DAS EULENTOR - Andreas Gruber - E-Book

DAS EULENTOR E-Book

Andreas Gruber

5,0

Beschreibung

Im August 1911 segeln Alexander Berger, der Kartograph Hansen und eine Handvoll Norweger ans Ende der Welt. Inmitten zerklüfteter Gletscher und arktischer Temperaturen sterben die Teilnehmer an Erfrierungen, stürzen in Gletscherspalten oder verschwinden unter mysteriösen Umständen im Blizzard. Kurz vor Abbruch der Expedition entdecken die Überlebenden einen mysteriösen Schacht, der senkrecht und scheinbar endlos tief in die Erde führt. Sie wollen dieses Rätsel, das jedem physikalischen Gesetz widerspricht, lösen. Der gefährliche Abstieg in die Dunkelheit beginnt, wo Tod und Wahnsinn lauern …  "Wenn Andreas Gruber eines kann, dann Spannung! Und das clever und originell. Er schreibt so, wie andere gerne schreiben würden." - Thomas Finn 

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ANDREAS

GRUBER

DAS

EULENTOR

MYSTERY-THRILLER

Copyright © 2021 by Andreas Gruber

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München

Überarbeitete Auflage

Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd.

www.luzifer-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlag: Michael Schubert | Luzifer-Verlag

Lektorat: Karla Seedorf

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN: 978-3-95835-621-4

eISBN: 978-3-95835-622-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Jürgen,

Kritiker und Testleser der ersten Stunde

Inhalt

VORWORT

EINLEITUNG

PROLOG

1. TEIL DIE ANKUNFT

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

2. TEIL DIE EXPEDITION

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

3. TEIL DIE ABRIEGELUNG

24. KAPITEL

25. KAPITEL

4. TEIL DER SCHACHT

26. KAPITEL

27. KAPITEL

28. KAPITEL

29. KAPITEL

30. KAPITEL

31. KAPITEL

32. KAPITEL

33. KAPITEL

34. KAPITEL

35. KAPITEL

36. KAPITEL

37. KAPITEL

5. TEIL DAS MUSEUM

38. KAPITEL

39. KAPITEL

6. TEIL DER ABSTIEG

40. KAPITEL

41. KAPITEL

42. KAPITEL

43. KAPITEL

44. KAPITEL

45. KAPITEL

46. KAPITEL

47. KAPITEL

48. KAPITEL

49. KAPITEL

50. KAPITEL

51. KAPITEL

52. KAPITEL

53. KAPITEL

54. KAPITEL

7. TEIL DAS SCHIFF

55. KAPITEL

56. KAPITEL

57. KAPITEL

8. TEIL DIE STATION

58. KAPITEL

59. KAPITEL

60. KAPITEL

9. TEIL DIE ISOLATION

61. KAPITEL

62. KAPITEL

10. TEIL DAS ENDE

63. KAPITEL

64. KAPITEL

11. TEIL DER TOD

65. KAPITEL

66. KAPITEL

12. TEIL DIE PROPHEZEIUNG

67. KAPITEL

68. KAPITEL

69. KAPITEL

70. KAPITEL

EPILOG

VORWORT

Vor vielen Jahren wurde ich einmal bei einem Interview gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, einen historischen Roman zu schreiben. Um bei der Wahrheit zu bleiben, meine Antwort lautete: »Um Himmels willen, nein!« Doch als mir Alisha Bionda im Jahr 2007 anbot, für den Blitz Verlag einen unheimlichen Roman zu schreiben, woraufhin ich das Konzept für Das Eulentor erstellte, entdeckte ich meine alte Liebe für die Werke von Jack London, Jules Verne, Robert Louis Stevenson, H. P. Lovecraft, Mary Shelley und Edgar Allan Poe wieder, und so siedelte ich die Romanhandlung am Beginn des vorherigen Jahrhunderts an.

Das Eulentor erschien im Januar 2008 im Blitz Verlag in einer limitierten Auflage von nur 888 Exemplaren, gewann noch im selben Jahr den Vincent Preis für den besten Roman und war bald darauf vergriffen.

