Das Erbe der Toten - Ian Rankin - E-Book

Das Erbe der Toten E-Book

Ian Rankin

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Beschreibung

Manchmal muss man Grenzen überschreiten, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun ...

John Rebus ist angeklagt – für ein Verbrechen, das ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter bringen könnte. Es ist nicht das erste Mal, dass der legendäre Ermittler das Gesetz in die eigene Hand nimmt, aber es könnte das letzte Mal gewesen sein. Während Rebus vor Gericht steht, ermittelt seine alte Freundin Detective Inspector Siobhan Clarke in Edinburghs brisantestem Fall seit Jahren: Ein korrupter Polizist wird vermisst. Er hatte damit gedroht, Informationen zu offenbaren, die den gesamten Polizeiapparat der Stadt in den Abgrund reißen könnten. Und auch in dieser Sache scheinen alle Wege zu Rebus zu führen ...

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Buch

John Rebus ist angeklagt – für ein Verbrechen, das ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter bringen könnte. Es ist nicht das erste Mal, dass der legendäre Ermittler das Gesetz in die eigene Hand nimmt, aber es könnte das letzte Mal gewesen sein. Während Rebus vor Gericht steht, ermittelt seine alte Freundin Detective Inspector Siobhan Clarke in Edinburghs brisantestem Fall seit Jahren: Ein korrupter Polizist wird vermisst. Er hatte damit gedroht, Informationen zu offenbaren, die den gesamten Polizeiapparat der Stadt in den Abgrund reißen könnten. Und auch in dieser Sache scheinen alle Wege zu Rebus zu führen …

Weitere Informationen zu Ian Rankin und lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Ian Rankin

Das Erbe der Toten

Kriminalroman

Aus dem Englischenvon Conny Lösch

Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

»A Heart Full of Headstones« bei Orion Books, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung April 2023

Copyright © der Originalausgabe 2022 by John Rebus Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ralf Reiter

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München

Covermotiv: Arcangel Images / Deborah Pendell; Getty Images/Santiago Urquijo; FinePic®, München

LK · Herstellung: ast

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30459-1V002

www.goldmann-verlag.de

»In meinem Ende ist mein Anbeginn«.Von Maria Stuart kurz vor ihrer Hinrichtung in französischer Sprache auf ihr Gewand gestickt

This is my truth, tell me yours.

Manic Street Preachers

Heute

John Rebus war oft bei Gerichtsverhandlungen gewesen, hatte aber noch nie auf der Anklagebank gesessen. Als den Geschworenen die Liste der Vorwürfe vorgetragen wurden, hörte er aufmerksam zu. Seit Corona hatte sich noch nicht wieder alles normalisiert. Alle Anwesenden, mit Ausnahme des Richters und Rebus, trugen Masken, und es befanden sich zahlreiche Kameras und Monitore im Saal verteilt. Die Geschworenen waren andernorts zusammengetreten – in einem Kino in der Lothian Road –, als Vorsichtsmaßnahme. Dank eines großen Bildschirms konnte er sie sehen und sie ihn.

Er versuchte sich zu erinnern, wann er zum ersten Mal in einem Fall vor Gericht ausgesagt hatte, aber er kam nicht drauf. Das musste in den Siebzigern gewesen sein, ein knappes halbes Jahrhundert war das her. Die Anwälte, die Gerichtsdiener und der Richter hatten damals vermutlich genauso ausgesehen. Wie wahrscheinlich damals auch, wurde Rebus heute ebenso von zwei uniformierten Beamten flankiert. Einmal, als er im Zeugenstand befragt wurde, war der Beschuldigte wie wild auf ihn losgegangen, ein Beamter hatte ihn aufhalten und zurückzerren müssen. Wie hieß der noch? So ein kleiner dürrer Lockenkopf war das gewesen. Fing mit M an, möglicherweise. Ach, irgendwann ließ das Gedächtnis nach, das ging doch allen so. Nicht nur ihm. Lag wohl am Alter, so wie seine COPD, deretwegen er neben seiner Maske auch einen Inhalator mitführen durfte.

Er fragte sich, wie es seinem Hund ging. Samantha, seine Tochter, hatte Brillo zu sich genommen. Rebus’ Enkelin liebte ihn abgöttisch. Er war froh, dass die Zuschauerplätze nicht besetzt werden durften – so musste er sich nicht mit Sam streiten, um zu verhindern, dass sie zur Verhandlung kam. Das Leben in Untersuchungshaft besaß eine gewisse Schlichtheit. Sämtliche Entscheidungen wurden einem abgenommen. Er musste sich weder um seine Mahlzeiten noch um Spaziergänge mit dem Hund Gedanken machen, und sich nicht überlegen, was er mit dem Tag anstellen wollte. Als ehemaliger Polizist erfreute er sich bei den Schließern sogar einer gewissen Beliebtheit. Sie hielten sich gerne ein bisschen länger in seiner Zelle auf, erzählten Geschichten. Und sie hielten ein besonderes Auge auf ihn – nicht jedem Insassen der Haftanstalt lag Rebus’ Wohlergehen am Herzen, weshalb er in den Genuss einer Einzelunterkunft gekommen war, obwohl das HMP Edinburgh aus allen Nähten platzte. Abgesehen von einigen wenigen Bürokraten verwendete allerdings niemand die korrekte Bezeichnung – das am westlichsten Ende der Gorgie Road gelegene Gefängnis wurde allgemein nur Saughton genannt. Fuhr man von dort aus in die Stadt, kam man wenig später am Fußballstadion der Hearts und der Polizeiwache Tynecastle vorbei. Indirekt hatte Letztere Rebus wohl hierhergebracht.

Malone, so hatte der dürre Typ geheißen. Er war Einbrecher von Beruf und hatte nichts dagegen gehabt, Hausbewohner zu terrorisieren, sofern er sie vor Ort antraf. Eines seiner Opfer hatte einen Herzinfarkt erlitten und war auf der Stelle gestorben, weshalb Rebus entschlossen war, Malone nicht ungeschoren davonkommen zu lassen. Dazu waren einige Ausschmückungen im Zeugenstand notwendig gewesen, und Malone war vor Zorn ausgeflippt – was bei den Geschworenen nie gut ankam. Rebus hatte sich bemüht, möglichst erschüttert zu wirken. Und der Richter hatte gefragt, ob er eine kurze Pause bräuchte.

»Ein Glas Wasser vielleicht, euer Ehren«, hatte Rebus erwidert und nervös versucht, Schweißperlen abzusondern. Das alles, während Malone aus dem Gerichtssaal geführt wurde, Rebus und das ganze andere korrupte Pack dabei laut beschimpfte.

»Die Geschworenen schenken dem, was sie gerade von dem Angeklagten gehört haben, keine Beachtung«, verfügte der Richter. Dann an den Vertreter der Staatsanwaltschaft gewandt: »Fahren Sie fort, sofern Detective Inspector Rebus bereit ist.«

Detective Inspector Rebus war bereit.

Er überlegte, wann er die Polizeiwache Tynecastle zum ersten Mal betreten hatte. War er da schon DI oder noch Detective Sergeant? Wahrscheinlich noch DS. Stationiert war er dort nie gewesen, hatte aber eine Zeitlang ganz in der Nähe gearbeitet, in Torphichen. Im Prinzip war das aber das saubere West End Edinburghs. Tynecastle – oder Tynie wie die Einheimischen sagten – war ein weitaus härteres Pflaster. Rebus fand, man müsste mal eine Doktorarbeit über die räumliche Nähe von Fußballstadien zu Armutsvierteln schreiben. Um das Stadion Tynecastle herum befanden sich hauptsächlich Mietskasernen, dazwischen Brachland und Gewerbegrundstücke. Weiter westlich wurden die Mietskasernen von Siedlungen wie Burnhill abgelöst, hässlichen Betonklötzen aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, deren schwer beschlagene Scheiben an vom grauen Star getrübte Augen in einem zerfurchten Gesicht erinnerten. Die enge Anbindung an die örtliche Fußballmannschaft bot wenigstens einem Teil der dort lebenden Menschen so etwas wie Zerstreuung und hin und wieder sogar schnell vergängliche Euphorie.

Wobei Rebus nie Anhänger einer bestimmten Mannschaft gewesen war.

»Kommt schon, John«, hatte man ihn häufig gedrängt, »Hearts oder Hibs, du musst dich entscheiden.« Worauf er immer den Kopf geschüttelt hatte, so wie er jetzt auch den Kopf schüttelte, als ihn die Worte des Beamten erreichten. Der brauchte ewig zum Verlesen der Anklageschrift.

»Ihnen wird vorgeworfen … die Anklage lautet auf … am fünfzehnten des … in … gegen … und haben …«

Rebus versuchte sich möglichst nicht anmerken zu lassen, dass er sich der Gegenwart der Geschworenen voll und ganz bewusst war. Er wusste genau, welche Kamera auf ihn gerichtet war, und sah nie direkt hinein. Die polierte Holzvertäfelung des Gerichtssaals, der schiefergraue Teppich, die schmale Leiste, auf der er seine Hände abstützte – dem äußeren Anschein nach konzentrierte er sich vor allem darauf. Dann war da noch der Zeugenstand. Abgeschirmt von einer Sichtblende – kein Fernsehbildschirm, sondern eine echte Trennwand –, hinter der Zeugen aussagen konnten, ohne dass Blickkontakt zum Angeklagten möglich war. Das Ding hatte Rollen unten dran und wurde je nach Bedarf in die gewünschte Position geschoben …

Moment mal, wieso war es auf einmal so still?

Rebus sah zum Richter, der den Kronanwalt anstarrte. Der Gerichtsdiener starrte ihn über den Rand der Anklageschrift ebenfalls an.

