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Der Auftakt zur großen Urban-Fantasy-Saga! Jenifer Danvers ist eine Lichtkämpferin. Als ihr Freund und Kampfgefährte stirbt, erwacht mit Alexander Kent ein neuer Erbe der Macht in London, der von ihr in die Welt der Magie eingeführt werden muss. Keiner von beiden ahnt, dass das Gleichgewicht der Kräfte außer Kontrolle geraten ist. Das Böse holt zum großen Schlag aus, um den Wall endgültig zu zerschmettern. Machtvolle Zauber, gefährliche Artefakte, uralte Katakomben und geheime Archive. Kämpfe mit den Lichtkämpfern und dem Rat des Lichts - Johanna von Orleans, Leonardo da Vinci und viele mehr –, um den Erhalt der Menschheit. Das Erbe der Macht ist Gewinner des Deutschen Phantastik Preis, Lovelybooks Lesepreis und des Skoutz-Award!
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Seitenzahl: 442
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Table of Contents
Schattenchronik 1
Aurafeuer
Prolog
1. Erinnerungen
2. Der Foliant
3. Aurafeuer
4. London calling
5. Castillo Maravilla
6. Im Licht der Aura
7. Hinter dem Schleier
8. Eine neue Welt
9. Im dunklen Spiegel
10. Im Licht des Globus
11. Der Bund des Sehenden Auges
12. Ein Rennen gegen die Zeit
13. Die verbotenen Katakomben
14. Der Foliant
15. Der Blick aus dem Schatten
16. Joshuas Erbe
17. Verschollen
18. Manipulation
19. Wie Feuer und Wasser
20. Zwischen den Welten
21. Nur eine unter vielen
22. Dein Antlitz mein
Essenzstab
Prolog
1. Die Geschichte, so wie du sie kennst …
2. Überraschung
3. Im Refugium des Stabmachers
4. Echos aus dem Gestern
5. Alles auf Risiko
6. Ein Ablenkungsmanöver
7. Trampel
8. Wir werden keine Freunde
9. Die Mentigloben
10. Memorum excitare I
11. Memorum excitare II
12. Aus zwei wird eins
13. Unum (Alex)
14. Unum (Jen)
15. Memorum excitare III
16. Memorum excitare IV
17. Verständnis
18. Contego Maxima
19. Die Geliebte des Stabmachers
20. Tu es!
21. Wer ist der Verräter?
22. Ich hasse Portale
23. Es beginnt
Wechselbalg
Prolog
1. Die Jagd beginnt
2. Wo sind wir?
3. Kriegsrat
4. Der lautlose Schrei
6. Die Spur zum Verräter
7. Idiotie
8. Das verlorene Castillo
9. Zeig ihn mir!
10. Hast du noch immer nicht begriffen?
11. Eine Prise Minze
12. Wechselbalg
13. Die geheime Fähigkeit
14. Die Tragödie
15. Lebt wohl
16. Die Maske fällt
17. Ein Plan in einem Plan
18. Unkraut vergeht nicht
19. Der entartete Zauber
20. Ein Abschied auf Zeit
21. Zu spät
22. Erlösung
23. Was bringt die Zukunft?
24. Was hat das zu bedeuten?
25. Die ganze Wahrheit
Seriennews
Glossar
Impressum
Das Erbe der Macht
Das Erwachen
von Andreas Suchanek
I
Aurafeuer
Ich habe versagt.
Die Worte hallten in seinem Inneren wider wie der grausame Richterspruch eines allmächtigen Gottes namens Schicksal. Wie hatte er nur je glauben können, etwas Besseres zu sein, all dem hier zu entkommen?
Kalte Luft fegte ihm ins Gesicht, Regentropfen piksten seine Haut wie Nadelstiche. Längst klebte die Stoffjogginghose an den Beinen, tropfte Wasser von der dünnen Sportjacke.
Der Beton des Bürgersteigs war dunkel vor Feuchtigkeit.
Er rannte.
Vorbei an überfüllten Mülltonnen, Pennern, die sich in Hauseingängen verschanzten, Jugendlichen, die in kleinen Gruppen von den Spielplätzen zurück in die Wohnsiedlungen strömten. Der Regen trieb sie alle davon, wie Ratten, die das sinkende Schiff verließen; wenn auch nur, bis die nächsten Sonnenstrahlen hinter den Wolken hervorlugten. Dann kamen sie aus ihren Schlupflöchern und machten weiter wie bisher.
Seine Glieder wurden schwerer, herabgezogen von bleierner Nässe, die die Kleidung tränkte. Er sollte zurücklaufen, nach Hause. In das winzige Zimmer, das er sich mit seinem Bruder teilte. Sich auf das Bett werfen und durch die dünne Wand hindurch seiner Mum lauschen, die sich von sinnlosen amerikanischen Mittagstalkshows berieseln ließ, bevor sie zu ihrer nächsten Schicht im Pub verschwand.
Alex rannte weiter.
Vor ihm tauchte eine Unterführung auf. Ein typischer Treff für Halbstarke. Fast schon hoffte er, dass sie sich ihm in den Weg stellten. Mit geballter Faust tauchte er ein in die Schatten. Er wollte zuschlagen. Wie früher, als die Welt noch so einfach gewesen war, reduziert auf seine Freunde, Bier, gemeinsames Abhängen. Ohne einen Gedanken an die Zukunft, ohne Pläne oder Perspektiven. Nur das Hier und Jetzt zählte.
Er liebte die Erinnerungen.
Und hasste sie gleichermaßen.
Es gab kein Zurück. Nicht, dass er das wirklich gewollt hätte. In den letzten Monaten hatte er alles dafür getan, dem trägen Einerlei aus Perspektivlosigkeit zu entkommen. Weg aus dem Sumpf namens Brixton, Angell Town, um endlich auf eigenen Beinen zu stehen, seine Mum zu unterstützen, seinem kleinen Bruder eine Chance zu verschaffen.
Doch der Traum war tot.
Alex verlangsamte seine Schritte, stoppte. Inmitten von Dunkelheit, Kälte und Nässe blieb er stehen. Niemand verbarg sich in den Schatten, kein Klappmesser sprang auf, nirgendwo ertönte eine Stimme: »Hey, Alter«. Nicht mal darauf konnte er sich verlassen. Seine Handknöchel traten hervor, so fest ballte er die Faust. Er wollte prügeln, Nasen brechen, Haut aufplatzen sehen. Alles ganz einfach.
Allein.
In seinem Inneren tobte die Wut unaufhörlich, sie warf sich gegen den Panzer aus Selbstbeherrschung, den er so sorgfältig errichtet hatte. Sie wollte hinaus. Toben. Ehe das Gefühl zu stark werden konnte, trabte er weiter.
Vorbei an mit Graffiti beschmierten Wänden, weggeworfenen Bierdosen und einer am Boden liegenden Handtasche. Sie war leer, vermutlich Diebesgut.
Als er die Unterführung verließ, peitschte ihm der Wind ins Gesicht. In der Ferne zuckten Blitze, rollte der Donner. Das Unwetter kam näher.
Ich sollte umkehren.
Doch er rannte weiter. Stemmte sich gegen Luft und Wasser, obwohl er doch nie gewinnen konnte. Das Versagen schien Teil seines Ichs zu sein.
Die Straße endete; wurde zu einem Trampelpfad, der auf einen Spielplatz führte. Eine Schaukel wurde vom Wind hin- und hergeworfen, das Karussell drehte sich. Von der Wippe war nur noch eine Seite übrig, sie steckte im Schlamm. Der Gitterzaun war an zwei Stellen eingetreten.
Alex hastete vorbei.
Vor ihm erhoben sich die Reste der groß angekündigten Neubausiedlung. Drei einsame Baracken, die trostlos und leer vom Zahn der Zeit zugrunde gerichtet wurden. Das gewaltige Projekt war gestoppt worden. Heute sprach niemand mehr davon.
Eine riesige, schlammige Baustelle. Häusergerippe und Baumaterial, mehr war nicht geblieben.
Alex übersah eine Eisenstrebe, die aus der Erde ragte.
Vom eigenen Schwung getragen, landete er bäuchlings im Dreck. Er blieb einfach liegen. Die Regentropfen patschten auf seinen Rücken, den Hinterkopf, die frei liegenden Knöchel. Schlamm bedeckte sein Gesicht.
Er lachte.
Wenn der Kerl ihn jetzt sehen könnte. Alex hatte sein Gesicht vor sich. Den sauberen Maßanzug, das Kräuseln der Lippen, die hochgezogene Braue. Nach all seinem Einsatz hatte er den Job nicht bekommen. Warum? Das hatte man ihm sogar gesagt. Weil er von hier stammte, vom Ende der Welt, aus den Slums.
Wieder musste er lachen, er konnte sich kaum noch beruhigen.
