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Eine junge Frau im Zentrum des ewigen Kampfs um Wissen und Macht …
Das packende Finale der Familiengeheimnis-Dilogie
Tief unter der Erde in einem stillgelegten Bergwerk erkennt die junge Lehrerin Caitlyn Brown, dass sie der Schlüssel zu einem uralten Menschheitstraum ist. Ein langes Leben und schier unerschütterliche Gesundheit sind in greifbarer Nähe. Es liegt an Caitlyn und ihrem Geliebten Duncan noch mehr über ihre Familiengeschichte zu erfahren und diese Erkenntnisse gleichzeitig vor den falschen Mächten zu schützen. Doch Zweifel plagen sie: Ist es überhaupt gerecht, dieses Wissen allein für sich zu behalten? Als Caitlyns Freunde und die Schüler auf Ysgol Glasmaris wegen ihres Geheimnisses bedroht werden, muss sie eine Entscheidung treffen. Dabei kann sie sich nicht mal sicher sein, ob sie dem Mann, den sie liebt, vertrauen kann …
Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits erschienenen Titels Das Vermächtnis der Kristalle.
Weitere Titel dieser Reihe
Das Geheimnis von Glasmaris Hall (ISBN: 9783986378127)
Erste Leser:innenstimmen
„Großartige Kombination aus Familiengeheimnis, Mystery und Liebe!“
„Spannend geschrieben und dadurch kaum aus der Hand legbar.“
„Fesselndes und unterhaltsames Lesevergnügen, ich kann die Dilogie nur empfehlen!“
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Seitenzahl: 527
Tief unter der Erde in einem stillgelegten Bergwerk erkennt die junge Lehrerin Caitlyn Brown, dass sie der Schlüssel zu einem uralten Menschheitstraum ist. Ein langes Leben und schier unerschütterliche Gesundheit sind in greifbarer Nähe. Es liegt an Caitlyn und ihrem Geliebten Duncan noch mehr über ihre Familiengeschichte zu erfahren und diese Erkenntnisse gleichzeitig vor den falschen Mächten zu schützen. Doch Zweifel plagen sie: Ist es überhaupt gerecht, dieses Wissen allein für sich zu behalten? Als Caitlyns Freunde und die Schüler auf Ysgol Glasmaris wegen ihres Geheimnisses bedroht werden, muss sie eine Entscheidung treffen. Dabei kann sie sich nicht mal sicher sein, ob sie dem Mann, den sie liebt, vertrauen kann …
Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits erschienenen Titels Das Vermächtnis der Kristalle.
Überarbeitete Neuausgabe Mai 2023
Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98637-818-9 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-362-3
Copyright © 2019, dp Verlag Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2019 bei dp Verlag erschienenen Titels Das Vermächtnis der Kristalle. (ISBN: 978-3-96087-432-4).
Covergestaltung: ARTC.ore Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © watin, © Pung, © Daniel_Kay, © Joe Dunckley, © CravenA, © Victor Maschek, © Yevhenii Chulovskyi Lektorat: Birgit Förster
E-Book-Version 13.10.2023, 10:45:40.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Wieder einmal stehe ich an den Klippen unweit der Ysgol Glasmaris auf Anglesey. Wieder bläst mir der Seewind ins Gesicht, und weit unter mir schäumt das Wasser zwischen den zerklüfteten Felsen, von denen nur die Spitzen durch die Wasseroberfläche ragen. Wie gewöhnlich lassen dunkle Umrisse die Gefahr erkennen, die darunter schlummert. Zwischen den rasiermesserscharfen Steinen wirbelt das Meer in tückischen Strudeln. Einen Sturz in die Tiefe würde niemand überleben. Auch ich nicht.
Ich berühre die Kette mit den Kristallen, die ich trage, um mich stets daran zu erinnern, wer ich bin. Die Aufgabe, Hüterin eines uralten Geheimnisses zu sein, werde ich niemals einfach so abstreifen können, wie ich diese Kette jederzeit ablegen könnte.
Ein kleiner Stein unter meinem Fuß löst sich. Er ist zu klein und das Tosen des Wassers und das Heulen des Windes zu laut, als dass ich das Platschen höre, mit dem er ins Wasser plumpst.
An jenem Tag vor fast eineinhalb Jahren in dem unterirdischen Labor in der stillgelegten Mine des Black Country waren mir die weitreichenden Konsequenzen meines Handelns für mich und andere nicht bewusst, daher folgte ich einzig und allein meinem Instinkt. Alle Entscheidungen, die ich treffen musste, alle ungeahnten Ereignisse ließen mich wachsen. Und doch – gewachsen fühle ich mich meiner Aufgabe immer noch nicht.
Dort, tief unter der Erde, hatte ich erstmals begriffen, dass mein Leben schon lange Zeit fremdbestimmt worden war. Vom ganzen Ausmaß jedoch hatte ich allenfalls eine vage Ahnung gehabt, und genauso routiniert, wie ich schon oft vermieden hatte, sogar Tatsachen ins Auge zu sehen, verdrängte ich erst einmal diese Ahnung. Ich konnte oder vielmehr ich wollte mir gar nicht vorstellen, dass ausgerechnet ich eine Verpflichtung übernehmen musste, die viel größer war, als eine Karriere als Ärztin es jemals gewesen wäre. Mein Medizinstudium hatte ich in dem Moment beendet, in dem mir klar geworden war, dass ich die Verantwortung für das Leben und die Gesundheit anderer Menschen nicht tragen wollte.
Möwen jagen über den Frühsommerhimmel. Ich beneide sie um die Einfachheit ihres Lebens. Egal, was ich tun werde, eines weiß ich gewiss: Einfach wird nichts werden in meiner Zukunft.
Ich denke an Mum.
Auch für sie war es nicht einfach. Ein Teil von mir ist immer noch wütend auf sie, weil sie mir nie die Wahrheit erzählt hat. Die Wahrheit darüber, wer ich bin.
Was ich bin.
Ich nehme an, sie hielt mich noch für zu jung, um mit der Wahrheit umgehen zu können. Doch sie selbst war noch ein Kind, als sie die schreckliche Tragödie so unvermittelt traf, bei der ihre Eltern sowie einer ihrer Halbbrüder starben. Damals hatte Emrys Prestwich, der Duke of Anglesey, guter Freund ihrer Eltern und fortan Mums Vormund, entschieden, ihr die Wahrheit zu erzählen. Anschließend hatte sie nicht nur Zeit gehabt, in ihre Rolle hineinzuwachsen, sondern sie hatte auch Begleiter an ihrer Seite gehabt, die ihr halfen, damit zurechtzukommen.
Das Doppelleben, das sie führen musste, hatte ihren weiteren Lebensweg ebenso zwangsläufig wie nachhaltig beeinflusst. Verständlicherweise wollte sie als Mutter mir und meinem Bruder Henry genau das so lange wie möglich ersparen. Sie glaubte, noch viel Zeit zu haben, um uns zunächst unser Leben leben zu lassen und uns irgendwann vielleicht sehr behutsam an das Geheimnis heranzuführen.
Am Ende hatte sie ihre Rechnung ohne ihren Halbbruder William Hunter gemacht, der in die Fußstapfen seines Vaters Konrad Jäger getreten war. Jäger war Wissenschaftler und Kopf der Organisation Heredes, deren brutale Forschungsmethoden ganz im Geiste der Rassentheorie Nazideutschlands begonnen hatten. Wie Jäger selbst, so war auch William davon überzeugt, dass nicht jeder Mensch gleichermaßen in den Genuss möglicher Vorteile kommen sollte – Profitgier war darüber hinaus ein weiterer nicht zu übersehender Faktor.
Obwohl William wie sein Vater Konrad nichts Genaues über die weitreichenden Zusammenhänge wusste, so glaubte er zumindest an die geheime Existenz einer Methode, ein wirkungsvolles Heilmittel zu schaffen. Er hielt es für eine Art Wundermittel gegen Krebs, resistente Erreger, Viren und vieles andere, was er sowohl an den Meistbietenden verkaufen als auch an diejenigen weitergeben würde, die seinem ideologisch geformten Menschenbild entsprachen.
Schließlich war Mum zu William gereist, um ihn davon zu überzeugen, seine wahnwitzigen Versuche zu beenden, weil ein solches Heilmittel nicht existierte. Sie ging nicht davon aus, dass er ihr etwas antun würde. Immer glaubte sie an das Gute im Menschen. Ihren Irrtum bezahlte sie schließlich mit ihrem Leben.
William, der die Gelegenheit ergriff, um den Beweis für die Existenz eines Wundermittels anzutreten, nahm sie gefangen und zerstörte mit einer aggressiven Chemo- und Strahlentherapie ihr Knochenmark, bevor er sie nach Hause schickte. Aufgrund ihres ausgeschalteten Immunsystems war ihr Körper trotz ihrer genetischen Veranlagung nicht in der Lage, sich von allein zu regenerieren, daher erkrankte sie bereits auf der Rückreise an Denguefieber. Daheim angekommen, konnte sie kurzzeitig stabilisiert werden, nur um gleich darauf die nächste und übernächste Infektion zu bekommen. Eine Weile kämpfte sie verbissen dagegen an, doch sie wusste, dass William ihr nachspionieren ließ, denn schließlich rechnete er ja mit ihrer wundersamen Genesung – was ihm endlich den unumstößlichen Beweis für ein „Allheilmittel“ geliefert hätte. Obwohl dies eine Fiktion ist und möglicherweise auch bleiben wird, hätte Mum gerettet werden können – doch William war nicht bewusst gewesen, dass Mum bereit war, das Wohl vieler über ihr eigenes zu stellen: Sie entschied sich dafür, das Geheimnis nicht preiszugeben, und starb wenige Wochen nach ihrer Rückkehr, als ihr Körper zu schwach wurde, um zu kämpfen. Für ihre Umwelt und sogar für uns als ihre Familie hieß es, sie sei an akuter Leukämie gestorben.
