens enorme magische Kraft, die vor allem in Momenten der Wut hervorbrach. Das machte es noch schlimmer.

Sie ahnt nicht einmal, dass sie ebenfalls ein Teil von allem ist. Die Kriegerin. »Manchmal musst du einfach darauf vertrauen, dass wir das Richtige tun.«

»Ha!« Jens Lachen war wie ein Schlag ins Gesicht. »Ein Wechselbalg in den Mauern des Castillos. Schattenkrieger, die uns überrennen. Ein Kampf auf Iria Kon, den wir nur dank unseres Teams gewonnen haben. Hört mir doch auf! Ihr seid nicht allwissend.« Sie kam näher, die Zähne zusammengebissen, die Stimme mehr ein Zischen als ausformulierte Worte. »Haltet ihr mich für naiv?«

»Auf keinen Fall«, warf Leonardo schnell ein. »Und ich bewundere deine Leidenschaft für dein T…«

»Spar dir das!«, fauchte Jen. Ihr langes braunes Haar wurde vom hereinstreifenden Wind aufgewirbelt. »Denkst du, ich habe das nicht verstanden? Nach Marks Tod habt ihr die Unterlagen verschwinden lassen. Ihr wolltet nicht, dass wir auf die gleiche Spur stoßen wie er. Wir haben eines der Kryptexe gefunden, die für mich bestimmt waren. Er wusste vom Zwillingsfluch. Aber er hatte auch etwas entdeckt, das mich und Alex betrifft. Etwas, das mit dem Opernhaus zu tun hat.«

Johanna konnte nicht verhindern, dass sie erbleichte. Und auch Leonardo riss die Augen auf.

»Aha. Ihr wisst also, wovon ich spreche. Lasst mich raten, das ist ebenfalls nicht für unsere Ohren bestimmt?«

Leonardo seufzte. Dann nickte er. »Es tut mir leid.«

»Ich habe genug davon! Wenn ihr nichts sagen wollt, bitte sehr. Aber ich hole Alex zurück! Und was immer ihr auch vor uns verbergen wollt: Ich finde es heraus!«

Damit wandte sie sich um, stürmte aus dem Raum und hinterließ eine bleierne Stille.

»Es wird nicht mehr lange gut gehen«, flüsterte Leonardo.

»Muss es auch nicht.« Johanna rieb sich müde die Augen. »Mit etwas Glück wird das Versiegeln seiner Erinnerungen die gewünschte Wirkung erzielen. Dann wird sie es verstehen. Und er auch.«

»Diesen ganzen verdammten Mist verdanken wir nur der Schattenfrau. Hätte sie das wilde Sigil nicht auf Alex gelenkt und ihn so überhaupt erst zum Magier gemacht, …«

Johanna winkte ab. »Mag sein. Aber es bringt nichts, der Vergangenheit nachzuhängen.« Wer wusste das besser als sie beide?

Manchmal, wenn nach einem Sommertag die Dämmerung hereinbrach und die Luft nach brennendem Holz roch, glaubte Johanna, in Flammen zu stehen. Manches vergaß man nie. Der Tod gehörte dazu.

»Du hast wieder diesen Blick«, flüsterte Leonardo. »Als würden Flammen in deinen Augen lodern.«

Sie lächelte. Er kannte sie viel zu gut. Leonardo da Vinci und Johanna von Orleans. Kampfgefährten, Liebende, Eltern und Freunde. Sie waren schon alles gewesen, kannten die Stärken und Schwächen des anderen wie niemand sonst.

Sie warf einen letzten Blick auf das leere Büro. Es war nicht das erste, dessen Einrichtung vor ihren Augen verschwand. Letztlich bedeutete Unsterblichkeit doch nur, dass eine Ewigkeit an Verantwortung auf einen wartete. Doch ein gewaltsamer Tod beendete auch diese.

»Kaum zu glauben, dass wir noch da sind«, sagte Leonardo leise.

»So ungestüm wie du in deinen ersten Jahren warst, wundert mich das auch«, neckte sie ihn.

»Ha! Und das von der großen Ich-haue-alles-zu-Brei-im-Namen-Gottes-Kriegerin.« In Leonardos Augen blitzte der Schalk.

Sie schlenderten zur Tür, blickten letztmals in den Raum und zogen sie ins Schloss. Es klackte vernehmlich. Das nächste Mal würde hier jemand auf sie warten, wer immer es auch sein mochte.

Schweigend schlenderten sie den Gang entlang. Vorbei an aufgeregt plappernden Lichtkämpfern, die in Grüppchen neben Gemälden und Kommoden standen. Die Eingangshalle wirkte so überfüllt wie ein Schulhof in der großen Pause. Johanna sah zahlreiche fremde Gesichter. Flüchtlinge aus einem indischen und einem chinesischen Haus. Dazwischen ein paar ängstlich dreinblickende Neuerweckte.

