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Zurück aus den endlosen Tiefen schickt Moriarty das Trio Alfie, Madison und Jason auf eine Mission nach Afrika. Sie sollen eine junge Kriegerin ausfindig machen, die mehr über den alten Pakt wissen könnte. Gleichzeitig beziehen Alex und Kyra ihr neues Domizil. Bei der Erkundung entdecken sie alte Aufzeichnungen, die schreckliche Geheimnisse enthüllen. Bran berichtet Anne, was mit dem anderen Unsterblichen geschah. Das Erbe der Macht ... ... Gewinner des Deutschen Phantastik Preis 2019 in "Beste Serie"! ... Gewinner des Lovelybooks Lesepreis 2018! ... Gewinner des Skoutz-Award 2018!
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Seitenzahl: 462
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Table of Contents
Titelseite
Was bisher geschah
Hexenholz
Prolog
1. Das neue Zuhause
2. Ein Gespräch unter Freunden
3. Der alte Pakt
4. Raus mit der Sprache!
5. Zu viele Noten
6. Feuer, Asche und das Opernhaus
7. Überraschungsbesuch
8. Verfolgungsjagd
9. Bis zum Tod
10. Eine Floßfahrt, die ist lustig
11. Die Träne von !Nariba
12. Du Essenzsäufer
13. Ein alter Freund
14. Der Spiegelsaal
15. Knapp daneben ist auch vorbei
16. Der sterbende Freund
17. Ein Lied zum Abschied
18. Lebewohl
19. Des Kompasses Ziel
20. Ich Tarzan, du Jane
21. Ausweg
22. Dunkel oder Licht?
23. Die transzendente Apparatur
24. Ein Herz, zu bluten
25. Ein Herz, zu bewahren
26. Die Zusammenkunft
27. Plaudern auf dem Dach
28. Seelenverwandte
29. Was dereinst war
30. Tod eines Unsterblichen
31. Schall und Rauch
Epilog
Seelenmosaik
Prolog
1. Zweisamkeit
2. Marks Pfad
3. Beste Freundin
4. Die nächsten Schritte
5. Das Wiedersehen
6. Reich unter Wasser
7. Das dynamische Duo
8. Die Ankunft
9. Des Rätsels Wurzel
10. Zeitschatten
11. Der Siegelbrecher
12. Ein Reich zu bewahren
13. Ein Spaziergang
14. Der Lilie Schein in Engelslicht
15. Ein Mysterium
16. Ohne Hoffnung
17. Fischstäbchen mit Dreizack
18. Das Urböse
19. Der magische Nimag
20. Die ewige Kirche
21. Die Puppen des Spielers
22. Der Rauch der Erkenntnis
23. Das Seelenmosaik
24. Alles oder nichts
25. Versprich es mir!
26. Die Silhouette im Spiegel
27. Der Untergang
28. Signum Malus …
29. … Signum Dominus
30. Getrennte Wege
Epilog
Blutnacht
Prolog
1. So wunderschön
2. Freund oder Feind?
3. Rette den Nimag
4. Zwischen allen Fronten
5. Mit aller Macht
6. Alt gegen Neu
7. Der Ort der Wahrheit
8. Fieber
9. Richter und Henker
10. In Asche und Blut
11. Stunden im Zwielicht
12. Ein Schlund ins Nirgendwo
13. Immortalis Aeternum
14. Über den Dächern von Frankfurt
15. Fehlsprung
16. Flammen der Erkenntnis
17. Flieht!
18. Erste Schritte
19. Am Boden
20. Zwischen Legenden und Sagen
21. Wir nähern uns dem Ende
22. Der Verräter
23. Wo alles begann
24. Drache, Kelch und Schwert
Impressum
Das Erbe der Macht
Schattenloge 2
»In Asche und Blut«
von Andreas Suchanek
In der Welt der Magie herrscht Chaos. Nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Schattenfrau ist der Wall vollständig entstanden und dämpft die Magie immer stärker.
Im Castillo ist der mystische Onyxquader zerbrochen. Aus dem Inneren kommt ein Mann zum Vorschein, der anscheinend sein Gedächtnis verloren hat. Niemand ahnt, dass es sich um Bran handelt, der die Erschaffung des Walls einst mit in die Wege leitete. In einem Splitterreich entdecken die Magier um Johanna von Orleans das Volk der Varye und erfahren, dass Bran noch am Leben ist. Nicht nur das – er hat auch Leonardo gefangen genommen.
Seit den Ereignissen um die Schattenfrau ist Alex ein gewöhnlicher Nimag und arbeitet unter Beobachtung von Tomoe in der Holding. Um ihn vor dem sicheren Tod zu retten – denn in seinem Inneren kämpft das Sigil darum, die Ketten des Zaubers abzustreifen, was letztendlich zum Aurafeuer führen würde – entführen Jen, Chris, Kevin, Max und Nikki den Freund. Mit Hilfe der Zeitmaschine von H. G. Wells reisen sie in die Vergangenheit. Während der Russischen Revolution werden sie in eine Intrige verwickelt und erkennen, dass Rasputin einst ein Wechselbalg war, genau wie Anastasia Romanow. Obgleich der Plan der Freunde fehlschlägt, gelangt die Zarentochter, die eigentlich Kyra heißt, in die Gegenwart. Mit ihrer Hilfe erhält Alex seine Erinnerung zurück.
Da weder er noch Kyra mit den Freunden ins Castillo zurückkehren können, hat Alex eine andere Idee. Er kennt einen Ort, an dem sie sicher sind.
XVI
»Hexenholz«
Am Anfang war der Himmel.
Doch ohne das Erdenreich und die Sterne am Firmament war die Wirklichkeit leer und bar jeglichen Lebens. Da stieg !Nariba herab und aus seinem Atem wurden Erde und Sterne geboren. Doch auch das war nicht genug.
Er nahm sich eine Kreatur des Himmels – einen Vogel –, verbrannte dessen Flügelspitzen mit Feuer und band den übrigen Flügel mit einer Schnur an Holz und Kohle. Mit all seiner Kraft schleuderte er das Gebilde davon, erreichte aber nicht den Himmel. Erst beim dritten Versuch gelang es, und so erschuf er die Sonne. Die Hitze des neuen Gestirns loderte herab auf die Erde und so musste er kriechen. !Nariba verbrannte seine Knie und aus der Asche erwuchs ein Baum, der !Kxare, mächtig und weit, in dessen Schatten er Linderung fand.
Selbst in den Jahren vor dem Wall lachten Magier laut auf, wenn ihnen von dem alten Mythos berichtet wurde. Längst erblühte eine gewaltige Zivilisation, Wissenschaft und Magie gingen Hand in Hand.
Aber jeder Mythos hat einen wahren Kern.
Denn was niemand sah, was vor aller Augen verborgen lag, war die wahre Macht im Kern der Geschichte. Sie ruhte nicht etwa in !Nariba oder in seiner allmächtigen Gewalt. Nein, es war der Baum, in dessen Schatten der Gott verweilte und regenerierte. Obgleich niemand die Wahrheit erkannte, fand das Holz des Baumes doch seinen Weg durch alle Zeiten und wurde ein Teil der magischen Welt. Ob Essenzstäbe, Apparaturen oder Rüstungselemente, es war immer da. Die Jahrhunderte verstrichen und längst kennt kaum noch jemand den Mythos von !Nariba und dem ganz besonderen Baum, dessen Holz eines der essenziellen Materialien darstellt.
Neben Himmelsglas und Chrom ist es stets allgegenwärtig.
Das Hexenholz.
Mit einem Knall fiel das gewaltige Portal ins Schloss. Die Erschütterung erfasste das Gestein ringsum und führte dazu, dass direkt vor Alex eine stuckverzierte Hand auf den Boden krachte.
»Deine Idee erweist sich wie vermutet als brillant«, kommentierte Jen. »Du hast den Zauber überlebt und wirst nun von einer Skulptur erschlagen.«
»Wie schön.« Alex grinste sie an und wusste genau, dass sie das noch mehr provozierte. »Dann sterben wir gemeinsam.«
»Wenn das für euch in Ordnung ist, hauen Kyra und ich vorher ab«, mischte Nikki sich ein. Als Springerin war sie definiiv nicht in Gefahr, konnte vor jeder Gefahr mit einem Plopp verschwinden.
Kyra, die weiterhin das Äußere einer blonden Siebzehnjährigen trug, ging vorsichtig weiter in die Eingangshalle. »Was ist das hier?«
»Ein Castillo«, erklärte Alex hilfsbereit. »Genau genommen ist es ein verlorenes Castillo. Jen und ich waren schon einmal hier. Zugegeben, das war nicht ganz freiwillig und hat keinen Spaß gemacht.«
In wenigen Worten schilderte er Kyra, wie sie durch eine manipulierte Sprungtorverbindung im Verlorenen Castillo gelandet waren. Kurz vor der Errichtung des Walls war es von den Horden der Schattenkrieger belagert worden. In einem verzweifelten Rettungsversuch hatten die Magier es aus der Wirklichkeit entfernt. Mit fatalen Folgen, denn der Zauber ließ sich nicht mehr lösen. Die Magier waren gestorben, nur eine Person hatte überlebt: Tilda, da sie kein Sigil besaß. Das Artefakt, das den Zauber aufrechterhielt, nutzte die Sigile nämlich als Nahrung. Nachdem Alex es zerstört hatte, waren Jen, er und Tilda nach Spanien zurückgekehrt. Vorher hatten sie das Verlorene Castillo in einem künstlichen Berg aus gehärtetem Sand versiegelt. Im Zuge des Kampfes gegen die Schattenfrau hatte niemand mehr daran gedacht, die hier noch immer gelagerten Artefakte und Schriften zu bergen.