»Verzeihung, Euer Ehren«, sagte der Kronanwalt und kramte in seinen Unterlagen. Der Gerichtsdiener stieß einen bühnenreifen Seufzer aus. Das Ganze war ein einziges verfluchtes Theater, was Rebus bereits vor vielen Jahren begriffen hatte. Zumindest für die Vertreter der verschiedenen daran beteiligten Berufsstände. Für die anderen war es alles andere als das.

»An dieser Stelle des Verfahrens teilen Sie uns mit, worauf der Beschuldigte zu plädieren gedenkt«, ermahnte der Richter den Kronanwalt.

Rebus schaute seine Verteidiger an – den Kronanwalt und seine Assistentin mit ihren blöden kleinen Perücken, außerdem seinen Rechtsbeistand im dunklen zugeknöpften Anzug. Der Kronanwalt trug eine Seidenrobe und eine eigenartige schalartige Krawatte, die man als »Fall« bezeichnete, auch wenn offenbar niemand wusste, warum. Sie sahen Rebus an, als wäre er ihnen völlig fremd, was ja auch so war, auch wenn sie sich in den vergangenen Wochen und Tagen häufig begegnet waren. Die Assistentin des Kronanwalts schaute völlig ungerührt, wahrscheinlich überlegte sie, was sie auf dem Heimweg noch einkaufen wollte oder welche Sportklamotten sie ihren Kindern für den nächsten Schultag einpacken musste.

»Mr Bartleby«, drängte der Richter. Rebus fand ihn gut. Er schien ein Typ zu sein, der einem grundsätzlich den guten Whisky einschenkte, egal, wer man war. Der Kronanwalt nickte und wirkte zufrieden.

Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Unwillkürlich machte Rebus es ihm nach, sog seine Lunge voll mit süßer Luft aus Edinburgh …

Was zuvor geschah

Erster Tag

1

Die Pubs hatten wieder geöffnet. Man musste sich nicht mal mehr anmelden und konnte auch nicht mehr nur ausschließlich am Tisch bestellen. Am Tresen stehen kam einem jetzt vor wie etwas ganz Neues, auch wenn an der Tür noch Desinfektionsmittel zum Desinfizieren der Hände bereitstand, ein QR-Code aushing oder man seinen Namen, irgendeinen, und eine Telefonnummer, auch irgendeine, in ein Formular auf einem altmodischen Klemmbrett eintrug. Rebus hatte immer noch keine Ahnung, wie das mit dem QR-Code eigentlich funktionierte. Hin und wieder hatte es ihm ein fachkundiger Gast oder einer der Barleute zeigen wollen, aber die Information war von der Oberfläche seines Gehirns abgeprallt wie ein flacher Stein auf Wasser und in unergründlichen Tiefen versunken.

Heute saß er in einem Pub am Brougham Place. Er war im Licht der untergehenden Wintersonne mit Brillo über die Bruntsfield Links spaziert, wo Hund und Herrchen lange Schatten geworfen hatten. Wie üblich hatte im Melville Drive reger Verkehr geherrscht, und jede Menge Studenten waren unterwegs gewesen. Vermutlich hatten auch die Universitäten wieder ihren gewohnten Betrieb aufgenommen. Eine Zeitlang war es wirklich sehr ruhig gewesen, Rebus hatte wegen seiner COPD bis zum Start des Impfprogramms Ausgangsverbot gehabt und zu Hause gesessen. Aber jetzt war er ein freier Mensch und sogar geboostert. Bei Treffen mit seiner Tochter und seiner Enkelin musste er nicht mehr auf Abstand achten, die beiden nicht mehr auf einer Seite des Gartentors und er auf der anderen stehen, und sie stellten ihm auch keine Einkaufstüten mehr vor die Tür. Endlich konnte man wieder sein Leben leben. Er konnte Samantha und Carrie in die Arme schließen, auch wenn er bei seiner Enkelin eine gewisse Zurückhaltung spürte, da sie noch ungeimpft war. Normalisierte sich gerade alles wieder, oder gab es gar keine Normalität mehr, in die es zurückzukehren galt? Die Gäste im Pub setzten immer noch ihre Masken auf, wenn sie aufstanden und herumgingen. Und zuckten nach wie vor zusammen, wenn plötzlich jemand laut hustete. Der Lockdown hatte Rebus den perfekten Vorwand geliefert, trotz seiner Schwindelanfälle und Brustschmerzen nicht zum Arzt zu gehen. Vielleicht würde er ja jetzt doch endlich was unternehmen.

Vielleicht aber auch nicht.

Erst mal begnügte er sich mit der Abendzeitung. Darin war ein Artikel über die Geschäfte auf der Royal Mile, deren Inhaber sich von Ladendieben und Süchtigen bedroht fühlten, die sich offenbar ungestraft an den Waren bedienten. In West Lothian war ein Wagen mit Säure mutwillig beschädigt worden und unweit davon entfernt eine Brandbombe auf ein Haus geflogen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Bandenkrieg, das wusste Rebus. Wobei ihn das gar nichts anging, jedenfalls nicht mehr. Als sein Handy piepte, zuckte ein Säufer am Nachbartisch sichtlich zusammen. Rebus schüttelte langsam den Kopf, um den Mann zu beruhigen und ihm zu signalisieren, dass es sich um eine ganz normale Nachricht handelte und keine Corona-Warnung. Als er aufs Display schaute, erkannte er jedoch, dass die Mitteilung alles andere als normal war, denn sie stammte von Cafferty. Morris Gerald Cafferty, auch Big Ger genannt.

Bist du gar nicht mit dem Hund draußen?

Rebus überlegte, ob er die Frage ignorieren sollte, fürchtete aber, dass Cafferty sowieso nicht lockerließ.

Doch, lautete seine einsilbige Antwort. Cafferty reagierte sofort.

Wieso sehe ich dich dann nicht?

Pub.

Welches?

Wieso?

Hast du so einen beschissenen Handyvertrag, dass du keine längeren Nachrichten schreiben darfst?

Kann sein.

Rebus wartete, nahm einen Schluck Bier und wartete. Brillo hatte sich neben seinen Füßen zusammengerollt, schlief nicht, tat aber recht überzeugend so, als ob. Rebus legte sein Handy auf den Tisch und schwenkte sein Bier im Glas, frischte die Schaumkrone auf. Irgendjemand hatte ihm mal erklärt, dass man das nicht machte, aber er hatte vergessen, warum.

Ping. Ich muss dich sprechen.

Ping. Komm zu mir in die Wohnung.

Ping. Keine Eile. Innerhalb der nächsten Stunde reicht. Trink aus und bring den Hund nach Hause.

Er überlegte, was er antworten sollte. Musste er antworten? Nein, er würde sowieso hingehen, und Cafferty wusste das. Er würde hingehen, weil er neugierig war – neugierig auf alles. Er würde hingehen, weil Cafferty und er eine gemeinsame Geschichte hatten.

Andererseits wollte er aber auch nicht allzu versessen wirken. Er zog seine Maske auf, ging zum Tresen und bestellte erst mal noch ein Bier.

Cafferty wohnte im dreistöckigen Penthouse eines vollständig verglasten Hochhauses in Quartermile, einer Neubausiedlung. Früher war hier das alte Krankenhaus von Edinburgh gewesen, und die inzwischen sanierten ehemaligen Gebäude standen jetzt eingezwängt zwischen den neuen Konstruktionen aus Stahl und Glas. Rebus dagegen wohnte nur zehn Minuten zu Fuß entfernt in einer Erdgeschosswohnung in einer ruhigen Wohnstraße in Marchmont. Der Melville Drive lag dazwischen. Auf Rebus’ Seite befanden sich die Bruntsfield Links, wo in den Sommermonaten Pitch-and-Putt gespielt wurde. The Meadows, ein weitläufiges grasbewachsenes Gelände, lag auf Caffertys Seite. Meist begegnete man hier unzähligen Joggern, Radfahrern und Leuten mit Hunden. Auf dem Weg nach Quartermile musste Rebus einigen ausweichen. Er fragte sich, ob Cafferty ihn bereits beobachtete. Für alle Fälle grüßte er schon mal mit erhobenem Mittelfinger in Richtung des entsprechenden Wohnblocks und erntete verdutzte Blicke seitens eines jungen Paars auf einer Bank.

Vor Caffertys Haustür hielt er noch einmal kurz inne. Er wünschte, er würde noch rauchen. Eine Zigarette hätte ihm einen vernünftigen Vorwand geliefert, den Besuch noch ein bisschen hinauszuschieben. Stattdessen drückte er jetzt auf die Klingel. Die Tür öffnete sich mit einem Klicken, der Fahrstuhl transportierte ihn acht Stockwerke bis nach oben. Hier gab es nur eine Tür. Sie stand bereits offen. Ein gutgebauter junger Mann sammelte die Post ein, die offenbar zu einem früheren Zeitpunkt durch den Briefschlitz geworfen worden war. Der junge Mann hatte blonde Haare, und man sah ihm seine regelmäßigen Besuche im Fitnessstudio an. Am linken Handgelenk trug er so was wie einen Schrittzähler, dafür aber keine Uhr und keine Ringe.

»Und wer sind Sie?«, wollte Rebus wissen.

»Mr Caffertys persönlicher Assistent.«

»Muss ein toller Job sein, dem alten Sack den Arsch wischen zu dürfen. Danke, ich kenne den Weg.« Rebus schnappte seinem Gegenüber die Post aus der Hand. Er war noch keine zwei Schritte durch den Flur weitergegangen, als ihn eine starke Pranke an der Schulter aufhielt.