Sie mussten den Unterricht zügig wiederaufnehmen.

Ihr einziger Trost war, dass es den Schattenkriegern nicht anders erging. Sie hatten ihr Domizil und viele Kämpfer verloren. Momentan leckte jeder seine Wunden. Die Ruhe nach dem Sturm.

»Ah, da seid ihr ja.« Eliot Sarin eilte herbei. Der bleiche, hochgewachsene Mann mit dem dunklen Haar war der neue Oberste Ordnungsmagier. »Ihr sollt bitte sofort zu Teresa kommen.«

Schon huschte er wieder davon.

Sie schoben sich durch die Menge, beantworteten hier und da ein paar Fragen und erreichten schließlich den Krankenflügel.

Teresa behandelte die Verletzten der Schlacht. Bei ihrem Eintreffen sah die Oberste Heilmagierin auf und hastete herbei. »So geht das nicht weiter.« Sie deutete auf Nikki.

»Was ist passiert?«, fragte Johanna.

»Was eben geschieht, wenn man ständig irgendwelche Teams von einem Punkt der Welt zu einem anderen transportiert und dabei zu wenig trinkt, isst und schläft. Sie ist zusammen-gebrochen.«

Nach dem Tod der anderen vier Sprungmagier war Nikki die einzig verbliebene Springerin. Nur Sekunden hatten sie vom Tod getrennt. Doch ihr blieb keine Zeit, alles zu verarbeiten, die Instabilität des Sprungnetzwerks ließ das nicht zu. »Wir müssen die Neuerweckten schützen«, sagte Johanna.

»Das verstehe ich auch«, erklärte Teresa. »Doch in den nächsten achtundvierzig Stunden wird das ohne Nikki geschehen. Falls eine Erweckung in einem Land mit instabilem Portal geschieht, müssen die Teams eben das Flugzeug nehmen. Oder ihr lasst euch etwas anderes einfallen.«

»Das wird nicht so einfach«, sagte Leonardo. »Der Wall dämpft die Magie immer stärker. Es war damals schon schlimm, als er neu erschaffen wurde, aber das hier … Viele werden unzufrieden sein.«

Teresa nickte. »Ich merke es auch bei meiner Heilmagie. Kleopatra hat mir ein paar neue Tränke zur Verfügung gestellt, damit ich weniger Essenz verbrauchen muss, doch letztlich wird sich einiges ändern müssen.«

»Sobald das Chaos sich lichtet, wird der Rat entscheiden, wie wir zukünftig vorgehen.« Johanna breitete hilflos die Arme aus. »Doch bis dahin müssen wir uns einfach mit den neuen Gegebenheiten abfinden.«

Im Hintergrund stöhnte jemand auf.

»Ich muss wieder an die Arbeit. Nikki bleibt einstweilen hier!« Wie ein Wirbelwind schoss Teresa davon.

»An manchen Tagen bin ich einfach nur müde.« Johanna zog Leonardo mit hinaus auf den Gang. »Wie war das mit dem Abendessen?«

Er grinste. »Ich habe da eine Idee, wie wir es uns gemütlich machen können und ein wenig Ruhe haben.«

»Ach ja?«

»Lass dich überraschen. Ich muss zuvor noch etwas abklären.«

»Wenn du es schaffst, dass wir ein bis zwei Stunden Frieden haben, ernenne ich dich zum neuen Wohlfühlbeauftragten des Castillos, Leonardo da Vinci.«

»Einer der wenigen Jobs, die ich noch nie innehatte.« Er schmunzelte. »Bis später.«

3. Der Neuankömmling

 

Das Lächeln auf Johannas Gesicht war all die Mühe wert.

Leonardo hatte Elisabeth Franke, der Lehrerin für Pflanzenmagie, etliche Versprechungen machen müssen, damit er diese Dimensionsfalte benutzen durfte.

»Das ist unglaublich«, hauchte Johanna. »Wie hast du sie dazu gebracht, uns hierhinein zu lassen?«

Der Garten war einen Hektar groß und angefüllt mit allerlei exotischen Pflanzen. In seinem gesamten Leben hatte Leonardo keine solche Vielfalt erblickt. Seine Reise hatte ihn in den tiefen Amazonas, in Tempelruinen und fremdartige Dimensionsfalten geführt. Es gab Splitterreiche, die sich kein Autor in seinen kühnsten Träumen auszudenken vermochte.

Das hier war ein Stück reinsten Friedens. Die Vielfalt der Pflanzenwelt, kultiviert direkt hinter dem Castillo. Hier hielt Elisabeth Franke normalerweise ihre Vorlesungen in Pflanzenmagie ab. Nun, in einem kleinen Bereich.

Normalerweise gehörten weder der Tisch, der mit einem weißen Tuch bedeckt war, noch die Stühle, Speisen oder Getränke hierher.