Dreizehn Jahre später habe ich diese Fassung stilistisch überarbeitet und um eine Rahmenhandlung erweitert, die in der Gegenwart spielt – eine Idee, die ich damals schon gehabt hatte, aber aus Platzgründen nicht umsetzen konnte. Jetzt habe ich es gemacht, und damit ist dieses Buch fast doppelt so umfangreich wie damals.

Ich danke Steffen Janssen, der mir die Möglichkeit gab, den Roman in der hier vorliegenden erweiterten Neuauflage im Luzifer Verlag neuen Lesern zu präsentieren. Für Ideen, hilfreiche Kommentare und Verbesserungsvorschläge bedanke ich mich weiters bei meinen Testlesern Heidemarie Gruber, Jürgen Pichler, Robert Froihofer, Gaby Willhalm, Roman Schleifer, Stefanie Schauer und Veronika Grager, sowie bei meiner Lektorin Karla Seedorf.

Außerdem danke ich meinem ehemaligen Physikprofessor Viktor Schedl für seine Erklärungen, die mir dabei halfen, die physikalischen Phänomene für die Handlung zu entwickeln. Weiterer Dank geht an Kurt Kobler für seine ausgezeichneten Ideen und technischen Erläuterungen zur Erforschung des Schachts und an Klaus Rucziczka für das Sachbuch über Ernest Shackleton und seine legendäre Südpolexpedition, die seinerzeit tragisch gescheitert ist. Ich wünsche Ihnen mit diesem Buch einige schlaflose Nächte – und falls nicht, dann zumindest einige eiskalte Träume.

Grillenberg, im Herbst 2021

»Die älteste und stärkste Form der Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.«

H. P. LOVECRAFT

EINLEITUNG

In der Sprache der Wikinger wurde die norwegische Inselgruppe Spitzbergen Svalbard genannt, was so viel wie »kalte Küste« bedeutet.

Spitzbergen liegt östlich von Grönland, wo es die Packeisgrenze zum Franz-Joseph-Land bildet. Obwohl die Insel so groß ist wie Holland und Belgien zusammen, hat sie nur zweieinhalbtausend Einwohner, die sich auf fünf kleine Siedlungen verteilen. In der größten Ortschaft Longyearbyen gibt es einen Linienflughafen, doch außerhalb des bewohnten Gebiets befindet man sich inmitten der Arktis, mit Temperaturen von bis zu minus vierzig Grad im Winter. In den Monaten April bis September macht die Mitternachtssonne keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Das ewige Eis verursacht Schneeblindheit, während Stürme mit hundert Kilometern in der Stunde durch die Fjorde peitschen und Winde unaufhörlich in den Bergen heulen.

In dem Land mit seinen über 1700 Meter hohen zerklüfteten Gletschern und Eisplateaus sind Hundeschlitten und Helikopter die einzigen Transportmöglichkeiten. Ein einsamer, weißer Fleck auf der Landkarte, nur geeignet für Eisbohrungen und meteorologische Forschungen. Nicht umsonst bezeichnete man die Insel früher als – das Ende der Welt.

PROLOG

NOVEMBER 2021

Neele Tujunens Herz schlug bis zum Hals. Ihre Hand war erhoben, doch sie zögerte. Sollte sie ihren wahnwitzigen Plan tatsächlich in die Tat umsetzen? Um sieben Uhr morgens stand sie im ersten Stock des Storfjord Motels und klopfte an die Tür Nummer 11. Das war das Verrückteste, das sie in ihrem bisherigen Leben getan hatte: bis hoch oben ins norwegische Tromsø zu reisen und sich heimlich in dieses Motel zu schleichen, das direkt am Meer lag.

Neele wartete, dann klopfte sie erneut. Nichts. Sie schob die Wollmütze zur Seite und legte das Ohr an die Tür. Dr. Sveja Levandowa war bestimmt schon wach. Neele klopfte noch mal an die Tür, diesmal fester. Jetzt war eine weibliche Stimme im Zimmer zu hören. Augenblicklich hämmerte Neeles Herz noch schneller. War Dr. Levandowa nicht allein? Mist! Doch dann merkte sie, dass die Ärztin offenbar telefonierte, da sie keine zweite Stimme hörte.