Um Brixton zu verlassen, benötigte er einen Job. Doch um einen solchen zu bekommen, musste er Brixton verlassen.
Ein Paradoxon. Die unlösbare Aufgabe, die ihn an dieses Leben fesselte.
Alex kam in die Höhe.
Er kauerte auf den Knien, den Oberkörper nach vorne gebeugt, das Gesicht gen Boden gerichtet. Schlamm und Dreck. Sah so seine Zukunft aus?
Sein Blick wanderte zum Himmel.
Ein Blitz schlug in eine der Baracken ein. Es donnerte.
Aufgebracht spannte er die Muskeln an. Die Wut wurde übermächtig. Er brüllte sie hinaus, ließ seinem Hass auf die grausame, unfaire Realität freien Lauf. Tränen rannen über seine Wangen – und entfachten noch mehr Groll.
»Ist das alles?«, brüllte er dem Schicksal entgegen. »Ist es das, was du willst? Mich im Dreck liegen sehen?!«
Das Schicksal antwortete.
Alex kniff die Augen zusammen.
Was war das? Ein grüner Schimmer glitt heran und vertrieb die Schwärze. Direkt über ihm kam er zum Stillstand. Ein glühender Ball aus purer Energie.
Alex erhob sich.
Bildete er sich das ein? Drehte er nun völlig durch?
Der Ball schmolz. Das glatte Objekt wurde zu einem verschlungenen Ding.
Dann schoss es nach vorne.
Direkt in Alex hinein.
Er brüllte. Sein Innerstes wurde zerrissen und neu zusammengesetzt. Nichts blieb verborgen, jede Faser seines Seins kam an die Oberfläche, verband sich mit den grünen, verwobenen Fäden, die Form anzunehmen begannen.
Zuerst entstand ein Strahlen rund um seinen Körper.
Aura, flüsterte etwas in seinem Inneren.
Sein Körper wurde der Schwerkraft entrissen, glitt in die Höhe und kam wenige Meter über dem Boden in der Luft zum Stillstand. Er hing zwischen den Gewalten, spürte Sturm und Regen auf die Haut peitschen. Sein Haar war nur mehr eine nasse Masse, die an seinem Schädel klebte.
Das grüne Ding verband sich mit der Hülle, der Aura und verschmolz endgültig. Anders konnte er den Gedanken nicht beschreiben. Alex wurde eins mit dem, was da in ihm war. Es nahm Form an, färbte sich neu ein.
Ein lodernder Schmerz peitschte durch seinen Geist.
Alex schrie ihn hinaus in die Nacht, ließ ihn eins werden mit den Gewalten. Und während pures Feuer durch seine Adern floss, erwachte tief in seinem Inneren das Erbe der Macht.
Einige Stunden zuvor
Nebel waberte im Licht des heraufziehenden Tages, umspielte den Tau, der von den Blättern tropfte. Sie schritt durch das feuchte Gras, zwischen den steinernen Engeln hindurch. Die gemeißelten Figuren hatten den alten Glanz längst eingebüßt. Flügel waren zerbrochen, Risse durchzogen die Leiber, ihre Hände hielten sie flehend gen Himmel gestreckt, als warte dort die Erlösung. Unkraut überwucherte die fein ausgearbeiteten Gesichter.
Jen schob das Geäst einer Hecke beiseite.
Der Garten hinter dem halb verfallenen Haus glich längst einem Dschungel. Nur ein paar Schlingpflanzen hielten die kleine Pagode noch aufrecht, das Dach war eingestürzt. Die Säulen liefen in knorrigem Gestrüpp aus. Im Sommer mochte der Wildwuchs noch einen gewissen Charme besitzen, im Spätherbst wirkte er einfach nur trostlos.
Selbst die gewaltige Eiche, die seit Generationen im Zentrum des Gartens thronte, ihre weiten Äste wie Arme ausbreitete und stets Stabilität und Zuversicht verströmte, konnte Jen das beklemmende Gefühl nicht nehmen, das sich ihrer bemächtigte.
Es war stets dasselbe.
Mit jedem Schritt, der sie den Gräbern näherbrachte, kämpfte die Erinnerung in ihr gegen das Vergessen. Einen Kampf, das wusste Jen, den sie am Ende verlieren würde. Sie wollte die Bilder wegsperren, die Ereignisse nicht erneut durchleben, all das einfach hinter sich lassen. Doch die Schuld war immer da. Manchmal vergingen Wochen oder Monate, in denen der Alltag sie gefangen hielt. Das brachte Vergessen.
Irgendwann kamen die Bilder allerdings zurück, sobald sie lange genug am Abgrund ihres Bewusstseins gelauert hatten. Meist geschah das, wenn sie nicht einschlafen konnte, ihre Gedanken einfach davontrieben. Hin und wieder sogar im Schlaf, in den Träumen.
Sie erreichte die Grabsteine.
Drei an der Zahl. Zwei große und ein kleinerer, der verdeutlichte, dass ihre Schwester zum Zeitpunkt des Todes noch ein Teenager gewesen war.
Es gab nur wenige Augenblicke in ihrem Leben, in denen sie es bereute, eine Lichtkämpferin zu sein. Die Magie war in ihr erwacht, das Sigil entflammt, seitdem stand sie auf der Seite des Lichts. Die verborgene Welt der Magie kennenzulernen, glich einer atemberaubenden Achterbahnfahrt; Schrecken und Euphorie lösten einander ab. Ständig. Sie fand neue Freunde, die zur Familie wurden. Das Castillo bezeichnete sie längst als Heimat.
Doch stets war ihr bewusst, welch grauenvollen Preis sie dafür hatte zahlen müssen.
Oder genauer: Welchen Preis ihr habt zahlen müssen.
Sanft strich sie über Janas schlichten Grabstein. Wie oft hatten sie als Kinder gestritten. Typische Schwestern.
Jen lächelte.
Obgleich sie damals als einzige Überlebende das Familienvermögen geerbt hatte, hielt sie die Gräber schlicht. Es ging nicht um Pomp oder Größe, nein, die Erinnerung war bedeutsam.
Ihre Hand wanderte weiter zu dem Stein ihrer Mutter. Die ersten Tränen kamen. Sie erinnerte sich an den liebevollen Blick, die weichen Gesichtszüge und die verträumten Augen. Das Haar ihrer Mutter hatte stets nach Blüten geduftet, ihr Atem nach Minze. Erst später war noch ein anderer Geruch hinzugekommen, der von den Minze-Bonbons nicht hatte übertüncht werden können. Doch wenigstens hatte sie es versucht.
Im Gegensatz zu ihm.
Als habe sie sich verbrannt, zuckte ihre Hand zurück, bevor sie seinen Grabstein berühren konnte.
Ihr Blick erfasste die eingemeißelte Schrift.
Was ich einst war, das bist nun du. Was ich nun bin, wirst du einst sein.
»Dieser Spruch hätte dir gefallen, Dad, habe ich recht?« Sie wollte ausspucken. »In der Hölle sollst du schmoren.«
Die Bilder kamen in einer Abfolge aus beißendem Schmerz. Das blaue Auge ihrer Mutter, untermalt durch die aufgeplatzte Lippe. Janas Schreie, dazu Regen und Donner. Wunde Fingerknöchel. Lachen.
Jen spürte, wie ihre Konzentration nachließ.
Das Sigil in ihrem Inneren reagierte auf den Schmerz. Violette Blitze züngelten, tanzten über Haut und Finger.
Eine der obersten Regeln, die jeder Lichtkämpfer zu Beginn verinnerlichen musste, war gleichzeitig auch die simpelste: Wirke niemals Magie, wenn Emotionen im Spiel sind. Maximale Konzentration, so lautete das Credo. Andernfalls konnten Zauber entarten, die Folgen mochten katastrophal sein.
Wer wusste das besser als sie.
»Jen?!«, erklang Marks Stimme.
Sie fluchte. »Hier!«
Schnell wandte sie sich von den Gräbern ab und ging zurück auf das Gebäude zu, das einst ihr Zuhause gewesen war.
»Dachte ich es mir doch, dass du hier bist«, verkündete er.
»War das so offensichtlich?«
Er zuckte mit den Schultern. »Für jemand, der dich kennt. Jeder hat so seine Eigenheiten, wenn er mies drauf ist. Max beispielsweise stopft sich seine Kopfhörer in die Ohren und hört stundenlang Musik. Finde ich deutlich gesünder, als ständig die Gräber seiner toten Eltern aufzusuchen.«
Nur Mark konnte eine derartige Einschätzung mit einer solchen Leichtigkeit aussprechen und dabei nicht verletzen. Im Gegenteil. Sein sonniges Gemüt besserte sofort ihre Laune.
