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Max begibt sich in die Höhle des Löwen. Um Leonardo zu retten, geht er aufs Ganze. Doch hat er überhaupt eine Chance? Unterdessen betreten Jen, Alex, Chloe, Chris und Nikki den Boden von Arctica. Hier liegen die legendären Silberknochen verborgen, die das Siegel zur Traumebene darstellen. Das letzte Wettrennen gegen die Schattenfrau beginnt. Das Erbe der Macht ... ... Gewinner des Deutschen Phantastik Preis 2019 in "Beste Serie"! ... Gewinner des Lovelybooks Lesepreis 2018! ... Gewinner des Skoutz-Award 2018!
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Seitenzahl: 634
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Table of Contents
Schattenchronik 4
Ascheatem
Prolog
1. Schön und doch tödlich
2. Ein Geist aus Wind und Wetter
3. Der Neue
4. Der trojanische Lichtkämpfer
5. Gebunden an die Stätten der Vorfahren
6. Ein Hauch vom Anbeginn
7. In gemütlicher Runde
8. Der unverschämte Norden
9. Dream a little dream
10. Darf ich stören?
11. Das verrückte Labyrinth
12. Bei Nacht und Nebel
13. Ein Plausch im 18. Jahrhundert
14. Unter den Engeln ruht die Wahrheit
15. Außer Kontrolle
16. Ein Lord und ein Verräter
17. Wo Unsterbliche fallen
18. Träumst du schon vom Opernhaus?
19. Dreimal dreht sich der Schlüssel
20. Alles oder nichts
21. Durch Wasser und Wind
22. Unvollendet
23. Es kann nur eine geben
24. Das Leuchtfeuer
25. Ende gut, alles gut
26. Ein Ende mit Schrecken
27. Vertrauen in einen Traum
28. Patricias Coup
29. Das Überraschungsei
30. Schokolade mit Marshmallows
31. Unter vier Augen
Epilog
Zwillingsfluch
Prolog
1. Unter den Engeln ruht die Wahrheit
2. Nimags, Bier und Kartenspiel
3. Der Hort des Wissens
4. Fragmente, Splitter und Trümmer
5. Familientreffen
6. Eine Hölle namens Jugend
7. Mit Schirm, Charme und Melone
8. Fuchs und Rabe
9. Der goldene Apfel
10. Schmerz aus Indigo
11. Inferno
12. Infernale
13. In Glanz und Glorie
14. Schnell wie ein Pfeil
15. Familienehre
16. Die letzte Pyramide
17. Um jede Sekunde
18. Ms Danvers und ihr Sekretär
19. Die Leiden des jungen Kent
20. Der Bewahrer des Fluchs
21. Geteilt durch Liebe, vereint in Angst
22. Versprich es mir!
23. Im Stundenschlag der Ewigkeit
24. Wo Fuchs und Rabe sich Gute Nacht sagen
25. Ein Rätsel in Gold und Hexenholz
26. Zwillingsfluch
27. In ihrer Verzweiflung
28. Der dritte Zwilling
29. Ich erkenne einen Fluch, wenn ich ihn sehe
30. Das zweite Kryptex
31. Das Wissen der Annora Grant
32. Eine Krone aus Blut
33. Ein Schritt zurück
Allmacht
Prolog
1. Ein verwegener Plan
2. Sucht euch was aus
3. Ein Angebot, das du nicht ausschlagen kannst
4. Das schreckliche Wirken des Alexander Kent
5. Das Retro-Team
6. Dancing Queen
7. Ankunft
8. Eine Spinne im Netz
9. Die Arbeit und das Vergnügen
10. Elvis lebt
11. Der Blutstein
12. Ein großartiger Lehrer
13. Team Alfie
14. Drei Engel für Moriarty
15. Déjà-vu
16. Der Weg ist das Ziel
17. Der Schmerz des Anbeginns
18. Über den Wolken
19. Parthenope
20. Claras Ankunft
21. Vom Winde verweht
22. Alles oder nichts
23. Aus dem Schatten in das Licht
24. Dornröschen in London
25. Home sweet home
26. On stage
27. Die Opferrolle
28. Der Übergang
29. Spieglein, Spieglein an der Wand
30. Auferstanden
31. Unter der schwarzen Sonne
32. Traumfeuer
33. Was ist hier passiert?
34. Die Gebrüder Kent
35. Eine alte Rechnung
36. Krieg kennt keine Gewinner
37. Vertrauen
38. Ein Opfer für die Ewigkeit
39. Der Überraschungsgast
40. Team-up
41. Der Plan
42. Die Wahrheit
43. Die alte Ordnung fällt
44. Der erste Zauber
45. Das letzte Opfer
46. Die Ruhe nach dem Sturm
47. Ein Hauch der Zukunft
Epilog
Glossar
Impressum
Das Erbe der Macht
Allmacht
von Andreas Suchanek
X
Ascheatem
Der Schnee knirschte unter ihren Stiefelsohlen. Sie hinterließen Abdrücke auf dem weißen Pulver, über das seit Jahrzehnten niemand mehr geschritten war. Eisige Kälte hing in der Luft, frisch und schwer.
Die Schattenfrau atmete tief ein.
So also roch Triumph.
Sie fuhr mit ihren behandschuhten Fingern über die Wände. Der Schnee türmte sich am Ende der Linien zu winzigen Pulverklumpen auf.
»Eine Ewigkeit lang unberührt«, säuselte die Schattenfrau. »Und dann komme ich.«
Die flauschige Wärme ihrer Thermokleidung schützte sie vor den tödlichen Temperaturen auf Antarktika. Die Kapuze war mit Fell ausgekleidet. Atem kondensierte vor ihrem Mund, wallte auf und verpuffte.
Der Raum war kreisrund und lag tief unter der Erde, verborgen im ewigen Eis. Einzig im Zentrum befand sich kein Schnee. Eine Fläche von fünf Schritten im Radius. Der Rand bestand aus magischen Symbolen, eingemeißelt in Stein.
Und da lagen sie.
Die Silberknochen.
Das letzte Überbleibsel jenes Mannes, der sich einst geopfert hatte, um den Traumkrieg zu beenden. Ein Siegel, manifestiert und erdgebunden in den Knochen eines Unsterblichen.
Im Verlauf ihres Lebens hatte es nicht viele Momente gegeben, in denen sie den Tod eines Unsterblichen miterleben durfte. Zugegeben, sie hatte bei dem einen oder anderen Ereignis ihre Finger im Spiel gehabt. Fallen zu stellen und zuzuschauen, wie einer der Mächtigen fiel, war unvergleichlich. Aus diesem Grund konnte sie die Knochen mit den eingeritzten Symbolen sofort zuordnen.
Die Erinnerung an die damalige Zeit war nebulös, wie vieles in ihrem langen Leben. Die Schattenfrau hatte den Traumkrieg miterlebt. Die gnadenlose Brutalität, mit der Feinde einander beeinflussten – herrlich. Magier sprangen von Brücken, legten ihre Waffen nieder oder jagten sich selbst Kraftschläge durch die Brust. Die Manipulation über die Träume war eine perfekte Waffe.
»Und die armen Nimags wussten gar nicht, wie ihnen geschah.« Sie grinste.
Kurz vor dem Kreis hielt sie inne und zog mit den Zähnen ihren rechten Handschuh aus, der linke folgte. Eine Armbewegung und die Kapuze glitt in den Nacken.
Endlich.
Das Ziel ihrer langen Suche lag direkt vor ihr. Mochte es auch noch verborgen sein: Zwischen Chaos und Träumen, Leid und Kampf würde es ihr doch nicht mehr entkommen.
Die Lichtkämpfer waren auf dem Weg. Der Indikatorzauber, den sie in das deaktivierte Kristallnetz von Nemos Basis gearbeitet hatte, hatte sie informiert. Der Schutz war wiederhergestellt. Sie konnte sich nur zwei Personen vorstellen, die in schöner Regelmäßigkeit ihren Weg kreuzten und nervten. Das Chaos-Duo war auf dem Weg.
»Ihr seid zu spät.« Sie streckte ihre Hand aus, berührte die eiskalten Knochen. »Somnus Planum Excitare.«
Die Welt verging in einem ewigen Traum.
Die Nautilus hielt auf die Passage zu. Das Packeis bildete eine schmale Schneise, in der das Navigieren zur Kunst wurde.
»Möglicherweise krachen wir gleich gegen einen Eisberg«, kommentierte Alex.
»Du hast zu oft Titanic gesehen«, beschied ihm Jen.
»Solange ich nicht am Ende schockgefrostet untergehe und du den Diamanten bekommst, soll es mir recht sein.« Er grinste frech. »Hast du am Ende des Films geweint?«
»Ich habe ihn nicht einmal gesehen«, gab sie mit funkelnden Augen zurück. »Du etwa?«
»Ähm.« Alex räusperte sich und besann sich auf seine männliche Ehre. »Nein.«
Er ging zu Chris hinüber.
»Ich habe geflennt wie ein Duschkopf«, gab Chloe leise neben ihr zu. »Hätte den Eisberg am liebsten mit einem Kraftschlag zerschossen.«
»Ich auch«, sagte Jen aus dem Mundwinkel. »Aber muss er ja nicht wissen.«
Sie grinsten einander an.
Mittlerweile hatte Jen Alex über die Besonderheit von Antarktika aufgeklärt. Lange vor dem Traumkrieg und den Silberknochen hatte man bei dem Kontinent eine Besonderheit festgestellt: Magie verhielt sich hier unberechenbar. Daher durften sie ab sofort keine Zauber mehr wirken. Glücklicherweise galt das für jeden, auch für die Schattenfrau. Natürlich hatte Alex – Kindskopf, wie er war – einen kleinen Kraftzauber auf Chris jagen wollen. Die beiden hatten irgendeine tiefsinnige Diskussion über Bier geführt. Besagter Kraftschlag hatte wie eine Flamme gewirkt, die an die Zuleitung eines Gasherds gehalten wurde. Jen hatte das Puff noch in den Ohren. Im nächsten Augenblick war Alex durch die Luft gesaust und gegen die Wand gekracht. Mit rußgeschwärztem Gesicht, verbrannten Augenbrauen und zerzausten Haaren hatte er doch tatsächlich die Frechheit besessen, »Cool!« zu sagen.