Der enttäuschte William tappte anschließend ein weiteres Jahrzehnt im Dunkeln.
Immer noch frage ich mich, ob Mum das Richtige getan hatte. Ob es nicht möglich gewesen wäre, ihren Tod vorzutäuschen, sich behandeln zu lassen, uns einzuweihen. Es hätte allerdings unser Leben auf den Kopf gestellt, und wir wären womöglich ebenfalls früher oder später gezwungen gewesen unterzutauchen.
Was hätte das aus uns gemacht?
Sie wollte nicht für uns eine Wahl treffen und tat es daher nur für sich selbst. Manchmal ist jede Wahlmöglichkeit, die man hat, auf die eine oder andere Weise schlecht. Doch am Ende muss man wählen.
So einfach ist das.
Sie wählte ihren eigenen Tod.
Ich stehe hier oben an den Klippen, unter mir das Meer und die Felsen.
Auch ich muss mich jetzt entscheiden.
Als Einzige kenne ich nun die ganze Wahrheit.
Ich schließe die Augen und denke an jenen heißen Tag in London, an dem für mich die Folge von Ereignissen begonnen hat, die mich nun hierhergeführt haben. Ein mir unbekannter Mann namens Michael Kelley ist damals in meinen Armen gestorben, im Beisein eines merkwürdigen Fremden im dunklen Anzug. Einen Tag später wurde mir von einem anonymen Absender die Kette mit den Kristallen zugestellt. Als ich kurz darauf vor meiner unwillkommenen Verlobung mit meinem damaligen Freund Dan flüchten wollte, vermittelte Emrys mir eine Stelle in der Ysgol Glamaris, einem Eliteinternat auf Anglesey. Zu meiner Überraschung stellte sich heraus, dass deren Schulleiter der Mann im dunklen Anzug war: Duncan Featherston, der Sehr Ehrenwerte Lord Scratby, achter Baron Scratby of Norfolk. Im Laufe der Zeit kamen wir uns näher – sehr nahe, denn ich wurde ungeplant schwanger. Zufälle, die keine waren, sowie Familiengeheimnisse, denen ich nach und nach auf die Spur kam, waren nur der Anfang von allem. Als sich die Ereignisse schließlich überschlugen, wurde mir zu meinem Entsetzen klar, dass Duncan ein doppeltes Spiel trieb und mich schließlich ins britische Hauptquartier der Heredes brachte. Zu William.
Körperlich wie emotional verletzt, war ich am Boden zerstört. Und dann kam der Moment, als Duncan mich küsste und ich nicht den leisesten Schimmer hatte, wie es weitergehen sollte …
„Im Mittelspiel bewegt sich der Spieler zur Flanke des Spielfeldes, um von dort über die Diagonale angreifen zu können."
Das typische Lächeln huschte über seine Lippen.
„Morgen fahren wir zurück nach Glasmaris.“ Mit sanftem Druck fuhr sein Daumen über meinen Mund. „Dir wird nichts geschehen. Dir nicht. Und unserem Kind nicht.“ Seine Finger glitten durch meine Haare. „Alles wird gut, Caitlyn. Alles.“
Das glaubte ich allerdings nicht. Absolut nicht.
Ich schloss die Augen, als er mich zärtlich küsste.
Einfach stillhalten und bloß nicht darüber nachdenken, wie sehr ich ihn gemocht hatte … wie sehr ich ihn immer noch mochte!
Plötzlich wurde mir schwindelig. Unvermittelt krallte ich mich an Duncan fest, weil ich schwankte. Sein vertrauter Duft umgab mich, während er mich stützte.
„Du solltest dich setzen“, riet er mir leise.
Tausend Empfindungen stürzten auf mich ein, als er dabei, wie so oft in den vergangenen Wochen, sein Gesicht in meinem Haar vergrub und meinen Nacken liebkoste.
„Nein!“
Obwohl ich es nicht sehen konnte, kam es mir vor, als hebe er seine Brauen, doch er widersprach nicht, sondern hielt mich, bis sich mein Kreislauf beruhigt hatte.
„Geht es wieder?“, fragte er schließlich.
Ich brachte nur ein Nicken zustande, doch ich war wild entschlossen, stehen zu bleiben. Ohne mich aus den Augen zu lassen, holte er mir etwas zu trinken. Während das kühle Wasser in kleinen Schlucken durch meine Kehle rann, mied ich seinen Blick. Diese Situation war so widersinnig. Sein ganzes Benehmen war widersinnig.
Alles, alles war widersinnig!
Im Wald war er kalt gewesen, brutal. Er hatte mich geschlagen, gedemütigt. Und jetzt behandelte er mich, als sei ich aus Glas.
Ich stellte den Becher auf den Tisch und wandte mich ihm zu, eigentlich, um etwas zu sagen, doch ich brachte kein Wort heraus und schloss meinen Mund unverrichteter Dinge wieder. Offenbar empfand er es als Aufforderung, denn er trat auf mich zu und legte eine Hand an meine Wange.
„Du bist immer noch blass.“
Einem Impuls folgend, wollte ich seine Hand wegstoßen, doch dann kam mir ein Gedanke. Vielleicht war das ein Ausweg: Ich musste einfach so tun, als vertraute ich ihm.
Daher schmiegte ich mich an seine Hand und ließ es zu, dass er mich mit dem Daumen streichelte.
Weil mir mit einem Mal Tränen in die Augen traten, presste ich meine Lider zusammen, während ich krampfhaft ein Schluchzen unterdrückte, das in mir aufstieg. Ich durfte einfach nicht mehr darüber nachdenken, was jetzt war, sondern musste mich an den Gedanken klammern, wie es bis gestern zwischen und gewesen war! Sicher konnte ich ihn dann leicht täuschen. Ich würde mich treuherzig geben.
Ich trat vor, lehnte meine Stirn an seine Wange, verharrte einen Moment und hob dann mein Gesicht, um ihn zu küssen.
Ich spürte seine Überraschung, doch anstatt mich gewähren zu lassen, rückte er sachte von mir ab.
„Das ist keine gute Idee.“
Zwar hielt er mich immer noch am Ellbogen fest, doch er blieb auf einer Armlänge Abstand. Schluchzend presste ich die Hand auf meinen Mund.
Einem plötzlichen Impuls folgend, holte ich aus und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.
„Du verlogener Mistkerl!“, schrie ich und berührte die Stelle auf meiner Wange, an der mich vor wenigen Stunden die Knöchel seiner Hand getroffen hatten.
Er wandte den Blick ab und schritt durch den Raum. Schließlich legte er den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Unentschlossen machte er einen weiteren Schritt und nahm schließlich die Decke vom Sessel, um sie mir um die Schultern zu legen. Misstrauisch beobachtete ich ihn, doch ich ließ ihn gewähren. Der Abdruck meiner Hand war auf seiner blassen Wange gut zu erkennen.
„Danke“, murmelte ich, als ich die Decke vorn zusammenraffte.
Er nickte knapp, bevor er sich wieder von mir entfernte. Vor dem Sessel blieb er stehen, zögerte, dann setzte er sich.
„Ich weiß, es ist viel verlangt, wenn ich dich bitte, mir einfach zu glauben, dass ich zu keinem Zeitpunkt leichtfertig gehandelt habe“, sagte er schlicht.
Ich rieb mit Daumen und Zeigefinger über meine Nasenwurzel. Meine Gedanken fuhren immer noch Karussell, doch allmählich dämmerte mir, dass es komplizierter war, als ich gedacht hatte. Da es sinnlos war, weiter herumzustehen, ließ ich mich auf die Bettkante sinken.
„Ich weiß weder, was ich von dir halten soll, Duncan, noch, was ich dir überhaupt glauben kann.“
„Dann glaub mir wenigstens, dass ich dich hier herausholen will, Caitlyn.“
Ein neuer Schwindel erfasste mich, dazu eine Welle der Übelkeit. Ich hielt mir die Hand vor den Mund und schloss kurz die Augen, während ich ein paarmal durchatmete. „Gut“, sagte ich, als ich wieder riskieren konnte zu sprechen. Und da ich allein sowieso keine Chance haben würde, hier herauszukommen, fuhr ich fort: „Was ist dein Plan?“
Liebe Patricia!
Jetzt, da Rom von den US-Truppen erobert wurde, kann ich dir endlich von den Ereignissen der letzten Wochen und Monate berichten. Ich nehme an, du hast dir bereits Sorgen um mich gemacht, weil du nichts hörtest. Nun, wie du siehst, bin ich am Leben.
Ich musste im Februar Pottenstein überstürzt verlassen – warum, erkläre ich dir demnächst persönlich, doch es hat mit der jungen Frau zu tun, von der ich dir bereits berichtete.
Eine weitere gute Nachricht ist, dass ich Finolas Sohn bei mir habe!
Ja, du liest richtig! Ich habe den Kleinen, der mit seinen fast sechs Jahren schon sehr groß geraten ist, in meiner Obhut und werde ihn, so schnell ich eine Passage organisieren kann, zu dir bringen. Bisher hört er noch auf den Namen Siegfried und ist sehr scheu und ängstlich. Er spricht kaum und zuckt bei dem geringsten Geräusch zusammen. Ich erspare dir vorläufig die Details, doch ich bin sehr sicher, dass er seinen sadistischen Erzeuger nicht vermissen wird. Mir ist der Gedanke ein kleiner Trost, dass SS-Offizier Wagner in der Hölle schmort für die unsäglichen Dinge, die er seinem Sohn und unserer Finola angetan hat.