»Ich muss Sie abtasten.«

»Das ist ein Witz, oder?« Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes verriet über jeden Zweifel erhaben, dass es keiner war. Seufzend zog Rebus den Reißverschluss seiner Daunenjacke auf. »Sie wissen, dass ich eingeladen wurde? Das heißt, ich bin so was wie ein Gast und kein beschissener Ninja.«

Der Mann strich mit den Händen um Rebus’ Rippen, fuhr ihm unter die Achseln und tastete seinen Rücken ab. Als er in die Hocke ging, um auch Rebus’ Hosenbeine zu prüfen, hätte dieser ihm am liebsten ein Knie ins Gesicht gerammt, ließ es aus Angst vor möglichen Konsequenzen aber doch bleiben.

»Ich hoffe, Ihnen hat das genauso viel Spaß gemacht wie mir«, sagte er, als sich der Mann wieder zu seiner vollen Größe aufrichtete. Statt zu antworten, nahm der Assistent die von Rebus’ einkassierte Post wieder an sich und führte ihn in den geräumigen und offenen Wohnbereich.

Rebus fiel auf, dass ein Treppenlift eingebaut worden war, ansonsten sah aber alles noch genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte. Cafferty saß vor den bodentiefen Fenstern in seinem elektrischen Rollstuhl. Auf einem niedrig eingestellten Stativ, gerade in der richtigen Höhe für eine sitzende Person, war ein Fernrohr befestigt.

»Wahrscheinlich hast du’s nötig, um auf deine Kosten zu kommen«, meinte Rebus.

Cafferty drehte den Kopf halb zu ihm um und lächelte gequält. Er hatte abgenommen, wirkte ungesund blass. Sein Blick war noch immer stahlhart, und seine großen, geballten Fäuste erinnerten an vergangene schmerzhafte Begegnungen.

»Keine Blumen, keine Pralinen?«, fragte er und musterte Rebus von oben bis unten.

»Ich hab ein Dutzend weiße Lilien vorbestellt, wenn’s so weit ist.« Rebus tat, als interessierte ihn der Ausblick über The Meadows bis zu den Schornsteinen von Marchmont. »Die haben ihn immer noch nicht gefunden, oder?«, sinnierte er. »Den Kerl, der auf dich geschossen hat? Ich denke, das wird auch nicht passieren.«

»Andrew, sei so gut, hol John was zu trinken. Vielleicht einen Kaffee gegen den Alkohol?«

»Alkohol ist sinnlos, wenn man hinterher was dagegen trinkt.«

»Dann einen Whisky? Bier hab ich nicht.«

»Ich brauche nichts, ich will nur wissen, warum ich hier bin.«

Cafferty starrte ihn an. »Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Er wendete den Rollstuhl und steuerte quer durch den Raum auf den langen gläsernen Wohnzimmertisch zu, gab Andrew dabei Zeichen, er möge sich verziehen.

»Was ist der? Dein Pfleger oder dein Leibwächter?«, fragte Rebus und folgte dem Rollstuhl.

Cafferty zeigte auf das cremefarbene Ledersofa, und Rebus ließ sich darauf nieder, schob ein großes Kissen mit Andreaskreuz beiseite. Auf dem Tisch lag die Post, die Andrew dort hingelegt hatte, sonst nichts. Caffertys Blick richtete sich jetzt auf Rebus.

»Und du?«, erkundigte er sich. »Schöne Coronazeit gehabt?«

»Hab’s überlebt.«

»Gilt wohl für uns beide, meinst du nicht? Andererseits, vielleicht spürst du’s ja weniger als ich.«

»Was?«

»Dass der Tod vor der Tür steht.« Cafferty klopfte mit der linken Hand auf die Armlehne seines Rollstuhls, wie man an eine Tür klopft, um eingelassen zu werden.

»Das sind ja heitere Gedanken.« Rebus lehnte sich zurück, machte es sich auf dem Sofa so bequem, wie es ging.

»Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Die Lektion haben wir beide doch längst gelernt. Als ich wegen Corona hier eingesperrt war, hatte ich nichts anderes zu tun als …« Cafferty tippte sich an die Stirn.

»Hättest du nett gefragt, hätte ich dir ein Puzzle geliehen.«

Cafferty schüttelte langsam den Kopf. »Du vergisst, dass ich dich kenne. Willst du mir weismachen, dass du über Wochen in deiner Wohnung gehockt hast, ohne ins Grübeln zu geraten? Was hast du denn sonst gemacht?«

»Ich bin mit dem Hund raus.«

»Du hast deine Tochter und deine Enkeltochter mit ihm rausgeschickt – hab sie gesehen.« Er nickte Richtung Fernrohr. »Manchmal sogar Siobhan Clarke. Sie ist auf keine hundert Meter hier herangekommen, ohne hochzustarren …«

Er hob zwei Finger.

»Vielleicht kommst du endlich zum Punkt, solange es noch hell ist.«

»Der Punkt ist …« Cafferty sog Luft ein und stieß sie geräuschvoll wieder aus. »Ich hatte nichts zu tun, außer darüber nachzudenken, was ich getan habe und wem. Die hatten das nicht unbedingt alle verdient.«

Rebus hielt Cafferty abwehrend eine Hand entgegen. »Ich nehme keine Geständnisse entgegen. Da musst du mit Siobhan reden.«

»Nicht darüber«, sagte Cafferty leise. »Nicht darüber.« Er beugte sich vor. »Erinnerst du dich an Jack Oram?«

Rebus brauchte eine Weile, Cafferty schwieg, ließ dessen Synapsen arbeiten.

»Gehörte der nicht auch zur Legion der spurlos aus deinem Umfeld Verschwundenen?«, entgegnete Rebus schließlich. »Wie hieß seine Kneipe nochmal – Potter’s Bar?«

»Ich wusste, dass du dich erinnerst.«

»Eine Billardkneipe, in der Queues auf vielfältige Weise verwendet wurden. Orams Name stand an der Tür, aber die Profite gingen an denjenigen, der mir jetzt gegenübersitzt. Irgendwann hat Oram was für sich abgezweigt. Dann dauerte es nicht mehr lange, und er konnte sich nicht mal mehr mit einem Queue retten.«

»Ich hab ihm nichts getan.«

»Natürlich nicht.«

»Er ist abgehauen, bevor ich Gelegenheit dazu hatte. Wurde vermisst gemeldet. Ich erinnere mich vage, dass deine Freundin Siobhan den Fall bearbeitet hat.«

»Und?«

»Ich hab gehört, er ist wieder in der Stadt.«

»Und?«

»Hätte nichts dagegen, mal ein paar Worte mit ihm zu wechseln, vorausgesetzt natürlich, er lässt sich dazu überreden.«

Rebus brummte. »Was hast du vor, soll Andrew ihn ein bisschen brutaler abtasten?«

»Ich möchte mich bei ihm entschuldigen«, behauptete Cafferty feierlich.

Rebus hielt sich demonstrativ eine gewölbte Handfläche hinter das Ohr. »Ich hab mich wohl verhört.«

»Ich mein’s ernst. Er hat sich an fremdem Eigentum bedient, das ist richtig, und ja, er ist abgehauen. Aber er hat sich die letzten vier Jahre versteckt, zweifellos in Angst gelebt. Wahrscheinlich ist er nur zurückgekommen, weil er davon gehört hat.« Cafferty schlug erneut auf die Armlehne seines Rollstuhls.

»Ich bin nicht sicher, ob ich dir folgen kann.«

»Weil du nicht weißt, wofür er das Geld gebraucht hat. Sein Bruder Paul ist an Krebs gestorben, hat eine Frau, zwei Kinder und verdammt wenig auf dem Konto hinterlassen. Jack wollte ihnen helfen, koste es, was es wolle.«

»Du erwartest hoffentlich nicht von mir, dass ich dir das abnehme? Als hättest du plötzlich ein Gewissen …«

»Ich will ihm einfach nur persönlich sagen, dass es mir leidtut, wie das gelaufen ist …«

»Dann schick doch einen deiner Handlanger los, damit er ihn einfängt.«

»Könnte ich, aber da du ja nun mal für das, was da passiert ist, verantwortlich bist …«

»Was soll das heißen?«

»Du hast vor mehr als vier Jahren in einem Pub gesessen und was getrunken, hast mit einem gewissen Eric Linn gequatscht. Klingelt was?«

»Ich bin vielen Menschen in vielen Pubs begegnet.«

»Ihr hattet einen gemeinsamen Bekannten, Albert Cousins, früher mal einer deiner Informanten. Linn hat dich gefragt, ob du noch Kontakt zu ihm hast. Du hast Nein gesagt, hattest aber gehört, er hätte beim Poker in Potter’s Bar ganz schön viel Kohle gelassen.« Cafferty unterbrach sich. »Fällt der Groschen jetzt?«

»Kann sein.«

»Also, Eric wusste, dass ich Anteile an der Bar habe, und er dachte, mich würden diese Glückspielabende interessieren, weil mir nämlich nie einer was davon erzählt hatte. Und so war’s. Jack Oram hatte mir das alles verschwiegen, mir keinen Anteil ausgezahlt. Daraufhin hab ich ein paar Nachforschungen angestellt, und so wie’s aussah, hatte er auch einiges von der Billardkneipe einbehalten. Zum Glück für ihn hatte er mitbekommen, dass ich unter vier Augen mit ihm reden wollte.« Wieder hielt Cafferty inne. »Und das alles nur, weil du besoffen in der Kneipe sitzt und die Klappe nicht halten kannst.«

Rebus schwieg. Das mit Albert Cousins und seiner Spielsucht stimmte. Aber Rebus hatte nicht wissen können, wie heikel es war, darüber zu sprechen. Trotzdem …

»Die Straße hat sich verändert«, sagte Cafferty. »Ich hab nicht mehr überall Augen und Ohren wie früher.«

»Ich auch nicht.«

»Aber du kennst dich noch aus und hast Zeit.«

»Ich bin schon ein bisschen zu alt, um den Humphrey Bogart zu spielen.« Rebus stand auf und ging ans Fenster. Er hörte das Surren des Rollstuhlmotors, als Cafferty ihm folgte.