Nemo hatte ihn daraufhin in seine Kabine eingeladen. Das Gebrüll des Unsterblichen drang durch die Wände bis auf die Gänge. Danach gab Alex sich handzahm.
»Wir bräuchten einen Nemo im Castillo«, seufzte Jen.
»Was meinst du?«, fragte Alex.
»Ach, nichts.«
Sie standen gemeinsam an der Reling und betrachteten die Umgebung. Während Suni noch im Heilschlaf regenerierte, kuschelte Nikki sich tief in ihre Thermojacke. Chloe umklammerte einen Becher mit Kaffee. Chris hielt die Arme verschränkt und blickte entschlossen drein.
»Ein kurzer Sprung ans Ziel wäre mir jetzt lieber«, gestand Alex.
»Mir auch.« Jen schaute zu Nikki. »Aber wer weiß, wo wir rauskämen. Ich möchte nicht als Eisskulptur enden. Oder als Explosion, die den Kontinent ausradiert.«
Nemo hatte verdeutlicht, dass die Antarktika-Effekte der Magie noch viel gefährlichere Ausmaße annehmen würden, sobald sie ihr Ziel erreichten. Ein Kraftschlag konnte zur Atomexplosion werden.
Alex kam wieder herüber.
»Das ist das erste Mal, dass ich froh darüber wäre, wenn der Masseerhaltungssatz hier funktionieren würde«, sagte er. »Aber nein. Stein zu Gold geht nicht. Wasser zu Bier, keine Chance. Kraftschlag zur Atombombe, sicher.«
»Wie sagt Edison immer: Magie ist nicht dazu da, unsere Wünsche zu erfüllen.« Jen schielte sehnsüchtig zu Chloes Kaffeebecher. Ihrer war leer und es blieb keine Zeit mehr für Nachschub.
Die Nautilus wurde langsamer.
Entgegen der ursprünglichen Planung würden sie alle von Einstein angefertigten Zaubertränke und Apparaturen zurücklassen. Für die Dauer des Einsatzes wurden sie zu gewöhnlichen Nimags.
Nemo kam auf sie zugestapft. Er hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ging mit polternden Schritten über das Deck. Er trug seine dunkelblaue Uniform und ignorierte die Kälte schlicht. Der schwarze Rauschebart wirkte gepflegt, die Augen blitzten energiegeladen. Der Unsterbliche hatte seine Stärke zurückgewonnen und strahlte mit jedem Schritt die geschmeidige Kraft eines Pumas und Autorität eines Löwen aus.
»Wir sind soweit.«
Wie um seine Worte zu bestätigen, stoppte die Nautilus.
»Ihr könnt von Bord gehen. Ich werde euch nicht begleiten können, doch wenn ihr meinen Anweisungen Folge leistet, werdet ihr auf die Wächterin treffen. Sie bringt euch zum Ziel.«
»Danke für alles«, sagte Jen.
»Ich bin euch zu Dank verpflichtet. Ohne euer Eingreifen wären meine Männer und ich von den Kreaturen des Anbeginns verzehrt worden und das Meer wäre heute von ihnen beseelt.«
Die Freunde stiegen über eine ausgefahrene Planke hinüber auf das Eis. Nemos Männer hatten Schlitten mit Proviant und Rucksäcke für sie abgestellt.
Jen spürte die Erhabenheit des Augenblicks in ihrem Innersten widerhallen. Nur wenige Menschen betraten im Verlauf ihres Lebens diesen Kontinent. Er war schön und gefährlich, uralt und doch voller Leben. Hätte sie ihren Weitblick einsetzen dürfen, vermutlich hätte sie Pinguine, Robben und eine Vielzahl anderer Lebewesen ausgemacht. Das hier war einer der wenigen relativ unberührten Lebensräume, es gab keine Menschen. Sie seufzte. Doch selbst aus der Ferne zerstörten die Nimags diesen Ort. Das Eis schmolz fort, die Klimaerwärmung vernichtete den Lebensraum und ließ ihn schrumpfen.
»Alles klar?«, fragte Alex.
»Sicher. Also, wo geht es lang?«
Chris schwenkte einen Kompass. »Nemo hat mir genau erklärt, worauf wir achten müssen.«
Skeptisch blickte Chloe auf das kleine Gerät aus Messing und Eisen. »Nimm’s nicht persönlich, ich traue dir jederzeit zu, einen Eisberg mit purer Muskelkraft zu verschieben, aber einen Kompass zu lesen, na ja. Wieso ist Kevin noch mal daheimgeblieben?«
Während sie noch kicherte, formte Chris einen Schneeball und warf ihn direkt in ihre Kapuze. Aus Chloes Lachen wurde ein Kreischen.
»Punki auf Eis«, verkündete Chris stolz. »Wollen wir dann?«
Zwischen den beiden entstand ein verbaler Schlagabtausch, den Jen ausblendete.
Sie überprüfte den Schlitten und die Rucksäcke und versuchte, dem Verlangen, Magie zu wirken, nicht nachzugeben. Eine Wärmesphäre, leicht wie eine Feder über das Eis schweben, ein Sprung mit Nikki direkt zum Ziel – nichts davon war möglich.
»Beeilen wir uns«, sagte Alex. »Momentan haben wir gutes Wetter, aber das mit dem Tageslicht ist so eine Sache. Könnte knapp werden.«
Die Worte brachten Jen ins Gedächtnis zurück, dass er noch immer wie ein Nimag dachte. Keiner von ihnen hätte auf etwas geachtet wie das Licht oder das Wetter. Normalerweise konnten sie sich auch mit Leichtigkeit gegen die Natur schützen oder Lux-Sphären erzeugen.
Hier war das anders.
Ein Sturm konnte den Tod bedeuten. In der Dunkelheit vermochten sie nicht über das Eis zu marschieren. Allzu leicht konnte eine verborgene Gletscherspalte sie verschlingen.
Auch Chloe und Chris wirkten nun ernst.
Jeder schulterte seinen Rucksack. Alex und Chris zogen gemeinsam für den ersten Streckenabschnitt den Schlitten. Später würden auch Chloe, Nikki und sie übernehmen.
Immer wieder wandte Jen sich um und schaute zurück. Die Nautilus schrumpfte in der Ferne zu einem immer kleiner werdenden Punkt zusammen. Nemo stand reglos an der Reling und blickte ihnen hinterher. Irgendwann war er verschwunden.
Allein.
Ab jetzt waren sie auf sich gestellt.
Einen Schritt vor den anderen setzend, drangen sie tiefer auf den fremden Kontinent vor. Antarktika. Eine schöne und doch tödliche Welt nahm sie auf.
Die Sonne war fast am Horizont versunken, als in der Ferne ein Gebäude auftauchte. Beinahe hätte Jen ihren Weitblick eingesetzt oder im Reflex den Kontaktstein verwendet. Im letzten Augenblick besann sie sich eines Besseren. Eine weitere Stunde verging, dann erreichten sie das Haus.
»Nett«, sprach Alex aus, was alle dachten.
Das Gebäude wirkte von außen unscheinbar. Grob gehauene Wände ragten empor und erschufen einen sechseckigen Turm auf einem Podest. Eine Veranda führte zur Eingangstür. Zwei Holzstützen wuchsen links und rechts in die Höhe, hielten einen Balkon. Oben auf der Spitze gab es eine Aussichtsplattform.
Hinter den Fenstern verbargen rot-weiße Vorhänge das Innere. Aus dem Schornstein schraubten sich Rauchkringel in den Himmel.
»Hallo«, brüllte Alex, worauf Jen zusammenzuckte.
»Kent, dort vorne hängt ein Türklopfer!«
Hunde bellten.
Chloe rannte zur Seite des Gebäudes. »Huskys!«
Jemand hatte im Abstand von einigen Schritten Holzbretter in den Boden gerammt. Dazwischen spannten sich Drahtseile. Fünf Huskys lagen im Schnee. Hinter ihnen ragte ein Holzschuppen empor, in dem Decken auslagen.
Chloe ging vor den Hunden in die Knie. »So hübsch und so stolz.«
Einer der fünf kam nach vorne, knurrte und streckte die Nase in die Höhe. Sekunden später wurde das Knurren zu einem freundlichen Bellen.
»Es scheint, als wurden wir akzeptiert«, vermutete Alex. »Aber sollte Frauchen nicht mittlerweile auch aufgetaucht sein?«
»Das ist seltsam.« Chris zog seinen Essenzstab. Ein Blick von Jen und er steckte ihn fluchend wieder weg. »Ich hasse Antarktika.«
Sie gingen zur Vordertür und klopften.
»Wie bekommen wir die Tür auf?«, fragte Alex schließlich.
»Kannst du sie nicht aufbrechen? Du weißt schon …« Jen stocherte mit ihrem rechten Zeigefinger in einem imaginären Schloss.
»Ich kann keine Tür aufbrechen«, sagte Alex.
»Nicht?«
»Wie kommst du darauf, dass ich es könnte?«
»Hm.« Jen schaute zwischen ihm und dem Schloss hin und her. »Also. Weil du pfiffig bist?«
»Wegen meiner Herkunft?!«
»Leute.« Chloe machte eine beschwichtigende Geste. »Entspannt euch. Gerüchte künden davon, dass ich mein erstes Schloss mit neun Jahren knacken konnte. Das gehörte zur Speisekammer.« Sie verschwand und kehrte mit einem Stück Draht zurück. »Lasst das mal Tante Chloe machen.«
Chris trat grinsend beiseite. »Weißt du, ich hätte sie auch eingetreten.«
Chloe tätschelte ihm den Arm. »Ja, ist klar. Dabei hättest du dir nur wehgetan, Muskelbirne.«
Es klackte, als sie im Schloss herumstocherte. Jen beobachtete fasziniert, wie die Freundin lauschte und den Draht bewegte.
