Das Geheimnis von Glasmaris Hall - Emma Finch - E-Book
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Das Geheimnis von Glasmaris Hall E-Book

Emma Finch

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Beschreibung

Wenn sich die Abgründe der Vergangenheit offenbaren …
Ein fesselndes Familiengeheimnis im wildromantischen Wales

Das Leben von Caitlyn Brown verläuft in geordneten Bahnen. Das ändert sich schlagartig, als sie in London einen Mord beobachtet und kurz darauf ein anonymes Päckchen mit einer Kette und einem Schlüssel erhält. Dass ihr Freund ihr dann auch noch einen verfrühten Heiratsantrag macht, bekräftigt Caitlyn in dem Entschluss, dass sie erstmal Abstand zu ihrem Leben braucht. Als sie ein Stellenangebot an einem Elite-Internat im Norden von Wales erhält, nimmt sie ohne zu zögern an.

Der Direktor der Schule, Sir Duncan Featherstones, ist so attraktiv wie verschlossen und Caitlyn ist sich sicher, ihm schon einmal begegnet zu sein. Irgendwas in ihrer Vergangenheit scheint die beiden zu verbinden und Caitlyn wird klar, dass der Tod ihrer Mutter und Großeltern kein Zufall war. Doch ihre Nachforschungen werfen nur immer mehr Fragen auf. Was ist damals wirklich passiert? Schwebt sie immer noch in Gefahr? Und kann sie Duncan wirklich vertrauen?

Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits erschienenen Titels Die Spur der Kristalle.

Erste Leser:innenstimmen
„Spannendes Familiengeheimnis voller Geheimnisse und Abenteuer!"
„die Autorin schafft es bis zum Schluss, den Leser durch unerwartete Wendungen im Dunkeln tappen zu lassen."
„Mysteriös, fesselnd, mitreißend – absolut empfehlenswert!"
„Romantischer Thriller mit vielen Überraschungen und Gänsehautfeeling."

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Seitenzahl: 585

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Über dieses E-Book

Das Leben von Caitlyn Brown verläuft in geordneten Bahnen. Das ändert sich schlagartig, als sie in London einen Mord beobachtet und kurz darauf ein anonymes Päckchen mit einer Kette und einem Schlüssel erhält. Dass ihr Freund ihr dann auch noch einen verfrühten Heiratsantrag macht, bekräftigt Caitlyn in dem Entschluss, dass sie erstmal Abstand zu ihrem Leben braucht. Als sie ein Stellenangebot an einem Elite-Internat im Norden von Wales erhält, nimmt sie ohne zu zögern an.

Der Direktor der Schule, Sir Duncan Featherstones, ist so attraktiv wie verschlossen und Caitlyn ist sich sicher, ihm schon einmal begegnet zu sein. Irgendwas in ihrer Vergangenheit scheint die beiden zu verbinden und Caitlyn wird klar, dass der Tod ihrer Mutter und Großeltern kein Zufall war. Doch ihre Nachforschungen werfen nur immer mehr Fragen auf. Was ist damals wirklich passiert? Schwebt sie immer noch in Gefahr? Und kann sie Duncan wirklich vertrauen?

Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits erschienenen Titels Die Spur der Kristalle.

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe April 2023

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-812-7 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-311-1

Copyright © 2014, bookshouse Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2014 bei bookshouse erschienenen Titels Kristall – Spiel im Schatten (ISBN: 978-9-96352-343-6).

Copyright © 2018, dp Verlag Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2018 bei dp Verlag erschienenen Titels Die Spur der Kristalle (ISBN: 978-3-96087-352-5).

Covergestaltung: ARTC.ore Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Brian A Jackson, © Dmitrij Skorobogatov, © PavloPyvovar, © essevu, © Dimitris Panas, © hxdbzxy, © RudiErnst Lektorat: Birgit Förster

E-Book-Version 02.02.2024, 15:46:19.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Das Geheimnis von Glasmaris Hall

Vorwort

An einem sonnigen Sommervormittag saß ich vor einer winzigen Kleinstadt-Bäckerei im Schatten großer Bäume. Es war irgendein beliebiger Ort in einer fremden Stadt, an dem ich nur durch Zufall gelandet war – einfach einer dieser seltenen, herrlichen Tage, die man aufs Geratewohl durchleben darf und an denen man nicht mal selbst weiß, was man tun und vor allem wo man zu einem bestimmten Zeitpunkt sein wird. Ich genoss also entspannt meinen Kaffee und die unbeschwerte Atempause.

Irgendwann hielt ein UPS-Wagen auf der Straße, der Fahrer stieg mit einem Päckchen in der Hand aus – sein suchender Blick traf mich, woraufhin er direkt auf mich zuging. Es war ein völlig surrealer Moment. Nicht mal ich selbst hatte ja bis kurz zuvor gewusst, dass ich hier sitzen würde, warum also bekam ich ein Päckchen?

Die Realität war selbstverständlich eine andere: Das Päckchen war nicht für mich, sondern ich saß lediglich unmittelbar neben dem Eingang, sodass der Eindruck entstanden war, der UPS-Bote suchte mich und käme zu mir. Er sah mich zwar an – was wohl eher daran lag, dass ich ihn mit halb offenem Mund anstarrte – allerdings wünschte er mir nur in bester Laune einen guten Morgen.

Ich gehe davon aus, dass dieser freundliche Mann nie erfahren wird, was er damit ausgelöst hat. Genau das war nämlich der Moment, in dem sich mein Gedankenkarussell zu drehen begann. Was, wenn das Päckchen tatsächlich für mich bestimmt gewesen wäre. Was wäre wohl darin gewesen? Wer wäre der Absender und wie hätte es diese Person fertig gebracht, es mir in diesem Moment zustellen zu lassen? Aus welchem Grund hätte ich es überhaupt bekommen? Welches Geheimnis würde sich dahinter verbergen? Und nicht zuletzt: Wie würde das mein Leben verändern?

Also beschloss ich, eine junge Frau auf die ebenso unfreiwillige, wie abenteuerliche Reise zu schicken, um all diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Anfangs hält sie natürlich alles für Zufall, doch Zufall ist bekanntermaßen nur der Name für ein unbekanntes Gesetz. 

Und in diesem Fall sind es die Gesetzmäßigkeiten eines Spiels, das eine Person im Hintergrund so raffiniert zu spielen versteht, dass fraglich bleibt, wer am Ende gewinnt …

Strategie

„Vor Spielbeginn analysiert der Spieler alle Alternativen jeder potenziellen Spielsituation, um das nachfolgende Spielverhalten vorhersagen zu können.“

ZEHN

Anfangs hielt ich es für Zufall.

Ich hieß Caitlyn Brown, und mein Leben war genauso gewöhnlich wie mein Nachname.

Schon, seit ich denken konnte, wohnte ich in einer kleinen Stadt in Surrey südlich von London. Mein Vater führte dort jahrzehntelang eine Arztpraxis, in die vor ein paar Jahren mein älterer Bruder eingestiegen war. Meine Mutter war Angestellte im Außenministerium gewesen und es hatte uns völlig unvorbereitet getroffen, als sie unmittelbar vor meinen A-Level-Prüfungen an einer akuten Leukämie erkrankt und innerhalb weniger Wochen gestorben war. Wir fielen damals in eine Art ohnmächtige Schockstarre. Ich brauchte dringend einen Tapetenwechsel und verkroch mich einige Monate bei Freunden von Dad in Schottland. Nach meiner Rückkehr war ich wild entschlossen, Krankheiten wie Krebs den Krieg zu erklären. Ich spielte sogar mit dem hehren Gedanken, eines Tages in die Forschung zu gehen, und weil ich quasi in einer Arztpraxis aufgewachsen war, glaubte ich, ich könnte beurteilen, was diese Arbeit bedeutete.

Ich konnte es natürlich nicht.

Nach den ersten Stunden in der Anatomie war mir klar, dass ich mir schleunigst etwas anderes überlegen musste – obwohl der Geruch der Chemikalien im Sektionssaal der Anatomie dank des ausgeklügelten Lüftungssystems auszuhalten und der Anblick der präparierten Leichen kaum schlimmer war als der von gekochtem Hühnerfleisch. Doch irgendwann würde ich keine toten Körper mehr vor mir haben und alles, was ich für die Kranken tat und auch all meine Fehler konnten tragische Folgen für ihr Leben und ihre Gesundheit haben.

Diese Verantwortung war mir eine Nummer zu groß.

Kurzerhand hängte ich das Studium an den Nagel und ging, um Zeit zum Nachdenken zu schinden, als Au-pair auf eine Farm im Nordosten Kanadas. Anschließend kehrte ich zu meinem ursprünglichen Plan zurück, Mathematik zu studieren – allein schon, um meinem Vater einen Gefallen zu tun, der meine Kapriolen klaglos hingenommen hatte. Im Nebenfach belegte ich Sport und Englisch und da ich gern mit Kindern arbeitete, machte ich anschließend eine praktische Lehrerausbildung, unterrichtete fortan an der Highschool meiner Heimatstadt und korrigierte die zwar manchmal tragischen, aber längst nicht so folgenreichen Fehler meiner Schüler. 

Ich war, wie man so schön sagt, erwachsen geworden und mein Leben in jeder Hinsicht berechenbar. Nichts deutete darauf hin, dass die bunte Fassade meines Alltags längst Risse bekommen hatte – bis zu jenem Sommernachmittag, an dem ich Zeugin eines Mordes wurde, dessen Motiv ich in der Vergangenheit meiner Familie finden sollte und dessen Folgen nicht nur meine Zukunft auf den Kopf stellten. Der Countdown zu einem Spiel auf Leben und Tod hatte ohne mein Wissen begonnen.