»Wird sie es halten können?«, fragte Johanna zwischen den Bissen. Auf ihrem Teller türmten sich Salate und Gemüse, auf seinem ein Steak mit Kartoffeln.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Die normalen Räume kollabieren, aber die größeren Falten scheinen bisher stabil zu sein.«

»Zumindest noch.« Johanna trank einen Schluck frisch gepressten Fruchtsaft. »Ich will gar nicht daran denken, was geschieht, sollten die Splitterreiche davon betroffen sein. Die Barrieren würden fallen, wir hätten hier eine ziemlich üble Version des alten Roms. Und fangen wir gar nicht mit dem Rest an.«

»Du kannst wirklich keine Minute abschalten, oder?« Leonardo deutete mit seinem Messer auf ihren Teller. »Iss. Trink. Wir haben gerade einen Krieg überstanden.«

»Einen Krieg?« Johanna lachte auf. »Das war eine Schlacht, nicht mehr. Es gab Schlimmeres. Und es stand bereits mehr als einmal auf Messers Schneide.«

»Von mir aus. Dann eben ein Kampf. Iss trotzdem.«

Sie schien sich endlich etwas zu entspannen. Leonardo atmete auf. Ein wenig machte er sich Sorgen um Johanna. Sie lebte für die Arbeit, und nur dafür. Das Castillo, die Lichtkämpfer, die Verantwortung – all das zerrte an ihr. Möglicherweise wusste sie es nicht einmal selbst. Als ihr bester Freund war er für sie da, sollte sie ihn brauchen. Er war jedoch ebenso dazu da, es nicht soweit kommen zu lassen, dass sie ihn brauchte.

Leonardo reckte seine Glieder. Die Folter durch Moriarty steckte ihm noch immer in den Knochen. Manchmal schmerzte seine Schulter, manchmal das Knie. Die Erinnerung an all die Spielchen und Foltermethoden, die der unsterbliche Verbrecherkönig angewendet hatte, ließ Übelkeit in ihm aufsteigen.

Kaum davon erholt, hatte die Schattenfrau Johanna gegen ihn gehetzt. Sie gewann, und hätte dieser Zweikampf eine Sekunde länger gedauert, wäre er durch einen Kraftschlag aus ihrem Essenzstab gestorben.

»Nun schaust du so, als wärst du von Altersgebrechen gezeichnet und dem Tode nah.«

Er lachte leise. Sie kannte ihn einfach viel zu gut. »Wir haben wohl alle unsere Narben davongetragen.« Etwas leiser ergänzte er: »Als wären es nicht schon genug.«

Nun deutete Johanna mit ihrem Messer auf seinen Teller. »Iss. Trink.«

Schweigend aß er weiter, trank die Säfte und ließ die Seele baumeln. Er kannte diese Momente. Sie waren stets kurz. Die nächste Krise würde bald ins Haus stehen, obgleich die alte noch nicht einmal überwunden war. Die Sünden der Vergangenheit besaßen die hässliche Angewohnheit, schlimmer als zuvor zurückzukehren.

Sie aßen zu Ende und kehrten schließlich durch die Dimensionsfalte zurück in den Garten des Castillos. Die Stühle, der Tisch und die Essensreste verschwanden im Nichts.

Die Sonne versank am Horizont. Gemeinsam stiegen sie die Stufen zum Castillo empor, als ein Klirren ertönte. Ein Schrei folgte.

Blitzschnell zog Leonardo seinen Essenzstab und hechtete zu Tildas Kräuterbeet. In der Küche lag Geschirr verstreut am Boden. Tilda war an die Wand zurückgewichen, hielt eine Pfanne in der Hand und starrte verdattert auf etwas neben ihrem Herd.

Dort stand ein Winzling mit verstrubbeltem blonden Haar, Sommersprossen und tiefbraunen Augen. Er trug einfache Jeans und einen Pullover. Mit offenem Mund starrte er Tilda an.

Leonardo ließ seinen Essenzstab sinken.

Johanna ebenso. »Wer bist du denn?«

»Ich heiße Nils«, krächzte der Kleine auf Deutsch. »Und wer seid ihr?«

»Ich bin Johanna.« Sie ging in die Knie. »Das da ist Leonardo.«

»Und die dicke Frau?«

»Also, ich muss doch sehr bitten.« Tilda legte die Pfanne beiseite. »Ich bin lediglich gut genährt. Mein Name ist Tilda. Und wie kommst du hierherein? Da dreht man sich um, und mit einen Plopp steht plötzlich … Oh.«

Leonardo starrte entsetzt auf den Jungen. Magische Fähigkeiten manifestierten sich erst in der Pubertät, nicht davor. Einzig bei magisch geborenen Kindern war das etwas anderes. Wie war das möglich? »Wir haben wohl einen neuen Sprungmagier.«

Der Kleine hatte mittlerweile einen Teller mit Sandwiches entdeckt, den Tilda für die Neuankömmlinge bereithielt. Er schnappte sich eines davon, stapfte zur Couch und mampfte munter sein Brot. »Wenn das hier ein Traum ist, finde ich ihn toll.«

Leonardo betrachtete Johanna. Sie war bleich geworden. Kreidebleich. Ihm selbst saß ein Kloß im Magen. Ein Kind durfte keinesfalls in den Kampf gezogen werden. Doch wenn der Kleine tatsächlich Sprungmagier geworden war, würde es schwer werden, ihn zu beschützen.