Möge Finola endlich in Frieden ruhen können!
Auch wenn der Krieg damals noch nicht in greifbarer Nähe war, hätte sie niemals nach Berlin kommen dürfen. Sie würde noch leben, hätte sie dieses Nazimonster Wagner, das sein wahres Gesicht so gut verstecken konnte, nicht kennengelernt.
Ich höre dich im Geiste sagen, dass sie uns auf Jägers Spur brachte, da ihr Junge nach ihrem Tod ins „Haus Sonnenschein“ kam. Du hast natürlich recht, doch du wirst mir zustimmen, dass immer ein bitterer Nachgeschmack bleiben wird. War es das Opfer wert, das unsere arme Finola dafür unfreiwillig gebracht hat?
Jäger selbst hat vor einigen Wochen begriffen, dass das Reich sich wahrscheinlich nicht mehr lange halten wird, und die Flucht ergriffen. Zum Glück hatte ich eine Informantin in seinen Reihen, daher wusste ich, dass er vorhat, die Klosterrouten zu nutzen, um außer Landes zu gelangen. Die katholische Kirche bekleckert sich nicht gerade mit Ruhm, wenn sie diesen Verbrechern hilft! Allerdings gelang es mir so, ihnen unauffällig über Südtirol bis nach Rom zu folgen. Bevor sie das letzte Schiff in Richtung Spanien nahmen, das den Hafen verließ, nutzte ich meine Chance, um Finolas Jungen seinem Erzeuger zu entreißen.
Ich musste mich jedoch entscheiden, daher ist meine Informantin noch immer bei Jäger. Sie ist mir lieb und teuer geworden, doch hat sie außerdem noch weitere sehr bemerkenswerte Eigenschaften, die ich dir bereits vor Monaten andeutete. Ich werde weiter nach ihr suchen, sofern du dich des Kleinen annimmst. Ich komme bald mit ihm zusammen nach Hause.
SFCE
Jacob
Patricia Grant und Finley McFarlane kamen überein, aus Sicherheitsgründen unterschiedliche Routen nach Großbritannien zu wählen, um die Suche nach Caitlyn aufzunehmen. Da Finley nicht zu warten bereit war, brach er, unmittelbar nachdem er gepackt hatte, zu der vierstündigen Fahrt nach Halifax auf, um von dort den nächsten Flug nach Europa zu nehmen. Er würde schnellstmöglich einen Weg finden, um nach Großbritannien zu reisen und nach Anglesey zu gelangen. Patricia hingegen hatte vor, am folgenden Abend den 23-Uhr-Flug von St. John’s nach Dublin und von dort die Fähre nach Holyhead auf der walisischen Insel Anglesey zu nehmen.
Finley gegenüber hatte sie vorgegeben, am nächsten Tag noch die Betreuung ihrer Pferde während ihrer Abwesenheit organisieren zu müssen, in Wahrheit kostete sie das jedoch nur zwei Anrufe. Spätestens um vier Uhr am folgenden Nachmittag würde sie mit ihrem Auto ins zwei Stunden entfernte Port Hawkesbury aufbrechen, um sich von dort mit einem privaten Charterflug nach St. John’s bringen zu lassen – auch für diesen benötigte sie nur einen Anruf. Das Packen ihres kleinen Handgepäckkoffers erledigte sie ebenfalls noch am Abend, und als sie schließlich in ihrem Bett lag und in Gedanken noch einmal alles durchging, was vor ihrer Abreise arrangiert werden musste, fiel ihr nichts weiter ein. Sie hätte friedlich schlafen können. Innerlich war sie jedoch so unruhig, dass sie sich zwingen musste liegen zu bleiben. Mit geschlossenen Augen verharrte sie bewegungslos in der Dunkelheit und dachte an das, was ihr bei den Erinnerungen an Opa John durch den Kopf gegangen war. Sie hatte Emrys’ taktisches Kalkül unterschätzt. Sein Besuch bei ihr Anfang letzten Septembers war keine Willkür gewesen, insbesondere, dass er als Treffpunkt die Felsformation beim Loch Corran vorgeschlagen hatte, die sie Cailleach bàn getauft hatte.
Emrys hatte damals angeblich die Nacht dort in der Höhle verbringen wollen. Ob er es getan hatte oder nicht: In jedem Fall hatte er ihre Aufmerksamkeit auf diese Höhle lenken wollen, nur hatte sie das erst jetzt begriffen. Und daher musste sie dorthin, bevor sie nach Anglesey aufbrach.
Finley hätte entweder versucht ihr den Plan auszureden oder sich verpflichtet gefühlt mitzukommen. Weder das eine noch das andere war zielführend, daher hatte sie ihm ihr Vorhaben verschwiegen.
Unter Aufbringung aller Willenskraft gelang es ihr schließlich doch einzuschlafen.
Das Thermometer zeigte zwölf Grad unter dem Gefrierpunkt, als sie am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang vor die Tür trat. Patricia trug ihre Thermounterwäsche sowie einen warmen, aber bequemen Anzug. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Ihre Schneeschuhe hatte sie außen an ihrem Rucksack befestigt, der neben heißem Tee und etwas zu Essen noch eine weitere Lage Kleidung und einen Notfall-Biwaksack enthielt. Sicher war sicher. Zu Pferd brauchte sie für die Strecke bis Cailleach bàn mehr als drei Stunden, doch jetzt im Winter war es wegen des tiefen Schnees kaum möglich, die Strecke zu reiten. Selbst wenn sie einen Versuch würde wagen wollen, müsste sie eine längere Zeit einkalkulieren – Zeit, die sie heute nicht hatte.
Ein Motorgeräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Langsam ging sie über den Hof, dem Brummen entgegen, das sich ihr wie eine aufgeregte Hummel von der Zufahrt her näherte. Selbst in der Dämmerung konnte sie bereits den aufgewirbelten Pulverschnee sehen, der hinter dem Schneemobil wie eine Staubwolke in die Luft stieg.
Schließlich hielt der Fahrer direkt vor ihr an.
„Morgen, Pat!“ Der Mann schob das Visier seines Helms hoch und machte den Motor aus. „Bereit für eine Fahrt durch den Tiefkühlschrank?“ Er schüttelte sich demonstrativ, während er ein heiseres Lachen von sich gab. Sein schwarzgrauer Schnurrbart zuckte, und seine kleinen dunklen Augen blitzten vor Heiterkeit. Selbst mit Helm war eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Seehund unverkennbar.
„Greg!“, grüßte Patricia ihn, während sie eine Sturmhaube aus ihrer Jackentasche holte. „Danke fürs Kommen!“
„Kein Ding.“ Lässig zuckte Greg mit den Schultern und tippte sich dann an den Kopf. „Ich hab noch einen zweiten dabei. Hoffe, der passt.“ Er stieg vom Sitz, den er hochklappte und dann den darin befindlichen Helm Patricia reichte. Darunter befand sich seine Ausrüstung.
Die hatte es endlich geschafft, ein paar besonders widerspenstige Haare unter die Sturmhaube zu schieben. „Wird schon reichen“, sagte sie, als sie den Helm entgegennahm. Er war zwar etwas groß, doch besser als ein zu kleiner, der das Gefühl des Eingesperrtseins noch verschärft hätte.
Moderne Integralhelme hatte sie noch nie leiden können. Mit Wehmut dachte sie an frühere Zeiten zurück, in denen sie jedes Fahrzeug selbst gesteuert hatte. Das erste Motorrad, auf dem sie gesessen hatte, war die nagelneue Triumph, Type H, Baujahr 1915, ihres Vaters Archibald gewesen. Heimlich, versteht sich. Einen Helm hatte sie natürlich nicht getragen, höchstens eine Lederkappe und eine Motorradbrille. Das Gefühl unendlicher Freiheit, wenn ihr der Fahrtwind um die Nase wehte, hatte sie immer geliebt.
„Also?“, fragte Greg.
„Verzeih“, seufzte Patricia, die bemerkte, dass Greg wohl vorher schon etwas gesagt haben musste. „Ich hab nicht zugehört. Ich glaube, ich werde alt.“
Greg lachte wieder sein heiseres Lachen. „Du? Wer freiwillig ein paar Stunden mit mir in dieser Kälte auf dem Ding hier“, er tätschelte das Schneemobil, „unterwegs sein will, der ist aus hartem Holz geschnitzt und alles, bloß nicht alt.“
„Tiefkühlkost hält länger frisch“, bemerkte Patricia trocken. „Also los.“
Beide stiegen auf, Patricia hielt sich an Greg fest.
„Und wohin geht es nun?“
„Nordwesten“, rief Patricia.
„Aye!“, antwortete Greg und startete die Maschine.
Die Fahrt war lang und anstrengend. Patricia hätte die Tour lieber dreimal hintereinander zu Pferd gemacht, und mit Schaudern dachte sie bereits nach der Hälfte der Strecke an die Rückfahrt. Greg war ein erfahrener Schneemobilpilot, daher hatte sie keine Angst bei dem halsbrecherischen Tempo, das er vorlegte, wann immer es die Gegebenheiten zuließen. Doch sie war froh, als sie schließlich die sichelförmige Ebene des zugefrorenen Loch Corran erblickte, neben der sich die skurrile Felsformation erhob, die aus der Entfernung wirkte wie ein vom Alter gebeugtes Weib. Mit einem Klopfen auf seine Schulter bedeutete sie Greg anzuhalten. Es war ungefähr dieselbe Stelle am Fuß der Felsen, an der sie im September Emrys begegnet war. Am Rand des flachen Bachlaufs hatte sich Eis gebildet.