»Voilà.« Chloe deutete mit ausgebreiteten Armen auf die Tür, die nach innen aufglitt. »Nennt mich Panzerknacker-Punk.«
Sie betraten das Haus.
Der Boden war mit hellen Dielen ausgekleidet. In der Luft lag der Geruch von Kaffee, Tee und Honig. Und von Gewürzen, die Jen nicht zuordnen konnte. An einem Kleiderständer hingen Steppwesten, am Boden standen Schneeschuhe.
Linker Hand befand sich ein Einlass in der Wand, in dem es drei Regalbretter gab. Sie waren vollgestellt mit Büchern in unterschiedlichen Sprachen. Einige davon konnte Jen sofort zuordnen, andere blieben undefinierbar. Das machte ihr erneut deutlich, dass sie nicht mehr auf den Kontaktstein zählen konnte.
Alex schien das Gleiche zu denken. »Ist das Russisch?«
»Alter, das ist Griechisch. Das da ist ein Lambda und das ein Omega.«
»Hallo?«, rief Nikki leise.
Jen bereute es zutiefst, Nemos Angebot abgelehnt zu haben, Schusswaffen einzupacken. Obwohl sie täglich mit lebensgefährlichen Zaubern hantierten, hatte jeder von ihnen eine tiefe Abneigung gegenüber Nimag-Waffen. Alex hatte da weniger Berührungsängste und kurzerhand am Schießstand auf der Nautilus geübt. Die Tatsache, dass er rechts und links alles getroffen hatte, jedoch kein einziger Schuss auf die Zielscheibe ging, hatte Jen endgültig davon überzeugt, auf Knarren zu verzichten.
Von der Diele zweigten drei Räume ab, eine Treppe führte nach oben.
Jen betrat die Küche. Über einem Gasherd hingen zerkratzte Metallpfannen, daneben stand eine Cafetiere. An den Wänden hingen Bilder, die das Huskyrudel zeigten. Beim Spielen, um die Wette laufend und im Gehege. Auf einem der Bilder zogen sie einen Schlitten. Die Wächterin liebte die Tiere offensichtlich.
»Jen!«, rief Alex.
Sie hörte es an seiner Stimme, noch bevor sie den Körper sah. Mit langsamen Schritten, um den Augenblick einige Sekunden hinauszuzögern, betrat sie das Wohnzimmer.
Der Raum war heimelig eingerichtet: ein flauschiger Sessel, ein gemütliches Sofa, eine Decke am Boden. Letztere vermutlich für die Hunde. Daneben lag eine Frau. Auf der tiefbraunen Haut ein heller Schleier. Die klaren blauen Augen blickten ins Leere, das schwarze Haar stand wirr zu allen Seiten ab. Auf ihren Wangen verliefen Schnitte.
»Verdammt.« Jen sank neben ihr auf die Knie. »Dieses elende Monster.«
»Zuerst Nemo und seine Leute, dann das hier.« Alex trat ans Fenster. »Sie tut alles, damit wir die Silberknochen nicht erreichen.«
Sicherheitshalber fühlte Jen den Puls. Nichts. Die Wächterin war tot, der Körper eiskalt. Ihre Haut war hart wie Porzellan, die Lippen rissig.
»Meint ihr, die Schattenfrau weiß, wo die Knochen sind?«, fragte Chris.
Nikki saß zusammengekauert auf dem Sessel. Immer wieder schaute sie zu der Toten herüber. »Wie ist sie gestorben?«
Jen untersuchte die Wächterin von Antarktika. »Gute Frage. Ich sehe keine Wunden, außer jenen auf der Wange. Ein Zauber kann es nicht gewesen sein.«
»Was, wenn die Schattenfrau Magie wirken kann?«, überlegte Alex. »Sie hat immerhin einen Sigilsplitter.«
»Nicht hier«, sagte Chloe nachdrücklich. »Ich habe mir in Nemos Bibliothek ein Buch über Antarktika durchgelesen. Jede Art von Magie ist unberechenbar. Die Sigilsplitter sind auch nur Essenzproduzenten.«
»Gift«, warf Chris ein. »Wenn sie die Wächterin dazu gezwungen hat, es zu trinken, ging es ohne Magie oder oberflächliche Verletzungen.«
Ein kalter Hauch fuhr durch den Raum. Risse bildeten sich auf der Haut der Toten.
Jen sprang zurück. »Was ist das?!«
Der Körper der Wächterin explodierte, verwandelte sich in einen Wirbelsturm aus Schneeflocken. Die Freunde schnellten beiseite. Chloe sprang aus dem Raum, Nikki mit einem Satz hinter den Sessel, Jen und Alex duckten sich unter dem Fenster.
Die Schneeflocken wirbelten ein letztes Mal auf, bevor sie herabfielen, sich vereinten und zu einer Person wurden.
Der Wind ebbte ab.
Verdutzt starrten sie auf die Inuit-Frau, die unverletzt vor ihnen stand. Sie wirkte frisch und ausgeruht, ihre Wunden waren verschwunden.
»Ich bin Sila. Und es wurde auch verdammt noch mal Zeit, dass ihr endlich auftaucht.«
Die Dunkelheit zog sich langsam zurück, wohlige Wärme wurde zur Realität.
»Sieh an, Schneewittchen erwacht auch ohne seinen Prinzen«, erklang eine Stimme.
Max öffnete die Augen und schaute sich um. Das Erste, was er erblickte, war Madison Sinclair. Die Schattenkriegerin saß mit übereinandergeschlagenen Beinen neben seinem Bett, blätterte in einer Zeitschrift – die sie jetzt beiseitelegte – und war unverschämt wie eh und je.
»Ist das die Hölle?«
Madison lächelte. »In deinem Fall ist das noch nicht sicher.«
Vorsichtig wuchtete er seinen Oberkörper in die Höhe. Seine letzte Erinnerung war der Sprung, den er mit Crowley aus der Waldhütte in Kanada vollführt hatte. Am Ziel war er zusammengebrochen. Doch warum? Ihm war schwindelig.
»Toller erster Auftritt. Der große Schattenkrieger-Metzler und Überläufer fällt einfach um.« Madison sah ihn abschätzig an. »Wir dachten zuerst, Edison hätte dir noch einen Zauber aufgehalst, aber du bist clean. Leider. Beweg dich.«
Max stand vorsichtig auf.
Er hatte auf einem einfachen Holzbett gelegen, das in einer Reihe mit anderen stand. Eine Heilmagierin eilte am Ende des langgezogenen Raums zu einem liegenden Schattenkrieger und verabreichte ihm eine Tinktur. Durch zwei Fenster fiel Sonnenlicht in den Raum.
»Mit Bewegen meinte ich das Gegenteil von dem, was du gerade tust!« Madison stapfte einfach davon.
Max folgte ihr.
Das Haar der Schattenkriegerin ähnelte einer Scheuerbürste. Buschig stand es in alle Richtungen ab. Ihre schwarze Haut wirkte seidig, die engen Jeans betonten jede Kurve. Er schätzte Madison auf Mitte zwanzig.
»Wie du dir zweifellos denken kannst, ist das hier …«
»… das dunkle Refugium.«
Madison prustete los. »Genau. Der Hort des Bösen. Das Zentrum der Dunkelheit. Pathetischer geht es ja nicht. Man könnte auch schlicht Hauptquartier sagen.«
»Wie nennt ihr denn das Castillo?«
»Hort der Idioten. Zentrum der Einfalt. Wir sind da kreativ.«
Gegen seinen Willen musste Max lachen. »Und wo befindet sich euer Hauptquartier? Ich meine, auf der Welt.«
»Immer langsam. Du magst Crowley ja überzeugt haben und verwanzt bist du auch nicht, aber ich traue dir keinen Meter weit.« Sie deutete mit einem süffisanten Lächeln auf seinen Ring. »Den brauchst du wohl nicht mehr, hm?«
Max schaute zu seiner linken Hand, an deren Ringfinger ein einfacher silberner Ring glänzte. »Die Verlobung findet nicht statt.«
»Dachte ich mir.« Sie zuckte mit den Schultern.
In seinen Vorstellungen hatten die Schattenkrieger stets in einer Burg gehaust. Oder in Höhlen. Auf jeden Fall irgend etwas Ungemütliches. Doch die knarzenden Holzdielen, flauschigen Teppichböden und edlen Gemälde an den Wänden erinnerten eher an ein Herrenhaus. Kunstvolle Schnitzereien zierten die Fensterrahmen, bildeten kleine Fabelwesen aus. Das Glas war stellenweise getönt. Im Vorbeigehen erhaschte er einen Blick auf einen weitläufigen Garten voller Beete, Ginsterbüsche und Bäume.
Ein paar Schattenkrieger schlenderten durch die Mittagssonne, plauderten und lachten.
Auf dem Weg zu ihrem Ziel kamen ihnen Jungen und Mädchen, Männer und Frauen entgegen. Sie musterten Max skeptisch, nickten und verschwanden um die nächste Ecke.
»Du bist das Gesprächsthema schlechthin. Die eine Hälfte will dich in eine Statue verwandeln und dann ein Aurafeuer zünden, die andere dir eine Chance geben. Immerhin gab es schon einmal einen Verräter, der auf unsere Seite gewechselt ist, dein Glück.«
Max schluckte. Wie würde er reagieren, wenn er ihm gegenüberstand? Würde er ihn möglicherweise erkennen? Niemand wusste, wer er war oder wie er aussah. Die Unsterblichen hatten jeden Hinweis aus den Geschichtschroniken getilgt, und von den damaligen Lichtkämpfern war niemand mehr am Leben. Einzig die Tat war bekannt. Der Verräter hatte das Kristallnetz zerstört und den Schattenkriegern damit den Zugang zum Castillo geebnet. Der Versuch, die Erschaffung des Walls zu verhindern, war gescheitert, doch viele waren dabei gestorben. Es war der Beginn jenes Krieges gewesen, der bis heute tobte.