„The Fens“, East Anglia

Er drehte das Streichholz zwischen seinen Fingern. So klein, so unscheinbar. Nicht mehr als ein Holzsplitter, an dessen einem Ende Gefahr lauerte. Harmlos, solange es niemand benutzte.

Mit einer knappen Bewegung riss er das Schwefelende über die raue Fläche. Wartete, während sich die Flamme unaufhaltsam seinen Fingerspitzen näherte.

Er schloss die Lider.

Feuer.

Solange es Nahrung hatte, brannte es, loderte, verzehrte. Zerstörte, was sich ihm in den Weg stellte. 

Tötete.

Der Kuss des Feuers war schmerzhaft. 

Abrupt riss er die Augen auf und legte das Streichholz in den Kamin, in dem sich Holz und zusammengeknüllte Zeitungen befanden. Zuerst schien es, als würde das Feuer erlöschen, doch dann stieg Rauch auf, eine Flamme leckte an dem Papier, zuerst winzig, schließlich immer größer, bis es hell lodernd zu verkohlen begann. Schatten tanzten an den weiß getünchten Wänden, während das Feuer neue Nahrung fand und schließlich auf das trockene Holz übergriff. 

Neben ihm auf dem Boden lag ein Notizzettel, auf dem in akkurater Handschrift ein Name, eine Adresse und eine Nummer notiert waren. Er ließ seine Finger sanft über den Zettel gleiten und schob ihn beiseite. Darunter kamen zwei Fotos zum Vorschein: Ein altes, das in verblichenen Farben ein kleines Mädchen auf einer Bank unter einem Baum zeigte, und ein neues, bunt und lebendig, mit einer jungen Frau. Er sah es lange an – und warf dann alles ins Feuer.

Die Schrift löste sich als Erstes in loderndes Nichts auf, der blonde Haarschopf erglühte im Feuerschein, bevor sich ein schwarz verkohlter Schatten darüberlegte. Die dargestellte Person verschwand erst auf dem einen, dann auf dem anderen Bild, als hätte es sie niemals gegeben. Zurück blieb am Ende nur Asche.

Eine unumkehrbare Metamorphose.

So, wie der Tod.

Ohne hinzusehen, griff er nach einem Tuch, das neben den Fotos gelegen hatte. Es war schon alt, der blutrote Stoff fadenscheinig und seine Mitte zierte ein Symbol in absoluter Symmetrie, wie ein perfekt geschliffener Kristall. Er hielt es unter seine Nase und atmete mit geschlossenen Augen den nur für ihn wahrnehmbaren Rosmarinduft ein.

Es war alles, was von ihnen geblieben war. Das Tuch und die Asche, die er im Meer verstreut hatte.

Langsam zog er sein Jackett aus, krempelte den Ärmel auf und brachte seinen rechten Unterarm in die Nähe der Flammen, dichter und dichter, bis das Feuer an seiner Haut leckte. Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn. Sein Atem ging schneller.

Asche zu Asche.

Jetzt war er das Feuer.

Mit einem erstickten Laut zog er den Arm zurück und nahm das Tuch, um damit seine glühend rote Haut abzudecken.

NEUN

Es war ein heißer Tag Mitte August kurz vor meinem Geburtstag. Ich genoss den kühlen Luftzug, der mich im Schatten der Häuser streifte. Langsam schlenderte ich weiter die belebte Londoner Brompton Road entlang. An einem gewöhnlichen Mittwoch shoppen gehen zu können, war einer der Vorteile, wenn man gerade Sommerferien hatte. Allerdings würde ich nicht mehr lange Lehrerin sein, denn ich hatte mich als Versicherungsmathematikerin bei der Lloyd’s of London, der internationalen Versicherungsbörse, beworben und würde am 1. September meine neue Stelle antreten. Aufs Geratewohl bummelte ich die Straße entlang und ließ den Trubel um mich herum Trubel sein.

Vor einem Schaufenster von Harrods blieb ich stehen, um meinen Haarknoten neu zu ordnen, aus dem sich Dutzende meiner störrischen Locken gelöst hatten. In der Scheibe spiegelten sich die Passanten, von denen die meisten in typischer Großstadtmanier hektisch von einem Ort zum nächsten eilten. Lediglich ein grauhaariger Mann in Jeans und Hemd schlenderte gemächlich vorbei.

In der Fensterscheibe prüfte ich noch einmal meine Frisur, damit sie zumindest zeitweise wieder ordentlich aussah, als der Mann hinter mir stehen blieb, sein Handy hervorholte und es in meine Richtung hielt. Irritiert warf ich ihm einen Blick über die Schulter zu. Er lächelte freundlich, bevor er weiterging. Neben mir im Schaufenster sah ich ein großes Plüschpferd und einen knuffigen schwarzen Hund, die mich beide knopfäugig anstarrten. Anscheinend hatte der Mann die beiden fotografiert – vielleicht, um sie als potenzielle Geschenke für seine Kinder in Erinnerung zu behalten? Das Pferd, ein mausbrauner Falbe mit langer, zerzauster Mähne, erinnerte mich an die robusten schottischen Hochlandponys. Es war schon so lange her, dass ich zuletzt in den Highlands zu Besuch gewesen war. Vier Jahre, um genau zu sein.

„Hey, ihr zwei, was haltet ihr davon, mit mir eine Tour zum Loch na Sealga zu machen?“ Ich bildete mir ein, der Hund würde den Kopf ein wenig schief legen, und hörte im Geiste das Pferd zustimmend schnauben.

„Mama!“ Aufgeregt deutete ein kleines Mädchen neben mir auf die Stofftiere. „Guck mal, sind die nicht süß?“

„Ja, und wie“, antwortete die Mutter ohne großen Enthusiasmus, als sie gezwungenermaßen stehen blieb, weil ihre Tochter mit der Nase an der Scheibe klebte.

„Mama! Kann ich die nicht haben? Bitte!“

Die Mutter lächelte nachsichtig. „Wir müssen weiter, komm schon.“

Hartnäckig blieb das Mädchen stehen und klopfte zaghaft an das Schaufenster, als wollte sie die beiden zum Leben erwecken.

Ich hockte mich zu dem Mädchen und senkte verschwörerisch die Stimme. „Hey, weißt du was? Die beiden kann man eigentlich gar nicht kaufen. Das ist nur zur Tarnung. Das sind nämlich ein verzauberter Polizeihund und ein Polizeipferd. Die müssen hier sitzen und die Straße beobachten – du weißt schon, falls ein Verbrecher versucht … na ja, zum Beispiel deiner Mama die Handtasche zu stehlen …“ Vielsagend wiegte ich den Kopf.

Das Mädchen sah mich mit riesigen Augen an. „Meinst du das echt?“

„Großes Ehrenwort!“ Wie zum Schwur hob ich die Rechte und legte die Linke auf mein Herz.

Mit gerunzelter Stirn fixierte die Kleine nun die Stofftiere. Die sichtlich amüsierte Mutter kratzte sich am Kopf. „Na siehst du, Schatz. Was hältst du davon, wenn wir jetzt ein Eis essen?“

„Eis? Au ja!“ Die Kleine hüpfte auf und ab, die Stofftiere waren schon vergessen. „Mama? Mögen Polizeihunde auch Eis?“

Ich lachte still in mich hinein, während ich dem plappernden Mädchen mit seiner Mutter nachsah. Dann reihte ich mich wieder in das Gewimmel der Passanten ein, um endlich meine Einkäufe in Angriff zu nehmen. Ich brauchte unbedingt noch einen Hosenanzug und ein Kostüm, die den konservativen Kleidervorschriften der Lloyd’s entsprachen. In Leatherhead war die Auswahl an Geschäften nämlich eher überschaubar – allerdings war das im Allgemeinen auch die Anzahl der Menschen, und meinem Empfinden nach war es dort heute auch weniger heiß. Ich kramte eine kleine Wasserflasche aus meiner Tasche heraus. Bei diesem Wetter hätte ich anstatt nach London lieber einen Zug in die andere Richtung, nach Brighton, nehmen sollen, im Meer baden und mir einen Tag lang den Seewind um die Nase wehen lassen, anstatt Großstadtmief. Wenn ich demnächst erst bei der Lloyd’s arbeitete, käme ich höchstens noch an den Wochenenden raus. 

Es würde mir genauso gehen wie meinem Freund Daniel, der schon seit drei Jahren dort beschäftigt war. Er hatte mir vorgeschlagen, mich ebenfalls dort zu bewerben, nachdem ich etwas zu laut darüber nachgedacht hatte, mich beruflich zu verändern. Allerdings hatte ich eher an eine andere Schule gedacht, doch eine von Daniels Kolleginnen hatte gerade verkündet, dass sie schwanger sei, und deshalb wurde eine Vertretung gesucht. Daniel hatte argumentiert, ich könne ja wieder aufhören, falls es mir nicht gefiel. Weil er damit recht hatte, stimmte ich zu, dass er seinen Chef überredete, es mit mir zu versuchen – und immerhin würden wir uns dadurch viel häufiger sehen als bisher.

Vielleicht konnte ich Daniel dazu bringen, am Freitag früher Schluss zu machen, um übers Wochenende ans Meer zu fahren. Das Wetter sollte vorläufig noch halten, außerdem hatte ich sowieso keine Lust auf eine große Geburtstagsparty.