Sie stieg ab. Cailleach bàn, dachte sie, so sehen wir uns wieder. Welches Geheimnis mochten die gleichnamigen keltischen Riesinnen hüten, die der Sage nach in Gestalt einer alten Frau daherkamen? Eigentlich passend, dachte Patricia, denn auch sie fühlte sich in letzter Zeit genau so: wie eine alte Frau.
Nachdem Greg den Motor ausgemacht hatte, fragte er: „Und jetzt?“ Er rieb sich die Hände.
Patricia nahm den Helm ab und reichte ihn Greg. „Ab hier muss ich allein weiter. Ich brauche eine Stunde.“ Zumindest hoffte sie das. Wenn sie länger brauchte, würde Greg jedenfalls nicht einfach wegfahren und sie hier zurücklassen.
Greg runzelte die Stirn. „Okay“, sagte er gedehnt.
„Ich hab Tee dabei und mach mir ein Feuer, dann werd ich’s wohl aushalten. Du weißt ja: Made in Scotland.“ Er schlug sich auf die Brust.
„Danke, Greg.“
Patricia klopfte ihm auf die Schulter, bevor sie ihre Schneeschuhe anlegte und Greg ihren Rucksack reichte. „Lass mir was übrig!“
Er schielte hinein und grinste bei dem Anblick. „Vielleicht.“
Sie schritt das kurze Stück im tiefen Schnee den Bachlauf entlang, bis sie den Pfad erreichte, der bergauf führte. Gregory Grant stellte nie unnötige Fragen. Auf ihn konnte sie sich stets verlassen.
Als sie bergauf stapfte, fluchte sie. Trotz der Schneeschuhe war jeder Schritt mühsam, und ihre Muskeln brannten bald. Die Quittung würde sie in den nächsten Tagen bekommen, wenn die Schmerzen in Muskeln und Gelenken sie nachdrücklich daran erinnerten, sich nicht mehr alles zuzumuten. Sie schob den Gedanken beiseite. Wenn schmerzende Gelenke die einzigen Probleme waren, die die kommenden Jahre für sie bereithielten, dann konnte es ruhig noch lange so weitergehen.
Endlich erreichte sie die Stelle, an der sie und Emrys ein Lagerfeuer gemacht hatten und Emrys erwähnte, in der Höhle übernachten zu wollen. Vorsichtig stieg sie über die schneebedeckten Felsen, bis sie den von einem jahrhundertealten Felssturz fast gänzlich verborgenen Höhleneingang fand. Sie zog ihre Schneeschuhe aus und deponierte sie neben dem Eingang. Sie löste ihre helle Stabtaschenlampe vom Gürtel und stieg in den Eingang hinein. Es war eine Höhle, wie es unzählige in den Bergen gab. Zurzeit war es drinnen wärmer als draußen, und es roch modrig, dies war nicht unbedingt ein heimeliger Schlafplatz – und nichts zeugte mehr davon, dass Emrys hier im letzten Sommer übernachtet hatte.
„Oh, verflixt!“
Das war ihr herausgerutscht, kaum dass der Gedanke aufgeblitzt war. Emrys kannte sie gut. So gut, dass ihm klar gewesen sein musste, dass ihr die Frage, warum er hier gewesen war, irgendwann keine Ruhe mehr lassen würde. Doch möglicherweise hatte er damit gerechnet, dass sie früher herkäme. Niemand außer ihr kannte den Platz, und insgeheim schien er sie damals zur Hüterin seines Geheimnisses erkoren zu haben, als er ihr empfahl, sich hier in der Nähe eine Farm zu kaufen.
Er verließ sich auf ihren Instinkt. Darauf, dass sie beizeiten die richtigen Schlüsse ziehen würde. Emrys wollte, dass sie sich in dieser Höhle umsah. Er wollte, dass sie etwas fand. Und er wollte es, weil er glaubte, dass Patricia irgendwann zum Handeln gezwungen war. Aber warum?
„Also gut.“ Die Wände um sie herum ließen ihre Stimme seltsam hohl klingen.
Sie hatte weder eine Ahnung, was genau sie eigentlich suchte, noch, wo es sich befinden mochte, doch mit einer Gründlichkeit, die vielen Frauen zu eigen war, begann sie, die Höhle zu durchkämmen. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten, denn hinter einem der zahlreichen Steinhaufen verbarg sich eine Spalte, die in steilem Winkel hinab und weiter in den Berg führte. Patricia hatte zwar noch nie unter Platzangst gelitten, doch je niedriger und schmaler die Spalte wurde, desto mulmiger wurde ihr. Sie war erleichtert, als sie in eine größere Höhle gelangte, von der mehrere Gänge abzweigten.
„Grandioses Versteck, Emrys“, murmelte sie. „Und jetzt?“
Sie hatte nicht die richtige Ausrüstung dabei, um das vor ihr liegende Höhlensystem zu erforschen, doch so schnell wollte sie nicht aufgeben. Sie war sicher, dass es einen Hinweis gab, wohin sie sich wenden sollte. Während sie die Felswände ableuchtete, glaubte sie plötzlich, ein leises Plätschern wahrzunehmen. Sie löschte das Licht und hielt den Atem an. Völlig auf ihr Gehör konzentriert, verharrte sie in der Dunkelheit.
Wasser!
Mit behutsam tastenden Schritten bewegte sie sich mal hierhin, mal dorthin, bis sie die Richtung, aus der es kam, gefunden hatte. Dann schaltete sie die Lampe wieder ein, damit sie dem leicht abwärtsführenden Gang folgen konnte. Mit jedem Schritt wurde das Geräusch fließenden Wassers lauter, und es dauerte nicht lange, bis sie auf einen unterirdischen Bachlauf traf, der vermutlich den Loch Corran speiste. Das Wasser floss durch eine Grotte, in der unzählige Stalaktiten von der Decke herabhingen. Stalagmiten unterschiedlichster Größe wuchsen überall aus dem Boden. Ein Spalt zog sich an der Höhlendecke weit nach oben. Ihr Blick folgte dem Strahl der Taschenlampe, den sie so weit wie möglich hinaufgleiten ließ. Auf ihrem Gesicht fühlte sie einen kühlen Windhauch. Sie löschte das Licht.
Dort oben konnte sie ein Stück Himmel erkennen. Ihre Armbanduhr sagte ihr, dass beinahe Mittag war, doch der Himmel war verhangen. Im Sommer, wenn die Sonne an ihrem höchsten Punkt stand, war es sogar möglich, dass ihre Strahlen bis hier herunterreichten.
Grübelnd schaltete Patricia die Lampe wieder ein, deren Licht von den glänzenden Mineralen hundertfach reflektiert wurde. Plötzlich hielt sie inne. Vorsichtig, um auf dem glitschigen Boden nicht auszurutschen, ging sie zu einer Höhlenwand.
Dort waren mehrere Zeichen in den Stein geritzt und mit Kohle geschwärzt worden. Mit ihrem Zeigefinger wischte sie leicht darüber. Die Kohle war recht frisch, die Rillen waren sicher schon länger dort. Aufmerksam sah sie sich um. Sie brauchte nicht lange zu suchen, bis sie noch weitere fand. In regelmäßigen Abständen an den Wänden verteilt wirkten sie wie Worte einer ihr unbekannten Sprache. Nacheinander untersuchte Patricia sie und versuchte, den Sinn zu entschlüsseln. Sie war darin ausgebildet worden, Codes zu entwickeln und zu lesen, doch dieser hier folgte keiner der ihr vertrauten Regeln – und doch kamen die Zeichen ihr bekannt vor. Sie war sich sicher, sie schon einmal gesehen zu haben, nur wo? Und wann?
Unschlüssig, was sie nun anfangen sollte, ging sie in die Hocke, um Wasser zu schöpfen. Es war eisig, schmeckte aber herrlich, klar und rein. Sie benetzte auch ihr Gesicht und genoss die Kühle. Von ihrem Standort aus leuchtete sie jede einzelne Zeichenfolge noch einmal an.
Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben.
Sie runzelte die Stirn und zählte noch einmal.
Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben.
Sieben.
Wie der siebenzackige Stern auf dem Anhänger der Kette mit den Kristallen, die Caitlyn im letzten Jahr erhalten hatte. Nicht zum ersten Mal fragte sich Patricia, warum Caitlyn mit Fieber darauf reagiert hatte. Das war sehr ungewöhnlich.
Patricia veränderte ihre Position, ein paar Schritte vor und zurück, nach links, nach rechts. Als sie unterhalb der Öffnung, zwischen dem Wasserlauf und einem Stalagmit, stehen blieb, bekam sie vom Luftzug, der ihren Nacken traf, eine Gänsehaut. Blitzartig durchfuhr sie die Erkenntnis. Weder war die Anordnung der Worte zufällig, noch war dieser Ort zufällig gewählt.
Hier tief unter der Erde, wo das rauschende Wasser die Luft in Bewegung versetzte und an wenigen Tagen im Jahr das wärmende Feuer der Sonne mittags die Erde zu ihren Füßen streifte, bildeten die Worte die Spitzen eines siebenzackigen Sterns. Sie kannte die Bedeutung nicht, aber als hätte jemand einen Schleier gelüftet, hörte sie im Geiste ihren Klang, wie eine wunderschöne Melodie, vorgetragen von Johns sonorer Stimme.