»Du wolltest mich also aus meiner Trübsal reißen und einen Kaffee spendieren?«
Er schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Wir haben einen neuen Auftrag.«
»Es war einen Versuch wert.«
Er lachte. »Aber danach ist ein Kaffee durchaus drin. Vielleicht erzählst du mir auf dem Weg, was eigentlich passiert ist.«
Gemeinsam verließen sie den verwilderten Garten.
Jen schenkte dem Haus keinen weiteren Blick. Es war nur ein leeres Gebäude, in dessen Räumen das Lachen und der Schmerz einer längst vergangenen Zeit widerhallten.
Es ist vorbei.
Sie ließ die Erinnerungen hinter sich, um mit Mark die Zukunft anzupacken. So tat sie es immer. Bis zum nächsten Mal.
»Ich wünschte, es gäbe ein näheres Sprungportal«, grummelte sie.
»Jennifer Danvers«, sagte Mark, ehe er schnell korrigierte, »Jen. Wir haben heute wohl mit der falschen Hand den ersten Zauber ausgeführt, hm?« Schalk blitzte in seinen Augen, Lachfalten entstanden. Das blonde Haar stand ungekämmt ab. Abgesehen von seiner Abneigung gegen einen Kamm, ließ er auch keine Magie an den Haarschopf.
»Ach«, sie winkte ab.
»Komm schon. Raus damit. Ich war jetzt lange genug geduldig. Schonzeit ist vorbei, Danvers.«
Sie wusste, dass er hartnäckig bleiben würde. Seufzend sah sie hinaus über die grünen Hügel. Das Portal hatte sie in einem sicheren Haus in London abgesetzt. Von dort aus mussten sie allerdings die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, um ihrem Ziel näherzukommen. Alle anderen Portalausgänge lagen noch weiter entfernt. Jen nahm sich erneut vor, die Portalmagier zu bitten, das Netz der britischen Hauptstadt weitflächiger wachsen zu lassen. So saßen sie nun, nach einer langen Odyssee, in einer der typischen schwarzen Taxen und ruckelten über unebene Kieswege.
»Es ist der Rat«, gab sie schließlich zu. »Ich habe eine Rüge erhalten.«
Mark grinste noch breiter, wenn das überhaupt möglich war. »Kommt jetzt nicht überraschend.«
»Hey!« Sie knuffte ihn in die Seite.
»Ach, komm schon«, er warf ihr einen herausfordernden Blick zu. »Wie oft hast du die Regeln gebrochen? Der Rat musste doch reagieren. Sei bloß froh, dass Johanna eine schützende Hand über dich hält.«
Jen gab nur ein verärgertes Grunzen von sich. Johanna von Orléans war die einzige Unsterbliche im Rat – eine von sechs –, die selbst hier und da mal eine Regel übertrat. Die Übrigen schauten meist hochnäsig auf sie herab oder bildeten sich etwas darauf ein, wer sie waren. Vermutlich lag es an dem langen Leben, dass sie jeden, der jünger als ein Jahrhundert war, als Kind ansahen.
Man hatte ständig das Gefühl, ihren Ansprüchen sowieso nie gerecht werden zu können. Wie gut musste ein Mensch Zeit seines Lebens nur sein, um am Ende unsterblich und in den Rat berufen zu werden?
»Du gehst zu viele Risiken ein, Jen.« Das Lachen auf Marks Gesicht verschwand.
»Das haben die auch gesagt. Idioten.«
»Na, danke.«
Bevor sie das Gespräch fortführen konnten, erreichte das Taxi sein Ziel. Mark bezahlte den Fahrer aus der Einsatzkasse, während Jen ausstieg. Kies knirschte unter ihren Stiefeln, als sie ein paar Schritte machte, um das alte Herrenhaus näher zu betrachten. Es lag verborgen im Grünen, weit außerhalb der Stadt. Die Fassade wirkte gepflegt, Blumen bedeckten die Veranda, die Fenster mussten erst kürzlich gereinigt worden sein. »Sehr Downton-Abbey-like«, murmelte Jen.
»Fang nicht wieder mit der alten Mottenkiste an«, sagte Mark, während sein Blick über die Fassade glitt.
Gemeinsam näherten sie sich dem Eingang.
»Du bist ein Banause«, erwiderte sie. »Irgendwann fessle ich dich vor den Fernseher, und du musst alle Staffeln anschauen.«
»Das wäre Folter. Was würde der Rat nur dazu sagen?« Er grinste frech, worauf sie ihm erneut einen Stups in die Seite verpasste. Die Erwiderung erstarb ihr auf den Lippen. »Spürst du das?«
Er nickte. Mit zielsicheren Bewegungen zeichnete Mark Symbole in die Luft. Sein Finger hinterließ eine Spur aus grünem Feuer. Die Spur eines jeden Magiers war anders, wenn er Symbole wob, jede war einzigartig.
Die Zeichen der Magie gruppierten sich. Er murmelte ein Wort. Eine Schockwelle raste hinfort, zerfetzte den Illusionierungszauber, der auf dem Herrenhaus gelegen hatte. Zum Vorschein kam ein heruntergekommener Kasten. Die Blumen lagen vertrocknet am Boden, die Fenster blickten blind auf die hügeligen Wälder. Der Geruch von Tod und Verwesung hing in der Luft.
Sie nahm jede Kleinigkeit des Baus in sich auf. Sie konnte die Gefahr spüren, die hinter den Mauern lauerte. Kevin hatte in der Bibliothek zu einem Fall recherchiert, dem er gerade nachging. Dabei hatte eine der Suchgloben ein Signal empfangen. Wann immer auf der Welt mächtige Artefakte eingesetzt wurden, leuchtete auf dem magifizierten Gegenstand ein schwarzer oder weißer Punkt an der entsprechenden Stelle auf. Der Magieausbruch am Rande von London war auf einem der Suchgloben recht deutlich sichtbar gewesen.
Mark schaute sich ebenfalls genauestens um. »Ein unmaskierter Ausbruch dieser Größe und dazu ein Illusionierungszauber – das gefällt mir nicht.«
»Tja, da bleibt uns keine Wahl.« Das wird lustig. Ihr letztes Duell mit Schattenkämpfern lag schon eine Weile zurück. Dank der Interventionen des Rates wurde sie ständig für Recherchearbeiten abgestellt. Einzig Kevin war es zu verdanken, dass sie dieses Mal am Puls der Action sein konnte. Er hatte zuerst Mark und – mit ordentlicher Verzögerung – den Rat informiert.
Während sie auf die Herrenhausbaracke zugingen, erschuf jeder für sich mit dem Contego-Zauber eine Schutzsphäre gegen mögliche Angriffe. Gleichzeitig ließ Jen ihre Sinne schweifen. Da war nichts. Alles ruhig und friedlich. Hätte es nicht den Hauch des Bösen gegeben, der wie ein dunkler Nebel über dem Anwesen lag.
»Sollen wir mal freundlich anklopfen?«, fragte Mark.
Sie nickte. Während er nach dem schmiedeeisernen Ring griff, der in den Kopf eines Kobolds überging, erschuf Jen zwei Feuerbälle in ihren Händen. So konnte sie im Notfall blitzschnell handeln. Im Reflex prüfte sie ihr Sigil. Es pulsierte gleichmäßig, verströmte violette magische Kraft.
Da bräuchte es schon eine Armee, um mich in Gefahr zu bringen.
Das laute Klopfen des Rings, der auf Holz krachte, tönte in der Stille. Nichts. Mark versuchte es kein zweites Mal. Stattdessen nahm er seinen Essenzstab in die Hand, setzte ihn an und brannte ein magisches Symbol in das Hindernis. Kurz flammte es auf dem Holz der Tür auf, dann verwehte diese zu einem feinen Nebelgespinst.
Gemeinsam traten sie ein.
Moder und Fäulnis lagen in der Luft, vermengten sich mit dem Odem des Todes. Blut. Jen bekam eine Gänsehaut. Was hier auch vorgefallen war, sie kamen zu spät. Instinktiv folgte sie einem ihrer klassischen Sinnesorgane, der Nase. Die Eingangshalle blieb zurück. Sie stieg die Treppe empor. Der allgegenwärtige Teppich dämpfte jeden Schritt. Mark bildete die Nachhut. Mittlerweile hatte auch er Feuerbälle entstehen lassen. Sie loderten in dem für ihn typischen grünen Licht.
Die Körper lagen im Salon.
Vier Männer und drei Frauen, alle vornehm gekleidet. In der Luft waberte der Resthauch schwarzer Magie. Jemand hatte ihnen die Lebenskraft ausgesaugt.
»Shit«, entfuhr es Mark. »Ich hasse es, wenn wir zu spät kommen.«
Ein Stöhnen erklang.
Jen rannte zu einem der Liegenden, kniete sich auf den Boden. »Alles ist gut«, sagte sie, »wir sind da.«
Worte trügerischer Hoffnung. Weißes Haar lag ausgefallen auf dem Teppich, Altersflecken bedeckten die Haut. Der Unbekannte würde sterben. Wie alt er vor wenigen Stunden auch gewesen sein mochte – nun war er ein Greis.