»Ich zeige dir jetzt dein Zimmer«, verkündete Madison. »Du kannst ein paar Minuten durchatmen. Später will der Rat dich sehen.«
»Klar.«
»Bist nicht so der große Redner, hm?«
»Hängt immer vom Gesprächspartner ab.«
Madison grinste. »Der geht an dich.«
Sie stiegen Treppen empor und erreichten das Stockwerk direkt unter dem Dach. Der Gang führte zu einem Raum, der einem Wohnzimmer ähnelte und in dem ein offener Kamin in die Wand eingelassen war.
»Für das Flohpulver«, erklärte Madison.
»Hä?«
Sie verdrehte die Augen. »Vergiss es. Hier treffen wir uns abends, um zu quatschen.«
Max fühlte die Wärme, die der Platz verströmte, obgleich der Kamin nicht mal brannte. Der Bezug auf dem Sofa war abgewetzt und verschlissen. Die Sessel dagegen waren kantig, neu und unbequem. An den Wänden hingen Gemälde, auf denen Gruppen abgebildet worden waren. »Teams?«
Madison nickte. »Siehst du die drei Gemälde links?«
»Klar.« Sie zeigten lachende Männer und Frauen, die stolz ihre Essenzstäbe in die Höhe reckten.
»Die hast du alle getötet.«
Max’ Magen war noch immer ein Klumpen, als sie die Tür öffnete. Ihn erwartete ein kleiner, aber gemütlicher Raum. Ein Fenster führte zum Garten hinaus, ein Bett stand an der einen, ein Regal an der anderen Wand. Unter dem Fenster nahm ein Schreibtisch die gesamte Breite ein.
»Bis wir sicher sind, dass du zu uns gehörst, darfst du keine Dimensionsveränderungen vornehmen. Danach steht es dir frei, dich einzurichten.«
Die meisten Magier neigten dazu, aus wenig Platz mehr zu machen. Oder wie hatte Alex gesagt: »Es ist wie bei der Tardis. Von außen nur eine Telefonzelle, innen aber ein gewaltiges Raumschiff mit allem Drum und Dran.«
Mittlerweile lag er jedem damit in den Ohren, seine Lieblingsserie doch ebenfalls anzuschauen. Vor allem Jen weigerte sich beharrlich, was in ständigen gegenseitigen Frotzeleien über die Serienvorlieben des anderen mündete.
»Bist du noch da?«, fragte Madison.
»Alles gut. Ich bin nur müde.«
»Klar, Dornröschen. Dann ruh dich aus. Ich hole dich nachher ab.«
Sie verließ das Zimmer.
Max legte seinen Essenzstab auf den Schreibtisch und atmete tief durch. Mit zittrigen Beinen sank er auf das Bett. Wie kam dieser Ring an seinen Finger? Wenn er genauer darüber nachdachte, war er schon lange dort gewesen. Eine Illusionierung hatte ihn verborgen. Doch weshalb? Was sollte das alles? Und wieso hatte er ihn für einen Verlobungsring gehalten?
Die Wut über die Unsterblichen, Patricia Ashwell, ja sogar Eliot Sarin war fort. Sein Innerstes schien von einem tiefgehenden Schmerz befreit, den er seit Langem mit sich herumtrug.
Sein Geist fühlte sich seltsam träge und langsam an.
War es ein Fehler gewesen, die Lichtkämpfer zu verraten?
Das hast du nicht, wisperte eine Stimme in seinem Inneren.
Ein greller Schmerz explodierte hinter seinen Augen und löschte Max’ Bewusstsein aus.
Der Schlaf wich abrupt.
Max öffnete die Augen. Sein Verstand arbeitete messerscharf. Er blieb liegen, atmete langsam ein und wieder aus. Der gesamte Plan nahm in seinem Geist Gestalt an: das Aufeinandertreffen mit Marcus, die Zusammenarbeit mit Edison, der Max zum Agenten ausbildete; die Idee, das Refugium zu finden, später ergänzt durch das Vorhaben, Leonardo zu befreien; die mittels einer hypnotischen Manipulation herbeigeführte Panik, unterstützt von Eliots Gebaren.
Er richtete sich auf.
Mit einem Schritt war er am Tisch, nahm seinen Essenzstab auf und ließ ihn durch die Luft fahren. Ein Symbol aus burgunderfarbener Essenz entstand. »Agnosco.«
Als hätte jemand Rotwein mit einem Zerstäuber über das Zimmer verteilt, flirrten die winzigen Punkte durch die Luft. An vier Stellen hinterließen sie ein dunkles Glühen.
»Ich hätte es nicht anders gemacht«, murmelte Max. »Aber in meinen eigenen vier Wänden lege ich Wert auf Privatsphäre.«
Er hob den Essenzstab. »Fricare!« In einem brutalen Auflodern roher Kraft wurden die magischen Beobachter ausgelöscht. »Das wäre geklärt.«
Max suchte den Raum sorgfältig ab und fand weitere Beobachter. Einer war Teil der Fensterscheibe, ein anderer als Buch illusioniert. Besonders pfiffig war die Bodenleiste, die um ein Dimensionsfach erweitert worden war, in dem eine Beobachtersphäre mit angeschlossenem Bernsteinspeicher lag.
Er konnte nur hoffen, dass er alle gefunden hatte. Verlassen würde er sich darauf keinesfalls. Jeder Schritt führte sinnbildlich über eine hauchdünne Glasplatte. Darunter wartete der Abgrund. Jeder Riss wurde zu weiteren, sich verästelnden Brüchen. Am Ende würde er fallen oder wohlbehalten auf der anderen Seite ankommen.
Wenn ich sterbe, bringt Kevin mich um.
Einstweilen schien er nicht in Gefahr zu sein. Edison hatte den Zauber, der Max den gesamten Plan vergessen ließ, kurz vor Crowleys Sprung gelöscht. Doch erst jetzt, wo er alleine war, war dieser gänzlich gewichen. Nicht auszudenken, wenn sie ihn noch einmal befragt hätten. Was durchaus noch geschehen konnte. Immerhin wollte der Rat ein Schwätzchen mit ihm halten. Max glaubte nicht daran, dass sie erneut Wahrheitszauber ausprobierten, konnte sich aber nicht sicher sein.
Madison war nicht ohne Grund als seine Aufpasserin ausgewählt worden. Sie gab sich frech, mochte ihn aber durchaus hassen. Immerhin hatte er mal eben ein Dutzend Schattenkrieger erledigt.
Das Bild stieg unweigerlich aus seiner Erinnerung empor.
Durch die Archivverbindung waren Castillo und das Refugium der Schatten verbunden gewesen. Er sprang auf die andere Seite und kämpfte gegen Madison und Crowley. Durch einen Artefakt-Trick waren die feindlichen Krieger zu Statuen geworden. Max löste Steine aus der Decke. Sie regneten herab und durchschlugen die Schattenkrieger.
Er schüttelte den Kopf.
Mochten die Teams auf den Gemälden auch gelächelt haben, an jenem Tag hatten sie Lichtkämpfer getötet. Der Angriff war von ihnen ausgegangen. Er würde nicht mit einem schlechten Gewissen darauf reagieren.
Er lächelte.
Genau das war es, was Madison wollte. Natürlich. Deshalb die Betonung der heimeligen Atmosphäre, die kleine Rundschau und die Möglichkeit, ein paar Minuten alleine zu sein. Sie würden ihn auf Herz und Nieren testen. Nicht nur darauf, ob er überlaufen wollte. Auch, ob er sich für den Kampf eignete.
»Das wird ein Spaß«, stöhnte er.
Ein Blick aus dem Fenster zeigte erneut den Garten. Mittlerweile war die Sonne hinter den Wolken verschwunden. Max öffnete das Fenster. Es roch nach Laub, Erde und Regen, vermengt mit einem Hauch Blütenduft.
Trotzdem konnte er nicht daraus schließen, wo er sich befand. Er wusste weder Tag noch Uhrzeit. Europa? Ein anderer Kontinent? Alles war möglich.
Immerhin gab es vor dem Fenster keine Gitterstäbe, was hoffen ließ. Sie machten ihm den Einstieg einfach. Trotzdem unterschätzte er Saint Germain keine Sekunde. Der Unsterbliche war durchtrieben bis ins Mark.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Überlegungen.
»Ja!«
Die Tür wurde geöffnet.
Vor ihm stand Marcus. »Na, hast du dich eingelebt?«
»Oh, hallo. So weit würde ich nicht gehen, aber ich bin gut angekommen.« Er grinste. »Vermutlich bekommst du jetzt einen Stern.«
»Wie bitte?« Er schloss die Tür und betrat den Raum.
»Na, weil ich zu euch übergelaufen bin.«
Marcus lachte auf. »Da nimmst du dich ein bisschen zu wichtig. Unsere Gespräche haben nie dazu gedient, dich zu manipulieren. Glaub mir, ich hatte andere Projekte.«
Marcus war hochgewachsen, hatte dunkles Haar und trug einen Vollbart. Sein Alter war schwer einzuschätzen. Etwa Ende vierzig oder Anfang fünfzig. Im Gegensatz zu ihren Treffen vor dem Castillo wirkte er hier nicht gemütlich. Nein, er hatte etwas von Edison. Kerzengerader Körper, breite Schultern, ein stahlharter Blick. »Nimm dir alle Zeit, die du brauchst.«
»Der Rat will mich befragen.«
»Verblüfft dich das?«
»Nicht wirklich.«
»Aber immerhin hast du die Beobachter alle entfernt, Gratulation.« Marcus deutete auf das Dielenbrett. »Sogar den hier.«
Vor den Fenstern sangen Vögel ein Lied.