»Ich habe davon gehört.« Kyra schritt ein wenig tiefer in die Halle und sah sich aufmerksam um. »In den Jahren vor dem zweiten großen Krieg, als ich in Paris als Tänzerin auftrat, flüsterten einige Magier davon. Sie gehörten zu einer Gruppe, die das Verlorene Castillo suchten.«
»Daran haben sich ständig irgendwelche Magier versucht«, warf Jen ein.
»Aber nur wir haben es geschafft«, verkündete Alex fröhlich und stupste Jen mit seinem Ellbogen in die Rippen.
Leider ein wenig zu fest, weshalb Jen zur Seite taumelte. »Kent, wenn du das noch mal machst, steche ich mit meinem Essenzstab zurück.«
»So gemein solltest du zu deinem Seelenverwandten nicht sein.« Er klimperte mit den Wimpern.
Jen brodelte. »Vielleicht haben wir ja Glück und hier gibt es noch ein Monster.«
Nikki kicherte.
Kyra stand direkt vor dem großen Banner. Es hing noch immer gegenüber der Eingangshalle an der Wand und zeigte das Symbol des Castillos, gestickt mit goldenen Fäden auf rotem Grund. »Das ist so traurig.«
»Die Skelette liegen oben«, erklärte Alex liebenswürdig. »Die müssen wir noch wegschaffen.«
»Was?« Das Wechselbalg-Kind sah ihn mit großen Augen an.
»Kent, du machst ihr Angst.«
»Ich härte sie nur ab«, gab er zurück. »Außerdem ist sie mehrere hundert Jahre alt.«
»Für Wechselbalgverhältnisse ist das jung«, schrie Jen ihn an. »Oder?«, fragte sie Kyra.
Diese nickte. »Ist aber schon gut. Ich habe damals viel erlebt.« Sie schluckte.
Sofort spürte Alex einen Hauch von Schuldgefühl. Immerhin hatte Kyra in ihrer Gestalt als Anastasia Romanow ihre gesamte Familie verloren und war – nach eigener Aussage – der letzte existierende Wechselbalg. Sah man von Rasputin ab, der allerdings an eine feste Gestalt gebunden war.
»Du wirst auf jeden Fall etwas tun müssen, was du noch nie zuvor getan hast, Kent«, erklärte Jen mit einem bedrohlichen Grinsen.
»Und das wäre?«
»Putzen.«
Gemeinerweise kicherte Nikki erneut.
»Wir schaffen das schon«, gab Alex schlagfertig zurück. »Ein Zauber hier, ein Zauber da – und alles blitzt und blinkt wieder.«
»Chris, Kevin und Max sind schon dabei, Vorräte zusammenzustellen«, warf Nikki ein. »Tilda weiß Bescheid und hilft.«
Die drei Freunde waren von Kanada aus mit Nikkis Hilfe ins Castillo zurückgekehrt. Schließlich konnte niemand wissen, wann jemand auf ihr Verschwinden aufmerksam werden würde.
»Wir müssen sehr vorsichtig sein«, sagte Jen ernst. »Jeder Lichtkämpfer dort draußen hält Ausschau nach dir.« Sie warf Alex einen Blick zu, der so viel mehr transportierte, als es Worte jemals tun konnten. Sie sorgte sich um ihn. Was kein Wunder war, wäre er doch vor wenigen Minuten beinahe in ihren Armen gestorben. »Johanna wird ihre Anstrengungen verstärken, dich zu finden. Außer Tilda, Annora Grant und H. G. Wells weiß niemand, wo du bist. Aber die Unsterblichen verfügen über Zauber, die wir nicht kennen.«
Alex nickte langsam. Johanna von Orleans hatte seinen Tod in Kauf genommen, indem sie seine Erinnerungen gelöscht hatte. Nicht nur das: Sie hatte es gewagt, Alex‘ Mum alles vergessen zu lassen. Dadurch hatte er sich auch nicht um Alfie kümmern können. Sein Bruder hing noch immer in den Fängen Moriartys. Das würde er der Rätin niemals verzeihen, egal welchen Grund es geben mochte.
»Die Devise lautet also: Vorsicht«, schaltete sich auch Nikki ein. »Das gilt auch für dich, Kyra. Du bist der letzte Wechselbalg. Die Schattenkrieger und Lichtkämpfer sind sich einig, was dich betrifft.«
»Wüssten sie, dass ich noch lebe, würden sie mich töten.« Kyra nickte leichthin. »So war es damals, so ist es heute. Meine Vorfahren haben so viel infiltriert und gemordet, dass die Versammlung der Mächtigen damals beschlossen hat, uns alle auszurotten.«
Alex verzichtete auf einen Kommentar. Seiner Meinung nach hätten die Unsterblichen die Wechselbälger auch einfach in den Immortalis-Kerker werfen oder in Bernstein lagern können. Warum musste es immer gleich die endgültige Lösung sein? Andererseits waren die Zeiten brutaler gewesen. Sowohl bei den Nimags als auch bei den Magiern.
»Also schön.« Jen klatschte in die Hände und sah dabei unglaublich hübsch aus. Ihre Wangen leuchteten und ihre Stupsnase … »Hör auf, mich so anzustarren, Kent! Die Jungs kümmern sich mit Tilda um den Proviant. Ihr beiden macht das verlorene Castillo wohnlich. Nikki versorgt euch mit Nachschub.«
»Und du?«, fragte er neugierig.
»Ich werde versuchen herauszufinden, was Mark damals entdeckt hat. Wir wissen, dass Johanna dir deshalb die Erinnerungen nahm. Irgendwo in der Bibliothek oder im Archiv muss es dazu Hinweise geben. Wir werden erst Ruhe haben, wenn dieses Rätsel gelöst ist.«
Der Putz auf dem Boden knirschte, als Jen zu Nikki ging. Jede freie Oberfläche war bedeckt von Staub, abgebröckeltem Putz und Sand. Einige Fensterscheiben waren zerbrochen und von den Tischen in der Halle waren nach der Auflösung des Zaubers nur noch Holzstücke übrig. Als habe ein Tornado alles verwüstet, was der Wahrheit recht nahe kam.
Immerhin wusste Alex, dass die Küche blitzblank war, darauf hatte Tilda geachtet.
»Wir schauen bald wieder vorbei.« Jen lächelte ihm kurz zu.
Nikki und sie verschwanden mit einem Plopp.
Kyra verschränkte die Arme und grinste ihn an. »So, du hast Jen also geküsst. Ich will alles wissen.«
Einige Tage später
Er stank nach Weihwasser.
Moriarty verzog angewidert das Gesicht. Die Archivare der endlosen Tiefen besaßen einen makabren Sinn für Humor. Der Eingang zu diesem ganz und gar dunklen und unheiligen Ort befand sich in verschiedenen Kirchen. Genauer: in deren Weihwasserbecken.
Er wischte den Gedanken beiseite, während er durch die Straßen des Örtchens schlenderte und sich dem freien Feld näherte. Die East End war in der Nähe, weshalb er die endlosen Tiefen über diese Kirche verlassen hatte. Seine Recherche war nur zum Teil erfolgreich gewesen, aber das war genug.
Ein kalter Wind fuhr durch die Gassen, Nieselregen wehte ihm ins Gesicht. Das Wetter war ganz nach seinem Geschmack. Auf dem freien Feld führte er einen kurzen Lokalisierungszauber aus. Hoch über ihm schwebte die East End.
»Signum«, sprach er und erschuf das Symbol.
Kurz darauf erschien Madison neben ihm. Lediglich Crowley und sie hatten das kurze Regnum der Schattenfrau überlebt, alle anderen Sprungmagier waren von ihr getötet worden.
»Hallo, Charlie«, sagte Madison mit einem Grinsen.
»Bitte?«
»Drei Engel für … egal. Nach oben, Boss?«
»In der Tat.«
Die Umgebung verschwand. Sie materialisierten an Bord des Luftschiffs. Die Gondel zog sich über den gesamten Bauch des Zeppelins und war ausgekleidet mit allerlei magischen Materialien – Hexenholz, Himmelsglas, Chrom und einem Hauch Noxanith. Die ablativen Bernsteine waren aufgeladen mit Essenz.
»Neuigkeiten?«
Madison schüttelte den Kopf, wodurch ihre bauschige Mähne leicht wippte. Wie immer trug sie legere, aber enge Kleidung. »Es ist langweilig.«
»Nicht mehr lange, sei dir versichert.«
Er ließ sie stehen und steuerte die Krankenstation des Schiffes an, wo Olga sich um den unbekannten Nimag kümmerte, den Moriarty eingesperrt in einer Statue unter dem alten Refugium gefunden hatte.