»Buch«, röchelte er, »sie wollten den Folianten.«
»Ich verstehe nicht …«
Der Alte unterbrach sie, indem er mit letzter Kraft ihr Handgelenk packte. Ein Schmerz durchzuckte Jens Bewusstsein, breitete sich aus. Ein Bild entstand. Es zeigte einen uralten Folianten, gebunden in brüchiges Leder. Rissige Seiten wurden von Geisterhand umgeblättert. Symbole, ähnlich chinesischen Schriftzeichen, mit schwarzer Tusche geschrieben, bedeckten das Papier. Sie fiel zurück. Zitternd lag Jen auf dem Teppich, das Gesicht von Schweiß überströmt.
»Hey!« Mark kam herbeigeeilt. »Was ist passiert?«
»Wächter«, stieß sie hervor. »Die Toten waren Wächter.«
Er riss die Augen auf. »Aber wie kann das sein?«
Jen rappelte sich auf, zuckte mit den Schultern. In der Bibliothek des Castillos gab es ein Verzeichnis, in dem alle Wächtergruppen und das Artefakt, das sie beschützten, verzeichnet waren. Manch ein gefundenes Objekt war so gefährlich, dass es nicht mit anderen Dingen eingelagert werden konnte. Hierfür gab es die Wächtergruppen. Der Globus hätte ihnen die Referenz mitteilen müssen, als der Magieausbruch geschah.
Jen ging neben dem Toten in die Knie, zog ihr Smartphone hervor und machte ein Bild vom Handgelenk des Mannes. Ein aus ineinander übergehenden Ornamenten verziertes Zeichen war in die Haut gebrannt. »Sobald wir zurück sind, prüfen wir das.«
»Soll ich das Castillo kontaktieren? Kevin könnte die Recherche direkt starten.«
»Nicht nötig«, wehrte Jen ab. »Er«, dabei deutete sie auf den Alten, »hat mir eine Vision geschickt«. Sie rannte zur Tür. »Es ist ein Foliant.«
Gemeinsam erreichten sie die Bibliothek. Gewaltige Regalreihen wuchsen in die Höhe, bedeckt von Büchern. Gewöhnliche Werke. Belletristik, Fachwälzer, Literatur nichtmagischer Menschen. Durch hohe Fenster fiel Dämmerlicht herein, tauchte den Raum in ein Wechselspiel aus Licht und Schatten. Es roch nach altem Papier. Jede Bibliothek wurde dadurch zu etwas Besonderem. Auf einem Beistelltisch lag eine Zeitung – zwei Tage alt, wie das Datum verriet –, daneben stand eine Tasse aus hauchdünnem Porzellan. Seitlich war ein Wappen eingeprägt.
Jen roch an der Tasse. »Schwarztee.«
»Das wirkt, als wäre hier jemand bei einer gemütlichen Lesestunde unterbrochen worden.« Mark deutete auf den Boden neben dem Tischchen. Dort lag ein Buch mit fleckigem Einband.
Sie nickte schweigend. Es wurde auf den ersten Blick deutlich, dass hier jemand etwas gesucht hatte. Die Luft quoll geradezu über von dem fauligen, verdorbenen Atem dunkler Magie. »Sie haben eine Wächtergruppe angegriffen und waren auch noch erfolgreich«, flüsterte Jen. Langsam schritt sie durch den Raum. »Wie kann das nur sein? Das Haus muss eine Festung gewesen sein. Wächtergruppen bewachen die gefährlichsten Gegenstände. Und woher wussten die überhaupt davon?«
Mark ging zum Regal und fuhr mit der Hand über die Buchrücken. »Mal ehrlich, wer kann schon voraussagen, was Saint Germain und die anderen Wahnsinnigen wieder ausbrüten. Auf jeden Fall nichts Gutes.«
Mark kniff die Augen zusammen. Stirnrunzelnd trat er in die Mitte des Raumes. »Hier wurde eine Lokalisierung versucht.«
»Sie wollten den Folianten. Aber erfolgreich waren sie nicht.« Jen trat zielsicher an eines der Regale, stieg die angebrachte Leiter empor und zog ein dünnes Heft hervor.
»Okay«, kam es von Mark, »wenn du das einen Folianten nennst, dann müssen wir noch mal über die Definition sprechen.«
»Spinner.« Er wusste genau, dass der äußere Schein trügen konnte.
Jen legte das Heftchen – ein alter Groschenroman – auf dem Lesetisch ab. Auf dem Cover stand ein verwegen aussehender Pirat mit nacktem Oberkörper auf dem Deck seines Schiffes. Vor ihm kniete eine Frau, den Kopf leicht zur Seite geneigt und dem Betrachter zugewandt. Die Lippen des Piraten berührten ihren Hals.
»Gib es zu, du willst ihn unbedingt lesen.«, sagte Mark.
»Unbedingt. Ich stehe auf romantische Literatur«, sie grinste ihn an. »Damit kann man so schön Feuer machen.«
Sie zog ihren Essenzstab hervor. Bei dem Zauber, den sie nun auszuführen gedachte, musste die Magie direkt im Gegenstand wirken. Es reichte nicht aus, die Machtsymbole in die Luft zu zeichnen. Doch damit sie in Material einwirken konnten, bedurfte es immer eines Essenzstabes. Er kanalisierte die Magie und übertrug sie in den jeweiligen Rohstoff. Nimags – Nichtmagier, also gewöhnliche Menschen – hätten wohl Zauberstab dazu gesagt.
Sie zeichnete das Bild der Desillusionierung auf das Papier, verknüpfte es mit dem Mal der Wächtergruppe und erschuf so ein völlig neues Machtsymbol. Ihr Essenzstab formte den Zauber aus violetter Essenz. Am Ende sickerte er in das Heftchen.
Im nächsten Augenblick zog und wand sich das Papier, wurde größer, dicker, schwerer.
»Tadaaa«, sagte Jen.
»Das ist es also«, kam es von Mark. »Seltsam, ich erkenne keine schwarzmagische Ausstrahlung. Was könnten die Schattenkämpfer damit gewollt haben?«
Gute Frage. »Vielleicht gehört es zur undefinierten Magie und sie wollten es formen.« Sie schlug die Seiten auf. Die Zeichen blieben unleserlich, glichen chinesischen Schriftzeichen, die bei genauerer Betrachtung zu keltisch anmutenden Symbolen wurden. »Da muss ein Bibliothekar drüberschauen.« Sie schloss den Folianten.
Es rauschte. Kutten flatterten, als zahlreiche Personen aus der Luft entstanden. Entsetzt blickte Jen auf die Neuankömmlinge, die dunkle Mönchskutten und Kapuzen trugen. Auf die Stirn eines jeden dunklen Mönchs war ein schwarzes Auge geritzt worden. Ihr Unsichtbarkeitszauber war so perfekt gewesen, dass sie keinen Hauch wahrgenommen hatte.
Einer der Mönchskrieger trat vor. »Der Foliant!«
»Nein, ich denke nicht«, sagte Mark.
Dann ging alles rasend schnell. Ein Schlag traf Jen, schleuderte sie beiseite. Aus dem Nichts entstand eine unterarmlange Holzfigur. Der Foliant flog in die Hand eines Feindes, die Figur landete neben Mark. Er schrie. Tentakel aus Holz bohrten sich in seine Brust, als sei das Totem lebendig. Blut spritzte. Knochen knirschten.
Jen kam in die Höhe.
Die Mönchskrieger verschwanden vor ihren Augen, als seien sie nicht mehr als Nebelgebilde, die den Folianten mit sich nahmen.
Jen wandte sich Mark zu …
… und erschrak.
Der Freund und Kampfgefährte wurde von einer Sphäre aus Nebelfetzen umhüllt. Langsam stieg er in die Luft empor. Die Figur pulsierte, wie das schlagende Herz einer unheiligen Kreatur. Sie konnte spüren, was das Ding tat.
»Lauf«, krächzte Mark.
»Vergiss es.« Blitzschnell führte Jen mehrere Kraftschläge aus. Doch der Nebel wehrte alle ab. Sie versuchte, ruhig zu bleiben. Ein Teil des Wissens, das sie zu ihrer Erweckung erhalten hatte, war verloren gegangen – wie bei jedem. Sie hatte es nicht vertieft. Aber die essenziellen Gesetze des Zauberausgleichs waren ihr noch vertraut.
Sie griff auf ihr Sigil zu und leitete eigene magische Essenz in die Sphäre. Ein Ausgleich war geschaffen. Damit erkaufte sie Zeit. Doch die Kreatur reagierte. Ein Rückstoß schleuderte Jen durch den Raum und gegen ein Regal. Das Artefakt zehrte weiter von Marks innerer Kraft, wie ein Schmarotzer.