»Ich mach’s nicht mehr lange«, sagte Cafferty leise. »Hast du ja gleich gemerkt, als du hier reingekommen bist. Die Kugeln haben zu großen Schaden angerichtet.« Plötzlich wirkte er müde. »Ich hab einfach ein schlechtes Gewissen wegen Oram. Ich kann nicht genau erklären, warum bei ihm und nicht bei den anderen. Und natürlich gibt’s auch Geld.« Er zeigte auf eine Schrankwand. »Da drin liegt ein Umschlag mit Geld. Du wärst nicht Humphrey Bogart, wenn du’s nicht annehmen würdest.«

»Gibst du auch eine Lauren Bacall dazu?«

»Kann ich dir nicht versprechen, aber wer weiß, was sich noch ergibt. Ist doch besser, als allein in der Wohnung zu vergammeln.«

»Ich hab fast schon wieder ein neues Puzzle fertig. Sergeant Pepper, tausend Teile.«

»Das läuft dir ja nicht weg.«

Rebus drehte sich um und beugte sich zu dem Sitzenden herunter. »Was auch immer Oram zugestoßen sein mag, daran bin nicht ich schuld, sondern du. Du hättest es so oder so herausgefunden. Da draußen sind jede Menge Typen, die ihr Fähnchen nach dem Wind hängen und ihn gerne für dich ausfindig machen würden.«

»Ich will aber nicht irgendwen – ich will den größten Opportunisten von allen.«

Rebus schenkte ihm ein müdes Lächeln, fast schon unwillkürlich. »Also, was hast du, abgesehen von seinem Namen?«

»Kann sein, dass er einen anderen verwendet – würde ich an seiner Stelle jedenfalls machen. Zuletzt wurde er vor ein paar Wochen in der Nähe von Gracemount gesehen.«

»Nicht unbedingt der beste Ort für einen ehemaligen Polizisten. Willst du mich in einen Hinterhalt locken?«

»Er ist wohl aus einem Maklerbüro in der Lasswade Road gekommen.«

»Hat dir nicht auch mal eins dort gehört?«

Cafferty nickte. »Hab’s aber schon vor Jahren verkauft.«

»Und dort wurde er zuletzt gesehen – in einem Maklerbüro, das mal auf dich registriert war?«

Cafferty zuckte träge mit den Schultern. »Ich weiß, dir wäre das Haus eines Hollywood-Millionärs lieber, aber mehr hab ich nicht zu bieten.«

Rebus beugte sich noch weiter herunter, seine Hände umklammerten die Armlehnen des Rollstuhls. Die beiden Männer starrten sich gegenseitig in die Augen, das Schweigen dauerte an. Dann stieß Rebus sich ab und schüttelte langsam den Kopf.

»Ich überleg’s mir«, sagte er und ging zur Tür.

Cafferty blieb am Fenster sitzen. In ungefähr fünf Minuten würde er durch das Fernrohr schauen und Rebus über die Meadows zurücklaufen sehen. Er hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel, und spürte Andrew hinter sich, der auf Anweisungen wartete.

»Tee, denke ich«, sagte er. »Aber stark.«

»Kann den Typen nicht ausstehen«, meinte Andrew.

»Bist ein guter Menschenkenner. Aber wenn ich dich nicht bezahlen würde, könntest du mich wahrscheinlich auch nicht leiden. Wobei ich vielleicht Schulgeld verlangen sollte, so viel wie du bei mir hier lernst.«

Cafferty manövrierte seinen Rollstuhl zur Schrankwand. Rebus hatte den Umschlag selbstverständlich mitgenommen. Zufrieden fuhr Cafferty zum Wohnzimmertisch und griff nach der Post. In dem Stapel befand sich ein DIN-A4-Umschlag mit vertrautem Logo in der oberen linken Ecke: MGC Lettings. Die knausrigen Dreckschweine benutzten immer noch sein altes Briefpapier.

»Was zum Teufel ist das?«, brummte er und öffnete den Umschlag. Darin befand sich ein einziges Blatt, ein Ausdruck von einem unscharfen Foto. Darauf zu sehen war ein Mann im Profil, aufgenommen durch eine Tür, die in ein Wohnzimmer führte. Cafferty drehte es um. Kein Vermerk auf der Rückseite und auch sonst nichts im Umschlag.

Andrew stand hinter ihm. »Wer ist das?«, fragte er.

»Ich hab nicht den blassesten Schimmer«, erwiderte Cafferty. Und meinte es ernst.

Er kannte den Mann nicht.

Das Wohnzimmer allerdings … damit sah es ganz anders aus.

2

Detective Inspector Siobhan Clarke befand sich in den Räumen des CID in der Wache am Gayfield Square. Seit fünf Minuten starrte sie bereits auf den Bildschirm ihres Computers, daneben wurde ein Becher Tee kalt.

»Ich kann dir einen frischen machen«, schlug Detective Constable Christine Esson vor. Clarke blinzelte sich in die Gegenwart zurück und schüttelte erst den Kopf, dann kniff sie die Augen zu und krümmte sich, um ihre Rückenwirbel wieder beweglich zu machen.

»Ich tippe auf Francis Haggard«, fuhr Esson fort und hob ihren eigenen Becher. Sie trug die dunklen Haare als Pagenschnitt und hatte ihre Frisur in all den Jahren ihrer Zusammenarbeit nie verändert. Ihr Schreibtisch stand dem von Clarke direkt gegenüber, so dass Clarke sich nur schlecht verstecken konnte, wobei sie ohnehin vermutete, ihre Kollegin würde ihre Gedanken vermutlich auch von hinten lesen können.

»Wer sonst?«, gab Clarke zu.

Haggard war Polizist, in Tynecastle stationiert und angeklagt wegen des Vorwurfs des häuslichen Missbrauchs, »Missbrauch« war die aktuell korrekte Bezeichnung. Früher hatte man von häuslicher Gewalt gesprochen und noch früher von häuslichen Übergriffen. Nichts davon entsprach Clarkes Ansicht nach auch nur annähernd der Schwere des Vergehens. Sie war Opfern begegnet, die nur noch leere Hüllen waren, ihres gesamten Selbstbewusstseins, ihres Vertrauens und ihrer Zuversicht beraubt. Einige hatten ihr gesamtes Eheleben gelitten – häufig physisch und vor allem psychisch. Die Täter waren in allen gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen zu finden, aber hier war es zum ersten Mal ein Kollege.

Haggard hatte fünfzehn Jahre Polizeidienst auf dem Buckel. Er war seit sechs Jahren verheiratet, und laut seiner Partnerin hatte er bereits in den ersten achtzehn Monaten nach der Hochzeit Wutausbrüche bekommen und begonnen, sie systematisch psychisch zu verunsichern. Clarke und Esson hatten Haggard am Nachmittag vernommen, nicht zum ersten Mal. Er hatte ihnen gegenüber am Tisch gesessen, sich breitbeinig zurückgelehnt und sich hin und wieder in den Schritt gefasst. Sein Anwalt, der mit seinem eigenen Stuhl immer wieder ein Stück zurückweichen musste, um seinen Knien nicht in die Quere zu kommen, hatte nur mit Mühe seine Geringschätzung verbergen können.

Haggard hatte sich darüber beklagt, dass er es nicht nur mit einem, sondern gleich zwei weiblichen Detectives zu tun hatte, und sich an den Anwalt gewandt.

»Bist du sicher, dass das okay ist, Mikey? Zwei Kerle würden die Sache vielleicht anders sehen.«

Der Anwalt Michael Leckie (Clarke vermutete, dass er von niemandem sonst Mikey genannt wurde) war auf seinem Stuhl herumgerutscht und hatte nichts gesagt.

»Ich sehe schon«, hatte Haggard nickend weitergeredet, »ihr habt eure Mistgabeln gezückt, und der Scheiterhaufen brennt.« Dann hatte er sich abrupt zu Leckie umgedreht. »Mach schon, erzähl ihnen, was ich dir gesagt hab.«

Michael Leckie hatte sich daraufhin geräuspert, seine Aufmerksamkeit von dem Papierstapel vor sich ab- und den beiden Detectives zugewandt.

»Ich vermute«, hatte er gesagt und die Worte in die Länge gezogen, wie um eine Sprache zu rezitieren, die er erst kürzlich gelernt hatte, »Sie wissen, was man unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung versteht?«

»PTBS«, hatte Esson erwidert.

»Ganz recht«, hatte Francis Haggard wiederholt.

»PTBS«, sagte Esson jetzt wieder und schüttelte ungläubig den Kopf. Irgendwie war Clarkes lauwarmer Tee gegen einen frischen ausgetauscht worden, ohne dass sie es mitbekommen hatte. Sie hob den Becher und nahm einen Schluck. Esson selbst schien nie etwas anderes als heißes Wasser zu trinken, zumindest nicht im Dienst. »Das nimmt ihm doch keiner ab, oder?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Clarke. Haggard hatte während seiner Vernehmung nichts anderes ausgesagt, als dass er seinen Zustand dem Beruf zu verdanken hatte, den er in den vergangenen fünfzehn Jahren ausgeübt hatte.