»Willkommen zurück«, sagte die Heilmagierin, ohne von einem augenscheinlich sehr wichtigen Pergament aufzublicken. Ihr dunkles Haar hatte sie mit einem Reif nach hinten gelegt.
»Was macht unser Patient?« Moriartys Blick erfasste den schlafenden Nimag, der weitaus besser aussah als noch vor wenigen Tagen.
»Er isst und trinkt, wird langsam kräftiger und seine Verwirrung legt sich.« Olga rollte das Pergament zusammen und wandte ihre Aufmerksamkeit gänzlich Moriarty zu. »Es ist seltsam. Bis vor wenigen Tagen war er unruhig und verwirrt, aber das hat sich abrupt gelegt. Sein Verstand wird mit jedem Tag klarer, schärfer, zielgerichteter.«
Alexander Kent ist wieder ein Magier. »Ich verstehe.« Er war mit zwei Schritten neben der Liege. »Aufwachen!«
Der Nimag öffnete abrupt die Augen. Für einen Moment wirkte er zutiefst verärgert, dann flackerte sein Blick. »Du bist … Moriarty.«
»So ist es. Und wir beide müssen uns unterhalten.« Er zog einen Stuhl heran und nahm darauf Platz.
Der Nimag setzte sich auf. Mittlerweile trug er eine Jogginghose und ein T-Shirt. Kleidung, die Alfie Kent zur Verfügung gestellt hatte. »Ja?«
»Wie heißt du?«
Der Nimag erwiderte den Blick lange. Beinahe hätte Moriarty es für eine Provokation gehalten, wüsste er es nicht besser. »Jackson.«
»Deine Erinnerung kehrt also zurück.«
Der Nimag nickte vorsichtig. »Bruchstückhaft, aber schnell. Und da sind Bilder … seltsame Bilder.«
»Ja?«
»Leuchtende Energien, Symbole und Männer mit Essenzstäben. Kämpfe. Es ist alles verworren.«
Eine weitere Bestätigung. Der Nimag erinnerte sich an Magie. Etwas, das eigentlich nicht hätte sein dürfen, denn der Wall maskierte jede Art von Essenz oder gewirkten Zaubern. Selbst der Angriff durch Saint Germain und seine Unterstützer hätte wie ein normaler Überfall aussehen müssen.
»Sind es neue Erinnerungen?«
Ein Kopfschütteln. »All das war schon einmal da. Der Graf hat mich ständig danach gefragt.« Nun ballte der Nimag die Fäuste. »Er hat mich gefoltert.«
Eine durchaus naheliegende Idee, die Moriarty vermutlich sogar mit mehr Nachdruck angewendet hätte. Doch im vorliegenden Fall war das nicht notwendig. »Du hast dich also erinnert, dann wieder alles vergessen und jetzt kehrt die Erinnerung zurück.«
»Genau.«
»Sag mir, wann die erste Erinnerung gekommen ist.«
Der Nimag knabberte gedankenverloren an seiner Unterlippe, dann erwiderte er: »Etwas mehr als ein Jahr ist das jetzt her.«
Moriarty lauschte den weiteren Ausführungen und konnte die Parallele herstellen. Zu jenem Zeitpunkt, als Alexander Kent zum Magier geworden war, hatte der Nimag Magie erkennen können. Bilder waren aufgetaucht, Illusionierungen waren verschwunden. Doch dann hatte Johanna von Orleans den Vergessenszauber ausgesprochen. Abrupt hatte der Nimag wieder eingebüßt, was er an Magie erfasst hatte. Doch jetzt kehrte alles zurück. Man musste kein Genie sein, um eins und eins zusammenzuzählen. Madison, Jason und Alfie waren dabei gewesen, als die Freunde von Alexander Kent diesen aus der Holding in London entführten. Ihnen war es also gelungen, den Zauber zu brechen. Das war beeindruckend, wie Moriarty gestehen musste. Kein gewöhnlicher Magier wurde in die Zauber der Unsterblichen eingeweiht, nicht einmal die Agenten – gedanklich verfluchte Moriarty Max Manning – erfuhren diese.
»Ich muss fort«, flüsterte der Nimag.
»Was meinst du damit?«
»Etwas zieht mich fort.«
»Wohin?«, fragte Moriarty.
»Afrika. Südafrika. Dort ist etwas Wichtiges, das ich unbedingt erreichen muss.«
»Afrika. Soso. Also gut, wir bringen dich dorthin. Ruh dich aus.«
»Ich will mich nicht ausruhen!«, blaffte der Nimag.
»Somnus.« Moriarty malte blitzschnell das entsprechende Symbol mit seinem Essenzstab auf Jacksons Haut.
Er verlor sofort das Bewusstsein.
»Du hast also etwas erfahren«, stellte Olga fest, während sie Puls und Atmung des Nimags prüfte.
»Oh ja, das habe ich. Und ich bin noch nicht sicher, was ich davon halten soll.« Er verschränkte die Arme und trat an eines der Fenster.
Die East End schwebte zwischen dunklen Wolken dahin. Er liebte den Ausblick. Die zuckenden Blitze, die Wirbel, die sich bildeten und vergingen, die rohe Gewalt der Natur, die kein Erbarmen gegenüber Schwäche zeigte.
»Anweisungen?« Olga nickte in Richtung des schlafenden Jackson.
»Einstweilen soll er ruhen und zu Kräften kommen. Oh, und eine Dusche wäre auch ganz nett.« Ausnahmsweise war Moriarty froh über den Weihrauchdunst, der ihn umgab.
»Er dürfte in Kürze soweit sein, dass wir ihm eine Kabine zuteilen können.« Olga wandte sich wieder ihren Gerätschaften zu.
Moriarty verließ die Krankenstation. Er musste mit Alfie, Madison und Jason sprechen. Die drei waren am Zug, sobald die East End Afrika erreichte.
Er spürte noch immer die Küsse von Madison und Jason auf seiner Haut.
»Hör auf, so zufrieden zu grinsen, Baby Kent«, rief Madison vom Bett herüber.
Seine Antwort bestand in einem Knurren. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass sie ihn so nannte, obwohl das gleichzeitig Erinnerungen an seinen Bruder an die Oberfläche spülte. »Gerne doch, Maddy.«
Ein Kissen landete direkt in seinem Gesicht.
»Nein, aufhören«, schaltete Jason sich ein. Sein Haar war zerzaust, er trug nichts außer einem Slip. Seine Sommersprossen schienen zu leuchten. »Das letzte Mal habt ihr meine Kabine vollständig verwüstet.«
Alfie wechselte einen tiefen Blick mit Madison. Im nächsten Augenblick waren sie alle drei in eine wilde Rauferei verwickelt, in der mal ein Kissen in einem Gesicht landete, mal ein Kuss.
Dieses Mal zog er seinen beiden Freunden keine Essenz ab. Als Nimag unter Magiern konnte er nur dank allerlei Hilfsmitteln Zauber wirken. Sein Essenzstab war mit eingelassenen Bernsteinen versehen, die stets neu aufgeladen werden mussten, der Sprunggürtel funktionierte dank des Walls überhaupt nicht mehr. Immerhin, die Pilotenbrille, die es ihm ermöglichte, Magie zu sehen, war nicht länger notwendig.
Alfie musste lediglich den Trank einnehmen, der sein Blut mit Bernsteinpartikeln anreicherte. Wenn er dann mit Jason und Madison einen Moment absoluter Intimität erlebte – also hemmungslosen Sex –, floss die Energie förmlich in ihn hinein. Von dort aus konnte er sie aus den Partikeln ableiten in den Essenzstab und in andere Artefakte aus dem Fundus von Agnus Blanc.
Einen Teil aber hielt er zurück. Diese Restessenz sorgte dafür, dass er Magie sehen konnte. Die Neuerung verdankte er Moriarty, der den Trank verbessert hatte. Damit war er die klobige Pilotenbrille los, die sonst bei jedem Einsatz auf seiner Nase gesessen hatte.
»Oh, wie ich spüre, hast du wieder Essenz in deinen Stab geleitet«, säuselte Jason.
Alfie prustete los und auch Madison hielt sich den Bauch vor Lachen.
»Das mit den Metaphern solltest du lassen«, sagte Alfie, als er wieder Luft bekam. »Das zerstört nur jede Stimmung.«
Jason grinste breit.
Ein Klopfen erklang.
Alfie sprang vom Bett, richtete seine Haare und zupfte sein T-Shirt zurecht.
»Da will jemand vor dem Boss immer noch einen guten Eindruck machen, was? Herein!«
Alfie warf Madison einen bösen Blick zu.
»Ah, ich störe doch hoffentlich nicht«, grüßte Moriarty.