Seine Essenz war auf ein bedrohliches Minimum reduziert worden.
»Lauf«, krächzte er. »Sonst sterben wir beide.«
Jen ballte die Fäuste. Wut schoss in ihr empor. Es musste einfach eine Möglichkeit geben. »Nein.«
»Doch«, sagte Mark sanft. »Du hast nur noch Minuten.«
Sie schaltete jede Emotion ab, warf sich herum und rannte davon. Im Laufen berührte sie den Kontaktstein unter ihrem Shirt, versuchte, das Castillo zu informieren. Die schwarze Magie, die überall ringsum in der Luft lag, verhinderte es.
Im Geiste sah sie, wie die letzte Essenz, die Marks Sigil innewohnte, aufgezehrt wurde.
Ab einem solchen Moment war jeder Magier in Lebensgefahr, musste er jede magische Aktivität sofort einstellen. Denn nun bediente sich der gewobene Zauberspruch über das Sigil an der Auraenergie.
Sie rannte polternd die Treppe hinab, ließ aber ihren Weitblick – der mühelos die Wände durchdrang – auf dem Freund und Gefährten ruhen.
Marks Aura flammte auf; eine grünliche Sphäre, die seine Körperkonturen nachbildete. Das Artefakt zog Energie davon ab, zehrte die letzte schützende Hülle auf, die normalerweise dazu gedacht war, das Sigil zu bändigen und gleichermaßen zu schützen.
Jen knallte in vollem Lauf gegen die Eingangstür. Der Nebeleffekt war längst fort. Mit zitternden Fingern riss sie ihren Essenzstab in die Höhe und zeichnete das Symbol für den Materietransfer.
Holz zu Nebel.
Endlich wich das Hindernis, sie hetzte hinaus.
Ein Blick zurück zeigte ihr, dass das Ende gekommen war. Marks Aura verschwand. Es gab keine Essenz und keine Aura mehr, nichts, dass das Sigil hielt. Es expandierte abrupt. Eine Aura aus purem Feuer äscherte Mark augenblicklich ein. Das gesamte Herrenhaus erbebte, die Wände brachen fort, Fensterscheiben explodierten. Die Druckwelle schleuderte Jen davon.
Ihr Bewusstsein erlosch.
Kevins Körper verkrampfte. Von einem Augenblick zum nächsten war er hellwach. In seinem Geist loderte eine gewaltige grüne Flamme, bevor sie von Schwärze verschluckt wurde. Stöhnend rollte er zur Seite, krachte auf den Boden, wo er zitternd liegen blieb. Tränen brachen aus ihm heraus.
Mark ist tot.
Das Netz, das alle Lichtkämpfer eines Teams verband, übertrug den Moment des Ablebens an die anderen. Gleichzeitig war der Ausbruch eines Sigils, wenn es in pure Essenzenergie transformierte, überall auf der Welt für Magier wahrnehmbar. Das Gefüge der Magie schrie auf, weil einer der Ihren zu Tode gekommen war.
»Hey«, erklang eine zärtliche Stimme. Max war plötzlich neben ihm, bettete Kevins Kopf in seinen Schoß. »Atme langsam ein und aus.«
Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Die Muskeln entkrampften. Der körperliche Schmerz zog sich zurück. Doch der andere, der seelische Schmerz, blieb. Begreifen, realisieren, verarbeiten – jeder Gedanke ging so zähflüssig wie Sirup.
Max schaute traurig auf ihn herunter. Das dunkelblonde Haar war noch zerzaust, in den braunen Augen waren die letzten Reste Schlaf sichtbar. Er trug lediglich Shorts. »Wer ist es?«
Da sie seit drei Jahren ein Paar waren, hatte der Rat Max aus Kevins Team herausgeholt. Gingen Lichtkämpfer eine Beziehung oder eine Affäre ein, durften sie nicht länger zum gleichen Einsatzteam gehören. Daher hatte sein Freund auch nur gespürt, dass jemand gestorben war, doch nicht wer.
»Mark«, sagte Kevin. Zitternd kam er in die Höhe.
»Was ist mit Jen? Waren sie nicht beide unterwegs?«
»Stimmt. Aber sie scheint noch okay zu sein.« Er taumelte kurz. Das Abbild des Aurafeuers hatte sich in seinen Geist gebrannt. Nun mussten sie schnell handeln. Er schlüpfte in Jeans, zog ein Shirt über und steckte den Essenzstab hinter seinen Gürtel.
Dann rannte er hinaus.
Der Rat musste informiert werden, ebenso die anderen. Auf den Gängen begegneten ihm Lichtkämpfer. Der Schock des Aurafeuers stand ihnen allen ins Gesicht geschrieben. Genau wie die Frage: Wer war gestorben? Er ignorierte die fragenden Blicke.
Erst die Kälte an seinen Fußsohlen ließ ihn realisieren, dass er barfuß aus dem Zimmer gerannt war.
Egal.
Er rempelte einen Neuerweckten zur Seite, rannte in einen Bibliothekar und konnte gerade noch einem Ordnungsmagier ausweichen. Dann hatte er die Kammer erreicht. Von hier führte eine schmale Wendeltreppe hinab in die Katakomben unter dem Castillo. Beinahe wäre er gestolpert und vermutlich wie eine menschliche Kugel nach unten gesaust – er hätte sich alle Knochen gebrochen. Im letzten Augenblick fand er das Gleichgewicht wieder.
Verschwitzt und atemlos erreichte er die Krypta. Sie war bereits dort, begrüßte ihn mit einem Nicken. »Kevin. Der Verlust, den dein Team erlitten hat, tut mir leid.«
Er schluckte. Mochte sich Johanna von Orléans noch so viel Mühe geben, sich auf ihrer Stufe zu bewegen, so blieb sie doch eine Unsterbliche mit der Lebenserfahrung von Jahrhunderten. Es war fast unmöglich, in ihrer Gegenwart nichts von der Erhabenheit zu spüren, die sie wie ein Fluidum umgab. »Danke. Hat es bereits reagiert?«
»Nein«, sagte Johanna. Sie trug das rötlich-blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine modische weiße Bluse, Jeans und einfache Stoffschuhe verliehen ihr das Aussehen einer Frau Anfang vierzig, die vor Kraft nur so sprühte. »Doch es kann nicht lange dauern. Das Aurafeuer ist erloschen, das Sigil nun reine Energie. In wenigen Minuten wird es sich wieder manifestieren … irgendwo.«
In irgendwem. Kevin nickte. Niemand wusste, auf welcher Grundlage sich die Sigilmagie einen Nachfolger wählte. Doch in ihm würde das Erbe der Macht lebendig werden. Ein neuer Magier würde zum Teil der Gemeinschaft werden, sein altes Leben als Nimag – Nichtmagier – hinter sich lassen.
Vor ihnen stand das Wertvollste, was die Lichtkämpfer besaßen. Ein fester Quader aus schwarzem Onyx. Ihn vor dem Zugriff der Schattenkämpfer zu bewahren, war die wichtigste Aufgabe – gleich nach dem Schutz des Walls. Seit mittlerweile einhundert Jahren versuchten die feindlichen Kämpfer, den Wall zu Fall zu bringen, damit sie wieder über ihre gesamte Magie gebieten konnten. Die Barriere hatte die Erinnerungen der Menschen an das Übernatürliche getilgt und verbarg Magie vor den Augen der Nimags. Doch die dafür notwendige Essenz zog sie aus allen magischen Geschöpfen ab, was das Magiepotenzial aller Magier abwertete.
Der Onyxquader schien mit dem Wall in Verbindung zu stehen. Der Rat wusste um dessen Geheimnis, teilte es jedoch mit niemandem. Normalerweise zerriss es Kevin vor Neugierde, wenn er dem Artefakt gegenüberstand. Nicht aber heute. Er spürte lediglich Trauer, die sich mit dem Schmerz über den Verlust eines Freundes vermengte.
Jemand keuchte.
Max stürmte herein. Er grüßte Johanna mit einem »Hi« und warf Kevins Turnschuhe vor dessen Füße. »Hast du vergessen. Ist vielleicht kalt hier unten. Alles klar?« Er hatte sein Haar notdürftig gebändigt und schenkte ihm einen liebevollen Blick. In diesem Augenblick hätte Kevin ihn gerne in die Arme genommen. Aber nicht hier. Nicht jetzt.
»Alles klar«, gab er daher nur zurück.
Ein Schluchzen erklang. Kurz darauf betrat Clara die Krypta. Sie wischte die Tränen beiseite und reckte das Kinn empor. Ihr langes, seidig-schwarzes Haar, die glatten Gesichtszüge und die tiefbraune Haut verliehen ihr das Aussehen einer nubischen Prinzessin. Sie umarmten sich.