Piero konnten wir auch nicht vor Schlimmem bewahren.

Er vertrieb den Gedanken mit einem Kopfschütteln. »Tilda, kannst du auf ihn achtgeben?«

»Natürlich.«

»Wir müssen herausfinden, ob das ein Einzelphänomen ist oder ob noch weitere Neuerweckte betroffen sind. Das könnte alles verändern.«

»Vielleicht gehörte er zu einer magischen Familie«, warf Johanna zaghaft ein.

»Wohl kaum«, erwiderte Leonardo. »Dann wüssten wir, wer er ist. Es gab stets fünf Sprungmagier. Außerdem hat er offensichtlich keine Ahnung, wo er sich befindet, und er spricht Deutsch.« Was glücklicherweise bedeutete, dass er sie nicht verstand, wenn sie Englisch sprachen.

»Ich denke, solange er etwas zu essen bekommt, ist er glücklich.« Tilda lächelte. »Und da ist er bei mir genau an der richtigen Adresse.«

»Jemand wird ihn vermissen«, sagte Johanna leise. Der Schmerz in ihrer Stimme kam aus solcher Tiefe, dass sich Leonardos Magen zusammenzog.

»Wir finden seine Eltern und lassen uns etwas einfallen. Tilda, du bist für Nils verantwortlich.«

»Aber natürlich.«

Leonardo schaute zu dem Kleinen, der aufmerksam durch die Küche stapfte. Dann entdeckte er ein Glas mit Essenzfeuer. »Nein!«

Doch es war zu spät. Der Kleine nahm einen gewaltigen Schluck von der neongrünen Flüssigkeit. Sofort wurde deutlich, dass das Getränk auf Kinder noch immer die alte Wirkung besaß. Nils‘ Aura flammte auf, als habe man ein Streichholz an eine Gaslohe gehalten.

Plopp.

Er verschwand.

»Eindeutig Sprungmagier«, kommentierte Tilda.

Aus der Eingangshalle drangen Schreie an Leonardos Ohr, dicht gefolgt von ›Ah‹, ›Oh‹ und ›Wie süß‹. »Ich wage zu behaupten, dass er nicht weit gekommen ist.«

Johanna eilte bereits hinaus.

Leonardo seufzte. Das Chaos schien kein Ende zu nehmen.

4. In den Trümmern

 

»Etwas weiter nach links«, bat Johanna. »So ist es gut.«

Die beiden Lichtkämpfer lächelten ihr kurz zu und verschwanden dann.

Sie hatten eine kleine Steinsäule abgestellt, in die eine Kuhle eingelassen war. Sie sah aus wie eine ausgestanzte halbe Kugel und enthielt silbriges Bernsteinwasser. Magische Symbole waren in den Stein gehauen worden. Tomoe war es gewesen, die die Idee aufgebracht hatte, eine alte Form der Kommunikation wiederzubeleben.

Zuerst hatte man einfache kleine Podeste errichtet, Schalen darauf abgestellt und mit Wasser gefüllt. Bedauerlicherweise aber hatte Ataciaru diese mit Trinknäpfen verwechselt. Schließlich war man dazu übergegangen, in allen wichtigen Büros solche Säulen aufzustellen.

Johanna machte sich an den Papierkram. Man mochte kaum glauben, was für eine Arbeit es verursachte, ein Castillo am Laufen zu halten. Mit Edison war ihnen eine wichtige Stütze weggebrochen, Einstein schied ebenfalls aus – zumindest für eine Weile.

In Gedanken ging sie all die anderen Unsterblichen durch, die nicht Teil des Rates waren. Vielleicht konnten die einspringen? Nemo eignete sich natürlich nicht, der war zu sehr Eigenbrötler und liebte das Meer. Doch was war mit den anderen? Seufzend dachte sie an ihre beste Freundin, die noch immer unauffindbar war. Ihre Reise durch die Splitterreiche hatte sie vor langer Zeit fortgeführt.

Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken.

Leonardo betrat den Raum.

»Und?«, fragte sie.