»Nein«, beeilte Alfie sich zu versichern, »wir sind gerade fertig geworden. Mit der Planung. Brainstorming. Wir …«
»Baby Kent, du sitzt im Loch. Hör auf, es noch tiefer zu buddeln.« Madison rutschte vom Bett. »Man kann deutlich sehen, was wir hier gerade getan haben.«
Alfies Wangen brannten. »Ein neuer Einsatz?«
Moriarty schmunzelte. Eine Regung, die man von ihm nicht oft zu sehen bekam. »So ist es. Wir sind auf dem Weg nach Afrika. Der Kapitän aktiviert gleich den Essenzantrieb. Setzt euch bitte, das hier ist ernst.«
Sofort war jede Heiterkeit verschwunden.
Während Moriarty sich an die Tür der Kabine lehnte, zogen Madison, Jason und Alfie sich Stühle vom Tisch heran und setzten sich darauf.
»Meine Recherchen in den endlosen Tiefen haben nur Bruchstücke zutage gefördert, doch diese sind … beunruhigend. Es scheint, als existiere ein alter Pakt. Niemand weiß, wann oder von wem er geschmiedet wurde, doch er ist eingebettet in die Fasern der Magie selbst. Nur wenige Menschen wissen davon. Joshua, der letzte Seher, sprach in einer seiner Prophezeiungen darüber.«
Moriarty räusperte sich, hob den Essenzstab, und aus dem Nichts heraus erklang eine Stimme.
Ein Krieg am Anfang, am Ende, immerdar.
Zwei Seiten im ewigen Streit.
Schnee und Asche, Asche und Schnee.
Ein Zyklus für die Ewigkeit.
»Das ist eine der Prophezeiungen, die Danvers aus dem Folianten lesbar machte!«, rief Madison. »Aber ging es dabei nicht um die Schattenfrau?«
»So dachten alle«, bestätigte Moriarty. »Doch während all die anderen Verse den Ereignissen um die Schattenfrau zugeordnet werden konnten, blieb dieser ohne Deutung. Er steht jedoch auch in einem Buch, das einst über den alten Pakt geschrieben wurde.«
»Worin geht es denn in diesem Pakt?«, fragte Alfie.
»Stellvertreter aller Seiten – damit sind wohl Gut und Böse, Magier und Nimags gemeint – kämpfen gegeneinander. In jeder Generation finden sich zwei Seelenverwandte. Ein Nimag und eine Kriegerin streiten gemeinsam gegen ihre Spiegelbilder. Sobald alle vier ihr Schicksal begriffen haben, finden sie einander. Der Kampf muss stets mit dem Tod der Vertreter einer Seite enden.«
»Asche und Schnee«, flüsterte Jason. »Aber warum?«
»Wie bereits gesagt weiß niemand, weshalb dieser Pakt geschmiedet wurde oder was sein Zweck ist. Doch die Magie selbst lenkt die Beteiligten so, dass der Konflikt stets aufs Neue zustande kommt.«
»Und dieser Nimag auf der Krankenstation ist einer davon?«, fragte Madison.
»Ja, das ist er«, bestätigte Moriarty. »Und ein weiterer ist Alexander Kent.«
Alfie konnte nicht verhindern, dass er zusammenzuckte. »Aber … mein Bruder ist doch ein Magier.«
»Er sollte aber eigentlich keiner sein«, erklärte Moriarty. »Wir wissen, dass er ein Wildes Sigil in sich trägt, das durch die Schwangerschaft von Ava Grant entstand und durch die Schattenfrau in Alexander Kent gelenkt wurde.«
»Deshalb also.« Madison wirkte völlig entgeistert. »Ich habe mich gefragt, weshalb diese Johanna-Bitch Kent seine Erinnerungen nahm.«
Moriarty nickte. »Sie wollte das Gleichgewicht wiederherstellen, damit alle Beteiligten sich in identischer Geschwindigkeit erinnern und niemand dem anderen unterlegen ist. Doch da sich unser Nimag – der übrigens Jackson heißt – wieder entsinnt, scheint Alex seine Magie wiedererlangt zu haben und auch sein Wissen.«
»Hätte nicht gedacht, dass diese Idioten das hinbekommen«, kommentierte Madison.
»Wir müssen alles über den Pakt erfahren und zwar möglichst bevor es zum finalen Kampf dieser Generation kommt«, fasste Moriarty zusammen. »Das Ergebnis muss irgendeinen Einfluss haben, es muss wichtig sein.«
»Wie stellen wir das an?«, fragte Jason.
»Etwas zieht Jackson unaufhörlich nach Südafrika. Ich gehe davon aus, dass es die Seelenverbindung zur Kriegerin seiner Seite ist, eine Magierin, die noch nichts von ihrer Bestimmung weiß.«
»Und wir sollen sie finden?«
Moriarty lächelte und zog einen Kompass aus der Tasche. »Ich habe diesen magisch mit Jackson verknüpft. Die Nadel weist auf das Ziel seiner Sehnsucht.«
»Klingt nach Spaß.« Madison verschränkte die Arme und platzierte ihre Füße auf dem Tisch.
Ein eisiger Blick von Moriarty genügte und sie setzte selbige wieder auf den Boden. »Vergesst nicht, dass wir hier von einem uralten Pakt sprechen, der Generationen andauert. Johanna scheint so viel Angst davor gehabt zu haben, dass sie sogar dazu bereit war, das Leben von Alexander Kent zu opfern. Etwas, das völlig untypisch für sie ist. Nehmt die Sache so ernst, als stünde euer Leben auf dem Spiel.« Moriarty wandte sich ab und öffnete die Tür. »Möglicherweise tut es das.«
Mit einem Knall fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
»Ich kann langsam keinen Schnee mehr sehen«, kommentierte Anne das dichte Treiben vor dem Fenster. Der Wind hatte zugenommen, die Flocken wehten so hart gegen das Fenster, dass ein beständiges Tock, Tock zu vernehmen war.
»Das passiert, wenn sich niemand kümmert«, kommentierte Bran. »Der Zauber wurde von ein paar Hausoberen durchgeführt, die sich nach frischer Luft sehnten. Die armen Lichtkämpfer aus dem indischen Haus gehen kaum noch vor die Tür.«
Anne nahm Platz, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. »Johanna ist beschäftigt, seit die Königin der Varye ausgeplaudert hat, dass du den guten Leonardo aus dem Spiel genommen hast.«
Bran lachte leise. »Und doch ahnt sie nicht, dass ich direkt vor ihrer Nase sitze. Bedauerlicherweise fehlt ihr die Erinnerung an mein Aussehen. Sie glaubte all die Zeit, ich sei tot.«
Im Kamin prasselte ein Feuer, Weingläser standen auf dem Tisch und füllten sich wie von Geisterhand mit blutroter Flüssigkeit. Es war warm und behaglich.
Anne seufzte. »Ich vermisse es, an Bord eines starken Dreimasters über die Weltmeere zu segeln und verweichlichte Offiziere der westindischen Handelskompanie über die Reling zu befördern. Und manche in mein Bett. Du wärst überrascht, was Männer bereit sind zu tun, wenn sie nur so weiterleben dürfen.«
Brans Gesicht blieb regungslos. »Du hast zweifellos zahlreiche Geschichten zu erzählen. Aber wir sind heute hier, weil du eine hören möchtest.«
Anne nickte. Bran jagte ihr Angst ein, doch gleichzeitig erkannte sie seine Macht. Er hatte sie hierhergeholt. Ohne ihn wäre sie im Refugium der Schattenkrieger erwacht, nicht im Castillo.
»Kein Wesen besitzt Zugriff auf die Zitadelle. Ein Einfluss ist unmöglich. Mehr als das: Niemand weiß, wer die Unsterblichen überhaupt ernennt. Doch es gab ein Schlupfloch. Wie du weißt, hat mein Körper zwar im Onyxquader geschlafen, doch mein Geist konnte sich manifestieren. Der Tod von Thomas Alva Edison und der des Grafen von Saint Germain löste eine Erschütterung in der magischen Welt aus. Ich fand meinen Geist verwoben mit den Machtlinien des Spiegelsaals und des Opernhauses. Die Mächte im Schatten griffen ein und brachten zwei Menschen ins Leben zurück.«
Eine davon war Anne gewesen. Sie erinnerte sich leider nicht mehr an Details. Es war stets das Gleiche: Sobald ein Unsterblicher ins Leben zurückkehrte, vergaß er alles, was mit seiner Wiedergeburt in Zusammenhang stand. Ihr ging es da nicht anders. Sie hasste es. Irgendjemand hatte kurzerhand beschlossen, sie aus einem nicht nachvollziehbaren Grund zurückzuholen und versagte ihr nun die Wahrheit über die Hintergründe.
Doch dieses Mal gab es einen Unterschied: Bran. Er hatte eingegriffen, etwas von dem erspürt und manipuliert, was mit dem Schicksal spielte.