Max warf Marcus ein Lächeln zu. »Wer bist du?«
»Ha.« Er klatschte in die Hände. »Dachte ich es mir doch. Sehr gut. Sagen wir mal so: Der Rat will mit dir sprechen, um dich einzuschätzen. Und genau das tut ein Teil des Rates in diesem Augenblick.«
So gut Max sich auch unter Kontrolle hatte, für ein paar Sekunden musste ihm der Schock über die Enthüllung anzusehen gewesen sein. »Du bist …«
»… einer der Unsterblichen«, vollendete Marcus den Satz.
»Wer?«
»Ah. Wie ich durch unsere Gespräche weiß, liest du viel.«
Max nickte.
»Dann sollte es dir leicht fallen. Ich mag London, weißt du. Dort hatte ich in meinem ersten Leben als Nimag geschäftlich viel zu tun.«
»Wann?«
»19. Jahrhundert.«
Ein Zeitraum, der von 1801 bis 1900 alles einschloss und Max daher nicht weiterhalf. Es hatte genügend bösartige Menschen zu jener Zeit gegeben. Doch der Rat rekrutierte sich aus geschichtlichen Größen.
»Es gibt einen Ort in der Schweiz, den ich hasse.« Marcus lächelte, doch seine Augen blieben kalt.
Eine Gänsehaut überzog Max’ Arme. »Die Reichenbach-Fälle.«
»Was für ein cleverer Junge.«
»James Moriarty.«
Der Unsterbliche deutete eine Verbeugung an. »Wie er leibt und – wieder – lebt. Schau nicht so entsetzt, das ändert nichts.«
Es änderte alles. Warum hatte ein Unsterblicher versucht, ihn zu manipulieren? Was bezweckte er damit? Wieso hatte er sich mit Max abgegeben?
»Tausend Fragen und mehr.« Moriarty nickte. »Zu gegebener Zeit werden sie alle beantwortet. Vorausgesetzt, du bist tatsächlich auf unserer Seite. Andernfalls …«
»Ja?«
»Hast du schon einmal etwas von Feuerzangen-Bill gehört?«
Max schüttelte den Kopf.
»Eine jener tumben Kreaturen, von denen es damals zuhauf welche gab. Lass es 1886 gewesen sein. In dieser Zeit war es leicht, Lakaien anzuwerben. Die Reichen lebten in Saus und Braus, der Rest der Menschen ging vor die Hunde. Eine Entlassung bedeutete Hunger, Kälte und Tod. Loyalität suchte man oft vergebens. Ich hatte mir natürlich einen gewissen Ruf aufgebaut, niemand kam auf die Idee, mich zu betrügen.« Er lächelte versonnen, was Max einen Schauer über den Rücken jagte.
»Es ging um einen Auftrag, den Feuerzangen-Bill für mich ausführen sollte. Seinen Spitznamen verdankte er der Art, wie er seine Opfer liquidierte. Möchtest du wissen, wie?«
Max war sich da nicht sicher, doch Moriartys Frage war rhetorischer Natur gewesen.
»Er schlich sich des Nachts in die Häuser, fesselte seine Opfer und zog sie nackt aus. Dann brach er eine Feuerzange auseinander und zog die Greiffläche ab. Es blieb eine simple Eisenstange. Diese erhitzte er in der Glut. Dann führte er jene Stange bei seinem Opfer rektal ein.«
Max hätte sich im Reflex beinahe übergeben.
»Unschöne Sache. Die Schreie, das Gebrüll. Aber effektiv. Am Ende zog er die Stange heraus, baute sie wieder zur Feuerzange zusammen und kleidete das Opfer an. Von außen waren keine Verletzungen auszumachen. Offiziell starben sie an Herzversagen oder ähnlichen ordinären Dingen. Meist kam es nicht einmal zu einer Untersuchung der Obrigkeit.«
Moriarty wirkte, als warte er auf Beifall.
»Verstehe mich nicht falsch, das Vorgehen war barbarisch. Aber eben auch zielführend. Siehst du, wenn irgendein Lakai oder Straßenjunge tot in der Gosse gefunden wurde, geschah nichts. Aber bei den hochwohlgeborenen Adligen sah das anders aus. Daher diese Art des Todes. Sie verschleierte das Verbrechen. Wie es das Schicksal will, kam mir jedoch ein alter Bekannter in die Quere, der die Zeichen zu deuten wusste. Er und sein Schoßhund, ein Doktor, fanden heraus, auf welche Art die Personen gestorben waren und verfolgten die Spur bis zu Feuerzangen-Bill.«
Max konnte sich denken, von wem Moriarty sprach. Und es bedeutete nicht weniger, als dass auch diese Figur alles andere als fiktiv war.
»Bedauerlicherweise geriet Feuerzangen-Bill ins Plaudern. Unschön. Dafür bestrafte ich ihn persönlich. Und zwar auf jene Art, die er seinen Opfern angedeihen ließ.« Moriarty zog seinen Essenzstab hervor. »Wusstest du, dass man mit zwei verbundenen Zaubern einen Essenzstab erhitzen kann? Potesta Incendere!«
Moriartys Essenzstab glühte wie ein heißes Schüreisen.
»Potesta löst den Kraftschlag aus, doch ich halte die gewirkte Kraft im Inneren, lasse sie langsam abstrahlen. Das Ganze verbunden mit einem Entflammungszauber. Was du hier siehst, ist entflammte Kraft, die nach außen wirkt. Äußerst effektiv.« Er ließ das Glühen erlöschen. »Ich toleriere keinen Verrat.« Ein abruptes Lachen folgte. »Du solltest dein Gesicht sehen. Komm schon, der Rat wartet auf dich. Und solange du loyal bist, wirst du in mir deinen besten Freund in diesen Hallen haben.«
Moriarty führte Max hinaus und legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich heiß an. Als wolle sie sich tief in seine Haut brennen.
Sila stand in ihrem Wohnzimmer, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und warf ihnen einen vorwurfsvollen Blick zu. »Sie hat mich getötet.«
»Ooookay«, sagte Alex zaghaft. »Das tut mir leid. Aber jetzt scheint es dir ja wieder gut zu gehen, äh, also: Du lebst.«
»In der Tat.« Sila wirkte kein bisschen weniger empört. »Sie hatte etwas bei sich. Eine Metallplatte, in der Würmer gefangen waren.« Die Wächterin beschrieb im Detail, wie die Würmer über die Schnitte in ihre Haut eindrangen und sie von innen heraus auffraßen, während Erinnerungen an die Schattenfrau übertragen wurden.
»Aber wieso bist du noch oder wieder am Leben?«, wunderte sich Chris.
»Ich bin seit Äonen die Wächterin dieser Stätten. Magie bindet mich an das Land. Solange Antarktika existiert, werde auch ich existieren. Niemals hätte ich ihr den Weg offenbart, doch sie nahm ihn sich mit Gewalt aus meinem Geist.«
»Die Schattenfrau hat also einen Vorsprung«, schloss Jen. »Aber noch hat sie nicht gewonnen. Sie hat versucht, uns aufzuhalten, doch wir sind hier.«
Vor dem Fenster jaulten die Hunde.
Sila öffnete die Verandatür und trat hinaus in den Schnee. Jen war versucht, ihr hinterherzurufen, dass sie keine Zeit hatten. Jede Sekunde konnte über Wohl und Wehe der magischen Gemeinschaft entscheiden. Doch sie unterließ es. Immerhin war Sila gerade gestorben und wiederauferstanden.
Die Freunde folgten ihr hinaus.
»Was tust du da?«, erkundigte sich Chloe.
»Wir kämpfen einen ewigen Kampf. Mal ist es aussichtslos, mal erringen wir den Sieg. Doch wie es auch ausgeht, das Land ist beständig. Und ebenso meine Gefährten.« Sie deutete auf die Huskys. »Vergesst niemals die reine Seele eines Kindes oder eines Tieres, während ihr für das große Ganze einsteht.«
Sila öffnete das Gatter.
Die Tiere kamen herbeigeeilt. Ihr Fell glänzte in der untergehenden Sonne, ihre Blicke wanderten abschätzend über die Gruppe.
»Ich gebe ein miserables Futter ab«, verkündete Alex. »Bin total zäh.«
»Und substanzlos«, ergänzte Jen.
Chloe kicherte. »Beachtet die beiden gar nicht.« Sie ging auf die Tiere zu. In zwei Schritten Entfernung sank sie auf ein Knie.
Einer der Huskys kam näher. Direkt vor Chloe sank er auf die Hinterbeine. Leuchtende Augen, klar wie Saphire und tief wie ein Ozean, schauten zu ihr herüber.
»Wie heißt er?«, wollte Chloe wissen.
»Sein Name lautet Ataciaru. In unserer Sprache bedeutet das: der mit der verwandten Seele.«
Chloe streckte ihre Hand aus.
Ataciaru schnüffelte daran, dann stupste er mit seiner Schnauze Chloes Nase. Diese kicherte und begann damit, den Husky am Hals zu kraulen.
Jen konnte spüren, dass etwas geschah. Zwischen dem Tier und Chloe entstand eine Verbindung. Nichts Magisches, nichts Greifbares, doch auf eine instinktive Art spürbar.
»Wow«, sagte Alex neben ihr.
»Du spürst es auch?«
»Ja«, erwiderte er heiser. »Irgendwie gruselig.«
»Was wisst ihr über die Traumebene?«, fragte Sila plötzlich.
Jen fasste zusammen, was Edison und Nemo ihnen erklärt hatten. Dass es sich um eine chaotische Sphäre handelte, auf der Träume zu Realität wurden. Nur die stärksten Geister konnten manifeste Bereiche schaffen. Gelang dies nicht, fiel man durch Tausende von Traumfragmenten, ohne sich bewusst zu sein, dass es Träume waren. Vor langer Zeit hatten Traummagier damit begonnen, über die Träume Nimags und andere Magier zu beeinflussen. Dies war unter dem Namen ›Traumkrieg‹ in die Geschichte eingegangen.