Sie brauchte nur Sekunden, bis sie wieder fündig wurde. Einen mit dünnen, fast unsichtbaren Linien in den Felsboden geritzten fünfzackigen Stern, der den Fuß des Stalagmits einschloss. Behutsam versuchte Patricia, den hüfthohen Tropfstein zu bewegen. Obwohl sie damit gerechnet hatte, hielt sie die Luft an, als er sich mit einer Drehung ganz leicht vom Boden löste. Wie ein rohes Ei legte sie ihn auf die Seite und sank auf die Knie, um darunterzusehen. Auf der Unterseite des Tropfsteins erkannte sie eine kreisförmige Linie. Mithilfe der Klinge ihres Taschenmessers, die sie vorsichtig in die Fuge schob, gelang es ihr, den Stopfen zu lösen. Ihr fiel ein zylinderförmiger Behälter entgegen. Sie zögerte. Doch dann drehte sie vorsichtig den Verschluss, der mit einer Gummidichtung versehen war, um den empfindlichen Teil des Inhalts gegen Feuchtigkeit zu schützen. In einer kleinen Tüte befanden sich mehrere Dutzend ungeschliffene Kristalle unterschiedlicher Farben. Eine längliche Rolle war sorgfältig in ein altes Wachstuch eingeschlagen und mit einem Stoffband umwickelt. Vorsichtig löste sie den Knoten, entrollte die Verpackung und warf einen Blick auf das darin enthaltene Pergament.
„Um Himmels willen …“
Sie war froh, dass sie kniete, denn ihre Beine hätten sie nicht mehr getragen, und sie brauchte ein paar Minuten, bis das Zittern ihrer Hände so weit nachgelassen hatte, dass sie alles wieder so verstauen konnte, wie sie es vorgefunden hatte. Dann stellte sie den Tropfstein wieder auf, sodass er fest und unverrückbar schien, und legte ihre Hand auf den Stein.
Es war die Bestätigung einer nie ganz zu Ende gedachten Ahnung. Sie atmete tief durch, bevor sie sich auf den beschwerlichen Rückweg machte.
Als sie aus der Höhle trat, hatte der Wind aufgefrischt und es kam ihr vor, als sei die Temperatur um einige Grade gesunken. Patricia fühlte die Kälte bis ins Knochenmark. Sie atmete tief durch.
„Der Rückweg wird kein Spaß“, murmelte sie und beobachtete sorgenvoll die dunklen Wolken, die sich am Horizont auftürmten. „Da zieht ein Sturm auf.“
Jedes Zeitgefühl war mir abhandengekommen.
Am Rand des schmalen Bettes lag ich auf der Seite, hinter mir Duncan, der sich an mich geschmiegt hatte. Sein rechter Arm lag locker auf meinem Oberarm. Obwohl ich es wahrscheinlich nicht sollte, genoss ich sowohl seine Nähe als auch die Wärme, die ich durch meinen dünnen Baumwollschlafanzug ganz unmittelbar fühlte.
Wie lange ich bereits wach lag, konnte ich nicht sagen, doch eine gefühlte Ewigkeit starrte ich in das Zwielicht, das von einem Dauerlicht am Boden ausging, und lauschte dem leisen Brummen der Ventilation. Die Luft war weder frisch noch abgestanden, doch die Abwesenheit von natürlichen Aromen machte mich unruhig. Trotzdem versuchte ich mich möglichst wenig zu bewegen, um weiter den Anschein zu erwecken, ich schliefe. Ich wollte lieber die Gelegenheit nutzen, allein meine Gedanken zu ordnen, ohne dass Duncan mir etwas einredete oder ich schon wieder etwas Voreiliges tat oder sagte.
Ich unterdrückte einen Seufzer.
Was ich Duncan gegenüber fühlen sollte, wusste ich immer noch nicht. Ich hatte allerdings die Aussage ernst gemeint, dass ich ihm glaubte, er wolle mich hier herausholen.
Gerade als er angesetzt hatte, mir seinen Plan zu erläutern, hatte ich mich jedoch erneut übergeben müssen. Anschließend hatte Duncan darauf bestanden, dass ich mich hinlegte, und er hatte mich mit Wasser und Tee und einem Medikament gegen die Übelkeit versorgt und die Decke über mich gebreitet. Die Erlebnisse und Verletzungen hatten endgültig ihren Tribut gefordert. Ausgebrannt und leer hatte ich kaum noch einen klaren Gedanken fassen können und erbärmlich gefroren. Kurzerhand hatte Duncan das Deckenlicht gelöscht und sich zu mir gelegt, um mich zu wärmen. Zu müde, um zu protestieren oder gar Widerstand zu leisten, hatte ich ihn einfach gewähren lassen. Seine Nähe und Wärme hatten mich eingelullt, und die geradezu hypnotische Wirkung seiner regelmäßigen Atemzüge hatte ihr Übriges getan, um mich schnell einschlafen zu lassen.
Wie lange ich geschlafen hatte, konnte ich beim besten Willen nicht einschätzen, doch es war lange genug gewesen, um mich einigermaßen ausgeruht und körperlich deutlich besser zu fühlen. Im Liegen spürte ich keine Schmerzen, und auch die Übelkeit war bisher nicht zurückgekehrt.
Im Prinzip also gute Voraussetzungen, um mich der Situation gewachsen zu fühlen und die Geschehnisse in Ruhe zu analysieren.
Auch wenn mir dieser Ort einsamer vorkam als Anglesey, glaubte ich, dass sich in diesem unterirdischen Labor nicht wenige Menschen befanden. Wenn ich genau lauschte, konnte ich Schritte hören, das Öffnen oder Schließen von Türen, Stimmen. Zunächst ließ ich jede Sekunde, ab dem Moment im Wald, in dem ich realisiert hatte, dass Duncan mit Jäger unter einer Decke steckte, bis zu dem Moment, in dem ich eingeschlafen war, Revue passieren. Das Ergebnis war wie erwartet ernüchternd. Meine Möglichkeiten als begrenzt zu bezeichnen war in jedem Fall die Untertreibung des Jahrhunderts. Ohne mich zu bewegen schielte ich auf den dunklen Umriss des mit Sprengstoff und einem GPS-Sender versehenen Armreifs an meinem rechten Handgelenk, den Duncan mir gestern angelegt hatte. Er hatte mir versichert, dass er der Einzige war, der den Code besaß. Auch wenn ich in Anbetracht seiner Gefühle für mich kaum damit rechnete, dass er mich in die Luft sprengte, war es mir unheimlich. Lieber früher als später wäre ich das Ding gerne los, doch ich musste einen Schritt nach dem anderen machen, und der Armreif war momentan mein geringstes Problem. Zunächst musste ich hier raus, um irgendwie mit Emrys Kontakt aufnehmen zu können. Obwohl auch er mir vieles verschwiegen hatte, schien er der Einzige zu sein, der mir helfen konnte, aus dem Gedankengewirr in meinem Kopf ein klareres Bild davon zu formen. Ich wollte endlich verstehen, worum es wirklich ging.
Ich wusste, dass Hunter an die Existenz eines außergewöhnlich leistungsfähigen Immunsystems glaubte, das in irgendeiner Weise vererbbar war. Etwas, das man mit den geeigneten Mitteln auch anderen Menschen zur Verfügung stellen konnte, um so Krankheiten zu besiegen. Eine Art Allheilmittel. Hunter glaubte, dass der Kristall, den wir im British Museum von George Mallory bekommen hatten und der nun in seinem Besitz war, der Schlüssel dazu sei. Laut Duncan war es jedoch nur ein geschicktes Täuschungsmanöver, und in Wahrheit sei ich der Schlüssel zum Erfolg.
Beinahe hätte ich gelacht, denn das war absurd. Immerhin schien Duncan seine These nicht mit Hunter besprochen zu haben. Dies und all die anderen Dinge, die Duncan mir erzählt hatte, ließen mich zu dem Schluss gelangen, dass er tatsächlich nicht völlig auf Hunters Seite stand. Um hier herauszukommen, musste ich nun also Duncan vertrauen oder zumindest so tun, als täte ich es.
Das war der Punkt, an den ich bereits am Vortag gelangt war, und ihm vorzuspielen, dass ich ihm vertraute, war nach hinten losgegangen. Meine Gedankengänge hatten mich keinen Schritt weitergebracht.
Diesmal seufzte ich tief.
Duncan streichelte meinen Oberarm. Offenbar hatte auch er schon länger wach gelegen. Den Kloß im Hals schluckte ich entschlossen herunter. Meine ambivalenten Gefühle für ihn hatten jetzt keine Priorität.
Ich wartete noch einen Moment, bevor ich mich rekelte.
Er strich meinen Arm entlang, bis zu meinen Fingern und wieder hinauf. Schließlich glitt seine Hand unter die Decke zu meinem Bauch, wo er sie unterhalb des Bauchnabels ruhen ließ und nur ganz sachte seinen Daumen hin und her bewegte, so als wollte er Kontakt aufnehmen zu dem kleinen Wesen, das in mir wuchs. Der Kloß in meinem Hals war prompt wieder da. Ziemlich abrupt fuhr ich hoch.
„Morgen“, murmelte ich und rieb mir heftig über das Gesicht, um meine brennenden Augen in Schach zu halten.
Ich schlüpfte in die Filzpantoffeln, machte Licht und marschierte ins Bad. Die Hände auf das Waschbecken gestützt, lehnte ich die Stirn an den kühlen Spiegel.
„Reiß dich zusammen, verflixt noch mal“, murmelte ich.