»Du hast meine Rückkehr gelenkt«, sagte Anne. »Vom Spiegelsaal ins Opernhaus.«
Der mächtige Magier nickte. Nach seinem Erwachen, seiner Rückkehr, war er ein dünnes müdes Männlein gewesen. Doch sein Körper hatte bereits wieder Muskeln angesetzt, die Haut wirkte frisch und gesund. Die Falten auf seinem Gesicht waren dem Alter geschuldet, nicht länger jedoch der Müdigkeit. Anne glaubte, die Macht zu erspüren, die in seinem Inneren waberte. Er war Teil des Walls. Was die Schattenfrau durch die Vereinigung der Sigilsplitter hatte erreichen wollen, war ihm tatsächlich gelungen. Doch er verfügte nicht nur über die Magie und das Potenzial von drei vereinten Sigilsplittern, er war mit dem vollständigen Wall verbunden. Das war tatsächliche Allmacht.
Anne fragte sich, worauf Bran wartete.
Er hätte diesen Ort längst bis auf die Grundmauern niederbrennen können. Ein Großteil der Lichtkämpfer war bereits mit ihm verbunden, hatte sich über des Glückes Pfand unterworfen. Sie liebten Bran wie einen Gott. Bei den Schattenkämpfern war es nicht anders.
Oh ja, er hatte auch Anne gefragt. Doch sie hatte nicht angebissen, würde sich niemals unterwerfen. Trotzdem half sie ihm – aus Überzeugung. Sie verehrte Stärke, Gnadenlosigkeit und Macht.
»Damit hast du recht«, erklärte er. »Und was weiter geschehen ist, ist kein Geheimnis. Wie ein Engel bist du mit Säbel und Kreuzgurt hinabgestiegen, hast Max Manning umgerannt und wurdest in den Rat aufgenommen. Sie haben es nicht einmal hinterfragt.«
Natürlich wunderten sich einige unter ihnen, doch auch Tomoe war eine Kriegerin gewesen. Es war also kein Präzedenzfall. Aber im Gegensatz zur japanischen Kriegerin war Anne süchtig nach dem Kampf. Im Rat der Lichtkämpfer war sie fehl am Platz.
»Doch das wirklich Interessante ist dein Gegenpart«, erklärte Bran, und damit begann der spannende Teil. »Als Ersatz für Thomas Alva Edison wurde ein Unsterblicher ernannt, ein Mann. Er machte sich um die Menschheitsgeschichte verdient, seine Ernennung hätte gravierende Veränderungen hervorgerufen. Denn er besaß etwas, was kein anderer Magier oder Unsterblicher besitzt. Es war der Versuch der Mächte im Schatten, mich aufzuhalten. Sie wissen nicht, dass ich wieder hier bin, doch sie spüren eine Verwerfung in der Balance. Ich werde schon sehr bald jeden Status quo vernichten, so etwas kann nicht unbemerkt bleiben. Die Wellen des Schicksals türmen sich bereits auf und branden heran.«
»Ein Unsterblicher, der dich hätte besiegen können? Wie?«
»Hoffnung«, erklärte Bran. »Er besaß die Gabe, Hoffnung zu wecken. Und das durch eine ganz besondere Eigenschaft. Ich musste ihn aufhalten. Hätte er es bis hierher geschafft, hätte ich das Castillo längst niedergebrannt.«
Das wurde ja immer interessanter. In diesem Augenblick vermisste Anne etwas, das die Menschen der Gegenwart Chips nannten. Dünne Kartoffelscheiben, die in Fett gebraten und mit Gewürzen verfeinert wurden. Sie liebte diese Dinger. Jedoch hatten die Menschen dieser Zeit auch ein völlig idiotisches Verhältnis zum eigenen Körper entwickelt. Als sie zum ersten Mal einen Fernseher angeschaltet hatte, waren darin junge Mädchen zu sehen gewesen. Aufgrund des Anblicks hatte Anne vermutet, dass der Sklavenhandel wieder eingeführt worden war. Anders konnte sie sich nicht erklären, warum diese armen Geschöpfe nichts zu essen bekamen. Dünn und kraftlos hüllten sie sich in winzige Stofffetzen und begannen zu schluchzen, wenn sie einmal kurz angeschrien wurden. Es war beschämend. Am liebsten wäre sie in dieses Sklavenstudio gefahren, um ihnen mit dem Essenzstab Verstand einzubläuen. Tilda war dann so nett gewesen, Anne zu erklären, dass es sich um eine fiktive Aufzeichnung handelte. Wie das frühere Theater. Davon gab es wohl noch reichlich, sogar einige Filme über Anne selbst. Sie war die Königin der Freibeuter gewesen, und allerlei Drehbuchautoren hatten sich schon mit ihrer Geschichte befasst. Das meiste war natürlich verbrämter Unsinn.
Autoren gingen oft sehr gemein mit ihren Figuren um und schickten sie durch die Hölle. Mit einem solchen hätte Anne sich auch gerne einmal unterhalten.
»Raus mit der Sprache, wer war der andere Nimag?« Wen hatten die unbekannten Mächte erwählt, um die Lichtkämpfer zu unterstützen?
Es musste ein ganzer Kerl sein, wenn er es mit ihr hätte aufnehmen sollen.
Bran schmunzelte. »Ich habe seine Geschichte recherchiert, habe gespürt, wie er in der Zitadelle manifestierte und konnte sein Ende miterleben. Ich erzähle dir, was geschehen ist. Eines ist sicher. Danach wirst du meine Macht niemals in Zweifel ziehen. Also hör zu.«
Und genau das tat Anne.
Bran nannte den Namen des Unsterblichen.
September 1791, Österreich
»Zu viele Noten!« Wolfgang Amadeus Mozart schnaubte abfällig. »Ich will es nicht mehr hören!«
Eine flackernde Kerze erhellte den Raum. Vor dem Fenster war die Rauhensteingasse in Dunkelheit getaucht. Die Magier patrouillierten mit ihren Essenzstäben, um für Ordnung in Wien zu sorgen.
Mozart hustete.
Mit besorgter Miene eilte sein Constanzerl herbei. »Mein Hascherl, leg dich nieder.«
Er hätte ihr gerne widersprochen, fühlte sich aber entkräftet, wie so oft in letzter Zeit. Willenlos ließ er zu, dass sie ihn entkleidete und schlüpfte in das Nachthemd.
Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Der Ausschlag ist schlimmer geworden.«
»Bald hat er es geschafft, der Salieri.« Mozart huschte unter die Decke. »Meine Lebenssäfte sind schwach, ich schwinde dahin. Obgleich der Heiler mich erst letzte Woche zur Ader gelassen hat.«
»Nimmst du dein Quecksilber?«
»Ja.«
»Auch wirklich?«
»Ja«, blaffte er, was ihm aber sofort leidtat. »Vielleicht ist‘s besser, mehr zu nehmen.«
Sein Constanzerl räusperte sich. Er wusste, was nun kam.
»Vielleicht sollten wir einen Magier …«
»Nein«, unterbrach er sie. »Die Essenzstabwedler stehen doch alle in seinem Dienst! Aber ein Wolfgang Amadeus Mozart lässt sich nicht von einem Antonio Salieri niederknüppeln!«
Er lächelte bei dem Gedanken an die verzückten Gesichter des Adels. Ja, mit seiner Zauberflöte hatte er es ihnen allen gezeigt. Nun wussten sie, was seine Musik zu tun vermochte. Sie verzauberte auf eine Art, wie es kein Essenzstabwedler jemals konnte, spendete Hoffnung und Tränen und Glück. Mochten sie ihn auch viele Jahre verkannt haben, das war vorbei!
Kein Wunder also, dass der von Neid zerfressene Antonio ihn geschwind um die Ecke bringen wollte. So war er, der Antonio. Mozart wollte ausspucken, doch ein Husten schüttelte ihn kräftig durch.
Sein Constanzerl reichte ihm ein Tuch.
»Ich schwör‘s dir, Wolferl, wenn das nicht bald besser wird, hole ich einen Heilmagier.«
»Mir kommt kein Essenzstabwedler in die Stube!«, blaffte er. Oder wollte blaffen. Stattdessen gingen seine Worte in einen erneuten Hustenanfall über. »Jetzt reich mir Papier und Tinte.«
Sie strafte ihn mit einem verkniffenen Blick, reichte ihm aber das Gewünschte. Kurz darauf erklang das Klappern von Töpfen – gut so! Er war hungrig.
Obwohl er am liebsten geschlafen hätte, wollte er doch nicht aufhören zu komponieren. Die Klänge waren in seinem Kopf und mussten hinaus. Er bannte sie auf das Papier. Ein Lied, das nur für ihn bestimmt war, dessen Klänge durch seine Adern pochten, ihn mit Euphorie erfüllten.
Sonnenklang, nannte er es.
Ein Werk, ein Epos, eine Symphonie. Die Töne würden die Herzen der Menschen berühren, sie verzaubern und mitreißen. Er wollte, dass ihre Augen leuchteten, Tränen über ihre Wangen rannen und sie im Schlaf von den Noten träumten, die ihre Seele umfangen hatten.
Doch erst wenn es vollendet war. Vorher war es nur für ihn bestimmt, blieb sein Geheimnis. Schließlich war der Antonio überall, der Neider und Giftmischer.
»Morgen gibt es einen Aderlass«, beschloss er. »Und gleich mehr Quecksilber.« Er würde um seine Gesundheit kämpfen. Dafür brauchte er keinen Essenzstabwedler, ganz gewiss nicht!