Der bekannte Schriftsteller Jules Verne – selbst ein Unsterblicher – hatte sein unsterbliches Leben aufgegeben und ein Siegel an seine Knochen gebunden, das den Zugang verbarg. Fortan war die Traumebene nicht mehr erreichbar.
Nemo hatte die Silberknochen versteckt. Seitdem konnten Unsterbliche nicht mehr in ihre Nähe gelangen, und Magie wirkte auf Antarktika derart chaotisch, dass niemand sie hier einsetzte. Die einzige Ausnahme bildete die Wächterin, die eins mit dem Land war.
Sila nickte. »Das sind Worte der Logik, ausgesprochen von einem wissenschaftlichen Geist. Doch was euch erwartet, könnt ihr nicht einmal ansatzweise begreifen. Habt ihr auf dem Weg hierher das luzide Träumen geübt?«
»Gott ja«, entfuhr es Alex.
Jen schmunzelte.
Luzides Träumen bedeutete nichts anderes, als dass man sich bewusst wurde, gerade zu träumen. Gelang dies, vermochte man unter gewissen Umständen den Traum zu steuern. Um das zu erlernen, gab es Mechanismen, die jeder Mensch anwenden konnte.
Zuerst hatte sie einen Wecker gestellt. Dieser läutete jede Stunde des Tages. Sobald er klingelte, hielt Jen sich die Nase zu, schloss den Mund und versuchte zu atmen. Da es sich um die Realität handelte, ging das natürlich nicht. Doch das Unterbewusstsein speicherte die Geste.
Als sie in der darauffolgenden Nacht eingeschlafen war, hatte sie im Traum automatisch ihre Nase zugehalten, den Mund geschlossen und versucht zu atmen. Es gelang. Denn im Traum konnte man immer atmen.
Erschrocken und mit rasendem Herzen war sie aufgewacht.
Einige Minuten später hatte es im Nebenzimmer einen Rums gegeben. Alex war ebenfalls aus dem Traum hochgeschossen – und direkt aus dem Bett gefallen.
»Vergesst nie, dass euer eigenes Unterbewusstsein gegen euch kämpft«, mahnte Sila. »Es versucht, euch zurück in die Unbewusstheit des Traums zu zerren. Auf der Traumebene ist dies noch viel stärker. Habt ihr euch ein Symbol erschaffen?«
Jen fuhr in Gedanken über das Mal auf ihrem linken Unterarm. Nemo hatte jedem von ihnen mit schwarzer Tinte ein Zeichen auf die Haut gemalt. Es war eingesickert, als handle es sich um ein Tattoo. Sobald der Wecker geklingelt hatte, hatten sie es kontrolliert und daraufhin die Prüfroutine mit dem Atmen eingeleitet.
Im Traum war es ebenfalls vorhanden, und immer, wenn Jen daraufblickte, machte sie den Test.
In der zweiten Nacht war sie länger und stabiler im Bewusstsein zu träumen verankert geblieben. Nur das Steuern wollte ihr nicht gelingen. Versuchte sie zu fliegen, sauste sie in den Abgrund. Wollte sie die Umgebung beeinflussen, brach alles zusammen.
Bei Alex war es umgekehrt. Er benötigte länger, um sich den Traum zu vergegenwärtigen. Doch gelang dies, konnte er ihn problemlos steuern.
»Du bist zu verkrampft«, hatte er zu ihr gesagt. »Mach dich einfach locker. Du hast so viel Angst loszulassen, dass du dein eigener Feind bist.«
Er hingegen war ein kleiner Träumer, konnte sich deshalb aber problemlos auf die fantastische Welt in einem solchen einlassen.
Eigentlich sind wir ein ganz gutes Team.
Das würde sie natürlich niemals laut aussprechen.
»Ihr werdet euch der Frau, die im Schatten wandelt, entgegenstellen«, sagte Sila. »Möge das Land euch beschützen.«
Sie hob beide Arme.
Als kippte jemand ein Tintenfass in eine den Sonnenschein spiegelnde Pfütze, schoben die Wolken sich vor die Sonne. Der Wind frischte auf, Schneeflocken trieben heran.
Die Huskys sprangen zurück in ihren Pferch, das Gatter schloss sich. Nur Ataciaru blieb. Er setzte sich neben Chloe und schaute hinauf in den Himmel.
»Und so treffen wir alle unsere Entscheidung und wählen den Pfad unserer Bestimmung.« Silas Stimme war nur ein Flüstern, doch obwohl der Wind mit jeder Sekunde stärker wurde, konnte Jen ihre Stimme glasklar vernehmen. »Mag das Schicksal entscheiden und uns in den Hauch von Morgen tragen.«
Schneeflocken hüllten sie ein, wirbelten durch die Luft, peitschten Jen ins Gesicht. Sie konnte die Hand vor Augen nicht mehr sehen, geschweige denn die anderen. Eiskalte Luft schnitt wie Rasierklingen in ihre Haut, Tränen rannen über ihre Wangen.
»Alex!«
Sie glaubte, eine Erwiderung auf ihren Ruf zu hören, doch das mochte auch Einbildung gewesen sein.
Plötzlich war der Boden fort.
Jen fiel.
Jen plumpste direkt neben ihm in den Pulverschnee.
Verdutzt starrte Alex sie an. »Und da behauptet immer jeder, alles Gute kommt von oben.«
Sie warf ihm einen Kraftschlag-Blick zu. »Ich verpasse dir gleich einen solchen Tritt, dass du Nemo direkt vor die Füße knallst.«
Pafff.
Chris landete vor ihnen im Schnee, dicht gefolgt von Nikki. Chloe und Ataciaru bildeten den Abschluss, wobei beide elegant auf ihren Füßen oder Pfoten aufkamen. Sila entstand aus einem Schneeflockenwirbel.
»Eine kleine Vorwarnung wäre ganz nett gewesen!«, blaffte Jen.
»Dort, wo ihr hingeht, werdet ihr keine erhalten.« Die Wächterin deutete nach oben.
Alex’ Mund klappte gen Nordpol. Oder Südpol? Er wusste es nicht genau.
Sie waren direkt vor einer Zitadelle gelandet. Ein schwarzes Loch von der Größe eines Hauses bildete den Eingang. Die aus Eis geschlagenen Mauern reichten rechts und links bis zum Horizont. Hoch über ihnen thronte ein Drache aus Eis, dessen Maul weit aufgerissen war.
»Wenn der in Irland so aussieht, will ich ihn gar nicht kennenlernen«, murmelte Alex.
Chloe winkte ab. »Der ist ganz anders. Und total zahm. Er spuckt nur Feuer, wenn er bedroht wird.«
Alex musterte sie von oben bis unten. Manchmal war Chloe ihm nicht geheuer. Leonardo hatte von seinem Besuch in Irland überall am Körper verkohlte Stellen zurückbehalten.
»Nehmt euer Gepäck«, wies Sila sie an.
Erst jetzt bemerkte Alex die Rucksäcke, die ebenfalls den Weg hierhergefunden hatten. Sie zogen sie über und folgten der Wächterin, die auf das dunkle Loch zustapfte. Im Inneren ging sie in die Knie, grub ein Bündel aus und öffnete es. Eingeschlagen in Wachspapier lagen darin sieben Fackeln. Sila nahm sechs hervor und reichte jedem eine. Mit zwei Feuersteinen entzündete sie sie.
»Technik funktioniert hier nicht«, erklärte sie.
»Natürlich nicht«, sagte Jen.
Alex ließ die Fackel durch die Luft sausen. »Wenn du ganz schnell bist, sieht es aus wie eine Essenzspur.«
»Ich halte dir meine Fackel gleich an den Arsch, dann flitzt du noch schneller als jede Essenzspur da rein.« Jen nickte in Richtung Dunkelheit.
Sila setzte sich kommentarlos an die Spitze.
Nach wenigen Schritten wurde der Pulverschnee unter ihren Füßen zu glattem Gestein. Die Wände bestanden aus meterdickem Eis. Im Abstand von wenigen Schritten gab es Vertiefungen, die jedoch leer waren.
Eine Treppe führte nach unten. Ihre Stufen schienen sich endlos zu erstrecken und mit jedem Meter fühlte Alex seine Brust enger werden. Wie tief waren sie bereits?
Als die Treppe endete, traten sie hinaus auf eine Empore. Die schiere Größe war atemberaubend. Ein Geländer grenzte den Gang ab. Kunstvoll geschlagene Ornamente aus Eis zierten die Oberfläche. Dahinter wartete ein Abgrund, dessen Tiefe er nur erahnen konnte. Eine Brücke ohne Geländer führte darüber hinweg, verlor sich auf der anderen Seite.
Über dem Abgrund ragten Statuen aus den Wänden hervor. Menschliche Silhouetten ohne Gesicht, die schwere Steine auf dem Rücken schleppten. Schuppenartige Kreaturen, die Eier in Händen hielten.
»Oh, verdammt«, flüsterte Chloe.
»Es sind Bildnisse aus der Zeit vor dem Anbeginn«, erklärte Sila und bestätigte damit Alex’ Vermutung.
»All das hier …«, begann Jen.
»… ist uralt«, bestätigte die Wächterin. »Es wurde einst von Magiern entdeckt und nach Hinterlassenschaften abgesucht. Doch außer den Statuen und einer gewissen Ausstrahlung gibt es hier nichts mehr. Nur Schatten einer längst vergangenen Zeit.«
»Gut so«, flüsterte Nikki. »Mit solchen Überbleibseln hatten wir mehr als genug zu tun.«
Alex konnte in dem Ekel, der sich auf Nikkis Gesicht abzeichnete, die Spiegelung seiner eigenen Gefühle erkennen. Die Erinnerung an die aufplatzenden Eier, den eitrigen Geruch und die Ausstrahlung von Grausamkeit und Tod würde er immer mit sich tragen. Außerdem war er gestorben.
Bereits nach dem Angriff durch die Schattenfrau, die ihm einen Kraftstoß in die Brust gejagt hatte, hatten die Albträume begonnen. Damals wäre er beinahe gestorben. Er wusste nicht genau, was er allnächtlich erlebte, nur dass er schweißgebadet erwachte. Die Erinnerung verblasste so schnell, dass er sie nicht halten konnte.