»Dann ist euer Team fast komplett«, stellte Johanna fest. »Chris ist in einem Gebiet ohne Portal unterwegs und Jen wird ebenfalls nicht rechtzeitig hier sein. Ich habe einen Portalmagier nach London geschickt, er wird nach ihr sehen. Die Ordnungsmagier werden sie außerdem befragen.«
»Was ist mit Chloe?«, fragte Kevin.
»Ihr Einsatz dauert noch an. In einigen Tagen kehrt sie zu euch zurück.«
Er nickte dankbar. Jen, Mark, Clara, Chloe, sein Zwillingsbruder Chris und er bildeten ein Team. Sie bestritten gemeinsam ihre Abenteuer, saßen bis tief in die Nacht plaudernd zusammen und waren durch Magie miteinander verbunden. Marks Tod hinterließ bei ihnen allen eine Leere. Innerlich betete er darum, dass Jen nichts geschah. Fahrig griff er an seine Brust, vor der der Kontaktstein hing.
»Ich habe es schon versucht«, sagte Clara. »Kein Kontakt. Wo sie auch ist, schwarze Magie umhüllt sie wie ein Dämpfungsfeld. Da gibt es kein Durchkommen.«
Bevor er etwas erwidern konnte, erwachte der Onyxquader zum Leben. Die dunkle Oberfläche wurde milchig weiß, bildete Schlieren. Konturen entstanden, eine schattenhafte Silhouette.
Johanna von Orléans runzelte die Stirn. »Da stimmt etwas nicht.«
Bisher war Kevin erst einmal dabei gewesen, als die Macht sich einen Erben gesucht hatte. Klare Bilder hatten sich damals manifestiert; ein Gesicht, ein Ort, exakte Informationen.
Sie warteten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit entstand ein schwarzer Fleck in der Form eines Landes. »England«, entfuhr es Clara. »Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Erbe im gleichen Land erwählt wird, in dem der Magier zuvor starb?«
»Eins zu vierhunderttausend«, antwortete Johanna. »Und es ist nicht nur das gleiche Land. Es ist London, die gleiche Stadt.« Die Rätin war meist mit einem Lächeln im Gesicht anzutreffen, doch nun wirkte sie besorgt.
Sie hat Angst, begriff Kevin. »Was ist los?«
Die Schlieren wirbelten weiter.
Max, der bisher geschwiegen hatte, sagte: »London ist groß. Geht es nicht ein wenig genauer?«
Johanna hob die Hand, bedeutete ihm zu schweigen. Mit fester Stimme sprach sie Worte der Macht, wob einen Zauber. Gleichzeitig hinterließen ihre Finger eine Feuerspur in der Luft. Über die Oberfläche des Onyxquaders fuhr ein Wabern. In der Mitte bildete sich ein Punkt, der schnell größer wurde. Es war, als schaue man auf einen Fernsehbildschirm, der beständig wuchs.
Da war ein Mann, Mitte zwanzig. Er trug einen Dreitagebart, besaß ein markantes Gesicht, kurzes dunkles Haar. Er war attraktiv und, wie Kevin bemerkte, sich dessen bewusst. Nur Markenklamotten, offenes Hemd, edle Uhr. Er erkannte diese Art Mensch sofort, war vor Max einmal zu oft auf sie hereingefallen. Der Unbekannte steuerte zusammen mit einem Freund eine Disco im Londoner Stadtteil Soho an. Das Wissen um die lokalen Koordinaten war plötzlich in Kevins Geist.
Johanna taumelte, ging in die Knie. Das Bild schrumpfte.
»Da, am Rand.« Clara deutete auf den äußren Bereich des Onyxquaders.
Schwarze Schlieren bildeten sich. Doch nicht auf dem Quader, nein. Sie waren Teil der Szene.
»Dunkle Magie manifestiert sich an diesem Ort«, kam es von Johanna. Die Rätin wirkte ausgebrannt. »Nichts ist so, wie es sein sollte.« Ihre Hand ruhte auf der Steinwand.
»Ich schicke sofort ein Team.« Kevin griff nach seinem Kontaktstein. »Wenn sie das Portal in der Innenstadt nehmen …«
»Nein«, kam es von Johanna, die Stimme klar und schneidend. »Jen ist näher dran. Sie wird ihn suchen und ins Castillo bringen. Niemand sonst.«
Max keuchte. »Aber … sie hat gerade ihren Partner verloren.«
»Dann wird es eine Ehre für sie sein, dessen erweckten Erben in Sicherheit zu geleiten.«
Kevin starrte die Rätin verblüfft an. Was ist los mit ihr?
Die Neugier vertrieb die Trauer zumindest teilweise. Sobald Jen wieder hier war, würde er alles erfahren. Bis dahin musste er sich in Geduld üben.
»Gehen wir nach oben?«, fragte Clara.
Kevin nickte. Die Freundin auf der einen und Max auf der anderen Seite verließ er die Krypta.
Johanna von Orléans blieb zurück. Gedankenverloren betrachtete die Rätin den Onyxquader.
Seine Hände prickelten, der Geruch von Deo und Parfüm lag in der Luft. Verschwitzte Körper bewegten sich im Rhythmus der Musik auf der Tanzfläche. Es wurde geknutscht, Hände wanderten in tiefer gelegene Körperregionen. Lächelnd griff er nach dem Wodka Red Bull.
»Alexander Kent«, sagte Zac. »Wenn deine Mutter das dreckige Grinsen auf diesem hübschen Gesicht sehen könnte, würde sie dich von oben bis unten mit Seife abschrubben.«
Er lachte. »Wie gut, dass sie nicht hier ist.«
Sie stießen an.
Alex hatte mittlerweile realisiert, dass er sich die grüne Erscheinung nur eingebildet hatte. Nach seinem Erwachen war ihm plötzlich heiß geworden, dann eiskalt. Er hätte schwören können, dass seine Hand brannte, in echtem Feuer. Doch es gab keinen Schmerz. Er schleppte sich zurück nach Hause, müde und ausgepowert. Seine Mum stellte keine Fragen, warum auch? Sie kannte derartige Momente zu gut, sowohl von ihm als auch von Alfie. Sein sechzehnjähriger Bruder war dabei, in dem Sumpf zu versacken, der sich Angell Town nannte. Bei dem Gedanken wurde ihm übel. Er vertrieb ihn mit einem Kopfschütteln.
Heute Abend wollte er alles vergessen. Tanzen, knutschen, wilden Sex bis zum Morgen haben. Die Welt außerhalb der Disco existierte nicht.
»Und, schon jemand entdeckt?«, fragte Zac. Der Freund hatte ihn eingeladen. Er war einer der wenigen, die den Absprung aus Brixton geschafft hatten. Eigentlich hatte es eine Feier zu Ehren von Alex' neuem Job werden sollen. Stattdessen sollte es ihn nun trösten.
Alex nickte zur schmalen Theke, die seitlich der Tanzfläche an der Wand entlanglief. »Die Blonde da drüben. Ihre Freundinnen haben bereits einen Typen abgekriegt, aber sie steht noch ganz alleine da.«
»Viel Glück, Alter. Ich kümmere mich jetzt um die Zwillinge dort.« Schon war Zac verschwunden, trug zwei Drinks zu den Geschwistern.
Alex fluchte innerlich. Er hatte sie gar nicht bemerkt. Andererseits war ihm eine heute genug. Er bestellte einen Cocktail, von dem er glaubte, dass er zu der Blonden passte und buchte ihn auf Zacs Karte. Heute ging das in Ordnung. Vorsichtig balancierte er das bauchige Glas, an dessen Rand eine Erdbeere steckte, zum Ziel.
Er hatte die Blonde fast erreicht, als ein anderer Typ neben sie trat. Beide stießen an.
Na, super.
Er versuchte es weiter, doch die kommende Stunde wurde zu einem Debakel. Schließlich gab er auf. Ein Blick zu Zac ließ Neid hochkochen. Der Freund verließ soeben die Disco, eine der Zwillinge an jedem Arm. Das durfte Alex sich dann morgen in allen Details anhören. Er verschwand zur Toilette und betrachtete sich im Spiegel.
Das Hemd saß, ließ aber einen kleinen Ausschnitt der muskulösen Brust frei. Der Dreitagebart wirkte maskulin, die Haare waren sauber gestylt. Die Jeans symbolisierten ein halbes Monatsgehalt, waren durchsetzt mit künstlichen Rissen; natürlich waren es Markenfälschungen. Andernfalls hätte er sich so etwas nicht leisten können. Trotzdem sahen sie echt aus. Himmel, er hätte sich am liebsten selbst abgeschleppt.
Was ist heute nur los?
Normalerweise benötigte er keine zwanzig Minuten, um ein Girl aufzureißen. Wenigstens diese eine Sache in seinem Leben klappte immer. Er hatte schon früh festgestellt, dass Sex von allen Arten an Problemen ausgezeichnet ablenkte.