Die Feder kratzte über das Papier, Noten füllten die Bögen. In seinem Geist sah er sich in einem Opernhaus, umgeben von den Klängen eines Streichorchesters, das den Sonnenklang spielte. Ja, so sollte es sein.
Eine Hand erschien vor seinen Augen, schnappte sich das Pergament und legte es beiseite.
»Was machst du da?!«
»Du machst jetzt was, Hascherl. Essen nämlich.« Constanze legte ihm eine Schüssel in den Schoß, sie war warm. Ein angenehmer Duft stieg ihm in die Nase. »Suppe?«
»Linsensuppe«, erklärte sie. »Iss.«
Er nahm den Löffel entgegen. »Was würde ich nur ohne dich tun?« Natürlich hätte er bis tief in die Nacht Noten zu Papier gebracht und dabei vergessen, eine Mahlzeit zu sich zu nehmen.
»Verloren wärst du, was sonst?« Sie strich ihm sanft durchs Haar. Die Perücke hatte ein paar weiße Flusen hinterlassen.
»Es schmeckt gut.« Er lächelte.
Zufrieden stand sein Constanzerl auf, kehrte in die Küche zurück und kam mit einem gefüllten Teller wieder an sein Bett. Schweigend aßen sie, genossen die Stille und einander. Ja, er hätte nicht gewusst, was er ohne sie getan hätte.
»Du schaust wieder so.«
»Wie schaue ich denn?«, fragte er.
»Wie ein verliebter Gockel«, neckte sie ihn. »Ein lüsterner Gockel.«
Er kicherte. Die Schüssel war leer. Er stellte sie auf den Nachttisch und hob die Hand. Seine Finger lösten flink die Schnüre ihres Mieders.
»Deine Lebensgeister kehren aber g‘schwind zurück.« Sie schlug ihm auf die Finger. »Wolferl, du musst dich schonen.«
»Lust weckt die Lebensgeister.«
Sie lächelte und stellte den Teller beiseite.
Das Nächste, was er wahrnahm, war Dunkelheit. Verblüfft richtete Mozart sich auf. »Hascherl?«
Ein Gähnen neben ihm. »In zwei Stunden kräht der Hahn, schlaf noch etwas.«
Ein heißer Schreck durchfuhr seine Glieder. War er etwa eingeschlafen? Gerade, als er ihr Mieder geöffnet hatte? Wie war das nur möglich? Sein Körper versagte ihm zunehmend den Dienst.
Constanze schlief sofort wieder ein, stieß schnorchelnde Atemgeräusche aus und wärmte ihn mit ihrem Körper. Er strich ihr sanft durch das Haar. Was sollte er nur tun? Die Noten hielten seine Seele am Leben, Constanze seinen Körper. Doch welch böser Fluch lag auf ihm? War es das? Hatte Antonio Salieri ihn vergiftet? Zugetraut hätte er das dem Doppelgesicht sofort. Aber die letzten Prüfungen mit Bernsteinamuletten hatten keinen Fluch, keinen verdorbenen Zauber enthüllt. Womöglich sollte er doch auf den Rat seines Arztes hören und das Quecksilber mit Bernsteinen anreichern.
Der Gedanke schüttelte ihn.
Die Essenz eines Magiers wäre dann in seinem Körper. Als habe er fremdes Blut getrunken, eine fremde Seele gekostet. Es war widerlich.
Nein, er würde so weitermachen wie bisher. Der Sonnenklang musste vollendet werden und ihn endgültig berühmt machen, weit über Wien hinaus. Sein Geist und seine Musik würden neue Kraft in seinen Körper leiten. So und nicht anders sollte es vonstattengehen. Der Antonio würde sich umschauen, wenn er am Boden lag. Übertrumpft von den Noten des Wolfgang Amadeus Mozart.
Die feinen Frauen der Stadt würden sein Constanzerl zu ihren Kaffeekränzchen einladen, selbst die Magier aus den edlen Häusern würden seine Musik hören wollen. Lauschen würden sie, jeder Note, und dabei alles andere vergessen.
Mit einem zufriedenen Lächeln schlief Wolfgang ein.
Drei Monate später ging es zu Ende.
Der Dezember brachte kalte Winde und dichtes Schneetreiben mit sich. Die Flocken wirbelten gegen das Fenster. Mitternacht war verstrichen, die Zeiger der Uhr wanderten weiter.
»Es geht zu Ende«, brachte Mozart mit brechender Stimme hervor.
Entgegen jeder Hoffnung hatte sein Körper sich nicht erholt, im Gegenteil. Der Ausschlag wurde schlimmer, das Jucken und Husten ebenfalls. Die Schwäche umhüllte ihn, wie ein Leichentuch, das jede Kraft erstickte.
Sie hatten wenig Geld, deshalb war sein Constanzerl in einen dicken Schal gehüllt. Die Kälte war wie eine feindliche Armee durch die zugigen Fenster ins Zimmer gedrungen. Sie besaßen keine Verteidigung. Nur dünnes Leinen, einen Schal hier, ein Bettlaken da.
»Ich muss dich alleinlassen.«
Sein Costanzerl schloss die Fäuste um seinen Kragen. »Lass mich einen Magier holen!«
»Die Essenzstabwedler würden mein Leiden verlängern und die Hand aufhalten«, brachte er unterbrochen von Husten hervor. »So war es auch bei dem Hubertus. Immer mehr und mehr wollten sie, bis er nicht mehr zahlen konnte.«
Die Magier von Wien waren habgierig. Ja, sie hatten viel verloren, die erste und zweite Belagerung der Muselmanen, beim Kampf um die Bernsteinstraße, hatte Leben und Reichtümer gekostet. Der Weg zurück an die Spitze war beschwerlich gewesen, doch sie waren ihn gnadenlos gegangen.
Ohne die Zustimmung des Rates der Ältesten geschah hier in Wien nichts. Sie verteidigten ihren Status vehement und waren dicht vernetzt mit dem Adel. Reicher Proporz, Hinterzimmerabsprachen und Bernsteinhandel waren an der Tagesordnung.
»Bleib nicht zu lange allein«, flüsterte er.
Sein Constanzerl schluchzte, ihr Oberkörper bebte.
»Jetzt sei mir noch einmal gefällig.« Mit zittriger Hand klaubte er die Bögen vom Nachttisch. »Die musst du nehmen und verbrennen.«
»Was?« Aus tränenverschleierten Augen erwiderte sie seinen Blick. »Warum?«
»Es sind Noten, die Magie für die Seele mit sich tragen«, flüsterte er. »Niemand sonst soll sie besitzen. Ich werde das Geheimnis mit mir nehmen ins Elysium.«
»Aber die Noten sind dein Vermächtnis.«
»Und so bestimme ich, was mit ihnen geschieht.« Er zerknüllte das Papier. »Leg es hinein, in den Topf. Jetzt.«
Sie wollte nicht, tat es aber doch. Das Zündholz flammte auf, erhellte die Dunkelheit im Raum. Schon knisterten die Flammen, roch er die Asche. Fast glaubte er, die Noten davonschweben zu sehen, wie sie eins wurden mit dem Sein selbst. Genauso wie er es gleich tun würde. Die andere Seite wartete bereits. War es das Himmelreich oder die Hölle? Ein Elysium oder ewige Pein?
»Sie sind fort«, verkündete Constanze.
Mit schweren Schritten kehrte sie zurück an sein Bett und sank auf die Kante. Loslassen wollte weder er noch sie. Ihr Leben war verbunden in echter Liebe. Am 4. August 1782 hatte er sie geheiratet.
»Mein Wolferl.« Sanfte Finger strichen durch sein Haar.
Ob sie zurückgehen würde nach Mannheim? Oder blieb sie hier in Wien? Sechs Kinder hatte sie ihm geschenkt, er dachte mit Traurigkeit an alles, was verloren worden war. Sie beide gegen den Rest der Welt, so war es gewesen. Doch jetzt ließ er sein Constanzerl allein.
»Such den Ambros auf«, flüsterte er. »In der Heimlichgasse. Er schuldet mir noch etwas und wird dich mit Bernsteinen versorgen. Nur Grundmagie, aber damit kannst du dir etwas aufbauen. Vertraue nicht auf die Geldsäcke von dem Antonio Salieri, er wird dich kaufen wollen. Er ist schlau, wird vermuten, dass ich in meinen letzten Monaten komponiert habe. Doch den Sonnenklang wird er nicht in seine gierigen Finger bekommen.«
»Nein, das wird er nicht.« Sein Constanzerl lächelte. »Deine Noten sind Feuer und Asche, wie du es wolltest. Aber deine Musik wird die Zeit überdauern, Wolferl, das weiß ich.«
Es war ein schöner Gedanke. Vielleicht starb ja heute nur sein Leib, ging seine Seele ins Elysium. Doch all das, was er geschaffen hatte in der Lebenszeit, blieb erhalten. Ob sie seine Werke spielen würden, im Gedenken an ihn? Er wollte es glauben. Musik war unsterblich, doch so viele Erschaffer von Welten voller Klängen stürzten ins Vergessen. Das Schicksal würde entscheiden, ob er zu ihnen zählte oder ihm ein wenig Ruhm posthum zuteilwurde. Dann auch für sein Constanzerl. Sie war eine Kämpferin.