Abrupt blieb ich stehen. Warum bis Freitag warten? Einkaufen konnte ich in den nächsten drei Wochen auch bei schlechtem Wetter, eine Fahrradtour unternehmen allerdings nicht. Ein schneller Blick auf meine Uhr – wenn ich mich beeilte, wäre ich in gut einer Stunde zu Hause, um ein paar Sachen zu packen und mit dem Fahrrad in Richtung Küste zu fahren. Ich könnte bleiben, wo ich Lust hätte, und mich ein paar Tage lang treiben lassen. Nicht mal auf Daniel musste ich Rücksicht nehmen. Ich würde ihm sagen, er solle am Freitagabend oder Samstagmorgen mit dem Auto nachkommen. Wir könnten am Samstag um Mitternacht romantisch im Mondschein am Beachy Head bei Eastbourne stehen, um auf meinen Geburtstag anzustoßen. Beschwingt von diesen Gedanken machte ich auf dem Absatz kehrt.

„Au! Verflixt!“

„Können Sie nicht aufpassen?“ Ein Mann im schwarzen Anzug war aus dem Gleichgewicht geraten. Seine vollgepackte Tragetasche war zu Boden gefallen, wobei sich ein Teil des Inhalts auf den Gehsteig ergossen hatte.

Ich war sehr unsanft auf einem Knie gelandet. Als ich mich aufrappelte, ignorierte ich das Brennen. „Verzeihung, ich habe Sie nicht gesehen“, sagte ich zerknirscht.

Mit dunklen Augen, die dicht neben einer spitzen Habichtsnase standen, musterte der Mann mich wie ein Raubvogel seine Beute. Seine halblangen Haare waren mit einer beträchtlichen Menge Gel straff nach hinten frisiert und schimmerten kastanienbraun im Sonnenlicht. Schnell machte ich mich daran, die heruntergefallenen Dinge einzusammeln.

„Lassen Sie das!“, knurrte er, während er sich nach einem Bund Rosmarin bückte.

„Tut mir wirklich leid.“ Mit einem kleinen Päckchen in der Hand richtete ich mich auf. Dem braunen Packpapier nach zu urteilen war darin wohl etwas Zerbrechliches eingeschlagen. Vorsichtig wickelte ich das Papier ab, um zu kontrollieren, ob es heil geblieben war. Zum Vorschein kam eine hübsche Reibschale aus weißem Porzellan, an deren oberem Rand ein kleines Stück fehlte.

„Was tun Sie da?“ Der Mann stand plötzlich sehr dicht neben mir.

Ich fuhr zusammen. „Nichts!“

An seinem intensiven Blick blieb ich hängen. Er verengte seine Augen ein wenig. Ich überlegte, ob ich ihn kennen müsste – der Vater eines meiner Schüler vielleicht?

Zwischen seinen Brauen erschien eine steile Falte, als er mit spitzem Finger auf die Schale tippte. „Nichts?“

„Ach du lieber Himmel!“ Ich tat, als fiele mir erst jetzt die Macke auf. „Ich ersetze sie Ihnen selbstverständlich.“

Unwirsch nahm er mir die Schale ab, wickelte sie wieder ein und verstaute sie mitsamt den Kräutern. Anschließend langte er in seine Tasche, um zu meiner Überraschung eines dieser verpackten Wunddesinfektionstücher herauszuholen. Erst als er in die Hocke ging, sah ich die Blutspur an meinem Schienbein. Während er es vorsichtig sauber wischte, schien er mit seinem Blick die Wunde zu scannen. Die kleine Verletzung schmerzte etwas bei seiner Berührung, doch als er sich aufrichtete, sah mein Knie nur noch halb so schlimm aus. Ein Hauch herben Aftershaves vermischt mit Desinfektionsmittel und Rosmarin wehte zu mir herüber, als sich der Mann näher beugte. „Es ist nur oberflächlich. Ein Pflaster ist nicht notwendig. Zukünftig sollten Sie lieber nach vorn sehen, damit Sie keine Gefahr für Ihre Umwelt sind.“ 

„Tut mir wirklich leid. Ich sagte doch, ich ersetze Ihnen die Schale.“

Er stieß einen Laut aus, der sowohl Zustimmung als auch Ablehnung bedeuten konnte, doch bevor ich noch einmal nachhaken konnte, was ich ihm denn nun schuldete, zog er ein vibrierendes Handy aus seiner Brusttasche.

Der Mann musterte mich weiter, während er das Gespräch mit einem knappen „Ja!“ entgegennahm. Er lauschte. Seine Miene war schon vorher schwer zu deuten gewesen, doch nun schien es, als streifte er eine Maske über. Seine Schultern strafften sich, in seine Augen trat ein unangenehmer Glanz. Ein paar Sekunden später legte er wortlos auf.

Ebenso wortlos ließ er mich einfach stehen, um inmitten einer Traube Jugendlicher zu verschwinden. Natürlich, ohne mir zu sagen, was denn nun mit der kaputten Schale passieren sollte.

„Idiot“, brummte ich kopfschüttelnd – obwohl ich ja eigentlich diejenige war, die sich ungeschickt verhalten hatte. 

Anstatt weiter zum Bahnhof zu hetzen, beschloss ich, den nächsten Zug zu nehmen und mir vorher noch in einem Café in der Hans Crescent einen Eistee zu genehmigen. Drinnen in der klimatisierten Umgebung zu sitzen war deutlich angenehmer, als die Hitze in den Straßenschluchten ertragen zu müssen.

Mein Handy gab einen leisen Summton von sich.

Hey Schatz, wir gehen heute Abend mit Matt und Sandy ins Kino. Hole dich um sieben ab. Dan.

Es summte noch einmal.

PS: Die Karten sind schon reserviert.

„Super“, beschwerte ich mich bei meinem Handy. „Bei diesem Wetter ausgerechnet ins Kino. In welchen Film überhaupt?“

Da ich sowieso keinen Einfluss mehr auf die Auswahl hatte, schickte ich nur eine kurze Bestätigung zurück. Heute konnte ich mich also nicht mehr auf den Weg machen. Vielleicht war es so geschickter, denn dann hatte ich heute Abend genug Zeit, um mit Daniel über meine Wochenendpläne zu sprechen. Ich bestellte einen zweiten Eistee und einen Schokoladenmuffin und betrachtete nachdenklich mein Knie, an dem die Verletzung kaum noch zu sehen war. Der Mann war merkwürdig gewesen. Ob er Arzt war? Nicht jeder hatte schließlich Desinfektionstücher in der Tasche und wischte einer völlig Fremden ohne Federlesen das Blut vom Bein. Mit spitzem Zeigefinger pikte ich Muffinkrümel auf und trank meinen Eistee aus, während ich beschloss, mich doch noch in ein paar Geschäften umzusehen. Mein Kleidungsproblem würde sich nicht in Luft auflösen, und wenn ich heute nun doch Zeit hatte, konnte ich auch einen Blick in die Londoner Boutiquen werfen.

Knapp zwei Stunden später war ich Besitzerin eines schlichten, aber schicken Hosenanzugs mitsamt verschiedenen Oberteilen zum Kombinieren sowie eines knielangen Rocks. Ich war mir noch nicht ganz sicher, ob ich die Sachen wirklich bequem fand, aber sie passten zu dem Stil, den ich künftig an meinem neuen Arbeitsplatz tragen sollte. Beim Anprobieren war mir in den stickigen Umkleidekabinen schrecklich heiß geworden, daher war ich erst einmal in den Schatten der Bäume im Hyde Park geflüchtet und schlenderte den Serpentine Lake entlang. Gerade überlegte ich, wo ich mich noch nach Schuhen umsehen sollte, als ich irgendwo schräg links hinter mir eine aufgebrachte Männerstimme hörte. Eine andere, deutlich leisere, antwortete.

Ich konnte nicht verstehen, worum es ging, doch allein dem Tonfall nach zu urteilen, war es eine aggressive Auseinandersetzung. Kritisch sah ich mich um, denn falls es aus irgendeinem Grund Ärger gab, wollte ich nicht von hinten unangenehm überrascht werden. Durch die Zweige einiger großer Sträucher ein Stück abseits vom Weg entdeckte ich die Silhouette zweier Männer. 

Die Stimme des einen klang aufgebracht. „… werde ich ihn informieren – und zwar jetzt glei…“

Der andere reagierte blitzschnell.

„Nein!“ Zurückweichend riss der Erste die Arme hoch und beide verschwanden aus meinem Blickfeld.

Einen Herzschlag lang passierte gar nichts. 

Dann ein lang gezogenes, schmerzerfülltes Stöhnen, das schnell leiser wurde, aber nicht abriss.

Meine Nackenhaare stellten sich auf. Eine Sekunde lang war ich versucht, meinem spontanen Fluchtreflex nachzugeben, aber dann siegte mein Verantwortungsgefühl. Ich hasste es, wenn Menschen wegsahen, anstatt zu helfen, daher wollte ich zumindest wissen, was passiert war, und falls nötig die Polizei verständigen. Tagsüber gab es im Hyde Park immer Spaziergänger, mir würde schon nichts geschehen. Vorsichtig umrundete ich in großem Bogen die Sträucher, bis ich dahintersehen konnte. Ein älterer Mann war auf dem Gras zusammengesackt, auch auf die Entfernung sah ich seine weit aufgerissenen Augen. Blass und krampfhaft nach Luft ringend hielt er mit einer Hand etwas umklammert und die andere presste er auf die Brust.

Es war der Grauhaarige, der bei Harrods die Stofftiere im Schaufenster fotografiert hatte.