Wie genau ich weiter vorgehen sollte, war mir allerdings immer noch schleierhaft. Ein Stratege war an mir eher nicht verloren gegangen, daher konnte ich nur eins tun: einen Schritt nach dem anderen machen und dabei lediglich mein Fernziel im Auge behalten, möglichst bald mit Emrys zu reden.
Energisch wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser, wobei ich den Bereich um die Platzwunde an meiner rechten Wange aussparte, obwohl sie schon deutlich besser aussah als gestern. Übelkeit spürte ich ebenfalls nicht, und insgesamt fühlte ich mich ziemlich normal. Nicht einmal besonders kalt war mir. Der Schlaf hatte mir eindeutig gutgetan.
Duncan, der T-Shirt und Shorts trug, saß auf der Bettkante und musterte mich kritisch von oben bis unten, als ich zurückkam.
„Mir ist nicht schlecht“, verkündete ich, wobei ich mich an einem Lächeln versuchte, was mir auch halbwegs gelang.
Er nickte stirnrunzelnd. „Geh zur Tür.“
„Warum?“, fragte ich verwirrt.
„Zur Tür. Und dann zum Schreibtisch. Ein paarmal.“ Er wedelte mit der Hand, um mir anzudeuten, was er meinte.
Schulterzuckend tat ich, was er wollte, und legte die wenigen Schritte hin und her mehrmals zurück. Am Schreibtisch blieb ich schließlich stehen. „Und jetzt?“
Er stand auf und kam zu mir, fasste mein Kinn und unterzog mein Gesicht einer eingehenden Prüfung. Dann bedeutete er mir, mich auf den rotbraunen Ledersessel zu setzen, schob mein Hosenbein hoch und wickelte den Verband von meinem verletzten Knie ab. Vor mir hockend rieb er sich schließlich die Nase, während er auf mein Bein starrte, als wolle er es hypnotisieren.
„Hast du noch irgendwo Schmerzen?“
Ich bewegte mein Bein und tippte vorsichtig neben die Wunde in meinem Gesicht. „Es zieht ein bisschen. Warum?“
Er stand auf. Mit gelupfter Braue begutachtete er meinen rechten Wangenknochen, den er gestern mit Klammerpflastern versehen hatte, und die Stelle an meiner linken Wange, die er gestern getroffen hatte.
„Das Ziehen kommt wahrscheinlich nur von den Klammerpflastern. Deine Verletzungen im Gesicht sehen nach einer Nacht aus, als seien sie schon Tage alt. Ist dir das nicht aufgefallen?“
Ich schüttelte den Kopf. Erst jetzt, wo er es ansprach, wurde mir klar, dass ich beim Waschen eigentlich nur wegen der Klammerpflaster behutsam vorgegangen war, nicht, weil es schmerzte.
„Dein Knie ist sogar abgeschwollen“, fuhr Duncan fort.
„Und?“, erwiderte ich schulterzuckend. Ich war froh darüber, dass es mir wieder gut ging.
„Und?“, wiederholte er und sah mich auffordernd an, wie es nur Lehrer tun, wenn sie einem Schüler auf die Sprünge helfen wollen.
„Und wo liegt das Problem?“, fragte ich nun im ganzen Satz, weil mir nicht klar war, worauf er eigentlich hinauswollte.
„Das Problem ist“, begann er geduldig, „dass es ungewöhnlich ist und William wahrscheinlich auffallen wird.“
„Oh“, murmelte ich, weil ich plötzlich verstand.
Ich ging ins Bad, um mein Gesicht zu inspizieren. Die Abschürfungen auf meinem rechten Wangenknochen, der bei meinem Sturz vom Felsen Bekanntschaft mit etwas Spitzem gemacht hatte, waren sauber verschorft, die Haut kaum merklich verfärbt. Die Platzwunde war nur noch ein hellroter Strich. Meine linke Wange schmerzte lediglich, wenn ich exakt auf die Stelle drückte, an der mich Duncans Knöchel getroffen hatten. Bei genauem Hinsehen war eine ganz leichte Verfärbung auszumachen.
Ich kehrte zurück ins Zimmer. „Glaubst du, William könnte mit mir dasselbe vorhaben wie mit Mum?“ Bei diesem Gedanken wurde meine Kehle eng.
Duncan saß inzwischen auf dem Bett, die Ellbogen auf seine Knie gelegt, den Blick vor sich ins Leere gerichtet. Dass er mir eine Antwort schuldig blieb, gefiel mir überhaupt nicht.
Ich ging auf Duncan zu, doch in diesem Moment traf mich die Erkenntnis wie ein Hieb in die Magengrube: Zwar waren mein Bruder Henry und ich nur selten krank gewesen, Verletzungen waren stets schnell und unproblematisch verheilt – doch die Geschwindigkeit, mit der ich mich innerhalb einer Nacht erholt hatte, war selbst für mich mehr als nur ungewöhnlich!
Wie angewurzelt blieb ich stehen.
„Was ist?“ Duncan musterte mich skeptisch.
Ich hatte das Gefühl, es sei besser, meine Gedanken vorerst für mich zu behalten. Da Duncan mich jedoch ziemlich gut kannte und nicht lockerlassen würde, blieb mir nur die Flucht nach vorn. „Was ist? Was glaubst du denn, was ist?“, schnappte ich. „Wenn William das sieht, wird er misstrauisch, und ich habe nicht die Absicht, wie Mum zu sterben, herrje!“
„Natürlich nicht!“, beschwichtigte er.
„Also was tun wir jetzt?“ Ich bemühte mich um einen möglichst zickigen Tonfall, einerseits, um ihn weiter abzulenken, andererseits, weil es meiner Gefühlslage entsprach.
Kurz verengte er die Augen, was mir signalisierte, dass ihm meine ungewöhnliche Kratzbürstigkeit nicht entging, doch zu meiner Erleichterung beließ er es dabei. Möglicherweise schob er es auf die Schwangerschaft, denn schon am Freitagabend hatte ich ihm ja eine Demonstration hormonbedingter Stimmungsschwankungen geliefert.
„Ich besorge Kochsalzlösung.“ Er stand auf.
„Wozu?“
„Subkutan injiziert oder noch besser als Infusion verabreicht, verursacht sie Schwellungen. Je nach Menge, absorbiert der Körper die Kochsalzlösung innerhalb von wenigen Stunden. Es ist völlig schmerzlos“, versicherte er, während er sich anzog, „und dient dazu, deine Verletzungen ihrem normalen Grad entsprechend zu simulieren.“
„Und wenn wir länger als ein paar Stunden hier sind?“
Seine Antwort kam verzögert. „Dann lassen wir uns etwas Neues einfallen. Ich besorge alles Nötige.“ Schon legte er die Hand auf die Klinke.
„Duncan?“
Fragend blickte er über seine Schulter.
„Wird es nicht auffallen, wenn du das Zeug hierherholst, anstatt mich in ein Krankenzimmer zu bringen?“
„Lass das meine Sorge sein“, sagte er und war im nächsten Moment verschwunden.
Tief seufzend rieb ich mir die Nasenwurzel und untersuchte der Vollständigkeit halber meine Zehen. Die Blase war ebenfalls verheilt. Da meine Füße in Strümpfen und Schuhen stecken würden, war das sicher kein Problem, doch mein Gesicht sollte nach nur einem Tag wirklich nicht so aussehen wie momentan. Auch meine Hände, die gestern ein paar kleinere Kratzer aufgewiesen hatten, sahen wieder aus wie vorher. Da ich allerdings, bedingt durch die Platzwunde, Blut an meinen Händen gehabt hatte, würde das wahrscheinlich auch nicht auffallen.
Ich ließ mich rückwärts auf das Bett fallen. Noch nie hatte ich mir besonders viel Gedanken um irgendwelche gesundheitlichen Probleme gemacht – warum auch? Es handelte sich in der Regel um Kleinigkeiten, die ich schnell wieder vergessen hatte. Dass mein außergewöhnlich guter Gesundheitszustand etwas Besonderes war, hatte ich gar nicht wahrgenommen. Umgekehrt, also wenn ich ständig krank gewesen wäre, wäre es mir sicher aufgefallen. Die einzige Ausnahme von der Regel fiel mir daher auch gleich ein: Im letzten Sommer hatte ich in der Woche vor meiner Abreise nach Anglesey hohes Fieber gehabt. Es war aus dem Nichts gekommen und genauso schnell wieder verschwunden. Mangels anderer Symptome hatten sowohl Dad als auch Henry auf irgendeinen Virus getippt und mich mit der Mahnung, viel zu trinken, ins Bett geschickt. Kaum war es vorbei gewesen, ging es mir blendend wie eh und je.
Vielleicht war es Zufall gewesen, und es war tatsächlich ein Virus, der mich erwischt hatte.
Doch inzwischen hatte ich berechtigte Zweifel daran.
Was hatte dieses Fieber ausgelöst?
Grübelnd ging ich zum dritten Mal ins Bad, um mir ein Glas Wasser einzuschenken, dabei starrte ich mich im Spiegel an. Im grellen Licht der Badezimmerbeleuchtung funkelten meine Augen beinahe saphirblau. Mum hatte grüne Augen gehabt. Wie Hunter. Wie Karoline.
Jadegrün.
Saphirblau.
Wie die Kristalle der Kette, die mir im letzten Sommer ein Unbekannter auf meiner Fahrradtour an die Südküste hatte zukommen lassen!
Blau, grün, gelb, braun, violett, weiß und schwarz waren die Steine. Schillernd und bunt wie ein Regenbogen waren sie eingebettet in ein geheimnisvolles Amulett an den Enden eines siebenzackigen Sterns. Verschlungene Muster und Zeichen sowie ein fünfzackiger Stern waren ebenfalls eingraviert.