»Mein Klient ist zurzeit nicht bereit, auf Einzelheiten einzugehen«, hatte Leckie noch angemerkt und dabei geklungen, als wüsste er möglicherweise selbst nicht allzu umfassend Bescheid. Haggard war bereits angeklagt und auf Kaution frei, aber mit der Auflage, dass er sich seiner Frau und der gemeinsamen Wohnung nicht nähern durfte. Er war vom Polizeidienst suspendiert und im Zuge der Ermittlungen mehrfach vernommen worden. Esson war dem Fall von Anfang an zugeteilt gewesen, während Clarke erst eingestiegen war, als DC Ronnie Ogilvie, Essons angestammter Partner beim CID, an Corona erkrankt war und sich zu Hause hatte isolieren müssen.

»PTBS«, wiederholte Esson.

»Ich hab das im Netz nachgesehen«, sagte Clarke. »So was kriegt man auf dem Schlachtfeld oder bei Terroranschlägen, wenn man einen Tsunami oder ein Kindheitstrauma überlebt.«

»Will er vielleicht noch behaupten, ein Priester hätte nach den Proben mit dem Kirchenchor an ihm herumgefummelt, so dass er dreißig Jahre später auf seine Frau eindreschen muss?« Esson klang skeptisch. »Schon komisch, dass ihm das jetzt erst als strafmildernder Umstand einfällt. Ich wette mit dir, den Tipp hat er aus einem Männerforum im Netz. Wir sollten mal schauen, ob’s jemand anders auf die Tour versucht hat. Und einen Psychologen auf ihn ansetzen.«

»Wir sollten so viel, Christine. War er außer in Tynecastle noch woanders stationiert?«

»Im Lauf der Jahre hat er ein paar Vertretungsschichten gemacht. Aber sonst nicht.«

»Dann muss er sich seine PTBS also in Tynie geholt haben.«

»Im gefürchteten Tynie. Plötzlich wirkt das alles viel plausibler.«

Jeder Polizist in Edinburgh kannte mindestens eine Geschichte aus Tynecastle. Die Beamten dort standen in dem Ruf, häufig zu weit zu gehen und ungestraft damit durchzukommen. Unzählige Häftlinge waren auf dem Weg in ihre Zellen gestolpert oder die Treppe runtergefallen, hatten das Gleichgewicht verloren oder waren mit dem Gesicht gegen eine Wand gelaufen. Und das immer ausgerechnet dann, wenn die Überwachungskameras ausgefallen waren. Regelmäßig wurden Vorwürfe erst erhoben, dann aber wieder zurückgezogen, oder sie verliefen einfach im Sande. Außerdem wurde unter vorgehaltener Hand über noch schwerwiegendere Vergehen geredet – fingierte Beweise, Vertuschungsaktionen und Bestechungsgelder.

»Sie heißt Cheryl«, sagte Esson plötzlich.

»Was?«

»Cheryl Haggard. Das Opfer. Wir sollten sie bei all dem nicht aus dem Blick verlieren.«

»Du hast recht. Wenn er unter PTBS litt, müsste sie es doch gewusst haben. Dann hätte er bestimmt früher schon mal was gesagt. Und sie muss auch gemerkt haben, dass er sich verändert.«

»Hast du noch nicht mit ihr gesprochen?«

Clarke schüttelte den Kopf. »Ich weiß, Ronnie und du habt mit ihr geredet.« Sie kramte in den Akten auf ihrem Schreibtisch, fand eine der Mitschriften. »Wie geht’s ihr?«

»Ihre Schwester kümmert sich um sie.«

»Gut, wenigstens etwas. Wie heißt die Verbindungsbeamtin?«

»Gina Hendry. Sie sagt, sie kennt dich.«

Clarke nickte. »Wir kennen uns schon lange. Ich rede mit ihr.«

»Aber vielleicht morgen, Chefin?« Esson hielt ihr Handy hoch, damit Clarke die Uhrzeit auf dem Display erkennen konnte.

»Schon?« Clarke drehte sich zum Fenster, draußen war es inzwischen dunkel.

»War ein langer Tag, und ich glaube, heute bin ich dran.«

»Ein überzeugendes Plädoyer, Detective Constable Esson«, sagte Clarke und griff nach ihrer Schultertasche auf dem Boden.

Siobhan Clarke wohnte an der Broughton Street, kaum mehr als fünf Minuten zu Fuß vom Gayfield Square. Esson war mit ihr in eine Bar im Leith Walk gegangen, wo sie sich ein paar Drinks genehmigt und Nachos geteilt hatten. Auf dem Leith Walk selbst herrschte das übliche Chaos aufgrund der Bauarbeiten für die neue Straßenbahnlinie. Einige Abschnitte des Bürgersteigs waren gar nicht zugänglich, und der Eigentümer der Bar hatte ein Transparent über der Tür angebracht, um potentiellen Gästen zu signalisieren: Willkommen – wir haben für Sie geöffnet! Clarke war nicht sicher, inwiefern ihm eine Portion Nachos und zwei Runden Gin-Tonic finanziell aus der Misere halfen. Als sie gingen, sagte er, er hoffe, sie bald wiederzusehen.

»Und bringt eine Freundin mit – bringt ganz viele Freundinnen mit.«

Da zwischen ihnen und dem nächsten besetzten Tisch ausreichend Abstand war, hatten Clarke und Esson weiter über den Fall gesprochen. Zuerst hatten sie es tunlichst vermieden, doch dann waren ihnen die Themen ausgegangen. Esson hatte das Eis in ihrem Glas geschwenkt und angefangen.

»Den Protokollen habe ich entnommen, dass die Kollegen, die ihn festgenommen haben, sehr sanft mit ihm umgesprungen sind. Er war ja einer von ihnen. Cheryl stand tränenüberströmt und mit blutiger Nase hinten im Flur. Die Nachbarn hatten die Polizei verständigt. Nicht zum ersten Mal hatten sie Schreie gehört und auch vorher schon mal bei uns angerufen, aber als die Kollegen von der Streife vor seiner Tür standen, hatte Haggard sich rausgeredet. Dabei dachte ich, die Zeiten sind vorbei, in denen wir bei Fällen häuslicher Gewalt beide Augen zugedrückt haben.«

»Wird wahrscheinlich auch nicht besser, wenn der die gleiche Dienstmarke hat wie man selbst.«

»Vielleicht hätte er sich auch dieses Mal wieder rausreden können, aber er ist wohl unverschämt geworden und hat einen Kollegen angerempelt. Hast du die Wohnung gesehen?« Clarke hatte den Kopf geschüttelt. »Ich hab mir das mal angesehen. Neubausiedlung in Newhaven, in der Nähe vom Hafen, vom Balkon aus hat man einen tollen Blick aufs Wasser. Die Nachbarn sind im Finanzwesen tätig und haben mir erklärt, die Wände seien super isoliert, deshalb wussten sie gleich, dass die Schreie ernst zu nehmen sind. Hast du die Fotos von ihren Verletzungen gesehen?«

»Neue und alte, Christine. Ich kenne die Beschreibungen auswendig. Ich hab deine Vernehmungsprotokolle gelesen.«

»Manchmal ist das Leben als alte Jungfer gar nicht so schlecht«, hatte Esson geseufzt.

Die beiden Frauen hatten sich in die Augen gesehen und jeweils ein Lächeln abgerungen.

Auf dem Weg nach Hause hatte Clarke über vergangene Beziehungen nachgedacht. Im Lauf der Jahre waren einige zusammengekommen, aber irgendwann waren sie doch alle am Straßenrand verreckt wie ein Auto mit defekter Benzinleitung. Schließlich war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass es ihr allein wunderbar ging. Sie hatte ihre Wohnung, Musik, Bücher und Fernsehen. Sie hatte Freunde und Freundinnen, mit denen sie Zeit verbringen oder mit denen sie essen gehen konnte. Und diese hatten größtenteils aufgehört, sie mit geeigneten Männern (oder Frauen) zusammenbringen zu wollen. Edinburgh war gar keine schlechte Stadt für Singles. Bei Konzerten, im Kino oder im Theater wirkte sie nicht deplatziert. Okay, im Lockdown war ihr streckenweise ganz schön langweilig geworden, auch wenn sie die Ruhe in der Stadt und die leeren Straßen genossen hatte.

Die Kehrseite war natürlich, dass es zwar einen Rückgang bei einigen Verbrechen gegeben hatte, dafür andere aber zunahmen, zum Beispiel Fälle häuslicher Gewalt. In den Beziehungen brodelte es wie in Dampfkochtöpfen. Da die Pubs und Clubs geschlossen waren, wurde zu Hause getrunken. Die Nerven lagen blank, Beschimpfungen und Beleidigungen waren an der Tagesordnung – häufig gefolgt von Handgreiflichkeiten oder Schlimmerem.

Als sie mit Haggard im Vernehmungszimmer saß, hatte sie damit gerechnet, dass er sich mit der Pandemie herausreden würde. Nicht mit einer verfluchten PTBS.

Inzwischen war sie an ihrem Wohnhaus angekommen und fischte gerade ihre Schlüssel aus der Tasche, als sie ein Geräusch hinter sich hörte. Sie klemmte sich einen Schlüssel fest zwischen die Finger, um ihn notfalls als kurze Stichwaffe verwenden zu können, ballte die Faust und drehte sich um – stand dann allerdings vor einem ihr bekannten Gesicht.

DI Malcolm Fox.

Offenbar war er gerade aus einem brandneuen Mercedes gestiegen. Ausnahmsweise trug er keinen seiner vielen ausgezeichnet geschnittenen Dienstanzüge, hatte die Hände tief in den Taschen einer dunklen Daunenjacke vergraben. Als er den Schlüssel in Clarkes Faust sah, hob er scherzhaft beide Hände, als wollte er sich ergeben.

»Schön, dich zu sehen«, sagte er.