Sein Kontrahent war nicht in unmittelbarer Nähe. Während ich rasch die letzten Meter zurücklegte, rief ich laut um Hilfe und versuchte, mein Handy aus der Tasche zu fummeln. Vor lauter Hektik verhedderte ich mich in dem Knäuel aus Plastiktüten und der Handtasche, daher ließ ich alles einfach auf den Boden fallen, als ich bei dem Mann ankam. Mein Handy rutschte mir durch die Finger. Ich atmete zweimal tief durch. Alles der Reihe nach – kein Blut. Keine Waffe in Blickweite. War es doch kein Angriff gewesen? Auf den ersten Blick erinnerten seine Symptome an einen Herzanfall. Schnell kniete ich mich hinter ihn und bettete mit sanftem Nachdruck seinen Kopf an meine Brust, damit sein Oberkörper gestützt war. Seine Arme bog ich leicht zurück, um ihm das angestrengte Atmen zu erleichtern. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Keuchend rang er immer noch nach Luft, daher öffnete ich auch die obersten Hemdknöpfe, weil sich das Hemd eng am Hals spannte. Noch einmal rief ich um Hilfe, während ich nach meinem Handy angelte, das unglücklicherweise ein Stück außer Reichweite auf dem Boden gelandet war. Unsicher sah ich mich um, ob der Gegner des Streits vielleicht doch noch irgendwo war. Zivilcourage hin oder her – hoffentlich brachte mich mein Eingreifen nicht selbst in eine heikle Situation.

Ich tätschelte dem Mann die Wange. „Sir? Können Sie mich hören? Haben Sie Schmerzen?“ Blöde Frage, dachte ich, denn es war ihm anzusehen, wie sehr er litt. Er starrte mich an. 

„Was ist passiert?“ Ein junger Mann, der offenbar meine Hilferufe gehört hatte, bog um die Büsche.

„Ich glaube, ein Herzinfarkt! Rufen Sie einen Krankenwagen!“

Während der junge Mann sein Handy zückte, kümmerte ich mich weiter um den Verletzten. Viel tun konnte ich eigentlich nicht, bis der Krankenwagen eintraf. Ich legte meine Finger auf den Puls an der Halsschlagader. Das Pochen war schnell, flach und setzte beängstigend oft aus. Immer wieder fielen seine Augenlider zu, sein Gesicht war fahl und die Hände eiskalt. Ich klopfte dem Mann sanft auf die Wange, um ihn bei Bewusstsein zu halten. „Sir! Wie heißen Sie?“ Er fixierte mich – mit trübem Blick zwar, aber eindeutig wach. „Ein Arzt ist unterwegs.“ Wieder tätschelte ich ihn. „Kommen Sie, nicht einschlafen. Reden Sie mit mir!“ Ich kontrollierte noch einmal Atmung und Puls, die beide eher schlechter als besser wurden, doch ich registrierte, dass er offenbar darum kämpfte, wach zu bleiben. Um wenigstens das Gefühl zu haben, etwas Sinnvolles zu tun, öffnete ich ein paar weitere Knöpfe an seinem Hemd, um die Brust frei zu machen. Eigentlich mochte ich zwar nicht daran denken, aber falls vor Eintreffen des Notarztes noch eine Herzdruckmassage nötig werden sollte, war es von Vorteil, wenn ich ihn nicht erst dann entkleiden musste.

„Sind Sie Ärztin?“, erkundigte sich eine Frau, die ebenfalls dazugekommen war.

Ich schüttelte den Kopf, während ich mich weiter bemühte, den Mann bei Bewusstsein zu halten. Mein Vater hatte darauf bestanden, dass wir Kinder Erste Hilfe leisten konnten, und häufig mit uns geübt, daher wirkte ich vermutlich routinierter, als ich mich fühlte. Außerdem war ich wieder einmal froh, mich dagegen entschieden zu haben, Ärztin zu werden. In der Ferne hörte ich die Sirene eines Krankenwagens.

Da hob der Mann wieder kraftlos die Lider. „… anruf … will …“

„Was haben Sie gesagt, Sir?“ Ich ging mit meinem Ohr näher an seinen Mund. Ihm fielen die Augen wieder zu. „Sir! Brauchen Sie vielleicht irgendwelche Medikamente?“ 

Warum war ich nicht längst darauf gekommen? Da weder ein Rucksack noch eine Tasche in seiner Nähe lagen, tastete ich seine Kleidung, soweit ich sie erreichte, nach einer Notfallmedizin ab. Seine vorderen Hosentaschen waren leer, die Brusttasche seines Hemdes ebenfalls – außerdem würde der Krankenwagen ja gleich eintreffen, beruhigte ich mich.

Vorsichtig wollte ich das Handy aus seiner verkrampften Hand lösen, als mein Blick auf eine kleine rote Stelle mitten auf seiner Brust fiel, die wie ein frischer Insektenstich aussah. Stirnrunzelnd streckte ich meine Finger danach aus. Hatte ich mich mit dem Herzanfall geirrt und er hatte einen anaphylaktischen Schock nach einem Bienen- oder Wespenstich? Das Insekt konnte unter seine Kleidung gekrabbelt sein. Angestrengt dachte ich darüber nach, ob die Symptome zu einer allergischen Reaktion passten.

Wie eine Schlange zuckte seine freie Hand vor und schloss sich eiskalt um mein Handgelenk. Er sah mich mit einer plötzlichen Klarheit an, die mich überraschte. Offenbar sammelte er Kraft, um mir etwas zu sagen. Ich spürte den Druck seiner Hand, während ich genauso deutlich seine Angst zu fühlen glaubte.

Eine Windbö traf meine schweißfeuchte Haut und eine Gänsehaut überzog meine Arme. Plötzlich dachte ich an den Mann, mit dem er gestritten hatte. „Was ist passiert, Sir? Wurden Sie vielleicht … von jemandem angegriffen?“

In den Augen des Mannes leuchtete etwas auf, das ich als Bestätigung meines Verdachts interpretierte. Mein Mund wurde trocken. Verflixter Mist.

„… mein … Te… Telefon …“ Er schluckte.

„Soll ich jemanden für Sie anrufen?“

„Ja … mitnehmen … behalten Sie es … ist wichtig … ruf… rufen … Sie …“ Er atmete stöhnend ein.

„Wen soll ich anrufen?“

Die Schmerzen hinderten ihn an einer Antwort, aber er wollte mir das Handy geben. Bei der kraftlosen Bewegung rutschte sein Arm seitlich am Körper hinunter. Als ich mich vorbeugte, um es zu nehmen, ging jemand genau dort in die Hocke.

Der Mann im schwarzen Anzug, den ich vorhin beinahe umgerannt hatte. 

„Was tun Sie denn hier?“, fragte ich, wobei meine Stimme schriller klang als beabsichtigt. Ich war heilfroh um die Schaulustigen, die uns umringten.

Der Grauhaarige starrte den Mann mit weit aufgerissenen Augen an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, zuckte jedoch stattdessen unvermittelt zusammen und schnappte nach Luft. Zwei Mal, drei Mal. Dann ein letztes Mal. Und anstatt Worten strömte mit seinem Atem das Leben aus ihm heraus – den nunmehr leeren Blick genau in die Augen des anderen gerichtet. Der Körper lag erschlafft auf meinem Schoß, sein Gewicht schien sich jäh verdoppelt zu haben. Unwillkürlich spannte ich die Muskeln an, um ihn am Wegrutschen zu hindern.

Der Mann im Anzug musterte kurz das Gesicht des Toten, dann schloss er ihm behutsam die Lider. „Sie können nichts mehr für ihn tun“, stellte er nüchtern fest.

Paralysiert durch den plötzlichen Tod konnte ich nichts sagen, sondern starrte ihn nur an. In den beinahe schwarzen Augen schien ein kaltes Feuer zu lodern. In diesem Moment kamen die Sanitäter. Mit festem Griff zog mich der Mann im Anzug auf die Füße, um den Helfern Platz zu machen. Meine Augen brannten, meine Beine zitterten. Unwillkürlich klammerte ich mich an ihn, während ich versuchte, das flaue Gefühl, das mich überfiel, nicht überhandnehmen zu lassen. Eine warme Hand legte sich für einige Sekunden in meinen Nacken, um mein Gesicht sanft, aber bestimmt, an den weichen Stoff der Anzugjacke zu bergen. Ich atmete ein paarmal tief durch.

„Sie hätten Ihn nicht mehr retten können“, flüsterte der Mann dicht an meinem Ohr.

Ich lächelte ihm flüchtig zu, bevor ich mich wieder der Szene zuwandte. Fassungslos beobachtete ich die vergeblichen Wiederbelebungsversuche des Notarztes. Nach einer Weile sprach mich ein Polizist an und erkundigte sich nach meinen Personalien.

„Kannten Sie Mr Kelly, Ms Brown?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Hm.“ Fachmännisch machte er sich Notizen.

Ich räusperte mich. „Woran …?“ Noch einmal klärte ich meine Kehle. „Woran ist er gestorben?“

Bedauernd winkte er ab. „Das Herz wahrscheinlich, sagt der Arzt. Sie können jetzt ruhig gehen. Ich habe ja Ihre Angaben, falls es noch Fragen gibt.“ Er schenkte mir ein freundliches Lächeln. „Aber das glaube ich nicht.“

Unsicher verabschiedete ich mich und sammelte meine Handtasche und die Einkaufstüten ein, die immer noch dort lagen, wo ich sie in der Aufregung hatte fallen lassen. Unter der Handtasche fand ich auch mein Handy. Ich zögerte.

„Sir!“, wandte ich mich noch einmal an den Polizisten. „Mr Kelly hat … er wollte mir sein Handy geben.“ Ich stockte. Was genau wollte ich eigentlich damit ausdrücken?