Nach seinem Tod unter Wasser hatte die Intensität der Albträume zugenommen. Einmal war er an Bord der Nautilus sogar aus dem Bett gefallen. Den anderen gegenüber hatte er behauptet, dass das wegen der luziden Träume geschehen war.
»Wir werden die Brücke passieren«, verkündete Sila.
»Natürlich werden wir das«, kommentierte Jen.
Zwei Personen konnten nebeneinander gehen, kamen dem Abgrund jedoch gefährlich nahe. Sie verlegten sich darauf, wie eine Entenfamilie hintereinander über den Streifen aus glattem Stein zu watscheln.
Wie die Treppe schien auch die Brücke kein Ende zu nehmen. Irgendwann gab es hinter und vor ihnen nur noch den einsamen leeren Streifen, rechts und links ein gähnender Abgrund.
Allein der Weg zu den Silberknochen erwies sich als Belastung für die Nerven. Nikki wirkte bleicher als sonst, Chris schweigsamer, Jen schnippischer. Einzig Chloe schritt unbeeindruckt dahin, neben sich Ataciaru. Der Husky sah sich aufmerksam um. Ab und an entfuhr ihm ein Knurren, darüber hinaus war er still.
Endlich erreichten sie die andere Seite.
Jeder von ihnen atmete auf.
»Es ist nicht mehr weit«, verkündete Sila.
Alex konnte es spüren. Die Fremdartigkeit. Die Luft roch anders. Das Klacken ihrer Stiefelsohlen auf dem Stein hallte dumpf wider. Die Flammen loderten schwächer. Etwas hier entzog allem Lebenden die Kraft. Am liebsten wäre er sofort wieder umgekehrt.
Sila führte sie einen weiteren Gang entlang, noch eine Treppe hinab und durch einen länglichen Raum, in dem Bilderrahmen aus Stein an den Wänden hingen. Ihr Inneres war leer.
»Wo sind die Bilder?«, fragte Jen.
Sila hob beide Handflächen in die Höhe. »Was einst gefunden wurde, wurde fortgebracht oder war nie hier.«
Sie betraten einen schmalen Gang, an dessen Ende ein Torbogen in einen domartigen Raum führte. Säulen trugen die gewölbte Decke. Im Zentrum hatte jemand ein Steinpodest erschaffen, in das magische Symbole eingemeißelt waren.
Im Inneren lag ein Skelett aus Silber, bedeckt von weiteren Zeichen, die eingebrannt worden waren.
Daneben kauerte die Schattenfrau. Sie hatte ihre Augen geschlossen und die Finger auf die Stirn des Skeletts gelegt. Ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig.
»So nah«, flüsterte Jen.
Die größte Feindin der Lichtkämpfer kniete wehrlos vor ihnen, versunken in die Welt der Träume.
»Und doch könnt ihr ihr nichts tun«, erklärte Sila. »Der Kreis schützt vor Nimag-Waffen und verhindert das Wirken von Gewalt. Außerdem kann keine Magie gewirkt werden. Jener, der sich einst opferte, wollte keine Gewalt in diesen Hallen.«
»Genau genommen wollte er niemanden hier haben«, ergänzte Alex. »Nemo musste es ihm schwören.«
Sila nickte. »Doch das Wohl der Welt steht über seinem Wunsch.« Sie deutete auf das Skelett. »Jene von euch, die die Bürde der Reise auf sich nehmen, müssen im Kreis niederknien und das berühren, was einst Leben trug.« Sie sprach den Zauber, der den Traum einleitete – der einzige, der gewirkt werden konnte.
Alex’ Hände waren feucht. »Na schön. Packen wir es an. Ich gehe.«
»Ich auch«, sagte Jen sofort.
»Dabei.« Chloe stemmte die Fäuste in die Hüfte und ihr Blick machte jedem klar, dass sie sich nicht umstimmen lassen würde.
Chris setzte an: »Ich …«
»Nein, nein, nein«, stoppte ihn Jen. »Du und Nikki haltet Wache. Falls wir in Schwierigkeiten geraten, seid ihr das Rettungskommando. Und für den Fall, dass wir versagen«, sie deutete auf die Schattenfrau, »müsst ihr sie aufhalten. Wenn sie den Splitter bekommt, kann sie ihn hier noch nicht einsetzen.«
Chloe warf Sila einen fragenden Blick zu. »Sie kann ihn hier doch nicht einsetzen, oder?«
Die Wächterin schüttelte den Kopf. »Außerhalb dieses Kreises darf Magie nicht gewirkt werden. Andernfalls sind die Folgen unabsehbar.«
»Sind wir uns einig?«, fragte Jen.
Die anderen nickten reihum.
Alex trat mit Jen und Chloe in den Kreis.
Jen berührte die Knochen von Jules Verne und sprach den Zauber. Ihre Lider flatterten. Sie schlief sofort ein.
Chloe tat es ihr gleich.
»Bis später.« Alex nickte Nikki, Chris und Sila aufmunternd zu. »Somnus Planum Excitare.«
Und sein schlimmster Albtraum wurde Wirklichkeit.
Das Feuer im Kamin loderte, die Holzscheite knisterten. Funken sprangen davon, verglühten auf dem unebenen Stein. Daneben stand ein Schürhaken. Max würde die Teile nie wieder betrachten können, ohne an die morbide Geschichte Moriartys erinnert zu werden.
Er fragte sich unweigerlich, weshalb das Refugium der Schatten gemütlicher wirkte als das Castillo. Überall gab es diese flauschigen Teppiche, in denen man bei jedem Schritt versank. Wundervolle Gemälde, Pflanzen, die am Fenster oder auf dem Regal standen, und dicke Bücher mit Einbänden unterschiedlicher Farbe.
»Ich bringe unseren neuesten Welpen«, verkündete Moriarty.
Alle Blicke wandten sich ihm zu.
Sie hatten bequeme Sessel aufgestellt, in denen sie alle saßen.
Saint Germain trug Kleidung passend zu einem italienischen Sommer. Ein aufgeknöpftes Hemd, Chinos und Lederslipper. Sein Haar war kurz geschnitten und gegelt. »Max Manning. Willkommen in unserer illustren Runde.«
Dschingis Khan war in seine typische Robe aus gelbem Stoff gekleidet. Ein breiter Gürtel wurde von einer metallenen Schließe gehalten. Sein Gesicht wirkte aufgedunsen, der Schnurrbart war lang und hing nach unten. »Schlächter. Du hast uns einen beeindruckenden Kampf geliefert. Ich hätte dich gerne von oben bis unten aufgeschlitzt, um dich für unseren Verlust zahlen zu lassen, aber da du die Seiten gewechselt hast, werde ich mich einstweilen zurückhalten. Bis du versagst.«
»Was denkst du dir dabei, Moriarty?« Rasputin war schlank. Er trug einen schwarzen Mantel, der bis zu seinen Stiefeln hinabreichte. Jede Bewegung war brutale Eleganz. Seine Augen blitzten energiegeladen, ja feurig.
Ein Raubtier auf dem Sprung.
»Sag es mit Worten, Grigori«, erwiderte der Verbrecherkönig. »Hatten wir nicht darüber gesprochen?«
»Ich werde es dir in jeder Sprache sagen, die du verstehst: Es ist ein Fehler, diesen Lichtkämpfer in unsere Reihen zu integrieren.«
»Meine Meinung«, fügte Crowley hinzu. Er saß in seinem Sessel, hatte die Füße über die Lehne gelegt und aß einen Apfel. »Macht eine Statue aus ihm. Oder verpasst ihm einen kurzen Kraftschlag zwischen die Augen.«
»Warum?«, fragte Max. »Weil ich gegen dich und Madison gewonnen und die Hälfte eurer Leute erledigt habe?«
Der Apfel prallte auf den Boden und kullerte davon.
Crowley erhob sich langsam. »Was hast du gesagt?« Sein Hemd spannte über dem Bauch, der Dreitagebart war auf dem Weg zu einem Fünftagebart und wirkte ungepflegt. Und in den Augen … Ein gehetzter Ausdruck, eindeutig.
»Ich habe an der Seite meiner Freunde gekämpft«, stellte Max klar. »Das war meine Aufgabe. Im Gegensatz zu dir.«
Moriarty legte ihm die Hand auf die Schulter. »Unser junger Freund hat Feuer. Habe ich zu viel versprochen?«
»Das wird sich erweisen«, knurrte Rasputin.
»Sobald du deinen eigenen Freunden im Kampf gegenüberstehst und ihr Blut fließt, wird deine wahre Gesinnung offenbart, nicht vorher«, erklärte Dschingis Khan.
»Ich habe schon so viele mit falschen Gesichtern gesehen, Max Manning, leicht werde ich es dir nicht machen. Der Wahrheitszauber mag enthüllt haben, was im Moment der Flucht deine Intention war. Doch Menschen bereuen nur allzu schnell ihre Entscheidungen.« Der Graf schenkte ihm den Hauch eines Lächelns.
»Misstrauen, wohin man schaut«, kommentierte Moriarty. »Ich stehe hinter dir, Max.« Er bewegte seinen Mund ganz nah an dessen Ohr. »Und ich bin sicher, du wirst mich nicht enttäuschen.«
Max streifte seine Hand ab und sprang wütend direkt vor die Sessel. Sein Zeigefinger stach gegen Crowleys Brust.
»Was denkt ihr euch eigentlich?! Ich habe die letzte Bindung an mein altes Leben abgebrochen, meine Freunde verraten und ihr behandelt mich wie …«
»… einen Verräter«, unterbrach Saint Germain. »Erspare uns deine enervierenden Emotionen. Kaputte Seelen gibt es zuhauf. Angetrieben von Depression, dem Gefühl allein oder verraten worden zu sein. Der Gier nach Anerkennung hinterherlechzend.« Er winkte ab.