»Sagen wir mal so, der Kleine empfindet das alles als riesiges Abenteuer«, erwiderte er. »Er liebt Ataciaru und mag die ›dicke Frau‹, weil sie ihm immer Essen gibt. Bei seinem letzten Schluckauf ist er unkontrolliert durch das Castillo gesprungen. Nachdem er in einem Schlafzimmer gelandet war, wurde er Zeuge, wie zwei Menschen sich sehr gerne hatten. Ich durfte ihn dann aufklären.«

»Du lieber Himmel.« Johanna ließ ihren Stift fallen, mit dem sie Papiere abgezeichnet hatte. »Nikki muss ihm so schnell wie möglich beibringen, wie er seine Kräfte richtig nutzen kann.«

»Sobald sie aufwacht. Bis dahin nehmen sich Max und Kevin seiner an.«

Damit war das Problem zumindest vertagt. Eines war sicher: Sie lebten in interessanten Zeiten. Worte, die nicht umsonst einmal als Fluch zu verstehen gewesen waren.

»Hallo?«

Verblüfft sahen sie einander an.

»Funktioniert das Ding? Kann mich jemand hören?«

Johanna sprang auf und eilte zur Wassersäule. »Chloe?«

Das Wasser in der Aussparung wurde aus einer angelegten Bernsteinhöhle geschöpft. Auf diese Art verstärkte es die zugeleitete Essenz trotz des erstarkten Walls. Die magischen Symbole erledigten den Rest.

»Ah, Johanna. Und, ist das Leonardo? Das Wasser hier ist etwas trüb.«

Die junge Punkerin mit den hochstehenden neongrünen Haaren kniff die Augen zusammen. Ihre Hände steckten in nietenbesetzen fingerlosen Handschuhen.

»Wir können dich gut erkennen. Vermutlich ist die Wasserqualität auf Iria Kon nicht so gut. All die Ablagerungen negativer Magie.«

»Die Spätfolgen sind hier überall zu spüren«, bestätigte Chloe. »Und fragt nicht, was für Zeug hier in den Trümmern herumliegt. Gestern wäre Charles beinahe von einer magischen Granate zerrissen worden. Wie geht es Ataciaru?«

Leonardo lächelte. »Gut. Er hat einen neuen Spielkameraden gefunden. Wir hätten ihn dir gerne nachgeschickt, aber da die Instabilität im Portalnetzwerk zunimmt, wollen wir das Risiko nicht eingehen.«

»Es ist besser so. Ich würde mir hier nur Sorgen um ihn machen. Aber ich melde mich aus einem anderen Grund. Wir haben etwas entdeckt, das ihr euch unbedingt anschauen solltet.«

»Nur her damit.« Johanna stützte sich mit den Armen auf den Rand des Podestes, um besser sehen zu können.

»Ich fürchte, dafür müsst ihr hierherkommen. Wir können den Gegenstand nicht transportieren. Man könnte wohl sagen: Er wehrt sich.«

»Eine Waffe?«, hakte Leonardo beunruhigt nach.

»So richtig sagen kann ich das nicht. Es wäre ungewöhnlich. Aber es hat auf jeden Fall etwas mit euch zu tun. Ihr solltet wirklich hierherkommen. Die Essenz …«

Schlieren zogen durch das Wasser und im nächsten Moment war Chloes Antlitz verschwunden.

»Die Kontaktsteine waren eindeutig zuverlässiger«, grummelte Leonardo.

»Sieht so aus, als steht uns ein Roadtrip bevor. Wir können das Portalnetzwerk nicht benutzen und Nikki scheidet aus.« Johanna knabberte an ihrer Unterlippe. »Wenn wir uns in Seeadler verwandeln, könnten wir fliegen.«

»Bei der Entfernung? Vergiss es. Das wäre schon vorher knapp gewesen, aber mit dem Wall reicht der Trank niemals bis zum Ziel. Wir würden über dem Meer zurücktransformieren.«

Johanna verschränkte die Arme und begann mit einem unruhigen Gang durch den Raum. Sie konnten schwerlich eine Nimag-Transportmöglichkeit nutzen. Flugzeuge landeten auf Iria Kon definitiv nicht. Die kleine Insel lag unter einer Illusionierung verborgen. Schiffe schieden ebenso aus, solange die Seeabwehr nicht neutralisiert worden war.

»Wir könnten einen Schlundstein nutzen«, schlug Leonardo zaghaft vor.

»Nein!« Johanna schüttelte vehement den Kopf. »Keine Magie vom Anbeginn. Und schon gar nicht diese.«

Bei der Erinnerung an die Artefakte zog sich ihre Brust zusammen. Sie glaubte, das Grauen wieder hautnah zu spüren.