„Oh, das können Sie mir überlassen. Wir leiten es dann an die Familie weiter.“

„Ich … nein, ich habe es nicht. Es ist runtergefallen, als dieser Mann dazugekommen ist, und … möglicherweise hat er es genommen“, überlegte ich laut. Dann senkte ich die Stimme. „Es … na ja, ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber Mr Kelly hat sich mit jemandem gestritten, bevor er zusammenbrach. Ich habe das durch die Büsche gesehen. Es könnte dieser Mann gewesen sein … also, der, der dann plötzlich dazukam und vielleicht das Handy mitgenommen hat. Und … dieser Streit war irgendwie … sehr hitzig. Und dann ist Mr Kelly plötzlich gestorben.“ 

Der Polizist schien sichtlich Mühe zu haben, meinem Gedankengang zu folgen. Seine Frage klang eher routinemäßig. „Wer ist denn dieser Mann?“

Suchend blickte ich mich um. „Gerade war er noch da.“

„Größe? Alter? Aussehen?“

„Ähm … größer als ich“, schätzte ich. „Er trug einen schwarzen Anzug. Rotbraunes Haar, dunkle Augen. Ich weiß nicht, wie er heißt.“

Er notierte es. „Danke. Wie gesagt, wir melden uns bei Ihnen, wenn wir noch Fragen haben, Ms Brown.“ Dann verabschiedete er sich zum zweiten Mal.

Wo steckte dieser Typ nur? Eingebildet hatte ich ihn mir jedenfalls nicht, denn ein Hauch seines herben Aftershaves klebte noch an mir.

Patricia Grant 4, Horseferry Road City of Westminster, London

An:  Dr. Jacob Grant 21, Black Street Glasgow

London, den 5. Februar 1933

Lieber Jacob!

Als ich Dich Weihnachten fragte, was Du zu tun bereit seist, um für unsere Sache einzustehen, hatte ich das Gefühl, Du meinst es ernst, als Du sagtest: „Alles!“ 

Ich halte Dich für den Richtigen, nein, eigentlich für den Einzigen, der so agieren kann, wie es nötig sein wird. D hat unserem Vorschlag endlich zugestimmt! Komm nach London, sobald Du Deine Angelegenheiten geregelt hast. 

Geregelt, Jacob!

Deine Cousine Patricia

PS: Eine Hinfahrkarte liegt bei.

ACHT

Irgendwann am späten Nachmittag stieg ich endlich aus dem Zug. Immer noch fühlte ich mich von den Ereignissen des Tages ganz benommen, daher war ich froh, dass meine Füße den zehnminütigen Weg vom Bahnhof bis nach Hause ganz von allein fanden. Ich öffnete gerade das Gartentor, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Ich fuhr herum. Ein dicker Mann in einem schwarzen T-Shirt ging am Zaun vorbei. Grüßend hob er die Hand, er wohnte schon seit Jahren mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern nur eine Querstraße weiter. Ich rieb mir kräftig die Augen und kam mir paranoid vor.

Auf dem gesamten Rückweg von London hatte ich das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Einmal glaubte ich sogar, den Mann im schwarzen Anzug gesehen zu haben.

Endlich erreichte ich unser Haus aus roten Backsteinen. Es war ein ehemaliges Farmhaus an der Hauptstraße nach Guildford, umgeben von einem gepflegten Grundstück mit alten Bäumen. Die Hausarztpraxis meines Vaters Richard lag in einem Nebengebäude und war mit der Zeit durch An- und Umbauten stetig gewachsen. Neben ihm und meinem Bruder gab es noch zwei angestellte Ärzte sowie zahlreiches medizinisches Personal. Als Henry vor zwei Jahren heiratete, war Dad aus dem Haupthaus in ein Apartment gezogen, das in einem ehemaligen Stall entstanden war. Meine Schwägerin Ellen und mein Bruder hatten nichts dagegen gehabt, dass ich mein altes Mansardenzimmer im Haupthaus noch behielt. Ich hatte ein eigenes Bad, benutzte die Wohnküche mit – genau wie Dad, der ungern allein war – und irgendwie funktionierte unsere WG so gut, dass ich bis vor Kurzem nicht darüber nachgedacht hatte, auszuziehen. Daniel sprach nun davon, mit mir zusammen nach London zu ziehen, doch mit dem Gedanken, in der Großstadt zu wohnen, konnte ich mich noch nicht anfreunden.

Ich hatte die Haustür erreicht. Nachdem ich mit dem Schlüssel in der Hand einen Moment lang herumgestanden hatte, schob ich nur meine Einkäufe in den Hausflur und ging hinüber in die Praxis. Während ich mich an einer zwanglosen Plauderei mit den Damen vom Empfang versuchte, wartete ich ungeduldig darauf, dass Henry endlich aus seinem Behandlungszimmer kam.

Er hatte mich kaum bemerkt, als ich ihn schon am Ärmel zurück in das Zimmer zog. „He! Cat, ich hab jetzt keine Zeit.“ Mit einem energischen Ruck befreite er sich.

Aber ich war schon drinnen und plumpste auf seinen ausladenden Schreibtischstuhl.

„Der Nächste, bitte.“ Brummend schloss er die Tür hinter sich und ließ sich gegenüber auf den deutlich schmaleren Patientenstuhl fallen, der unter ihm recht zierlich wirkte. „Also, Frau Doktor, schieß los. Welche Katastrophe ist passiert?“

Ohne Umschweife erzählte ich, was ich in London erlebt hatte.

Stirnrunzelnd knetete Henry seine Unterlippe, während er mit der anderen Hand durch seine dunkelblonden Locken fuhr, die daraufhin wie ein Vogelnest nach einem Sturm aussahen. „Klingt nach Herzinfarkt.“

„Danke für das Gespräch“, erwiderte ich ironisch. „Aber was war das auf seiner Brust? Es sah aus wie ein Insektenstich.“

„Vielleicht … ein Insektenstich?“

Ich warf eine Büroklammer nach ihm. Er duckte sich weg. „Keine Ahnung, Cat. Mach dir nicht so viele Gedanken.“

„Es war aber seltsam. Vielleicht lag es daran, dass es wirkte, als sei Mr Kelly von diesem Mann im schwarzen Anzug angegriffen worden.“

„Ich dachte, du konntest nicht genau erkennen, ob es derselbe Typ war?“

Ich antwortete nicht sofort. „Es ist mehr so … so ein Gefühl. Warum war er so plötzlich da? Und bei unserem Zusammenstoß vor Harrods war Kelly auch in der Nähe. Und sein Handy ist auch spurlos verschwunden.“

Henry brummte nachdenklich. „Hast du das alles der Polizei erzählt?“

Ich nickte.

„Na also. Mehr kannst du nicht tun. Falls die glauben, es wäre nicht mit rechten Dingen zugegangen, dann wirst du von ihnen hören. Aber solche tragischen Unglücksfälle kommen in London täglich vor, Cat.“

„Ja, schon klar“, meinte ich unzufrieden, während ich eine Büroklammer verbog. „Aber irgendwie … ach, ich weiß auch nicht.“ Ich legte die Büroklammer wieder zurück und stand auf. „Das Ganze war jedenfalls schrecklich. Der Mann hatte panische Angst. Ich konnte es spüren, Henry. Richtig körperlich spüren.“ Unruhig tigerte ich auf und ab.

Henry langte nach meiner Hand, um mich auf seinen Schoß zu ziehen, wie früher, wenn er mich tröstete. Der Stuhl ächzte bedenklich. „Hey, komm schon, Kleine. Es ist schlimm, einen Menschen sterben zu sehen. Und die meisten haben eine Scheißangst. Kein Wunder, dass es dich so mitnimmt, wenn du so hautnah dabei warst.“

Dumpf murmelte ich etwas an seiner Brust.

„Was sagst du?“

Theatralisch nach Luft japsend befreite ich mich. „Ich sagte, ich wäre dankbar, wenn ich diese Erfahrung heute nicht selbst machen müsste, weil du versuchst, mich zu ersticken.“ Ich war nicht zierlich, aber mein Bruder hatte die Figur eines Ringers.

Er strubbelte mir durchs Haar. „Oh, tut mir leid. Wir können ja heute Abend noch mal darüber reden.“

„Heute Abend gehe ich mit Daniel ins Kino. Und morgen fahre ich mit dem Fahrrad in Richtung Küste. Ich muss mal ein paar Tage raus.“

„Ein paar Tage?“ Henry sah mich skeptisch an. „Morgen ist Donnerstag.“

„Ja und?“

„Wie lange dauern ein paar Tage?“

„Warum?“, fragte ich betont langsam. „Ich frage Daniel, ob er am Freitag nachkommt. Und vielleicht bleibe ich länger als bis Sonntag. Ich hab ja noch fast drei Wochen Zeit, bis ich bei Lloyd’s anfange. Das Wetter soll doch vorläufig schön bleiben.“

Henry zeigte beim Lächeln die Zähne. „Nimmst du einen brüderlichen Ratschlag an? Fahr erst nächste Woche. Oder sei Samstag wieder da.“

Ich stöhnte. „Überraschungsparty?“

Henry betrachtete interessiert die Decke. „Ich hab nichts gesagt.“

„Und ich dachte, ich hätte ihm klargemacht, dass ich dieses Jahr keine Party möchte“, murrte ich. „Ich plane meinen Geburtstag lieber selbst. Oder gar nicht.“

„Komm schon. Dan macht das für dich. Und man hat schließlich nur einmal im Jahr Geburtstag.“ Energisch schob er mich Richtung Tür.