»Es sind die Schwächsten der Schwachen und ihrer Loyalität kann man niemals sicher sein.« Der Graf erhob sich. »Wir haben einst einen anderen Verräter in unsere Reihen aufgenommen.« Er deutete auf den leeren Stuhl. »Das erwies sich als die richtige Entscheidung. Er öffnete uns die Tore zum Castillo und beinahe hätten wir die Erschaffung des Walls verhindern können. Mag auch nicht eingetreten sein, was damals befürchtet wurde, so befinden wir uns doch in einem ewigen Kampf.«
Verblüfft wich Max zurück. »Nicht eingetreten sein, was befürchtet wurde? Aber der Wall zehrt von uns allen.«
Saint Germain verzog nur abschätzig die Lippen. »Und wir können froh sein, dass es nur dazu kam. Natürlich haben die Unsterblichen euch nie alles erzählt, was damals geschehen ist. Warum auch? Es ist Geschichte, der Wall seit einhundertsechsundsechzig Jahren errichtet. Doch es hätte auch anders ausgehen können, glaub mir.«
»Wie dem auch sei«, mischte Moriarty sich ein. »Hier geht es nicht um den Wall, seine Erschaffung oder den Verräter. Max hat sein Leben riskiert, um zu uns überzulaufen, und der Zaubertrank hat enthüllt, dass er es ernst mit uns meint. Damit stehen wir in einer gewissen Verantwortung.«
»Manchmal ist es mir rätselhaft, wie es dir gelingen konnte, ein Verbrecherimperium zu errichten«, schoss Saint Germain eine verbale Klinge ab. »Hast du damals auch jeden mit offenen Armen empfangen?«
Moriarty erwiderte den Blick des Grafen gelassen. »Nur jene, die es verdienten.«
Erst jetzt realisierte Max die unterschwellige Spannung im Raum. Während sich Rasputin, Dschingis Khan und Crowley nebeneinander gesellt hatten, standen sich Moriarty und der Graf von Saint Germain frontal gegenüber.
Den Lichtkämpfern war bekannt, dass der Graf die Schattenkrieger anführte. Grundsätzlich besaß natürlich jeder eine Stimme, doch Germain war der Strippenzieher, der Intrigant, der Planer. Moriarty war der jüngste Unsterbliche. Er war noch nicht lange ins Leben zurückgekehrt.
Die beiden konkurrieren.
Indem sich der Verbrecherkönig auf seine Seite geschlagen hatte, war der Graf automatisch gegen Max. Er musste sich vorsehen. In einem Machtkampf zwischen zwei Unsterblichen zerrieben zu werden, konnte er sich nicht leisten. Doch ebenso wenig konnte er Distanz zu Moriarty wahren. Das würde der niemals zulassen.
»Madison Sinclair genießt unser Vertrauen, nicht wahr?«, fragte Moriarty listig.
»Natürlich«, stimmte Crowley sofort zu. Immerhin galt er als ihr Förderer.
Rasputin und Khan nickten kurz und abgehackt.
Moriarty breitete die Arme aus. »Dann kann sie Max weiterhin als Gefährtin zur Seite stehen und ihn anleiten.«
Überwachen.
Ein Nicken ging durch die Reihen der Unsterblichen, dem sich auch Saint Germain anschloss.
»Ausgezeichnet.« Der Verbrecherkönig wandte sich Max zu. »Damit hast du die Inquisition erst einmal überstanden. Doch glaube nicht, dass das alles war. Madison wird dir weitere Informationen zukommen lassen. Einstweilen kannst du gehen.«
Max nickte.
Er ging zur Tür und warf einen letzten Blick in den Raum. Saint Germain und Crowley hätten ihn am liebsten sofort getötet. Rasputin und Khan waren unentschlossen, warteten noch ab. Moriarty stand auf seiner Seite.
Vor der Tür wartete Madison bereits. »So ein Pech, ich hatte gehofft die grillen dich. Ich hab deine erste Aufgabe.«
Ihr Grinsen verhieß nichts Gutes.
Max starrte auf das Loch in der Erde.
Es führte in einen bodenlosen Abgrund. Die Dunkelheit schien ihn anzulachen und dazu aufzufordern, doch einen Schritt nach vorne zu tun. Die Schwärze war von viereckigen Steinen eingefasst. An vier Seiten – nach einem kurzen Test fand er heraus, dass es sich dabei um die vier Himmelsrichtungen handelte – ragten hüfthohe Statuen empor.
»Widerlich.« Er ging in die Knie und betrachtete die Wasserspeier aus der Nähe. »Wer hat euch denn verbrochen?«
»Noch ein Wort und du bekommst ’nen Freifahrtschein nach unten spendiert«, keifte die Statue zurück.
Max machte einen Satz. »Du kannst sprechen?!«
»Du bist ein ganz Schneller, was? Und unter uns: Wenn ich solche Glupschaugen hätte wie du, wäre ich still.«
»Das ist Norden«, erklang eine Stimme hinter ihm.
Max fuhr herum.
Vor ihm stand ein Mann in den Zwanzigern. Er besaß helle Haut und rotblondes Haar. Sommersprossen zierten sein Gesicht. Er grinste verlegen. »Sorry, wollte dich nicht erschrecken. Ich bin Jason.«
»Max.«
»Alter, wer du bist, weiß jeder hier.«
Sie schüttelten einander die Hand.
»Ich bin ein Neuerweckter. Kam kurz vor dem großen Kampf, war aber nicht dabei.«
Max räusperte sich. »Sei froh.«
»Das ist ja nicht zum Aushalten«, krakeelte die Statue. »Entweder ihr nehmt euch ein Zimmer oder geht an die Arbeit.«
Jason lief knallrot an. »Ach, halt die Klappe, Norden.«
»Können die anderen auch sprechen?«
»Nö, nur der. In ihm ist die Schutzmagie aktiv. Hat Madison dir nicht erzählt, was wir zu tun haben?«
»Sie hat mich hierhergestellt, gesagt ›warte‹ und ist gegangen.«
»Na, willkommen im Club«, posaunte Norden. »Mir ging es auch so. Und seitdem stehe ich hier und warte darauf, dass blöde kleine Magier den Spruch aufsagen. Total langweilig. Und ihr beiden Hohlbirnen macht es nicht besser.«
»Kann man ihn auch abstellen?«, fragte Max.
Jason lachte. »Keine Ahnung. Aber das wäre für unsere Aufgabe eher hinderlich.« Er zeichnete vier magische Symbole in die Luft. Sie loderten in orangerot, was Max sofort an Jasons Haare erinnerte. »Porta Aventum.«
Der Norden begann sich zu drehen.
Steine kamen seitlich aus dem Schacht geglitten und bildeten eine Wendeltreppe.
»Wir sollen da runter?«
Jason nickte. »Wir müssen.«
»Boah, wenn ich demnächst kotze, weil ich mich ständig drehen muss, sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.« Norden verschränkte die Klauen vor der Brust. »Und falls die Treppe verschwindet, während ihr hinuntersteigt, war das ein bedauerlicher Fehler. Ob das Aurafeuerwerk durch den Schacht nach oben steigt?«
Jason winkte ab. »Er kann die Treppe nicht einziehen. Das muss jemand auslösen. Also keine Bange.«
Max traute es Madison durchaus zu, genau das zu planen. Doch er schwieg zu dem Thema. »Was ist dort unten?«
»Das Artefaktlager.«
Max’ Magen zog sich zusammen. »Sprechen wir hier von Zauberbüchern oder …«
Jason schaute betreten zu Boden. »Na ja, da stehen noch ein paar der Teile, die aus eurem Castillo gestohlen wurden. Wir sollen sie einlagern.« Er zog ein Pergament hervor. »Genau nach Anleitung.«
»Und kommt besser nicht vom Weg ab.« Norden kicherte.
»Wir könnten ihm mit einem Kraftschlag einen Flügel abschießen«, überlegte Max. »Wer zuerst trifft?«
»Hey, hey! Das hab ich gehört. Ich verpetze euch an Crowley.« Norden klappte seine Flügel auf dem Rücken ein, wobei der Stein knirschte und Bröckchen zu Boden rieselten.
»Nicht mehr der Jüngste, was?« Max warf der Statue einen gehässigen Blick zu.
Norden schwieg.
»Gehen wir schnell nach unten, bevor er wieder anfängt zu plappern.« Jason stieg die Stufen hinunter.
Max folgte ihm dichtauf. Der Geruch von frischem Shampoo und Duschgel stieg ihm in die Nase. Irgendetwas Fruchtiges. Schnell schüttelte er den Kopf. Jason war der Feind.
Um sie herum wurde die Luft kühler und stickiger, roch nach muffigem Alter und verrottenden Geheimnissen. Jason ließ eine Lichtsphäre entstehen, die die Stufen erhellte. Sie erreichten wohlbehalten das untere Ende.
Vor ihnen war ein steinernes Portal in die Wand geschlagen. Dahinter zweigten drei Gänge ab.
Jason zog das Pergament hervor. »Heute müssen wir links.«
»Heute?«
»Das ändert sich täglich. Man benötigt immer eine neue Karte, sonst verliert man sich und findet nie wieder aus dem Labyrinth heraus. Als Madison mir beim ersten Mal den Weg zeigte, fanden wir ein Skelett.«
»Ernsthaft?!«
»Irgendein Lichtkämpfer aus den 1980ern. Hat wohl versucht, hier unten einzubrechen.«
Max bekam eine Gänsehaut. »Ich bleibe in deiner Nähe.«
Jason grinste schelmisch. »Damit kann ich leben.«
Innerlich verfluchte Max sich für das einsetzende Kribbeln in seinem Bauch. Andererseits war der Blödmann nun mal süß. Und er schaute ja nur.
Sie hielten sich exakt an die Karte und landeten in einem domartigen Gewölbe. In der Mitte standen Dutzende von Kisten, die Max sofort erkannte. Darin hatten die Schattenkrieger die Artefakte aus dem Castillo getragen.