»Du rufst nie an, schreibst nie«, erwiderte Clarke. »Je länger du in Gartcosh stationiert bist, desto weniger denkst du noch an uns kleine Leute.«

Fox arbeitete auf dem Scottish Crime Campus, dem Nervenzentrum von Police Scotland in Gartcosh. Eigentlich wusste sie nicht genau, warum seine Karriere dermaßen Fahrt aufgenommen hatte, während sie selbst offenbar auf der Busspur feststeckte. John Rebus, Clarkes ehemaliger Kollege, bezeichnete Fox gerne als »schleimigen Cowboy« und hielt ihn für einen Jasager, einen allzeit bereiten Arschkriecher, der sich in einem seiner besagten Anzüge einfach gut hinter einem großen Schreibtisch machte.

»Dafür bin ich ja jetzt hier«, sagte Fox schulterzuckend. Zu seiner Daunenjacke trug er Jeans und hellbraune Halbschuhe, was ihm überhaupt nicht stand. Seine dunklen Haare waren millimeterkurz geschnitten, vorne gegelt, und seine Wangen glänzten, als hätten sie intensivere Begegnungen mit einem Rasierer hinter sich, als nötig gewesen wäre.

»Es ist acht Uhr abends, Malcolm.«

»Du warst nicht im Büro.«

»Ich hab ein Handy.«

Seine Mundwinkel zuckten. »Ich wollte dich persönlich sprechen.«

»Warum?«

Er drehte den Kopf Richtung Broughton Street. »Wollen wir was trinken gehen?«

»Hab ich gerade schon gemacht.«

»Mit Christine Esson – das haben die mir an der Anmeldung verraten. Ich war in zwei Kneipen hier in der Gegend …«

»Bist ja doch immer noch Detective.« Fox hatte erst beim CID gearbeitet, war dann zu Internal Affairs gewechselt und schließlich zur Specialist Crime Division in Gartcosh aufgestiegen.

Seine Hände steckten jetzt wieder in den Taschen seiner Jacke, als wollte er Clarke zu verstehen geben, dass ihm kalt war. »Vielleicht ein Kaffee?« Jetzt sah er zur Tür hinter Clarke.

»Lieber nicht. Ich bin ganz schön erledigt.«

Er nickte verständnisvoll. »Der Fall Haggard.«

Clarke hob unwillkürlich die Augenbrauen. »Du bist gut informiert.«

»Er macht eine PTBS geltend, hab ich recht? Oder hat er dir das noch nicht gesagt?«

Clarke starrte ihn durchdringend an. Seine Augen funkelten fast. Jetzt wusste er, dass er sie am Haken hatte.

»Du hast exakt zehn Minuten«, brummte sie und steckte den Schlüssel ins Türschloss.

Sie stiegen die Treppe hinauf, Clarke ging voran, Fox folgte ihr. »Du hast ein Auge auf meinen Wagen geworfen, das hab ich gesehen«, meinte er. »Wahrscheinlich kann ich dir denselben Deal verschaffen, falls du was suchst.«

»Tu ich nicht.«

»Behalt es ruhig im Hinterkopf. Fährt Rebus noch seinen alten Saab?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Trefft ihr euch nicht mehr?«

»Wen ich sehe und wen nicht, geht dich gar nichts an.«

»Ich versuche nur, mich ein bisschen mit dir zu unterhalten.«

»Lass es lieber.« Sie waren in Clarkes Etage angelangt, sie schloss die Tür auf und trat in den Flur. Ein kurzer prüfender Blick ins Wohnzimmer verriet ihr, dass sie ganz beruhigt sein konnte. Es war relativ aufgeräumt und frei von Beweisstücken. Anschließend hängte sie ihren Mantel über eine Stuhllehne und setzte sich mit dem Gesicht zur Tür, wo Fox jetzt stand und sich umsah.

»Hat deine Reinemachefrau diese Woche frei?«

»Sagt der Mann, dessen beste Freundin seine Mikrowelle ist.«

»Inzwischen hab ich sogar ein paar Rezepte drauf. Wenn du magst, koch ich für dich.«

»Willst du mir drohen?« Fox lächelte und zog den Reißverschluss seiner Jacke auf. »Lohnt sich nicht«, fügte sie hinzu.

»Also keinen Kaffee?«

»Woher zum Teufel weißt du das mit Haggard?«

»Er ist Polizist. Gehört zu meinem Job, sowas zu wissen.«

»In deinem früheren Leben vielleicht, aber du bist nicht mehr bei Complaints.«

»War ich aber – und mein Chef sagt, darauf kommt es an.« Er zeigte auf das Sofa und verstand ihr eisernes Schweigen als Erlaubnis, sich zumindest vorübergehend darauf niederzulassen. »Wir machen uns Sorgen wegen diesem Fall, Siobhan. Wegen der möglichen Auswirkungen.«

»Schlechte Presse, meinst du?«

»Ein straffälliger Polizist sieht nie gut aus.«

»Ist nicht das erste Mal, dass ein Polizeibeamter wegen häuslichen Missbrauchs belangt wird, also kann es ja eigentlich nur noch um das mit der PTBS gehen.«

»Ich habe einige Jahre für die Complaints gearbeitet, Siobhan. Wir hatten Tynecastle immer auf dem Schirm, konnten denen aber nie was nachweisen.«

»Trotzdem ist mir nicht klar, woher du weißt, dass er eine PTBS vorschieben will.«

»Weil er’s uns gesagt hat.«

»Was?«

»Er hat eine E-Mail an den Chief Constable geschickt und behauptet, wenn er auspackt, werden auch jede Menge Details über Police Scotland und die dort herrschende Korruptionskultur publik – ich zitiere wörtlich.«

»Hat er Beispiele genannt?«

»Nein.«

»Ihr haltet das für keinen Bluff?«

»Woher soll mein Chef das wissen?«

»Das heißt, der Chief Constable ist dein Chef?«

»Schlau wie er war, hat er die Angelegenheit seiner Stellvertreterin übergeben.«

»Jennifer Lyon, richtig? Und sie hat’s an dich weitergereicht?« Fox nickte. »Aber zu welchem Zweck?«

»Wir müssen mehr über seine Verteidigungsstrategie erfahren – was er aussagen wird und was er davon beweisen kann. Nachrichtenagenturen und Blogger schnüffeln schon herum. Die wissen, dass Haggard von Tynecastle spricht und es dort jede Menge Leichen im Keller gibt.«

»Ich halte dich auf dem Laufenden.« Clarke wischte sich unsichtbare Fusseln vom Hosenbein.

»Wirklich?«, fragte Fox in die Stille.

»Mal überlegen.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Du kommst hier mitten in der Nacht angeschlichen – sieht für mich verdammt danach aus, als wolltet ihr die Sache bedeckt halten.«

»Ich war zuerst auf der Wache«, entgegnete Fox, aber Clarke tat die Bemerkung mit einem Schulterzucken ab.

»Nichts davon scheint mir über den offiziellen Dienstweg zu laufen. Hat dich Jennifer Lyon ausgesucht, weil du früher bei Complaints warst, oder weil sie weiß, dass wir uns schon länger kennen? Weil es dir vielleicht gelingt, mich weichzukochen, so dass ich euch stecke, was ich bei den Vernehmungen erfahre?« Ihre Miene versteinerte. »Warum hat Haggard die E-Mail geschickt? Er will, dass der Fall abgewiesen wird, oder? Um das zu erreichen, droht er mit allem Möglichen, und siehe da, plötzlich hat er dich und deine Chefin auf seiner Seite.« Clarke hob die Stimme und stand auf. »So läuft das aber nicht, Malcolm. Ich kann nicht fassen, dass du’s überhaupt versucht hast.«

»Ich hab Lyon gleich gesagt, dass das viel verlangt ist.«

»Möchte sie denn, dass die Ermittlungen eingestellt werden?«

»Sie möchte das Beste für Police Scotland.«

»Du meinst wohl, weniger Aufsehen in der Presse.« Clarke stieg Farbe den Hals hinauf. »Sag ihr, ich schicke ihr Fotos der zusammengeschlagenen Cheryl Haggard. Fotos und Cheryls Aussage. Gleich morgen früh.«

»Der Fall ist ihr in allen Einzelheiten bekannt, Siobhan.«

Clarke machte Fox Zeichen, sich zu erheben. Sie selbst stand bereits an der Tür. »Sag Lyon, du hast mit mir gesprochen. Aber solange ich für den Fall zuständig bin, wird ermittelt. Und zum Schluss geht’s vor Gericht, das verspreche ich dir.«

»Du bist sehr zuversichtlich. Das habe ich immer an dir bewundert. Anderes … vielleicht weniger.«

»Viel Spaß mit deinem schicken Schlitten, Malcolm.«

Sie brachte ihn zur Tür und knallte sie hinter ihm zu. Als sie wieder saß, rief sie Christine Esson an, erreichte sie aber nicht. Beim Durchblättern ihrer Kontakte stieß sie auf Gina Hendrys Nummer und schickte ihr eine Nachricht: Ich arbeite am Fall Haggard und würde gerne mit Cheryl sprechen. Ist das möglich? Wäre auf jeden Fall gut, sich mal wieder auszutauschen. Das letzte Mal ist schon eine ganze Weile her. S.

In der Küche setzte sie Wasser auf. Eine halbvolle Flasche Edinburgh Gin starrte sie von der Arbeitsfläche an.

»Heute Abend nicht, du Satan«, wehrte sie diese ab und griff stattdessen nach den Teebeuteln und einem Becher.