Ich lächelte schief. „Aber jedes Jahr wieder.“

„Mach, was du willst, Schwesterlein, aber lass mich jetzt weiterarbeiten, sonst bekomm ich noch Ärger mit meinen Patienten.“

Ich knuffte ihn noch einmal und trollte mich.

Dr. Jacob Grant 21, Black Street Glasgow

An: Patricia Grant 4, Horseferry Road City of Westminster, London

Glasgow, den 7. Februar 1933

 Liebe Patricia!

Ich fühle mich geehrt, dass sich D hat überreden lassen, es mit uns zu versuchen, und noch vielmehr, dass er unseren Vorschlag überhaupt in Erwägung gezogen hat. Ich verstehe seine Vorbehalte, die Du in Deinem Brief wohl ganz versehentlich zu erwähnen vergessen hast, denn sowohl Dir als auch mir mangelt es an seiner Erfahrung. Wie Du, halte auch ich es jedoch für dringend notwendig, den Zeichen der Zeit Rechnung zu tragen. Wir müssen handeln, bevor die Falschen profitieren! Richte D bitte aus, ich habe nicht vor, ihn zu enttäuschen.

Rechne mit mir Anfang März, denn viel zu regeln habe ich nicht.

Dein Cousin Jacob

SIEBEN

Als Daniel mich am Abend abholte, erzählte ich ihm natürlich als Erstes von meinem Erlebnis in London. Er war ziemlich schockiert darüber, dass Kelly in meinen Armen gestorben war, daher bot er mir gleich an, den Kinoabend abzusagen.

„Nein, Blödsinn!“ Sein Feingefühl freute mich. „Ich bin ganz froh, wenn ich ein bisschen Ablenkung habe. In welchen Film gehen wir denn eigentlich?“

Er zögerte etwas zu lang. „Melinda kommt übrigens auch mit und … wir haben Karten für Inglourious Basterds ... der läuft nur heute“

Es klang wie ein Zwischending aus einer Frage und einer Feststellung.

„Oh …“ Eigentlich hätte ich es mir denken können. Auf die Ankündigung, dass dieser mehr als zehn Jahre alte Film im Rahmen der Mittwochs-Klassiker-Reihe in unserem Kino gezeigt werden sollte, hatte Daniel mich schon letzte Woche aufmerksam gemacht. Mit Ausnahme von mir, standen unsere Freunde alle auf solche Filme, daher war Daniel klar, dass ich mir diesen Film nicht ausgesucht hätte – wobei ich sowieso nicht auf die Idee gekommen wäre, an solch einem schönen Sommerabend ins Kino zu gehen. Ich rechnete ihm hoch an, dass er spürte, dass mir ausgerechnet heute noch weniger der Sinn nach ausschweifend inszeniertem Mord und Totschlag stand als sonst.

Weil ich so lange nichts erwiderte, trat er von einem Bein aufs andere. Er konnte nichts für meine gedrückte Stimmung, daher ließ mich die Tatsache, dass er die Karten meinetwegen verfallen lassen würde, endgültig weich werden. „Ist schon in Ordnung. Lass uns ruhig gehen.“

„Sicher?“ Vorsichtig nahm er mich in den Arm. „Wir müssen nicht ins Kino, wenn du nicht willst.“

Ich stellte mich auf die Zehen, um ihm einen Kuss auf die Nase zu geben. „Es ist ja nur ein Film“, sagte ich. „Komm schon, die anderen warten.“

Natürlich war es nur ein Film, doch bei nahezu jedem Leinwandtoten musste ich an den toten Mr Kelly denken. Und es gab ziemlich viele Tote.

Als wir aus dem Kino kamen, schwirrte mein Kopf genauso wie die vielen Stimmen um mich herum. Ich versuchte, mich auf die Unterhaltung meiner Freunde zu konzentrieren.

„Irgendwie fand ich den Film ziemlich brutal.“ Sandy schüttelte sich. „Diese ekligen Szenen, wo sie die Nazis skalpieren, hätten sie sich sparen können.“

Diese Feststellung fand ich die Untertreibung des Jahres.

„Das soll doch bestimmt nur die Brutalität dieser Zeit verdeutlichen“, sinnierte Melinda, die wie immer versuchte, die tiefere Bedeutung zu ergründen. „Einerseits waren da die Nazis mit ihrer schrecklichen Ideologie und ihren furchtbaren Konzentrationslagern. Sie haben gefoltert und gemordet, weil sie Rassisten waren oder im Dienste ihrer sogenannten Wissenschaften. Andererseits wurden im Krieg doch auf allen Seiten Menschen getötet – und nicht nur die Deutschen waren grausam. Denk mal an Ostpreußen. Die Russen. Und ich bin ganz sicher, dass auch die anderen Alliiert…“

„Aber die Amerikaner haben niemanden skalpiert!“, unterbrach Sandy, empört darüber, dass die historischen Tatsachen derart verfälscht wurden.

„Natürlich nicht“, beschwichtigte Matt seine Freundin. „Aber wer von uns weiß schon genau, was damals so alles passiert ist? Das wissen doch nur die, die dabei waren.“

Im Foyer streifte ich unabsichtlich die Zeitung eines Lesenden, der an einem Tisch saß.

„Verzeihung!“ Ich sah kurz über meine Schulter nach hinten.

Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke, bevor er sich wortlos wieder seiner Zeitung zuwandte. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Seine Augen waren so schwarz wie die des Mannes im Anzug heute Nachmittag in London. Ich machte einen halben Schritt zurück, damit ich den Mann am Tisch noch einmal von der Seite betrachten konnte. Er trug eine Hornbrille, seine fettigen Haare lugten unter einem Baseballcap hervor und fielen ihm an den Seiten ins schmuddelige Gesicht, sein Mantel wirkte abgetragen. Mit hängenden Schultern saß er da, völlig in einen Zeitungsbericht vertieft.

„Cat?“ Daniel hatte bemerkt, dass ich stehen geblieben war. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja, ich habe nur nach meiner Geldbörse geschaut“, schwindelte ich und schloss zu den anderen auf, die immer noch über den Film diskutierten.

„Gehen wir noch mit in den Pub?“, fragte Daniel.

Ich nickte, wobei ich den Impuls unterdrückte, mich noch einmal nach dem Mann am Tisch umzudrehen. Ich musste mir eingestehen, dass ich anscheinend wirklich unter Verfolgungswahn litt.

Patricia Grant 4, Horseferry Road City of Westminster, London

An: Dr. Jacob Grant 21, Black Street Glasgow

London, den 17. Februar 1933

Lieber Jacob!

Bitte nimm Dir genügend Zeit!

Ich habe ein schlechtes Gewissen gegenüber Deinen Eltern, denn in Anbetracht der gegenwärtigen politischen Lage ist nicht abzusehen, wann Du wieder heimkehren wirst. Du solltest den Auftrag keinesfalls unterschätzen!

Deine Cousine Patricia

Leatherhead, Surrey

Sie besaß einen bemerkenswerten Instinkt für Absonderlichkeiten. In ihren Augen hatte er Argwohn aufblitzen sehen, genau, wie sie sich auf dem Rückweg von London immer wieder umgedreht hatte. Doch weder schien sie in diesen Dingen ausgebildet zu sein noch zu ahnen, warum er in ihrer Nähe geblieben war, daher reagierte sie wie die meisten Menschen – wahrscheinlich glaubte sie, sie würde es sich einbilden. Gut so.

Mit einer belanglosen Geste nahm er sein Handy und hielt es so, dass die Kamera ihm zeigte, was hinter ihm geschah. Es fiel ihm nicht schwer, die schlanke Gestalt mit den langen blonden Locken inmitten der Menschentraube auszumachen, die gerade das Kino verließ. Ohne sichtbare Eile erhob er sich ebenfalls und schlenderte hinaus. 

Die spätabendliche Dunkelheit war wie immer sein Freund, während er der Gruppe unauffällig durch die Straßen folgte, bis sie in einen Pub einkehrte. Sein Blick huschte umher, auf der Suche nach einem Ort, von dem aus er den Eingang gut im Blick behalten konnte. Er entschied sich für eine mächtige Eiche rund dreißig Meter entfernt auf einem kleinen Platz. Im Schatten des Stammes fand er bequem Platz. Er lehnte sich gegen das Holz und richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Atmosphäre seiner Umgebung. Es vergingen einige Minuten, in denen die einzige Bewegung das Blinzeln seiner Augenlider war. Er bemerkte nichts Beunruhigendes. Für den Moment konnte er sich entspannen.

Trotzdem: Ein mechanischer Kontrollgriff zeigte, dass seine Waffe, gut verborgen in einem Holster unter seiner rechten Achsel, jederzeit einsatzbereit war. Allerdings würde er sie nur in Notfällen benutzen, denn er bevorzugte leises, unauffälliges Vorgehen. Er schürzte die Lippen. Kelly hatte sich seiner nachdrücklichen Bitte widersetzt. Das war verhängnisvoll – für Kelly. Ohne Zögern hatte er das Problem aus der Welt geschafft.

Es ausgelöscht.

Unwillkürlich griff er sich an den rechten Unterarm und rieb über den Stoff. Prompt brannte seine verletzte Haut und rief die Erinnerung wach. An das Feuer. Ätzend biss der Geruch angesengter Haare und verbrannten Fleisches in seine Nase. Ein von frischen Brandwunden gezeichneter Körper, der vorher schon schwach und kränklich gewesen war, stürzte neben ihm ins kalte Wasser. Ihr Gesicht, eine Grimasse namenlosen Grauens, ein Zerrbild früherer Anmut. 