Ähnliche Muster hatte ich auch bei einer anderen Gelegenheit zu Gesicht bekommen: in einer Vitrine im British Museum. Die Objekte hatte ich nicht genauer unter die Lupe nehmen können, denn ich war von George Mallory unterbrochen worden. Im Zuge der nachfolgenden Ereignisse hatte ich nicht mehr darüber nachgedacht. Bis jetzt.
Soweit ich mich daran erinnern konnte, waren die Objekte allesamt irgendwelchen mystischen Zwecken gewidmet gewesen.
Ich unterbrach den Blickkontakt zu mir selbst und schüttelte den Kopf.
Mystik.
Okkultismus.
An so etwas hatte ich nie geglaubt. Was auch immer sich zwischen Himmel und Erde abspielte, war für mich mit absoluter Sicherheit wissenschaftlich erklärbar.
Konnten diese rätselhaften Kristalle wirklich der Grund dafür sein, dass sich meine Selbstheilungskräfte derart verbessert hatten?
Ich hatte die Kette mit den Kristallen zu Anfang häufig getragen, doch irgendwann ohne einen bestimmten Anlass oder Grund damit aufgehört. Sie lag nun in der Kiste mit den Fotos und Briefen in meinem Zimmer.
Ich hörte, wie sich die Zimmertür öffnete.
„Du spinnst“, sagte ich ernsthaft zu meinem Spiegelbild, dann verließ ich das Bad.
Duncan sah mich kritisch an. „Alles in Ordnung?“
Ich nickte. „Ich hatte nur Durst.“
„Wir frühstücken später. Setz dich.“ Er deutete auf den Sessel.
Ich tat, wie mir geheißen, und beobachtete mit sehr gemischten Gefühlen seine Vorbereitungen. Er hatte eine Infusionsnadel dabei sowie einen Beutel mit Natriumchlorid, eine Spritze und Desinfektionsmittel. Er wies mich an, den Beutel zu halten, und platzierte die Nadel unter meiner Haut an der Außenseite meines rechten Knies. Ich sog scharf die Luft ein, als er zustach.
Sein Blick flatterte kurz in meine Richtung. „Geht es?“
„Hmhm“, machte ich.
Viel unangenehmer war die Prozedur in meinem Gesicht. Um die künstliche Schwellung gezielter erzeugen zu können, benutzte Duncan dazu die Spritze. Zwar injizierte er die Kochsalzlösung ganz langsam, doch er musste mehrfach neu ansetzen.
„Au!“
„Ich bin gleich fertig“, beschwichtigte er und drückte mit höchster Konzentration den Kolben Millimeter für Millimeter runter.
„Sieht man denn die Einstichstellen nicht?“, fragte ich etwas atemlos, als er zwischen zwei Stichen pausierte, um sein Werk zu begutachten.
„Ich werde das kaschieren“, erklärte er.
„Will ich wissen wie?“, brummte ich.
„Mit Blut.“
Ich stöhnte. „Nein, ich wollte es nicht wissen.“
Duncan zückte ein Skalpell, schob seinen Ärmel hoch und ritzte sich in den Unterarm. In das hervorquellende Blut tupfte er seinen Daumen. „Ich werde das auf deiner Haut verreiben. Anschließend wird man die Einstichstellen nicht mehr sehen, dann wirkt es wie eine Prellung.“
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Duncan alles präpariert hatte. Anschließend nickte er zufrieden und klebte ein Pflaster auf den Schnitt an seinem Arm.
Mein Knie fühlte sich nach der Prozedur wie aufgeblasen an, schmerzte aber nicht. Als ich in den Badezimmerspiegel blickte, war ich überrascht. Tatsächlich sahen meine „Verletzungen“ ziemlich realistisch aus. Zwar wirkten die mit seinem Blut aufgeschminkten Blutergüsse in meinem Gesicht nicht völlig authentisch, aber bei oberflächlicher Betrachtung war es wohl glaubwürdig. Anstatt wie sonst meine Haare zu einem Zopf zusammenzunehmen, ließ ich sie offen, damit sie mir ein Stück weit ins Gesicht fielen, um die Illusion zu verstärken.
Nachdem Duncan sich an meinem rechten Filzpantoffel zu schaffen gemacht hatte, bandagierte er mein Knie.
„Da sieht man diese wunderbare Schwellung doch gar nicht“, bemerkte ich sarkastisch. Ich schlüpfte in den Filzpantoffel und stand auf. „Aua!“ Etwas pikte in meinem rechten Pantoffel.
„Damit du nicht vergisst zu humpeln“, erwiderte er trocken. „Wir gehen jetzt in den Behandlungsraum, und ich werde dort deine Bandage wechseln. Ich gehe davon aus, dass William hinzukommen wird. Dann sieht er dein Knie auch.“
Ich nickte. „Und was soll ich tun, wenn William da ist? Irgendwelche Instruktionen?“
„So wenig wie möglich reden, sondern gut zuhören. Wenn du etwas sagst, dann bleib so nahe es geht an der Wahrheit. Versuch nicht zu schauspielern, denn das kannst du nicht. Bleib du selbst.“ Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Schaffst du das?“
Ich spiegelte seine Mimik. „Habe ich eine Wahl?“
„Nein.“
„Sonst noch etwas?“
Für einen Moment hatte ich den Eindruck, er wolle mich küssen, doch dann wandte er den Blick ab. „Vertrau mir.“
Ich nickte nur. Laut bestätigen konnte ich es nicht.
Er deutete zur Tür. „Gehen wir.“
„Gibt es hier Kameras?“, fragte ich leise, als wir den Flur betraten.
„Ja.“
Selbst wenn ich also in Erwägung gezogen hätte, einen Fluchtversuch durch die nicht abgeschlossene Tür zu wagen, wäre ich sofort entdeckt worden. Während wir durch den Flur gingen – was ich aufgrund der kleinen Nadel in meinem Pantoffel humpelnd tat –, wurde ich immer nervöser. Der Gang war tunnelartig, die Wände waren mit einer glatten Kunststoffschicht verkleidet. Neben den identischen weißen Türen, die in die Räume führten, waren kleine Schilder befestigt, die auf die Funktion oder den Nutzer hinwiesen. Duncan neben mir hatte sich meinem bewusst langsamen Tempo angepasst.
Im Krankenzimmer angekommen, trafen wir auf die Krankenschwester, die ich bereits kannte.
„Guten Morgen, Sir“, grüßte sie Duncan und würdigte mich keines Blickes.
Duncan führte mich zu der Liege, auf der er mich Platz nehmen ließ. Mit fachmännischen Bewegungen wickelte er mein Knie wieder aus, untersuchte es erneut, drückte vorsichtig hier und da und salbte es großzügig ein, dabei bedeckte er geschickt die Einstichstelle der Infusionsnadel mit einer besonders dicken Schicht. Ich verzog hin und wieder das Gesicht oder gab ein Geräusch von mir, das man als Schmerzenslaut interpretieren konnte.
Die Krankenschwester beschäftigte sich derweil mit Aufräumarbeiten, die mir unnötig erschienen, und schielte häufig in unsere Richtung. Sie beobachtete uns also genau.
Als sich die Tür leise öffnete, richtete ich mich unwillkürlich weiter auf. Die ausgezehrte Gestalt mit den schmutzig grauen Haaren glitt in den Raum. Der durchsichtige Plastikschlauch unter seiner Hakennase gab seinem Lächeln eine bizarre Note. Der Sauerstoff aus seiner Flasche am Gürtel zischte gleichmäßig.
„Sieh an, sieh an“, bemerkte Hunter atemlos. „Caitlyn, meine Liebe! Ich hoffe, du hast dich ein wenig erholen können.“ Er hatte seine Hände wie zu einem Segen ausgebreitet.
Duncan war gerade dabei, eine neue elastische Binde auszupacken. „Guten Morgen, William.“
Ich war mir nicht sicher, ob ich antworten sollte oder ob Duncan von mir erwartete zu schweigen. Doch das erschien mir unnatürlich.
„Morgen“, bemerkte ich daher einsilbig.
Hunter trat näher. Mit gespieltem Bedauern verzog er das Gesicht und deutete auf mein „geschwollenes“ Knie. „Oh weh, das sieht nicht gut aus.“ Er schnalzte mit der Zunge, während er mein Gesicht musterte. Fahrig klemmte ich mein Haar hinter das linke Ohr und ließ es gleichzeitig rechts etwas weiter ins Gesicht hängen. Meine Hände kneteten sich danach wie von ganz allein. Ich fragte mich, ob meine offen zur Schau Nervosität gut oder schlecht war, doch Duncan hatte schließlich gesagt, ich solle ich selbst sein.
Und ich war nun mal nervös.
„Hast du Schmerzen?“, fragte mich Hunter in einem Tonfall, der tatsächlich nach Anteilnahme klang.
„Nein“, sagte ich und fügte hastig hinzu: „Duncan hat mir etwas dagegen gegeben.“ Ich traute mich nicht, Hunter anzusehen, denn ich fürchtete, dass er die Lüge in meinem Gesicht lesen würde wie in einem offenen Buch.
„Gut“, sagte Hunter jedoch nur.
Duncan war inzwischen fertig und stand auf. „Wir werden bald aufbrechen.“
Hunter nestelte an seinem Sauerstoffschlauch herum. „Nicht, bevor meine liebe Nichte ein ordentliches Frühstück bekommen hat. Oder leidest du wieder unter Übelkeit? Duncan sagte, es sei dir gestern sehr schlecht gegangen.“
Ich versuchte mich an einem schmallippigen Lächeln. „Nein, auch dagegen hatte Duncan ein Mittel. Ich würde gerne frühstücken.“ Übel war mir tatsächlich nicht mehr, und erstaunlicherweise knurrte mein Magen nun.