Mozart spürte, wie die Schatten dichter wurden. Sie zupften an ihm, glitten über seinen Leib und erstickten den Atem. Er hustete stärker, spuckte und zuckte. Was auch immer seinen Körper von innen heraus zerfraß, er war machtlos. Nicht Aderlass noch Quecksilber hatten Linderung gebracht. Doch er war seinen Weg gegangen.
Wunderkind hatten sie ihn genannt, den frühen Klängen gelauscht und ihn doch stets aufs Neue verstoßen. Er war erhoben worden und in den Abgrund gestürzt. Jetzt war er am Ende angelangt.
»Ich hole mir die Bernsteine, Wolferl«, versprach Constanze. »Mich kriegen sie nicht klein.«
Er lächelte ihr zu. Aufmunternd sollte es sein, doch an ihren schreckgeweiteten Augen sah er, dass es grausig sein musste. Sein ausgemergelter Leib hatte schon den Hubertus in die Flucht geschlagen, überlebt hatte er den trotzdem. Seine Muskeln waren kaum noch vorhanden, der Ausschlag sah fürchterlich aus. Dass sein Constanzerl sich überhaupt noch in seine Nähe wagte, war ihm Glück und Scham zugleich. War sie denn sicher?
Manchmal glaubte er gar, dass der Salieri ein Magier war. Wie anders konnte es sein? Ein Gift war nicht gefunden worden, obgleich der Siegenbacher, der Sohn eines befreundeten Arztes, alles geprüft hatte. In jedes Getränk hatte er sein Pülverchen gestreut, doch nichts hatte sich giftig eingefärbt. Er war schlau, der Salieri. Womöglich hatte er sein Gift magisch wieder neutralisiert, weil ihm zu Ohren gekommen war, dass der Siegenbacher die Rauhensteingasse 8 besuchte.
Die Wahrheit blieb ein Geheimnis.
»Leb wohl«, flüsterte er. »Mein Constanzerl.«
Wieder flossen Tränen herab und benetzten ihr Mieder. »Leb wohl, mein Wolferl.«
Die Zeiger der Uhr zeigten fünf Minuten bis zur eins, als es soweit war. Sein Körper hörte auf zu leben. Seltsam, er hatte sich immer ausgemalt, wie es wohl sein würde, überzugehen in die Existenz danach. Elysium oder Qual? Weder noch. Sein Körper versagte, doch sein Geist existierte weiter. Wärme umfing ihn, ein sanfter Sog aus Klängen. Er folgte ihm. Die Umgebung verschwand, wurde abgelöst von schattenhaften Silhouetten, wie Wolfgang sie bei einer Vorführung der Laterna Magica gesehen hatte.
Die Klänge wurden lauter, durchdringender.
Bilder manifestierten in seinem Geist. Er sah seine Eltern, wie sie mit dem Hauch eines Lächelns zu ihm herabsahen. Sein Vater, der Musikus, komponierte und musizierte, während Wolfgang zu seinen Füßen saß. Die Familie erschien, Eltern und Geschwister, Söhne und Töchter. Auch Freunde. Sein Leben wurde zu einer Komposition, die an ihm vorbeizog.
Ja, er lächelte.
Denn mochten die Schmerzen und das Siechen auch schrecklich gewesen sein, so war die Substanz dessen, was er Leben nannte, doch bedeutsam. Er hinterließ etwas. Erinnerungen, Freude, Musik. Was gab es Schöneres. Zufrieden überließ Wolfgang sich dem Sog.
Ja, es war eindeutig das Elysium, das er betrat. Was sonst konnte ein Opernhaus sein?
»Wie sehe ich aus?«
Alex betrachtete eingehend das aufgeschichtete Holz und die bereitliegenden Marshmallows. Dann wandte er sich um. »Oh! Jen. Das ist nicht so, wie es aussieht. Nur ein winziges Lagerfeuer. Und wir haben alle Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Also wegen Feuerschutz.« Er riss seinen Essenzstab in die Höhe.
»Du wirst schon wieder rot«, sagte Jen. »Das wirst du immer, wenn du sie siehst.«
»Wen?«
»Jen?«
Alex‘ Arm sackte herab. »Kyra?«
»Sehe ich nicht toll aus?«
»Mach das weg! Also, ich meine: Verwandle dich zurück.«
Ein kurzes Wabern, dann stand sie wieder in ihrer typischen menschlichen Gestalt vor ihm. »Ich dachte, du fühlst dich nicht mehr so einsam, wenn du ein vertrautes Gesicht siehst.« Traurig trottete sie zum Holz und sank daneben auf einen der bereitgestellten Stühle.
Sicherheitshalber hatten sie beschlossen, das Lagerfeuer in der Eingangshalle zu machen, nicht in ihren Zimmern. Man wusste ja nie.
»Das ist total lieb.« Alex setzte sich neben sie. »Aber du bist doch ein vertrautes Gesicht.«
»Aber das bin nur ich.«
»Wieso nur?« Alex nahm ein wenig Brandbeschleuniger und kippte ihn über das Holz. Ein paar geröstete Marshmallows würden Kyra guttun. Er hatte auch ein paar Bananen bereitgelegt, die sie in einer Aluschale anbraten konnten.
»In meiner Zeit als Sängerin in Paris wollten sie alle immer, dass ich eine andere Gestalt annehme«, erklärte sie. »Längere Beine, größere Brüste, hübsches Gesicht.«
»Du hast ein total hübsches Gesicht.« Alex öffnete die Marshmallows und legte sie sorgsam verteilt auf das bereitliegende Gitter.
»Das sagst du nur so.«
»Nein, tue ich nicht. Hey, ich schwöre es bei meiner Ehre als Mitbewohner dieser Luxusherberge.«
Kyra kicherte.
Mission erfolgreich. »Schon besser.«
»Ich verstehe, warum Jen dich mag.«
»Was, wie, wo? Oh, sie mag mich nur ein bisschen.«
Kyra schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, nein, ich konnte euer Band spüren, als ich du war. Es ging nur kurz, weil … Du bist anders als alle anderen.«
»Tja, hm, danke, irgendwie.«
»Kein Wechselbalg könnte dich lange kopieren«, flüsterte sie. »Dein Geist ist wie ein Mosaik.«
»Die Lehrer in der Schule haben immer behauptet, mein Geist sei so leer wie das Vakuum des Weltalls.«
»Wie gemein.«
»Ach, na ja, ich habe ihnen dann immer erklärt, dass das Weltall gar nicht leer ist. Darin gibt es ziemlich gefährliche Asteroiden und sie sollen nur aufpassen, dass sie keiner davon trifft.« Er grinste böse.
»Ich hatte auch Lehrer«, erklärte Kyra nickend. »Die haben mir mit dem Stock auf die Finger geschlagen, wenn ich eine Antwort nicht wusste.«
»Das … war auch böse.« Alex musterte Kyra von oben bis unten. Sie hatte so viel Schreckliches erlebt, wirkte aber von ihren Zehen bis zu den wunderschönen Spitzen ihrer blonden Haare unschuldig. »Potesta Incendere!« Alex‘ Essenzstab begann in bernsteinfarbenen Flammen zu glühen. »Du wirst Marshmallows lieben.«
Plopp.
Direkt vor Alex erschien ein Zwerg. Kyra wirkte einfach nur verdutzt, doch Alex erschrak. Seine Nerven waren aktuell nicht die besten. Der Essenzstab entglitt seiner Hand und landete zwischen dem aufgeschichteten Holz.
Rums.
Eine Stichflamme schoss empor. In derselben Sekunde sprang Nils ans andere des Raumes und Kyra schien gegen Feuer immun zu sein. Wie er sich für die beiden freute.
»Waaahh.« Seine Augenbrauen brannten.
Kyra war mit einem Satz bei ihm, ließ ihre Finger zusammenwachsen und presste sie auf die Brauen. Ohne Sauerstoff erstickten die Flammen sofort.
»Tut es sehr weh?«, fragte sie ihn und starrte mit großen Augen auf seine Augenbrauen.
»Ja«, blaffte er. »Was sollte das denn!«
Nils stand in der Ecke. Erst jetzt bemerkte Alex Ataciaru, Chloes Husky. Laut Jen waren die beiden unzertrennlich.
»Ich bringe Essen.« Mit strahlendem Gesicht hielt Nils zwei Taschen in die Höhe. Nun ja, er versuchte es. Sie waren eindeutig zu schwer für den Knirps.
Alex seufzte und ärgerte sich, dass er ihm einfach nicht böse sein konnte. Er nahm die Taschen entgegen.
»Hey, wieso sind die Kekspackungen leer?«
Nils zuckte mit den Schultern und wischte verstohlen einen Krümel aus seinem Mund. Kyra kicherte und verwuschelte dem Zwerg die Haare. Verärgert realisierte Alex, dass er nun ganz offensichtlich – als derjenige mit der meisten Reife – das Vorbild sein musste.