„Hilf … mir …“ Ihre Augen waren voller Zuversicht auf ihn gerichtet.

Allein konnte er es erreichen, das rettende Land. Aber für sie war es weit. Zu weit.

Seine Lippen bewegten sich tonlos. „Verzeih mir, Julia.“

Der lodernde Schmerz war verebbt und seine Gedanken fokussierten sich wieder auf die Frau.

Caitlyn Brown.

Hatte Kelly etwas zu ihr gesagt? Namen genannt? Er war nun sicher, dass sie die Tochter von Elisabeth Grant war, und er hatte das untrügliche Gefühl, dass Brown keine Ahnung hatte, was das bedeutete.

Dr. Jacob Grant 21, Black Street Glasgow

An: Patricia Grant 4, Horseferry Road City of Westminster, London

Glasgow, den 28. Februar 1933

Liebe Patricia!

Natürlich unterschätze ich den Auftrag nicht, ich bin schließlich kein Idiot. Also sorge Dich nicht jetzt schon um mich. Es genügt völlig, damit anzufangen, wenn Du allen Grund dazu hast, und den wird es früher oder später mit Sicherheit geben. Die Frage ist wohl weniger, wann ich wieder heimkehre, sondern ob überhaupt. Du siehst, ich mache mir keine Illusionen.

Ich habe es übrigens Vater erzählt und er findet, es ist meine Pflicht. Er wird Mutter erklären, was sie wissen muss, sobald ich fort bin. 

Finola lässt grüßen. Sie möchte Dich bald in London besuchen. Mit vierzehn hält sie sich für alt genug, endlich einmal Großstadtluft zu schnuppern – also mach Dich auf was gefasst.

Dein Cousin Jacob

S F C E !

SECHS

Am nächsten Morgen schwang ich mich auf mein Fahrrad, um mich auf den Weg ans Meer zu machen. Anstatt den direkten Weg über die stark befahrene A24 zu nehmen, fuhr ich einen Umweg von fast zehn Meilen, der mich mitten durch die ruhigen grünen Hügel von Sussex führte. Mit jeder Meile, die ich zurücklegte, wuchs der Abstand zu den Ereignissen des Vortages. Trotzdem konnte ich mir nicht verkneifen, mich von Zeit zu Zeit umzusehen.

Für zwei Nächte mietete ich ein Zimmer im High Trees Guest House in Worthing. Hohe Bäume suchte man hier zwar vergebens, aber ich war schon öfter hier gewesen und kannte die netten Besitzer. Außerdem war es nicht weit bis zum Meer. Es war das letzte Haus in einer Reihe von denkmalgeschützten, roten Klinkerhäusern, die alle vor rund hundert Jahren, in der Zeit Edwards VII., erbaut worden waren. Die Blümchentapete mit dazu passenden Vorhängen und die gestärkte Bettwäsche gaben dem Zimmer ein altmodisches, aber gemütliches Flair.

Am frühen Freitagnachmittag saß ich an einem der Tische vor dem „blue ocean“, einem Fish & Chips Restaurant in unmittelbarer Nähe der belebten Strandpromenade. Vom Meer wehte der Geruch nach Salz und Sonne herüber. Das „blue ocean“ befand sich gleich am Anfang der Fußgängerzone, wo es wenig Verkehr gab, sodass mir der braune Lieferwagen eines Paketdienstes unwillkürlich auffiel. Während ich gerade abzuschätzen versuchte, ob ich noch genug Zeit haben würde, um der Burg in Arundel einen Besuch abzustatten, sah ich dem Fahrer zu, wie er mit dem elektronischen Lesegerät herumhantierte, etwas hinten aus dem Wagen holte und schließlich auf die Straße sprang. Er verzog den Mund zu einem charmanten Grinsen, als er schnurstracks auf mich zusteuerte. Dabei zeigte er beim Lachen seine ebenmäßigen Zähne, das kurze Haar stand wie eine Bürste von seinem Kopf ab.

„Ich hab was für Sie.“ Er legte ein Päckchen vor mir auf den Tisch. 

Verblüfft sah ich erst das Päckchen, dann ihn an. Schließlich lachte ich. „Wie oft hatten Sie damit schon Erfolg?“

„Erfolg?“ Fragend hob er die Brauen, während er mit dem Stift auf dem Display des Lesegerätes herumtippte. „Was meinen Sie denn damit?“

„Wie viele Verabredungen hat Ihnen so ein Päckchen schon eingebracht?“

Er zuckte mit den Schultern und hielt mir das Gerät samt Stift unter die Nase. „Wieso Verabredungen? Es ist doch mein Job, die Päckchen auszuliefern. Hier bitte unterschreiben.“

„Äh … wie jetzt …?“ 

„Bitte unterschreiben“, wiederholte er freundlich.

Ich warf einen Blick auf das Display. ‚Brown‘ stand dort. Dass mein Nachname stimmte, konnte nur Zufall sein – immerhin trugen einige Hunderttausend andere Menschen den gleichen Namen. „Das Päckchen ist doch nicht wirklich für mich“, sagte ich skeptisch. 

„Sicher ist es das.“ 

„Aber … nein … es weiß doch niemand, dass ich hier bin. Sie müssen mich verwechseln.“

Er tippte auf den Adressaufkleber. „Ich verwechsle nie etwas.“

„Was?“ Vollkommen verblüfft las ich: Ms Caitlyn R. Brown

Blue Ocean, 3 South Street, Town Centre, Worthing BN11 3AL

„Würden Sie dann jetzt bitte unterschreiben, Ms Brown? Ich muss nämlich weiter.“

Mechanisch kritzelte ich meinen Namen auf das Display.

„Danke.“ Er zwinkerte mir mit babyblauen Augen zu, dann steckte er mit einer schwungvollen Bewegung das Gerät wie eine Pistole in das Halfter an seinem Gürtel und verschwand.

Ohne mich zu rühren, starrte ich weiter auf den Adressaufkleber, als enthielte das Päckchen eine scharfe Bombe. Schließlich spürte ich, wie ein Lachen in meiner Kehle aufstieg. Ich raufte mir die Haare, während ich krampfhaft den Impuls unterdrückte, mich auffällig nach allen Seiten umzudrehen, um nach einer versteckten Kamera zu suchen. 

Das hier war vollkommen absurd!

In diesem Moment kam das Essen. Während ich langsam aß, wartete ich die ganze Zeit darauf, dass mich endlich irgendjemand über den Witz an der Sache aufklärte. Doch weder die Familie, die am Nebentisch lärmte, noch das verliebte Pärchen und erst recht nicht der Tourist, der zu essen vergaß, weil er die ganze Zeit an seiner Hightech-Kamera herumfummelte, schienen etwas damit zu tun zu haben.

Immer wieder tippte ich das Päckchen an und betrachtete es gründlich von allen Seiten. Auf dem Versandaufkleber stand zwar mein Name und die Adresse des „blue ocean”, aber kein Absender. Die üblichen Buchstaben- und Zahlenkombinationen, mit denen eine Sendung identifiziert und verfolgt werden konnte, gaben mir natürlich auch keine Auskunft.

Als ich aufgegessen hatte und immer noch niemand gekommen war, um die Aktion als Scherz zu enttarnen, nahm ich das Päckchen in die Hand. Es war sehr leicht. Vorsichtig wickelte ich das braune Packpapier ab. Darunter kam eine zweite Schicht zum Vorschein, an der die gefalteten Ecken mit einem Klecks roten Wachs versiegelt waren. Ich brach das Siegel und ein längliches, schwarzes Kästchen kam zum Vorschein. Im Inneren war es mit glänzend weißem Satin bezogen.

Darin lagen zwei Schmuckanhänger, die an einer bronzefarbenen Gliederkette befestigt waren. Als ich sie herauszog, fielen ein paar lange grüne Nadeln heraus, dem Aussehen und dem intensiven Geruch nach zu urteilen Kiefer. Die Kette war lang, schlicht und besaß grobe, ovale Glieder. Ein Anhänger war ein fein ziselierter Bartschlüssel, wie man ihn für Möbelschubladen oder Schatullen verwendete. Der zweite Anhänger war eine flache Scheibe, auf der beidseitig ein Stern sowie weitere ineinander verschlungene Linien, Sterne und Kreise eingraviert waren. An den Spitzen des siebenzackigen Sterns waren geschliffene Schmucksteine eingelassen. Die Steine funkelten in intensivem Blau, leuchtendem Grün, strahlendem Goldgelb, schillerndem Violett, erdigem Braun, kristallklarem Weiß und der letzte sogar in tiefem Schwarz.

Fasziniert ließ ich die Kette durch meine Hände gleiten. Als ich das Kästchen weiter untersuchte, fand ich nur ein schwarz-weißes Emblem, das auf den Satinstoff im Deckel gedruckt und identisch mit dem Abdruck des Wachssiegels war: ein gebogener Gürtel mit verschlungenen Buchstaben, in dessen Mitte Feuer züngelten.

Wer zum Henker hatte mir das Päckchen geschickt? Wer wusste, dass ich gerade hier saß? Und woher wusste der Fahrer eigentlich, dass ich die richtige Empfängerin war?

Weil der Anfangsbuchstabe meines zweiten Vornamens auf dem Adressaufkleber stand, schränkte das den Personenkreis, der als Absender infrage kam, stark ein. Selbst meine besten Freunde wussten nicht, dass ich überhaupt einen zweiten Vornamen hatte, denn ich mochte ihn nicht besonders. Rolanda – ich hätte gern gewusst, welcher Teufel meine Eltern geritten hatte, als sie mir diesen unmöglichen Namen verpassten. Daniel war einer der wenigen, die ihn kannten. Mit ihm hatte ich vorhin in seiner Mittagspause telefoniert und hatte ihm erzählt, wo ich Fisch und Chips essen wollte, denn wir waren einmal zusammen hier gewesen.