»Dann bleibt nicht mehr viel übrig.« Leonardo hatte ihre Bewegung instinktiv kopiert, hielt die Arme verschränkt und ging auf und ab. »Der einzige Springer wäre Nils. Aber der setzt uns wahrscheinlich überall ab, nur nicht am Ziel. Außerdem wäre das verantwortungslos. Wir müssen ihn zu seinen Eltern bringen.«

»Dann benötigen wir ein Transportmittel.« Sie schnippte mit dem Finger, als ihr ein Gedanke kam. »Hattest du nicht dieses Flugzeug gebaut?«

»Das war 1910. Und ich erinnere mich noch sehr genau an deine Worte, als ich damit das Auslaufen der Titanic beobachten wollte. Ich sei verantwortungslos und leichtsinnig und wolle mit diesem Machogehabe lediglich die Lichtkämpfer beeindrucken, um wieder ein paar hübsche Frauen oder Männer ins Bett zu kriegen.«

Sie ließ eine ihrer Brauen so weit in die Höhe wandern, wie es nur ging.

»Gut, zugegeben«, er nickte, »das wollte ich wirklich.«

»Siehst du?! Aber jetzt hat dein Fluggefährt einen wichtigen Zweck zu erfüllen. Wo ist es?«

»Auf dem ›Schrottplatz‹«, erklärte er.

»Wunderbar. Gehen wir.«

Mit neu erwachendem Elan schritt Johanna voran. Es würde ihr guttun, das Castillo wenigstens für ein paar Stunden zu verlassen. Sie informierten Tomoe und Kleopatra und gingen hinaus.

Auf dem Weg kam ihnen Wesley Mandeville entgegen. Er trug Plateauschuhe, war solariumgebräunt und hatte knallig weiße Zähne. Mit wütendem Blick stapfte er an ihnen vorbei und murmelte etwas von den verdammten 90ern.

Das Castillo lag auf einem weitläufigen Areal, umgeben von dichtem Wald. Nach einem Marsch von einer halben Stunde erreichten sie eine freie Fläche. Eingerahmt von Steinpylonen, die eine neutralisierende Barriere bildeten, stapelten sich ausrangierte Artefakte oder experimentelle Gegenstände. Während in den Katakomben alles gelagert war, was Gefahr bedeutete, befanden sich hier die nutzlosen Gegenstände; Experimente der Unsterblichen, die irgendwann schiefgelaufen waren oder in einer Sackgasse geendet hatten.

Am Rande der Lichtung stand es: ein altes Gleitflugzeug aus Hexenholz und leichtem Metall. Im Gegensatz zur damaligen Nimag-Version gab es Bernsteinornamente auf den Flügeln.

»Tragflächenprofil, Kurvenflugsteuerung und die Synchronisation zwischen Flügelverwindung und der Querruder-Auslenkung entsprechen der Konstruktion des ersten Flugzeugs der Gebrüder Wright.«

Johanna betrachtete das Fluggefährt missmutig. »Das war eine dumme Idee.«

Leonardo grinste wie ein Schuljunge, der gerade einen besonders gemeinen Streich ausgeheckt hatte. »Wo bleibt deine Abenteuerlust? Wollen wir?«

»Nein.«

Er grinste noch breiter.

5. Einer flog über Iria Kon

 

»Ich hasse dich!«, brüllte Johanna.

Leonardo flog einen weiteren Looping. Es bereitete ihm sichtliches Vergnügen, in einer baufälligen Maschine hoch über dem Meer dahin zu brausen.

Grundsätzlich mochte Johanna es, wenn die düsteren Schatten unter seinen Augen verschwanden und er wieder zu dem unbeschwerten Abenteurer aus vergangenen Zeiten wurde. Geschah das allerdings, während sie in ein paar Tausend Metern Höhe in einem gescheiterten Experiment in Richtung Iria Kon unterwegs waren, mochte sie es überhaupt nicht.

»Leonardo da Vinci!«, schrie sie ihm ins Ohr. »Wenn du nicht sofort damit aufhörst, … werde ich sauer.«

»Ich kann dich nicht hööööööööööööööö…«

Ein weiterer Looping folgte.

»…ren.«

Doch er bemerkte, dass es nun langsam genug war und brachte die Maschine auf einen ruhigen Kurs. Die Sonne schien lächelnd von oben auf sie herab, die Bernsteinornamente glühten und der Wind trug sie immer schneller ihrem Ziel entgegen. Obgleich Leonardo das Gleitflugzeug 1910 gebaut hatte, erwies es sich als robust. Robuster zumindest, als Johanna angenommen hatte. Trotzdem hielt sie ihren Essenzstab fest umklammert, nur für alle Fälle.

Sie hatten die Küste von Neapel mittlerweile passiert. Vor langer Zeit hatte diese Region auf den Namen Parthenope gehört.

Ganz langsam fielen Stress und Verkrampfung von Johanna ab. Sie fühlte die Weite und Freiheit im Sonnenlicht. Kein Papierkram, keine vier Wände, die sie immer mehr beengten. Keine schrecklichen Entscheidungen, die sie treffen und anderen damit emotionale Schmerzen zufügen musste.