Er wandte sich ab.
Dann eben heute mal nicht. Bei seinem Glück, riss das Gummi oder das Bett krachte zusammen.
Er schob sich zum Ausgang, knallte die Tür hinter sich zu und verließ die Disco. Vor dem Gebäude stand ein Taxi. Er ignorierte es. Stattdessen sog er tief die kühle Luft ein, kickte einen herumliegenden Stein davon – der mit einem Ping gegen einen frisch lackierten Mercedes SLK prallte – und schlenderte durch das nächtliche London in Richtung Brixton. Der Herbst neigte sich dem Ende zu, der Winter stand bevor.
Er kam an einem baufälligen Haus vorbei. Die unverglasten Fenster wirkten wie leere Augenhöhlen, die ihn mit ihrem Blick verfolgten. Vermutlich hatte wieder ein Investor die bisherigen Mieter vertrieben, um das Gebäude komplett zu sarnieren und den Mietpreis mal eben zu verfünffachen. Das Geäst der Bäume raschelte im Wind. Blätter wirbelten davon. Leichter Nieselregen setzte ein.
Natürlich. Vermutlich wird es gleich wieder schütten.
Tatsächlich prasselte ein Gedanke später eiskalte Nässe herab. Innerhalb von Augenblicken waren seine Jeans, sein Hemd, seine Haare klitschnass. Bis nach Hause musste er gute neunzig Minuten laufen. Unmöglich bei diesem Wetter. Alex verfluchte sich dafür, nicht in das Taxi gestiegen zu sein.
»Das ist sowas von nicht mein Tag«, fluchte er.
»Wie recht du doch hast«, erklang eine weibliche Stimme an seinem Ohr.
Ein Schlag traf Alex zwischen die Schulterblätter, fegte ihn von den Beinen und ließ ihn benommen auf den Gehsteig krachen. Als er den Kopf hob, trat sie gegen sein Kinn. Der plötzliche Schmerz löschte ihm die Sinne aus. Wie durch Nebel sah er sie, schwankend zwischen Wachsein und Bewusstlosigkeit.
Aber wie war das möglich?
Die Frau trug einen langen Mantel, hatte einen Schal um den Hals geschlungen. Ihr Gesicht war von Altersfalten bedeckt, das graue Haar zu einem Dutt aufgesteckt. Schwerfällig trippelte sie nun zu ihrer Handtasche, nahm sie auf. Kurz schaute sie hinab auf Alex, bevor sie nach ihm griff. Sie warf ihn sich einfach über ihre Schulter.
Er wollte sich wehren, was ihm jedoch nur einen weiteren Faustschlag einbrockte.
»Keine Angst, mein Junge, ich tue dir einen Gefallen«, sagte sie. »Du willst nicht in all das hineingezogen werden.«
Alex erkannte das baufällige Haus, das auf ihn zukam. Er wurde die Treppe hinaufgetragen, durch die geöffnete Tür, einen Gang entlang. Raue, unverputzte Wände schälten sich aus dem Dunkel, als, wie auf ein geheimes Kommando, Hunderte von Kerzen entflammten. In ihrem düsteren Licht sah er Wasserlachen, Schimmelflecken, aus dem Zement herausragende Eisenstäbe und brüchige Dielenbretter.
Sie warf ihn zu Boden, als sei er nicht mehr als ein Sack Kartoffeln.
Plötzlich war er wieder hellwach, die Benommenheit fiel von einer auf die andere Sekunde vollständig von ihm ab. Er sprang auf, wollte sich auf die Alte stürzen, doch eine unsichtbare Barriere hielt ihn zurück.
Er blickte zu Boden.
Mit roter Farbe war ein Hexagramm auf die Dielenbretter gemalt worden. Ringsum verliefen winzige Symbole, deren Sprachzugehörigkeit er nicht ansatzweise deuten konnte. Sie glommen in einem düsteren, fast dunklen Licht auf und erloschen wieder.
Im Takt meines Herzschlags.
Das Wissen war einfach da. Diese Zeichen hielten ihn – und nur ihn – im Inneren des Hexagramms gefangen.
»Ah«, kam es von der Alten. »Die geerbte Erinnerung erwacht. Da habe ich dich ja gerade noch rechtzeitig gefunden.« Sie kicherte.
»Was soll das alles?«, rief er und verlieh seiner Stimme einen schneidenden Ton, über den Freunde immer sagten, dass er Eisen zerteilen könnte. »Lassen sie mich hier sofort raus! Andernfalls rufe ich die Cops.« Er zog das Smartphone hervor.
Die Alte wirkte völlig unbeeindruckt. Höhnisch lächelnd zeichnete sie ein Symbol. Alex riss die Augen auf. Ihre Finger hinterließen eine schlammgrün leuchtende Spur in der Luft. Im nächsten Augenblick entstand ein einzelnes großes Machtsymbol.
Machtsymbol? Woher weiß ich das?
Eine unsichtbare Kraft packte das Smartphone, entriss es seiner Hand. Instinktiv klammerte er sich daran fest. Sein … Geist hielt es umschlungen. Mit offenem Mund starrte er auf das kleine Gerät, das in der Luft schwebte, mal in die eine, mal in die andere Richtung.
Nun wirkte die Alte geradezu entsetzt. »Du wurdest gerade erst erweckt.« Sie trat näher. »So etwas dürftest du nicht können.« Sie betrachtete ihn wie ein Insekt, das es zu sezieren galt. »Du scheinst anders zu sein als alle vor dir.« Gedankenverloren schritt sie vor dem Hexagramm auf und ab.
Alex packte sein Smartphone und wählte schnell die Notrufnummer. Erst danach bemerkte er, dass er keinen Empfang hatte.
»Aber warum dann der Befehl …?«
Während die Alte weiter vor sich hinbrabbelte, realisierte Alex erstmals, was hier gerade vorging. Unsichtbare Barrieren, schwebende Smartphones, plötzliche Wissensschübe.
»Ecstasy!« Er schlug die Hand vor die Stirn. »Die haben mir was in den Drink getan. Verdammt!«
Die Alte schaute ihn verdutzt an. »Du bist ja noch dümmer, als ich dachte.« Mit zwei kurzen Schritten stand sie bei ihm. »Aber gut, testen wir meine Theorie. Dein Sigil ist bereits ausreichend verborgen, da komme ich nicht mehr heran. Mittlerweile hat es sich deinem Ich angepasst und Form und Farbe verändert. Wenn ich nur früher da gewesen wäre.« Sie winkte ab. »Deine Aura muss sichtbar werden. Und das tut weh.« Sie kicherte. »Wenigstens etwas.«
Ihre Hände durchstießen die Hexagramm-Barriere, berührten sein Hemd auf Brusthöhe.
Dann kam der Schmerz.
Alex brüllte, als das verdammte Weib etwas aus ihm herausriss.
Deine Essenz, verstand er.
Die Kraft floss nur so davon. Seine Beine wurden zittrig, gaben nach. Er brach zusammen. Hilflos lag er im Hexagramm, sah dabei zu, wie ein nebulöses Gespinst von ihm auf die Alte überging.
Sie schaute verzückt herab. »Das ist unfassbar. Eine so grell lodernde Essenz habe ich noch nie gekostet. Das bringt mir Jahre.« Ihre Augen weiteten sich in Gier. »Ich will alles!«
Alex bäumte sich ein letztes Mal auf, er versuchte es zumindest. Doch sein Körper gehorchte nicht länger. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass es kein Ecstasy-Flash war, der ihn gefangen hielt.
Das Gespinst zwischen ihm und der Alten zerfaserte.
»Was?« Sie schaute verblüfft umher.
Alex hätte vor Schreck beinahe aufgebrüllt. Mit einem Mal erwachten die Schatten in der Ecke des Raumes zum Leben. Eine Silhouette nahm Form an, eine Frau war plötzlich da. Einfach so. Neblige Schwärze lag über ihrem Gesicht, Dunkelheit zeichnete Konturen nach. Sonst konnte er keine Details ausmachen. Nur die Angst war da, manifestierte sich fast körperlich. Er zitterte.
Die Alte wiederum kreischte, wich zurück. »Nein!«
»Ts, ts, ts«, erklang eine verzerrte Stimme. Ihr Alter war nicht auszumachen, nur das Geschlecht kam durch. Eine Frau, eindeutig. »Ich habe doch klargemacht, dass er keinesfalls angegriffen werden darf.«
»Er lief mir zufällig über den Weg.«
»Ihr Schmarotzer glaubt immer wieder, die Regeln missachten zu können. Und dann auch noch lügen? Wie peinlich.« Die Unbekannte glitt auf Hutzelweib zu. Ihre Hand fuhr voran, durchstieß Hutzelweibs Brustkorb, riss das Herz heraus.