Allerdings war mir neu, dass ein Paketdienst solche Art der Zustellung akzeptierte – aber etwas Besseres fiel mir nicht ein.

„Ja?“ Im Gegensatz zu vorhin klang er fast schon abweisend.

„Wie hast du das angestellt?“

„Wie habe ich was angestellt?“ Im Hintergrund hörte ich Stimmen. „Du, ich bin gerade in einem Meeting.“

„Dann erzähl es mir später … danke schon mal für die Kette. Sie ist echt toll! Und woher hast du das Sieg…?“

„Was? Welche Kette?“

„Die Kette, die du mir gerade geschickt hast.“

„Ich habe dir keine Kette geschickt. Wie soll ich denn …? Oh, ja natürlich, Mr Vaughn … Cat, tut mir leid, ich muss Schluss machen.“ Er legte auf.

Ich sah mein Handy an. Wenn Daniel mir die Kette nicht geschickt hatte, wer war es dann? Nachdenklich strich ich mit dem Zeigefinger über die weichen Kiefernnadeln und betrachtete das Emblem und die Buchstaben.

S F C E.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was das bedeuten sollte.

4.7.1935

Telegramm von: Eudora Shaw, Royal Botanic Gardens, Richmond, Surrey

An: Dr. Gregory Fletcher, Botanisches Institut, Berlin

Juncus ambiguus empfohlen STOP Gewächshaus erst renovieren STOP Blaue und gelbe Lilien luxurieren STOP Dauerhafter Erfolg wünschenswert STOP

SFCE

Worthing, Sussex

Der UPS-Wagen verließ Worthing über die Upper Brighton Road und den vierspurigen Sompting Bypass. Schon einen Kilometer weiter war die Besiedlung nur noch spärlich und es überwog das satte sommerliche Grün der englischen Hügel. Der Wagen bog in die schmale Church Lane ab und hielt kurz darauf auf dem kleinen Schotterparkplatz der St. Mary’s Church, der, von dichtem Buschwerk umstanden, dazu geeignet war, neugierige Blicke abzuschirmen. Freddy drehte sich halb zu der alten Dame um, die im Laderaum zwischen den Päckchen auf einem Notsitz Platz genommen hatte. Ihre perfekt sitzende Kurzhaarfrisur war schneeweiß, das dezent aufgetragene Make-up betonte ihre stahlblauen Augen gerade richtig und ließ die welke Haut ihres Gesichts eher nebensächlich erscheinen. Es war schwer, ihr Alter zu schätzen.

„Vielen Dank für Ihre Mühe, Freddy.“ Sie erhob sich.

„Warten Sie! Ich helfe Ihnen!“ Freddy beeilte sich, aufzustehen.

Sie machte eine Handbewegung, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. „Nicht nötig. Ich komme sehr gut allein zurecht.“

Mit erstaunlich geschmeidigen Bewegungen ging sie nach vorn auf den Beifahrersitz und öffnete die Tür. Bevor sie ausstieg, hielt sie ihm einen Umschlag hin. Ihre grazilen Hände waren übersät mit Altersflecken. Am Ringfinger ihrer linken Hand trug sie einen alten Siegelring.

„Das haben Sie sich verdient, junger Mann. Immerhin habe ich Sie mit meinem Anliegen eine ganze Weile von Ihrer Arbeit abgehalten. Da müssen Sie heute wohl ein wenig länger ran.“

Betont gleichgültig zuckte Freddy mit den Schultern und griff nach dem Umschlag. Er konnte das Geld gut gebrauchen, daher war ihm die Zeit egal.

Während sie langsam ausstieg, verwarf er den Gedanken, das Geld im Umschlag gleich nachzuzählen. Bevor sie losgefahren waren, hatte die Frau ihm hundert Pfund gegeben und ihm dieselbe Summe noch einmal versprochen, wenn er ihr half, das Päckchen wie eine normale Sendung mit einem echt wirkenden Aufkleber zu versehen und abzuliefern – allerdings hatte sie darauf bestanden, mitzukommen. Zuerst war er deswegen verärgert gewesen, doch mit dem Charme einer waschechten Lady hatte sie ihm versichert, dass sie selbstverständlich nicht an seiner Aufrichtigkeit zweifle, sondern nur gern einen Blick auf die Empfängerin werfen wolle.

Neugierig geworden, hatte er schließlich zugestimmt. Die Frau hatte ihren Namen nicht genannt und ihrem Akzent nach zu urteilen, kam sie nicht aus der Gegend. Irgendwo aus dem Norden, tippte er. Schottland vielleicht.

„Auf Wiedersehen, Freddy“, sagte sie, während sie Anstalten machte, die Tür zu schließen.

„Madam – warten Sie. War das eigentlich Ihre … ich meine, eine Verwandte von Ihnen?“ Nachdem er sein Geld bekommen hatte, war es ihm gleichgültig, ob sie seine Frage aufdringlich fand. Er ging jede Wette ein, dass eine merkwürdige Familienangelegenheit dahintersteckte. 

Die Frau hob eine Braue. „Wie kommen Sie darauf?“

„Weil … na ja, Sie sehen ihr ein bisschen ähnlich.“ 

Als er das Päckchen übergeben hatte, war es ihm aufgefallen. Die hohen Wangenknochen, Form und Stellung der Augen und besonders die Mimik – die gerade jetzt, wo sie überrascht war, ziemlich gleich ausfiel. 

Helles Lachen, wie man es bei einer alten Frau nicht vermutet hätte, perlte durch die Sommerluft. Sogar dieser Klang hatte eine Färbung wie bei der Empfängerin des Päckchens.

„Junger Mann, ich glaube, Ihre Fantasie geht gerade mit Ihnen durch.“ Sie wollte sich schon abwenden, doch dann sah sie ihn noch einmal an. „Eigentlich geht es Sie nichts an, aber da Sie es anscheinend mögen, zu fabulieren: Sie ist die Enkelin meines Cousins.“ Mit so leiser Stimme, dass er sie kaum verstand, ergänzte sie mehr zu sich selbst: „Und ich hoffe bei Gott, dass ich gerade keinen Fehler gemacht habe.“ Dann schlug sie die Tür mit einer solchen Heftigkeit zu, dass Freddy zusammenzuckte, und ging zu einer schwarzen Limousine, die wie aus dem Nichts vorn auf der Straße aufgetaucht war.

Geschlagene fünf Minuten saß Freddy hinter seinem Steuer und starrte dem längst verschwundenen Wagen nach. Schließlich nahm er seine Arbeit wieder auf.

FÜNF

Der Sonntag war fast zwei Stunden alt, als ich in meinem Zimmer Giebel- und Dachfenster sperrangelweit öffnete. Nach dem schwülen Tag war es immer noch heiß und stickig hier oben. In der Ferne sah ich Wetterleuchten. Mit einem Seufzer ließ ich mich rücklings auf mein Bett fallen und starrte an die Dachschräge über mir. 

Nachdem ich am Nachmittag zurückgekehrt war, hatte Daniel mich zum Eisessen eingeladen, anschließend hatten wir einen Spaziergang gemacht und waren dann zu seinen Eltern gefahren, wo – Überraschung, Überraschung – ein Teil meiner Geburtstagsgäste bereits eingetroffen war. Es war wirklich alles perfekt organisiert und ich brauchte nicht mehr zu tun, als das Fest zu genießen. Bis Mitternacht war es auch recht schön gewesen, daher hatte ich Daniel seine Eigenmächtigkeit schon halb verziehen.

Doch jetzt war mein Kopf voller denn je, und ich würde sowieso keinen Schlaf finden. Ich rieb mir die Schläfen und stand auf. Suchend ließ ich die Finger über meine CDs gleiten. Vivaldis Vier Jahreszeiten waren jetzt genau das Richtige, um ein wenig zur Ruhe zu kommen. Ganz leise, um niemanden zu stören, erklang schließlich das heitere Thema des Frühlings.

Weit in der Ferne hörte ich Donnergrollen. Die Atmosphäre war von dem bevorstehenden Gewitter aufgeladen. Weil ich nicht so recht etwas mit mir anzufangen wusste, setzte ich mich an den Schreibtisch und klappte den Laptop auf. Während er hochfuhr, sichtete ich den Stapel Post, der während meiner Abwesenheit für mich angekommen war. Einen Brief von der Lloyd’s zu öffnen, verschob ich auf später, es hatte sicher mit meinem neuen Job zu tun und das eilte nicht. Die Werbung wanderte ungelesen in den Papierkorb. Zwei Briefe enthielten Geburtstagsgrüße von der Verwandtschaft meines Vaters. Ein gepolsterter DIN-A5-Umschlag war in nichtssagenden, mit Kugelschreiber geschriebenen Druckbuchstaben adressiert – samt Initiale meines zweiten Vornamens! Es gab keinen Absender. Laut Poststempel war er in London aufgegeben worden.

Unwillkürlich berührte ich meine neue Kette. Daniel hatte hoch und heilig beteuert, sie mir nicht geschickt zu haben, und dann rasch über die Begeisterung für seine Überraschungsparty das Interesse daran verloren. Befand sich die Antwort auf die Frage, von wem die Kette stammte, vielleicht in diesem Brief? Ich zog mir die Kette über den Kopf und legte sie daneben.

Ich seufzte tief.