Als sie den Blick Leonardo zuwandte, sah sie ihn zufrieden grinsen.

Schon lange hatten sie keinen gemeinsamen Ausflug mehr unternommen, hatten sie nicht mal mehr als Team einen Einsatz bestritten. Sie war zu sehr mit der Verwaltung des Castillos beschäftigt und er mit der Planung von Einsätzen für die Lichtkämpfer.

In der Ferne tauchte ein winziger Punkt am Horizont auf. Iria Kon. Hier hatte die Entscheidungsschlacht getobt. Nachdem die Lichtkämpfer zurück ins Castillo gereist waren, hatte Leonardo ein Team aus Archäomagiern zusammengetrommelt und zur Insel geschickt. Sie sollten in den Ruinen nach Hinterlassenschaften suchen. Artefakte, Zauber, alles, was ihnen helfen oder in den falschen Händen gefährlich werden konnte.

Zur Sicherheit wurden ihnen Lichtkämpfer an die Seite gestellt. Das Team um Chloe war seit zwei Tagen dort, doch ihr Einsatz wurde verlängert, weil ein schneller Austausch nicht mehr möglich war.

Johanna sorgte sich um das Portalnetzwerk. Würde es sich verschließen? Zusammenbrechen? War der Wall dafür verantwortlich?

Eine Böe ergriff das Gleitflugzeug und brachte es zum Vibrieren.

Leonardo ging in einen Sturzflug über und brüllte dabei seine Freude hinaus. Sie schloss sich ihm mit genausoviel Elan an, allerdings handelte es sich dabei weniger um Freude als schiere Todesangst. Kurz vor den Dächern Iria Kons fing er die Maschine ab und brachte sie elegant auf einer freien Fläche zu Boden. Dies war einst die Hafenpromenade gewesen, doch davon war nichts mehr übrig. Immerhin waren die Skelette verschwunden.

Das erste Team aus Lichtkämpfern hatte einen kleinen Friedhof angelegt und die sterblichen Überreste dort bestattet. Die Identität der Verstorbenen konnte nach so langer Zeit nicht mehr festgestellt werden, doch es war der Pietät geschuldet, sie dennoch ordentlich zu beerdigen.

»Geile Kiste«, erklang eine Stimme.

»Chloe.« Johanna schloss die junge Lichtkämpferin in die Arme. »Schön, dich zu sehen.«

»Gleichfalls.« Die junge Punkerin wirkte etwas zurückhaltend, was vermutlich ebenfalls mit Alexander Kent zusammenhing.

Leonardo begrüßte sie. »Du hast es ja spannend gemacht.«

»Es geht doch nichts über einen guten Cliffhanger. Dieses Mal war allerdings die Wasserübertragung schuld. Wir müssen die Gewässer hier reinigen, falls der Einsatz länger dauern sollte.« Sie wandte sich ab und strebte einer Straße zu. »Und ich fürchte, das wird er.«

Gemeinsam schritten sie durch verlassene Straßen, vorbei an heruntergekommenen Häusern und Trümmerstücken. Die Schattenfrau hatte die ohnehin alte Stadt in ein Feld der Zerstörung verwandelt.

»Dort vorne steht das Museum«, erklärte Chloe.

Das Gebäude war einmal vierstöckig gewesen, doch die oberen beiden Stockwerke waren eingebrochen. Im Inneren lagen Stühle und Bänke entzweit am Boden, Holzstücke auf kleinen Haufen. Statuen ohne Kopf erhoben sich neben dicken Säulen. Kisten standen am Rand und Goldstücke lagen verstreut am Boden.

»Darin haben wir Bernsteinkörner gefunden«, erklärte Chloe. »Für die damalige Zeit ein wahrer Schatz.«

»Ich habe das Gefühl, wir werden die bald auch wieder brauchen«, sagte Leonardo leise.

Vor ihnen schälte sich ein Schlund aus dem Dämmerlicht. Fackelschein loderte an den Wänden, als sie die Wendeltreppe hinabstiegen. Am unteren Ende wartete ein gewaltiger Raum voller Bücher, Artefakte und nicht identifizierbarer Gegenstände. Die drei Archäomagier beugten sich gerade mit glitzernden Augen über einen Steinbrocken und diskutierten, aus welcher Epoche dieser wohl stammte und ob ihm Magie innewohnte.

Sie bemerkten sie erst mit etwas Verspätung und grüßten freudig.

Chloe schritt voran, als sie alle den hinteren Teil des Raumes ansteuerten.

Dort stand ein einsamer Mentiglobus auf einem Holztisch. Der Sockel war angeschmolzen, das Himmelsglas verblichen. Trotzdem schien er von innen heraus zu wabern. Immer wieder trieben Glyphen an den Rand, als habe jemand sie mit Tinte in das Wasser gemalt.