Duncan hielt mir den Arm hin, als ich von der Liege hinunterglitt.
Ich zog die Luft ein, weil ich genau auf der Nadel landete, die im Filz steckte, und verlagerte prompt das Gewicht auf mein linkes Bein. Duncan stützte mich fürsorglich.
Das hätte ich nie im Leben spielen können, daher zollte ich ihm insgeheim Respekt für seine Weitsicht.
Vorsichtig auftretend humpelte ich neben Duncan her, der mich unauffällig an Hunters rechte Seite bugsierte. Schließlich betraten wir einen Raum, der offensichtlich als Kantine genutzt wurde. Drei Tischreihen für jeweils zehn Personen waren längs mitten im Raum aufgestellt, rechts davon gab es eine Theke, die wahrscheinlich als Essensausgabe fungierte, hinter der sich aber momentan niemand befand. An der linken Wand gab es einen Kaffeevollautomaten mit Heißwasserbereiter, verschiedene Teesorten sowie eine Schüssel mit frischem Obst. Hunter bedeutete uns, uns hinzusetzen, während er selbst an die Theke trat und laut rief. Ein älterer Mann, der denselben gleichmütigen Gesichtsausdruck hatte wie die Krankenschwester, steckte den Kopf durch einen Türspalt, der sich hinter der Theke auftat.
Duncan ließ mich am unteren Ende des mittleren Tischs mit Blick zur Theke Platz nehmen und rückte einen Stuhl zurecht, auf den ich mein rechtes Bein legen konnte.
„Möchtest du lieber Kaffee oder Tee?“, fragte Duncan.
„Gibt es Cappuccino?“ Ich schielte auf den Vollautomaten.
„Sicher.“
Er kümmerte sich um die Zubereitung des Getränks. Hunter gesellte sich derweil zu mir und nahm links neben mir Platz. Es war mir unangenehm, diesen Mann, der meine Mutter auf dem Gewissen hatte, so dicht neben mir zu spüren, doch Duncan schien Hunters Platzwahl einkalkuliert zu haben. In jedem Fall war meine rechte Gesichtshälfte so am wenigsten im Fokus. Ich beschloss, dass es am authentischsten war, wenn ich meine Unruhe auch weiterhin nicht verbarg, und unterdrückte daher nicht den Impuls, an dem Armreif herumzunesteln, der wie ein elegantes Schmuckstück aus Titan aussah, sich jedoch anfühlte wie eine Schlange, die um mein Handgelenk geschlungen war. Hunter bemerkte das, ließ es aber unkommentiert. Duncan stellte den Cappuccino vor mich hin und holte für sich und Hunter jeweils einen Tee.
„Ich war so frei, dir ein ordentliches Frühstück zu ordern, damit du schnell wieder zu Kräften kommst“, sagte Hunter zwischen seinen lauten Atemzügen.
Ganz der fürsorgliche Onkel, dachte ich zynisch, während ich einen Löffel Zucker in meinen Cappuccino gab. Laut sagte ich: „Danke … William.“ Eigentlich hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen, als ihn mit seinem Vornamen anzusprechen, doch schließlich wollte ich so schnell wie möglich hier raus und durfte daher nicht unkooperativ erscheinen.
„Nun, auch wenn du gestern etwas … äh, derangiert warst, hoffe ich, dass du Gelegenheit hattest, deine Haltung in der Angelegenheit zu überdenken.“
Nach meiner Ankunft hatte ich genau einen Satz zu ihm gesagt, um ihm zu erklären, dass die Brüder meiner Mutter tot waren und deren Vater Jacob Grant gewesen war. Ansonsten hatte ich zu Hunters Ausführungen über die Geschehnisse, die zum Tod meiner Großeltern und meiner Mutter geführt hatten, geschwiegen. An meinem Gesichtsausdruck hatte er womöglich meine Ablehnung abgelesen und bezog sich nun darauf. Um Zeit zu gewinnen, schlürfte ich von meinem Cappuccino, der zugegebenermaßen wirklich gut war.
Dann räusperte ich mich.
Weil ich allerdings immer noch nicht wusste, was ich eigentlich antworten sollte, lächelte ich stattdessen Duncan an und hoffte auf eine Bemerkung von ihm, die mir deutlich machte, wie ich mich am besten verhalten sollte. Duncan hob die Mundwinkel, schwieg jedoch beharrlich.
Möglichst nahe an der Wahrheit bleiben. Ich selbst sein. Wenig reden, sondern zuhören.
„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll“, sagte ich nun ehrlich.
Das war die Wahrheit. Und knapp genug, dass ich nicht Gefahr lief, mich gleich zu Anfang um Kopf und Kragen zu reden.
Die Überraschung auf Hunters Gesicht war echt. Duncans einer Mundwinkel zuckte, was ich als sicheres Indiz dafür interpretierte, dass es genau die Art vage Antwort war, die er erwartet hatte. Ich verkniff mir eine Grimasse in seine Richtung und fragte mich, welchen Plan er verfolgte.
„Hast du etwa nicht weiter mit ihr darüber geredet?“, erkundigte sich Hunter bei Duncan mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Ärger.
Duncan schüttelte den Kopf. „Caitlyn brauchte gestern dringend Ruhe. Ich wollte sie nicht überfordern.“
Gut eingefädelt, dachte ich, während ich einen weiteren Schluck Cappuccino nahm. Auf diese Weise musste ich mir nicht selbst ausdenken, was Duncan mir erzählt hatte und was nicht. In diesem Moment kam der Koch mit dem Frühstück. Duncan bekam wie gewöhnlich nur etwas Toast, Hunter schien schon gegessen zu haben, denn ihm stellte der Mann nichts hin. Mir wurde eine große Portion Rührei mit Speck, Toast, Marmelade und ein Schokoladenmuffin serviert.
„George!“, hielt Hunter den Koch zurück. „Bitte bring mir auch noch einen Muffin. Schokolade ist meine Lieblingssorte.“
„Ich weiß, Sir. Ich habe sie heute Morgen extra frisch für Sie gebacken.“
„Danke, George.“
Es war nur ein winziger Anflug von Übelkeit, den ich entschlossen niederkämpfte. Es gab eben auf der Welt mehr Menschen mit einer Vorliebe für Schokoladenmuffins. Nicht nur Mum und mich.
Während ich mich nun dem Toast und dem Rührei zuwandte, ergriff Duncan das Wort.
„Caitlyn, ich habe dir gestern gesagt, dass wir heute in die Ysgol zurückkehren.“
Ich nickte brav.
„Das kann aber nur unter einer Bedingung geschehen.“
Hier war wohl eine Frage angebracht. „Und die wäre?“
„Über all das hier“, er machte eine umfassende Geste, „darfst du niemandem gegenüber ein Wort verlieren. Du darfst William nicht erwähnen, nicht Marion und nicht Hans – und erst recht nicht, dass wir überhaupt hier waren. Ich werde dir eine glaubhafte Geschichte an die Hand geben. Hast du das verstanden?“
Ich nickte langsam, die Stirn gerunzelt. Zu nachgiebig durfte ich schließlich nicht sein, das wäre nicht ich. Noch während ich überlegte, ob ich dazu etwas sagen oder fragen sollte, fuhr Duncan fort.
„Ich habe schon erwähnt, dass alles, was du gestern erlebt hast, auf einem Missverständnis beruht. Außerdem habe ich dir versprochen, dir alles zu erklären.“
Weder das eine noch das andere hatte er getan, doch aus seinem Mund klang beides wie eine unumstößliche Tatsache, daher brauchte ich zum Glück wieder nur zustimmend zu nicken.
Hunter, der zwischen seinen angestrengten Atemzügen an seinem Schokomuffin herumknabberte, winkte mit einer Fingerspitze in Richtung meines Armreifs. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich schon wieder daran herumgezupft hatte.
„Er dient nur zu deiner Sicherheit“, erklärte Hunter in einem Tonfall, der offensichtlich beruhigend klingen sollte. „Er hat einen GPS-Tracker, damit Duncan immer informiert darüber ist, wo du dich aufhältst.“
Den Sprengsatz erwähnte er nicht, vermutlich ging er davon aus, dass ich nichts darüber wusste. Wenn ich ich selbst bleiben sollte, war jetzt eindeutig der Zeitpunkt für eine Frage gekommen. „Ja, Duncan hat mir das bereits gesagt. Aber warum brauche ich den Tracker überhaupt?“ Ich hoffte, dass ich ratlos und unsicher aussah und nicht verärgert.
Duncan rührte augenscheinlich entspannt in seinem Tee, als säßen wir bei einem Kaffeekränzchen. „William hier arbeitet an einem geheimen Projekt, das für die Menschen ein großes Glück bedeutet. Er ist dabei, ein Heilmittel nicht nur gegen Krebs zu finden, sondern auch gegen viele andere Krankheiten.“ Duncans Stimme war ruhig und geduldig, als erkläre er einem Kind, warum es so wichtig ist, sich die Zähne zu putzen. „Du kannst dir vorstellen, dass allein das Wissen darum, dass er daran arbeitet, gefährlich sein kann. Es gibt Menschen, die ihm diesen zu erwartenden Erfolg missgönnen und alles versuchen, um hinter sein Geheimnis zu kommen. Und ich … wir“, er betonte den Plural, „möchten nicht, dass dir und dem Kind etwas passiert.“