»In der Nähe von Feuer muss man sehr vorsichtig sein und darf keine Leute erschrecken. Auch wenn es Spaß macht«, erklärte er Nils. »Aportate Essenzstab!« Das magische Holz glitt zurück in seine Hand.
»Ich will ein Mellow«, forderte Nils.
»Iss zuerst eine Banane«, verlangte Alex aus Prinzip. Immerhin war die gesund.
Der Zwerg grabschte sich eine davon und sprang auf Kyras Schoß, die sich das gefallen ließ. Sorgfältig befreite er die Frucht von ihrer Schale, um sogleich in Kichern auszubrechen. »Jetzt ist sie nackig.«
Unweigerlich musste Alex lachen, verbot es sich aber kurz darauf. »So witzig ist das gar nicht.«
Neugierig schnüffelnd glitt Ataciaru durch den Raum. Natürlich besaß der Husky Intelligenz genug, um sich vom Feuer fernzuhalten. Wehmütig betastete Alex seine Augenbrauen. Oder die Reste davon. Ein kurzer Sanitatem-Zauber ließ die Brandwunde verschwinden, aber bei einem Blick auf sein Smartphone stöhnte er auf. Schwarze Stoppeln und Rußspuren zogen sich über die Brauen. Er sah aus wie ein Schornsteinfeger, der versehentlich in einen Kamin gefallen und in einem Feuer gelandet war.
»Befomme isch jetscht ein Mellow?«, fragte Nils mit bananenvollen Backen.
Mit einem Schwung seines Essenzstabes ließ Alex das Gitter über das Feuer schweben. Innerhalb weniger Augenblicke waren die Marshmallows knusprig. Kyra verteilte Spieße, sie begannen zu kauen.
In den letzten Tagen hatte das Castillo sich verändert. Tilda war so freundlich gewesen, Jen einen ganzen Packen Putzzauber mitzugeben, die Alex nacheinander ausprobiert hatte. Zugegeben, ein paar waren schrecklich missglückt. Nachdem eine Flutwelle Kyra durch das halbe Castillo gespült hatte – glücklicherweise hatte sie sich in einen Fisch verwandeln können –, hatte er auf weitere Putzzauber verzichtet. Gute alte Handarbeit hatte es getan. Mittlerweile glänzten jene Zimmer, die sie öfter benutzten, die alten Beete von Tilda grünten und blühten und die Küche war mit den notwendigsten Utensilien ausgestattet. Jen, Chris, Kevin, Max und Nikki hatten Geld von ihren Konten geholt, und gemeinsam mit Nikki hatten Alex und Kyra eine Shoppingtour veranstaltet. Es hatte doch etwas Praktisches, eine Sprungmagierin zum Freundeskreis zu zählen.
In den nächsten Tagen wollte Alex eine Menge Serien nachholen, die er in seiner Zeit als Zombie der Holding nicht hatte sehen wollen.
»Wie steht es im Castillo?«, fragte er den Knirps.
»Gefährlich«, flüsterte Nils. »Chloe ist viel bei dem alten Mann. Attu sorgt sich.«
Alex wuschelte dem Kleinen freundlich durch die Haare. »Weißt du, Chloe ist einfach im Stress. Aber wenn diese Sache mit dem Alten vorbei ist – ich muss Jen noch mal fragen, was genau da eigentlich passiert ist –, hat sie wieder Zeit für Attu. Ich meine, Ataciaru. Kannst du das sagen: A-ta-cia-ru. Moment, wo ist der eigentlich?«
Nils riss die Augen auf. »Attu?« Sofort hüpfte er von Kyras Schoß und flitzte aus dem Raum.
»So viel zu einem gemütlichen Abend. Hey, warte!« Er folgte Nils.
Alex fühlte sich alt.
Während Ataciaru längst verschwunden war, flitzte Nils wie ein wild gewordener Schlumpf durch die Gänge. Wo es nicht schnell genug ging, nutzte er seine Magie des Springens und ploppte von einer Treppe zur nächsten.
»Das ist so unfair.«
Mit einem Zischen sauste Kyra vorbei, die sich in einen Adler verwandelt hatte.
»Echt jetzt?«
Das viele Sitzen während seiner Zeit in der Holding hatte Spuren hinterlassen. Davon abgesehen war sein Körper noch immer geschwächt von dem Beinahe-Aurafeuer. Mit einem schnellen Schwenk seines Essenzstabes verpasste er Kyra einen Schimmer, der eine Farbspur in der Luft hinterließ.
Ataciaru wollte auf jeden Fall nach unten. Über die Galerie ging es zur Haupttreppe, von dort ins Erdgeschoss und weiter in den Keller des Castillos. Ein Ort, der sich bisher jedes Putzzaubers entzogen hatte. Vermutlich hatten die fetten Spinnen in ihren Netzen schon Jahrhunderte auf dem Buckel und der Staub beherbergte Mikroben der tödlichsten Art.
Ein Niesen erklang.
Alex beschleunigte seine Schritte und erreichte einen leeren Raum. Nils stand mit in die Hüften gestemmten Fäustchen an der Seite, während Kyra wieder ihre menschliche Gestalt angenommen hatte und ratlos auf Ataciaru blickte. Der Husky saß vor der dem Eingang gegenüberliegenden Wand und starrte sie an.
»Was genau tut er da?«, fragte Alex.
»Keine Ahnung«, gab Kyra zurück.
»Kannst du ihm kein Haar ausrupfen und seine Gestalt plus Erinnerungen annehmen?«
Er wurde mit einem Blick bedacht, als habe er den Verstand verloren. »Natürlich nicht. Das ist ein Wächterhund von Antarktika.«
»Aha. Klar. Und was tut der heilige Wächterhund von Antarktika hier? Will er die Wand zum Einsturz bringen?« Alex lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Das kann er doch nicht, oder?«
»Doch, bestimmt«, war Kyra überzeugt. »Er ist ein Wächterhund von …«
»Jaja.« Alex winkte ab. »Hey, Kleiner, was macht Attu da? Ich meine, Ataciaru.«
Nils behielt seine Fäustchen in den Hüften und ging mit gewichtiger Miene um den Husky herum. Immer wieder nickte er weise. Schließlich kam er zu Alex und blickte von unten herauf. »Weiß‘ nicht.«
»Gehen wir doch einfach ans Lagerfeuer zurück und essen Marshmallows, hm? Ich wäre beinahe gestorben, das habe ich mir verdient.«
Ataciaru machte einen Satz und verschwand in der Wand.
Verblüfft starrten sie alle an die Stelle.
»Ich sage ja, er ist ein Wächterhund«, kam es nur von Kyra.
Nils hingegen tat das, was er immer tat. Er rannte dem verdammten Hund einfach hinterher und verschwand ebenfalls in der Wand.
»Das ist doch …« Alex seufzte genervt. »Man spricht sich normalerweise in einem Team ab!«
»Schnell, sonst passiert ihm noch etwas.« Kyra hechtete ebenfalls in die Wand.
»Ich bin der einzig Normale hier. Wo ist Jen, wenn man sie mal braucht?« Er schwang seinen Essenzstab. »Contego.« Eine schimmernde Schutzsphäre erschien um ihn herum.
Auf diese Art ausgestattet, trat er durch die Wand. Jemand hatte sich wirklich Mühe mit der Illusionierung gegeben, jedoch keinen manifesten Widerstandszauber verankert. Es war quasi nur Luft an der Stelle, die aussah wie eine Wand. Dahinter wartete eine Wendeltreppe. Natürlich waren Ataciaru, Nils und Kyra bereits nach unten gerast. An den Wänden hingen Bernsteine in Gittern, die in verschiedenen Farben funkelten. Vermutlich nicht allzu lange, bedachte man, dass der Wall Essenz aufsog wie ein ausgetrockneter Schwamm.
Instinktiv schloss Alex die Finger fester um seinen Essenzstab. Johanna hatte diesen nach dem Vergessenszauber mitgenommen, doch Jen hatte ihn geborgen. All die Zeit in der Holding hatte er eine tiefe Leere empfunden. Jetzt, wo der Stab wieder bei ihm war, war das Gefühl verschwunden.
Das untere Ende der Treppe kam abrupt. Beinahe wäre Alex gestolpert und in Kyra, Nils und Ataciaru hineingerannt, die nebeneinander Position bezogen hatten.
»Vielleicht könnt ihr das nächste Mal warten!«, motzte er, obgleich sein Blick längst die Umgebung absuchte und seine Augen sich weiteten. »Was ist das?«
Offensichtlich war es ein Dom. Ein ziemlich großer sogar. Regale und Ablageflächen wuchsen überall in die Höhe. Seltsam anmutende Gegenstände lagen herum, die Alex an die Apparaturen von Agnus Blanc erinnerte. Er erkannte Hexenholz, Chrom, Himmelsglas und Bernstein. Dazu ein dunkles Metall, das wie Noxanith aussah. Es war definitiv in die Zeitmaschine von H. G. Wells verbaut gewesen.