In einer Explosion verwandelte sich die Alte in eine Wolke aus Staub, das Herz zerfiel zu Asche. Gemächlich kam die Schattenfrau auf Alex zu. Neben ihm ging sie in die Knie. »Du weißt es noch nicht, aber mit deiner Ankunft wird sich alles verändern. Ich habe so lange darauf gewartet.« Langsam, fast zärtlich strich sie über Alex' rechte Wange. »Ich war von Anfang an dabei, seit über hundert Jahren. Heute beginnt es. Der Bannkreis wird gleich erlöschen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Sie kommt. Es ist wohl an der Zeit.«
Die Unbekannte erhob sich.
»Leider kann ich dir die Erinnerung an all das hier nicht lassen. Du bist noch im Erweckungsprozess, also wird eine kleine Erinnerungsalternierung keinen Schaden anrichten.« Sie seufzte. »Aber es wird schmerzhaft. Es ist immer schmerzhaft. Und das ist auch gut so.«
Schon malte sie Symbole in die Luft. Die Farbe ihrer Spur war seltsam diffus. Alex wollte den Gedanken greifen, doch er verwehte. Zusammen mit allem anderen, das seit dem Auftauchen der Schattenfrau geschehen waren.
Sein Körper verkrampfte.
Er schrie.
Jen betrat die Bibliothek.
»Was ist passiert?!«, fragte Kevin, der sie zuerst entdeckte. Sein dunkelblondes, kurz geschnittenes Haar wirkte zerzaust. Ein Bartschatten lag auf dem Gesicht, die Augen schauten müde drein. Vermutlich hatte er die letzten Stunden damit verbracht, Stärke zu beweisen, wie er es immer tat.
Daneben sah Chris, sein Zwillingsbruder, von einem Folianten auf. Beide glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sah man von dem Tattoo ab, das Chris' rechtes Schulterblatt zierte und auf den Oberarm überging.
Clara kam mit einer Papyrusrolle aus dem rückwärtigen Bereich. Jeder ihrer Schritte strahlte eine Mischung aus Eleganz und Zielstrebigkeit aus. Die dunkle Haut, das seidig-schwarze Haar, die leuchtenden Augen: Es gab niemanden – ob Mann oder Frau –, der sich nicht nach Clara umdrehte; erfüllt von Liebe auf den ersten Blick, Bewunderung oder Neid.
Jen sank in einen der Lesesessel. Zum ersten Mal seit Stunden konnte sie durchatmen. Nachdem Mark gestorben war und sein Sigil sich neu manifestiert hatte, war sie nach London gehetzt, um den Erben zu retten. »Die Schattenkämpfer waren schneller.«
Kevin erbleichte. »Ist er …«
Sie schüttelte den Kopf. »Seltsame Sache. Als ich ankam, lag er bewusstlos in einem erloschenen Bannkreis. Scheinbar hatte ein Parasit ihn entführt.«
»Wieso war er dann noch am Leben?«, fragte Chris.
Anfangs hatte Jen Schwierigkeiten gehabt, beide zu unterscheiden. Mittlerweile konnte sie Gestik, Mimik und Tonlage dem jeweils richtigen Bruder zuordnen. Zudem war Chris' Gesicht einen Tick schmaler.
»Keine Ahnung.« Jen nahm ein Glas Wasser entgegen, das Clara ihr reichte. »Sie hat ihm Essenz abgezogen, er wurde bewusstlos. Was danach passiert ist, weiß er nicht. Aber scheinbar nichts Gutes für das Drecksvieh. Ich hab die Überreste gefunden. Momentan untersuchen die Heiler unseren Neuling. Dann folgt der Test.«
Letzteres führte der Rat bei jedem Neuerweckten durch. So wurde die Farbe von Aura und Spur erfasst und die Stärke der Basismagie.
In den kommenden Tagen würde sich frisches Wissen über Magie in Alexander Kent manifestieren. Zuvor musste sie ihn zu den Lichtkämpfern und der Geschichte aufklären. Das war oft ein gewaltiger Schock, veränderte es die Sicht auf die Welt doch außerordentlich. Meist wechselten sich Euphorie über die neu gewonnene Macht mit einem Gefühlstief ab. Denn Magie forderte stets auch einen Preis.
»Wie ist er so?«, fragte Chris. Er saß mit verschränkten Armen auf dem Rand des Tisches. Die Spitze seines Tattoos lugte auf dem rechten Oberarm unter dem T-Shirt hervor.
Die Zwillinge waren charakterlich recht verschieden. Kevin genoss die Beziehung mit Max, war monogam bis in die letzte Haarspitze. Chris schien nicht für etwas Festes gemacht zu sein, hatte ständig Affären. Dabei ging er jedoch respektvoll mit seinen Gespielinnen um, weshalb Jen ihm das nicht übel nahm. Wehe aber, wenn seine Männlichkeit infrage gestellt wurde. Dann kam das Alphatierchen zum Vorschein.
»Er ist ein arroganter kleiner Macho«, murmelte sie. »Hat sofort mit mir geflirtet und was davon gemurmelt, dass der Tag vielleicht doch noch ein glückliches Ende nimmt. Er kommt aus einem üblen Londoner Stadtteil.« Sie barg das Gesicht in den Händen. »Ich vermisse Mark. Und dann bekommt ausgerechnet so ein Macho-Arsch sein Sigil.« Sie schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an das höhnische Lachen ihres Vaters wallte auf. Sie biss die Zähne zusammen. Gestern war Vergangenheit. »Lernt ihn einfach selbst kennen.«
Schweigen breitete sich aus.
Kevin nahm auf der Lehne ihres Sessels Platz, legte kraftspendend seine Hand auf ihre Schulter. »Was genau ist bei eurem Einsatz passiert?«
Erst jetzt realisierte Jen, dass sie der Gruppe noch nichts erzählt hatte. Sie berichtete, was im Herrenhaus geschehen war.
»Wächter?«, hakte Clara nach. »Moment.« Sie verschwand zwischen den Regalen und kehrte mit einem wuchtigen Verzeichnis zurück. »Zeig mal das Symbol.«
Jen hob das Smartphone in die Höhe.
Nach kurzem Suchen konstatierte die Freundin: »Nichts. Wer die auch waren, ihre Gruppe steht hier nicht.«
Chris' Bizeps trat hervor, als er die Schriftsammlung entgegennahm und durchblätterte. »Der Rat muss die Wächtergruppe für so wichtig gehalten haben, dass er sie aus dem Verzeichnis gelöscht hat.«
»Oder genauer«, korrigierte Jen, »das, was sie bewacht haben.«
»Dieser Foliant«, sagte Kevin. »Den besitzen jetzt allerdings die seltsamen Kuttenträger mit dem Auge auf der Stirn. Das war wirklich eingeritzt? Die haben doch echt alle ’nen Knall.«
In Jen wuchs der Zorn bei dem Gedanken an die Mistkerle. Sie waren für Marks Tod verantwortlich. Dafür würde Jen sie zahlen lassen. Die Trauer wurde von der Wut unterdrückt – noch. Sie konnte das nicht ewig durchhalten, doch einstweilen musste sie stark sein. Jeder von ihnen musste das. »Der Rat?«
»Einen Versuch ist es wert«, sagte Clara. »Aber was es auch mit dem Folianten auf sich hat, wir müssen ihn zurückholen.«
»Ich könnte den Globus nutzen«, überlegte Kevin. »Das Signal war schon einmal stark genug, uns den Aufenthaltsort zu offenbaren. Falls diese Hampelmänner noch mal auf die Magie zugreifen, können wir das Teil so vielleicht orten.«
»Also schön«, entschied Jen, »Kev, versuch es. Clara, kannst du Marks letzte Aufzeichnungen zusammentragen? Für das Archiv.«
»Natürlich.«
»Chris, beschaff uns einen Springer.«
»Aye, Ma'am.«
Sobald das Energiefanal auf dem Globus auftauchte, mussten sie handeln. Ein Tor zu benutzen, würde sie nur in die Nähe bringen. Doch im Gegensatz zu normalen Magiern konnten Sprungmagier aus sich selbst heraus kurzzeitig Portale etablieren. Diese allerdings hatten gegenüber dem über Jahrhunderte gewachsenen Portalnetz keinen dauerhaften Bestand.
Leider gab es nur fünf Sprungmagier, die ständig irgendwo im Einsatz waren. Sie brachten Gruppen in Zielgebiete und holten sie wieder ab, halfen bei der Infiltrierung von schwarzmagischen Anlagen oder der Bergung von Artefakten.
»Was wirst du tun?«, fragte Kevin.
»Ich halte Händchen bei unserem Nachwuchs.« Jen verdrehte genervt die Augen. »Möglicherweise erwürge ich ihn auch. Mal sehen.«