Links davon führte ein schmaler Durchgang in eine winzige Kammer. Vermutlich einst für Gerümpel gedacht, lagen darin nur noch einzelne Eisen- und Holzteile. Die Tür hing schief in den Angeln.

»Was ist das?«, flüsterte Leonardo.

Johanna spürte ein seltsames Kribbeln. Dieser Mentiglobus war ihr vertraut. Gleichzeitig hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Angst loderte durch ihre Adern, vermengte sich mit Faszination und Neugier. Was ging hier vor?

Leonardo schien es ähnlich zu empfinden. Er wirkte verwirrt.

Vorsichtig gingen sie beide näher, während Chloe und die Archäomagier sich im Hintergrund hielten.

Der Mentiglobus begann in einem sanften Hauch zu glimmen. Flammen entstanden: rot wie Feuer und blau wie Kobalt.

»Das sind unsere Essenzen«, flüsterte Leonardo. »Sie kommen direkt aus dem Globus.«

Dafür gab es nur eine Erklärung: Sie beide hatten dieses Artefakt mit Erinnerungen aufgeladen und danach gesichert. Doch sie konnte sich nicht an einen solchen Mentiglobus erinnern. Und selbst wenn jemand ihn aus dem Archiv entwendet hatte: Wie kam er hierher? Sowohl Leonardo als auch sie waren lange nach der Zeit von Iria Kon zu Unsterblichen geworden.

»Vielleicht hat die Schattenfrau ihn damals aus dem Archiv gestohlen und hierhergebracht?«, überlegte Leonardo laut.

»Das kann nicht sein«, meldete sich einer der Archäomagier zu Wort. »Der Mentiglobus ist geschützt. Die Schattenfrau hätte ihn gar nicht berühren können. Als wir es versuchten, wurden wir durch den Raum geschleudert.«

Das bedeutete, dass ihn jemand mit der Billigung von Leonardo oder ihr mitgenommen und deponiert hatte.

Sie traten noch einen Schritt näher.

Der Mentiglobus explodierte.

Johanna konnte spüren, dass er sie ablehnte. Feueressenz vermischte sich mit Kobaltblau, tauchte die Umgebung in pure Macht und erschuf Angriffszauber. Ein Schlag traf sie beide und katapultierte sie durch den Raum.

Ein Summen erklang, wie von tausend Bienen. Aus dem Nichts ertönte ein markerschütternder Schrei. Es war Johanna, die ihn ausgestoßen hatte. Ihre Erinnerung.

Dann brach das Chaos über sie alle herein.

6. Tödliche Erinnerungen

 

Nebelschwaden entstanden aus dem Nichts und verdichteten sich zu Silhouetten. Die Abbilder von Leonardo und Johanna hoben gestikulierend die Arme.

»Geht!«, hallten die verzerrten Gegenstücke ihrer Stimmen durch den Raum.

Verblüfft wich Johanna zurück. Was ging hier nur vor sich? Derartige Abwehrzauber waren nicht nur unüblich. Dass sie nach so langer Zeit auch noch aktiv waren, sprach Bände über die im Sockel des Mentiglobus eingelassene Essenz.

Längst hatte jeder seinen Essenzstab gezogen.

Leonardo warf einen grimmigen Blick auf die nebulösen Wächter und machte einen Schritt voran. Seine eigene kobaltblaue Essenz traf ihn frontal und schleuderte ihn durch den Raum.

Plötzlich begannen die Silhouetten zu flimmern. Aus Nebel wurden Flammen. Johannas Abbild war in feurigrote Essenz gekleidet, Leonardos Pedant in kobaltblaue Flammen.

»Nicht die Reaktion, die ich erwartet habe«, murmelte Chloe.

»Contego!« Mit ein paar Bewegungen ihres Essenzstabes erschuf sie magische Symbole aus neongrünem Feuer, die eine Schutzsphäre entstehen ließen.

Und keine Sekunde zu früh.

Feuer-Johanna und Kobalt-Leonardo hoben ihre Arme ebenfalls. Kraftschläge, die von Energie umlodert wurden, schlugen auf die Sphäre ein.

Johanna taumelte.

Sie fühlte sich schwach.

Ein Blick zu Leonardo zeigte ihr, dass es ihm ähnlich erging.

»Gravitate Negum.« Leonardo versuchte, die Schwerkraft der Silhouetten aufzuheben. Doch die beiden widerstanden problemlos.

»Murum Orituro!«, schaltete sich Johanna ein. Sie ließ eine Mauer emporwachsen. Wenn es ihr gelang, diese luftdicht abzuschließen, würden ihre Gegner gefangen sein.

Doch wieder kam der Schwächeanfall.

Sie taumelte.

Und begriff.

»Sie nutzen unsere Essenz.« Panisch warf sie Leonardo einen Blick zu.