Zweiter Tag

3

Rebus war schon vor dem Morgengrauen aufgewacht, wie üblich wegen seiner vollen Blase. Brillo guckte unternehmungslustig, also ging er mit ihm auf die Meadows. Anders als die meisten Hundebesitzer wollte Rebus sich auf keinen Fall mit einer Wurfkelle blicken lassen und nahm stattdessen nur einen kleinen harten Gummiball für den Hund zum Spielen mit. Er kickte ihn mit der Schuhspitze vor sich her, so dass Brillo nie weit laufen musste, um ihn wieder zu holen.

Nach dem Frühstück blieb Rebus am Tisch sitzen und sah noch einmal die Notizen durch, die er sich am Vorabend bei der Internetrecherche gemacht hatte. Viel hatte sich dabei nicht ergeben. Jack Orams Verschwinden war in ein paar Abendzeitungen erwähnt worden. Seine Familie hatte ein Vermisstenplakat veröffentlicht, das neben einem der Artikel abgebildet war. Rebus hatte es ausgedruckt, ebenso wie ein kleineres Bild von Oram an dessen Hochzeitstag. Seine Frau hieß Ishbel. Rebus hatte noch einen Stapel alter Telefonbücher im Schrank und schlug darin nach. Laut Zeitungsartikel lebte die Familie in Craigmillar, und der Eintrag im Telefonbuch bestätigte dies. Ob die Nummer noch stimmte? Er versuchte es, bekam aber den durchgängigen Summton, der ihm beschied, dass die Nummer nicht mehr existierte. War ja auch klar – bei seinem Umzug vor ein paar Jahren hätte er selbst beinahe schon seinen Festnetzanschluss abgemeldet. Wäre es nach Siobhan Clarke gegangen, hätte er auch die Telefonbücher gleich abgeschafft.

Er hatte also eine alte Adresse der Familie Oram, ein paar unscharfe Fotos und ein Pub namens The Moorfoot, das vorher eine Billardkneipe und davor Potter’s Bar gewesen war. Für einen ganzen Abend war das nicht viel, was er vorzuweisen hatte. Aber es gab ja noch das Büro des Maklers in der Lasswade Road – brauchte Oram eine Wohnung, mied er seine Familie? Ahnten seine Angehörigen überhaupt, dass er putzmunter und am Leben war? Angenommen, Rebus würde ihn aufspüren, wollte Cafferty ihm dann wirklich ein Friedensangebot machen oder ihm nicht doch viel wahrscheinlicher an den Kragen? Rebus griff über den Tisch und nahm den Umschlag, den er aus Caffertys Wohnung mitgenommen hatte. Er war prall gefüllt mit Zwanzigern und Fünfzigern. Er wusste noch nicht, was er damit anstellen wollte, aber behalten würde er das Geld auf keinen Fall.

Und ganz bestimmt auch nicht zurückgeben.

Er wusste, dass Eric Linn, dem er von Albert Cousins’ Pech beim Poker erzählt hatte, schon vor einigen Jahren an Lungenkrebs gestorben war; das hatte er von jemandem gehört, der die Beerdigung besucht hatte. Cousins selbst, einer von Rebus’ zuverlässigen Informanten aus seiner Zeit beim CID, hatte alles verzockt, Frau und Heim verloren und sich umgebracht. Im Krematorium waren nicht mehr als ein Dutzend Leute zusammengekommen. Als Rebus an jenem Abend mit Linn geredet hatte, war ihm da bewusst gewesen, dass Linn Cafferty kannte? Eher nicht. Hatte er gewusst, dass Cafferty stiller Teilhaber an Potter’s Bar war? Das schon. Aber wie zum Teufel hätte er ahnen sollen, dass die Pokerabende ohne Caffertys Wissen stattfanden? Er betrachtete erneut die Fotos von Jack und Ishbel Oram. Damals hatte er sich kaum Gedanken wegen der Geschichte gemacht. Früher waren Cafferty immer wieder Leute wie Oram auf den Schlips getreten und urplötzlich von der Bildfläche verschwunden. Unmöglich hätte er dies mit den wenigen Worten in Verbindung bringen können, die er betrunken im Pub verloren hatte. Das war wirklich nicht seine Schuld.

Brillo lag zusammengerollt in seinem Korb, und als sich sein Besitzer die Jacke überstreifte, warf er ihm einen flehentlichen, aber resignierten Blick zu.

»Höchstens zwei Stunden«, behauptete Rebus und dachte, es könnte vielleicht sogar hinkommen.

Sein Saab parkte direkt vor der Haustür. Ganz schön blöd, dass er diesen Spitzenparkplatz jetzt aufgeben musste. Meist drehte er endlose Runden, bis er endlich eine Lücke fand, die groß genug war. Als er vor mehr als einem halben Leben nach Marchmont gezogen war, hatte es hier deutlich weniger Studenten und Autos gegeben. Jetzt besaßen alle Studenten Autos und blätterten, ohne mit der Wimper zu zucken, die Kohle für einen Anwohner-Parkausweis hin. Rebus hätte einen Behindertenausweis beantragen können, sträubte sich aber noch dagegen. Er wusste, dass sein Saab – der immer erst beim dritten Versuch ansprang – der älteste Wagen der ganzen Straße war und allmählich als Oldtimer durchgehen konnte. Die Stadtverwaltung plante die Innenstadt für Benzin- und Dieselfahrzeuge zu sperren, wovon Oldtimer aber vermutlich ausgenommen sein würden. »Noch ein oder zwei Jahre, dann ist es so weit«, stellte er seinem Saab in Aussicht. Immer vorausgesetzt natürlich, dass seine Spezialwerkstatt in Wardie Bay weiterhin Wunder vollbringen würde.

Die Fahrt in die Lasswade Road war kurz. Zu dieser Tageszeit schob sich der Verkehr größtenteils in die Stadt hinein, weniger hinaus. Zweistöckige Gebäude und Bungalows säumten die Straße, außerdem reihten sich ein paar Läden und Geschäfte aneinander. Dahinter lagen rauere Viertel, die Rebus aus seiner Zeit beim CID nicht unbekannt waren. Er parkte vor einer Tierarztpraxis, durch deren Fenster er besorgte Haustierbesitzer mit Transportboxen sitzen sah.

Vor den Fenstern der Immobilienagentur – es befand sich eins jeweils links und rechts der Tür – hingen halb heruntergelassene Jalousien und Bilder von einigen Dutzend Häusern, so dass Rebus kaum erkennen konnte, was sich dahinter abspielte. Die Holztür mit Milchglaseinsatz war zusätzlich mit einem Metallgitter (während der Geschäftszeiten unverschlossen) gesichert. Er trat einen Schritt zurück, betrachtete das Schild an der Fassade, QC Lettings Agency, und hatte bereits eine Frage im Kopf, als er die Tür aufstieß. Dank einer altmodischen, mit einer Feder verbundenen Glocke ertönte ein leises Klingeln.

»Niedlich«, sagte Rebus und ging auf die Empfangsdame zu. Der Raum war nicht groß, in einer Ecke befand sich ein Schreibtisch, und eine große Plastikscheibe schützte die Person dahinter vor den Viren der Kundschaft. »Verzeihung, hab ich ganz vergessen.« Er kramte in seiner Tasche nach einem Schlüsselband, das er sich anschließend um den Hals hängte – daran befestigt war ein laminierter Ausweis befestigt, der ihn vom Tragen einer Maske befreite. »Meine Lunge«, erklärte er und sah sich weiter im Raum um.

Ein Zweisitzersofa, ein Beistelltischchen und ein Wasserspender befanden sich außerdem darin, sowie eine ganze Wand mit Bildern weiterer Mietimmobilien. Die Empfangsdame war vermutlich Anfang fünfzig und wirkte sehr sachlich, sie trug die Haare nach hinten gebunden und eine Brille auf der Nase.

»Wofür steht QC?«, fragte Rebus.

»Quality Counts, habe ich mir sagen lassen.«

»Wie der Sherry?«

»Wie der Sherry.«

»Wieso hab ich das Gefühl, dass ich nicht der Erste bin, der darauf gekommen ist?«

Sie schenkte ihm ein kühles Lächeln und fragte, ob er eine Mietimmobilie suche.

»Heute nicht«, entschuldigte er sich und zückte ein Foto von Jack Oram. »Aber ich glaube, dieser Mann hier hat eine gesucht. Ich weiß nicht, wie lange das genau her ist, wahrscheinlich ein paar Wochen. Er heißt Jack Oram, könnte aber auch einen anderen Namen angegeben haben.«

Er hielt ihr ein Foto hin, sie schien es aber nicht entgegennehmen zu wollen.

»In welchem Zusammenhang wollen Sie das wissen?«

»Er wurde vor vier Jahren vermisst gemeldet, aber jetzt wieder gesehen, wie er aus diesem Büro kam.«

»Das ist keine sehr gute Aufnahme. Von wann ist die denn?«

»Keine Ahnung«, gestand Rebus.

»Ich habe ihn nicht gesehen«, erklärte die Empfangsdame.

»Kann vielleicht jemand anders mit ihm zu tun gehabt haben?«

»Hier gibt es nur mich.«

»Aber Sie machen doch bestimmt auch mal Mittagspause.«

»Um Punkt halb eins, aber ich springe einfach nur schnell über die Straße zum Bäcker.«

»Vielleicht könnten Sie trotzdem mal im Computer nachsehen, nur damit ich beruhigt sein kann?«

Sie schnaubte, guckte ungehalten, tippte aber schließlich etwas in die Tasten.

»Der Name Oram ist hier nicht zu finden.«

»Wie gesagt, vielleicht hat er einen anderen benutzt.«

»Warum sollte er? Und was geht Sie das überhaupt an?«

»Seine Angehörigen haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben und mich gebeten, ein bisschen nachzuforschen. Sie können sich vorstellen, wie verzweifelt die sind.«

»Das kann ich wohl«, räumte sie schließlich ein und drehte sich halb um zu einer geschlossenen Tür hinten im Raum. »Wenn ich aus irgendeinem Grund wegmuss – sagen wir zu einem Zahnarzttermin –, schließe ich entweder zu oder Mr Mackenzie behält den Empfang im Auge.«

»Ist das der Geschäftsführer?«

»Ihm gehört die Firma, ja. Eigentlich ist es ein Familienunternehmen – worauf man bei QC sehr stolz ist.«

»Ob Sie ihn wohl fragen könnten?«

»Er ist gerade in einem Meeting, und ich weiß nicht, wie lange das noch dauert. Wenn Sie eine Telefonnummer hinterlassen …«

Sie wurde unterbrochen, als plötzlich die Tür aufging und eine Frau heraustrat. Sie war zehn Jahre jünger als die Empfangsdame, und ihre hohen Absätze klapperten auf dem Parkettboden. Sie trug einen knielangen roten Lederrock, dazu ein hüftlanges Jäckchen in derselben knalligen Farbe. Rebus wurde im Vorbeigehen in eine Parfümwolke gehüllt. Kurz trafen sich ihre Blicke. Die Augen der Frau waren auffallend blau, sie war stark geschminkt und hatte dichte schwarze Haare. Rebus fühlte sich an Elizabeth Taylor erinnert, »in ihrer Glanzzeit«, wie er die Vergangenheit gerne nannte. Als sie hinausging, läutete wieder die Glocke über der Tür. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, trat Rebus in das Büro, schnitt der protestierenden Empfangsdame das Wort ab, indem er die Tür schloss.

Der Raum hinten war nur ungefähr halb so groß wie der vordere. Es gab nur einen einzigen Schreibtisch, der absolut leer war, abgesehen von einem kleinen, zugeklappten und nicht ans Stromnetz angeschlossenen Laptop. Das schmale Fenster dahinter war von außen vergittert und eröffnete den Blick auf einen von einem hohen Holzzaun eingefassten Innenhof. Ein Barschrank an der Wand verriet Rebus, dass vielversprechende Kunden zur Feier eines Vertragsabschlusses ein Glas angeboten bekamen. Der Mann am Schreibtisch brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass ein Fremder vor ihm stand.

»Wer sind Sie?«, fragte er nicht ganz unberechtigt.

»Ich heiße Rebus und komme im Auftrag von Jack Orams Familie.«

»Sollte mir das etwas sagen?«

Anstatt sofort zu antworten, ließ Rebus sich auf einem der beiden verfügbaren Stühle nieder. Das Parfüm der Frau roch in dem engen Raum noch stärker. Mackenzie war wahrscheinlich genauso alt wie sie. Er trug ein weißes Hemd und eine blaue Seidenkrawatte, dazu goldene Manschettenknöpfe und eine schwere goldene Uhr. Sein blaues Nadelstreifenjackett hing über der Stuhllehne, seine graumelierten Haare waren verwuschelt. Vermutlich hatte er seit seiner Jugend die Frisur nicht mehr geändert, was ihm ein leicht wildes Aussehen verlieh und ihn Jahre jünger wirken ließ.

»Wer war das eben?«, fragte Rebus.

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Sie kam mir bekannt vor.«

Mackenzie sah ihn finster an. »Das war meine Frau«, erklärte er. »Elizabeth. Woher kennen Sie sie?«

»Fällt mir bestimmt noch ein«, erwiderte Rebus lediglich. »Würden Sie einstweilen mal einen Blick auf dieses Foto werfen.«

Mackenzie nahm es ihm ab und betrachtete es.

»Er heißt Jack Oram«, erklärte Rebus. »Möglicherweise hat er einen anderen Namen verwendet, er ist vor vier Jahren spurlos verschwunden. Seine Angehörigen glauben, dass er wieder aufgetaucht ist, denn er wurde offenbar hier gesehen.«

»Der Name sagt mir nichts, und das Gesicht kenne ich auch nicht. Marion kümmert sich meist um unsere Kunden.« Er gestikulierte in Richtung des vorderen Raums. »Mit falschem Namen würde er hier aber nicht weit kommen – wir verlangen die Vorlage eines Lichtbildausweises und Kontoauszüge.«

»Wie sich das gehört.« Rebus nahm das Foto wieder an sich. »Darf ich Sie nach Ihrem Vornamen fragen, Mr Mackenzie?«

»Fraser. Und Ihrer?«

»John.«

»Sind Sie so was wie ein Privatdetektiv? Bekommen Sie einen Finderlohn von der Familie?« Mackenzies Akzent hatte zunächst vornehm und nach Edinburgh geklungen, wurde jetzt aber breiter, als sei er der Ansicht, Rebus habe ihn nicht verdient. Rebus hielt ihm erneut das Foto hin.

»Könnte aber auch eine Verwechslung vorliegen. Vielleicht war’s ja jemand, der ihm ähnlich sieht …«

»Da sind Sie so schlau wie ich.« Mackenzie klappte demonstrativ seinen Computer auf, als wollte er endlich richtig arbeiten. Dann vibrierte das Handy in seiner Tasche und er zog es heraus, hielt es ein Stück auf Abstand, um zu entziffern, was das Display anzeigte.

»Reine Eitelkeit«, erklärte Rebus und stand auf.

»Was?«

»Wenn Sie eine Brille brauchen, aber keine aufsetzen. Das ist reine Eitelkeit.«

»Aber nicht die schlimmste aller Sünden, Mr Rebus«, erwiderte Mackenzie lächelnd.

»Bei Weitem nicht«, musste Rebus ihm zugestehen.

Er vermutete, Brillo würde eine weitere Stunde gut allein zu Hause klarkommen, und fuhr von der Lasswade Road nach Craigmillar. Früher hatte er mal eine Zeitlang beim CID dort gearbeitet, aber das alte Polizeigebäude war inzwischen zu einer Art Pfingstkirche umfunktioniert worden, wenn auch immer noch mit Metallgittern vor den Fenstern. Die Wache befand sich jetzt in einem Neubau, der die Veränderungen der ganzen Gegend spiegelte und nur einen Katzensprung davon entfernt war. Craigmillar und das benachbarte Niddrie hatten die Polizei zu Rebus’ Zeit schwer beschäftigt, die baufälligen Behausungen und die allgemein verbreitete Armut bildeten einen fruchtbaren Nährboden für Verbrechen und Verbrecher. Größtenteils waren die alten Siedlungen inzwischen verschwunden. Moderne Wohnblocks und aufgemotzte öffentliche Einrichtungen hatten das Erscheinungsbild von Craigmillar inzwischen vollkommen verändert. Rebus fuhr an einer blitzblanken Bibliothek und einem augenscheinlich stark frequentierten Tesco Express vorbei, dann bog er von der Hauptstraße in die Siedlung ab, in der Jack Oram gelebt hatte, hielt am Bordstein und hatte das Gefühl, seinen Wagen verlassen zu können, ohne fürchten zu müssen, dass er in seiner Abwesenheit Vandalen zum Opfer fiel.

»Alles nicht mehr so wie früher«, sagte er sich.

Auf Plakatwänden wurden Neubauprojekte die Straße runter beworben. Die Häuser hier waren zwar älter, aber offenbar hatte man die Dächer und auch die doppelt verglasten Fenster erneuert. Die Gärten wirkten sehr viel gepflegter als früher. Oram hatte ein erfolgreiches kleines Unternehmen geführt und hätte es sich leisten können, anderswo in der Stadt zu leben, aber Rebus wusste, dass vielen Leuten ein Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit wichtig war. Er hatte Gangster gekannt – Cafferty war dahingehend wohl eine Ausnahme –, die noch lange, nachdem sie bereits Reichtümer angehäuft hatten, in den Häusern blieben, in denen sie aufgewachsen waren. Sich mit Menschen zu umgeben, die auf einen achteten, bedeutete auch eine gewisse Sicherheit. Für sie blieb man immer einer von ihnen, auch wenn das schon lange nicht mehr so war. Und mit ein paar Scheinen unter der Hand ließ sich das Getriebe guter Nachbarschaft problemlos schmieren.

Rebus hatte die Adresse aus dem Telefonbuch. Ein Reihenendhaus mit Kieselrauputz, wie alle anderen in der Straße. Der Vorgarten war zur Parkfläche umfunktioniert, auch wenn gerade kein Wagen dort stand. An der Seite befand sich eine Garage, die aktuell ebenfalls leer war, Blumenampeln hingen links und rechts von der Haustür. Die Tür selbst sah neu aus, dunkles lackiertes Holz mit einem langen, schmalen Buntglaseinsatz über dem Briefschlitz. Die Klingel war mit einer Kamera verbunden. Rebus drückte darauf und wartete.

Eine Frau öffnete und verdrehte die Augen, als sie ihn sah.

»Was hat er denn jetzt wieder ausgefressen? Ich bekomm ihn kaum noch zu Gesicht.«

»Halten Sie mich für einen Polizisten?«

»Sind Sie etwa keiner?«

Die Frau war Mitte vierzig, ihr schulterlanges Haar war orange gefärbt, und sie war gekleidet, als wäre sie auf dem Sprung ins Fitnessstudio, auch wenn sie garantiert nie eins aufsuchte.

»Nur um Missverständnisse zu vermeiden, von wem sprechen wir?«

»Vielleicht fangen wir lieber damit an, wer Sie überhaupt sind und was Sie hier wollen.« Sie verschränkte die Arme und neigte den Kopf zur Seite.

»Sie sind Ishbel Oram, ich habe ein Foto von Ihnen gesehen.«

Jetzt kniff sie die Augen zusammen. »Was für ein Foto?«