Rasch trat Neele einen Schritt zurück, wartete eine Weile, dann klopfte sie ein weiteres Mal an die Tür. Am Ende des Gangs klingelte die Fahrstuhltür. Ein älteres Ehepaar mit Koffern trat in den Korridor. Die zwei diskutierten auf Englisch. Sie suchten wohl ihr Zimmer. Neele drehte ihnen den Rücken zu, damit die beiden ihr Gesicht nicht sehen konnten.

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. Dr. Sveja Levandowa stand vor ihr. Sie hatte soeben ihr Telefonat beendet, blickte in den Gang und starrte Neele neugierig an. Offensichtlich war sie schon bestens für den Flug gerüstet. Schicker weißer Parka mit schwarzer Kapuze, warme schwarze Thermohose, feste Wanderschuhe. Hinter ihr stand ein weißer Hartschalenkoffer neben der Spiegelkommode. Vermutlich mit ihrer Ausrüstung. Die Ärztin war etwa so alt wie Neele, Mitte dreißig, aber einen halben Kopf größer als sie. Und mit den langen blonden Haaren unter der Schirmkappe und dem schmalen Gesicht sah sie wirklich rattenscharf aus – wie der Kellner an der Bar des Motels gestern Abend gesagt hatte.

»Darf ich einen Augenblick hereinkommen?«, fragte Neele auf Englisch. »Es dauert nicht lange.«

Dr. Levandowa sah sie skeptisch an. »Sind Sie die Pilotin?«

Neele umklammerte die Riemen ihres Rucksacks. »Nein, aber … es geht tatsächlich um Ihren Flug. Ich würde gern kurz mit Ihnen darüber sprechen. Darf ich rein?« Hinter ihrem Rücken hörte sie, wie das ältere Ehepaar eine Tür öffnete und in ein Zimmer verschwand.

»Nein, tut mir leid.« Sveja Levandowa lächelte nachsichtig. »Wer immer Sie sind, wir müssen das auf ein anderes Mal verschieben. Ich bin in Eile. Man erwartet mich bereits.«

Neele ignorierte die Aussage, drängte sich an Levandowa vorbei ins Zimmer und hob gleichzeitig entschuldigend die Arme. »Es ist wirklich dringend.«

»Was soll das? Ich muss weg!«

»Ja, ich weiß, Sie fliegen nach Spitzbergen zu einer Arktisstation.«

Levandowa runzelte die Stirn. »Gehören Sie also doch zum Team?«

»Nun … ja«, log Neele rasch.

Levandowa sah sie skeptisch an. »Davon wusste ich nichts. Einen Moment, das muss ich überprüfen.« Sie hob das Handy und wollte schon tippen.

Neele atmete tief durch. »Nein, Sie haben ja recht«, gab sie schließlich zu. »Ich gehöre nicht dazu, aber ich muss Sibirion irgendwie erreichen.«

Levandowas Hand sank herab, sie zog eine Augenbraue hoch. »Mich wundert, dass Sie von diesem Flug wissen und sogar den Namen der Station kennen. Sind Sie von der Presse?«

»Ich heiße Neele Tujunen – und nein, ich bin keine Journalistin.«

»Jetzt weiß ich es.« Levandowa zeigte mit dem Finger auf sie. »Sie sind diese seltsame Frau, die hier schon seit Tagen merkwürdige Fragen stellt und nach einer Gelegenheit sucht, nach Spitzbergen zu kommen!«

Und mit diesen Fragen habe ich mir nicht unbedingt Freunde gemacht. Neele ging nicht weiter darauf ein. »Nehmen Sie mich bitte mit«, bat sie stattdessen.

Levandowa lachte laut auf. »Na klar, wir machen eine kleine Sightseeing-Tour.« Dann wurde sie ernst. »Hören Sie, dieser Flug ist geheim. Eigentlich dürfte ich gar nicht mit Ihnen darüber reden. Aber mich würde schon interessieren, wie Sie davon erfahren haben.«

»Der nördliche Hafenbereich von Tromsø ist nicht gerade eine Metropole – der Barkeeper des Storfjord Motels ist ein Cousin des Helikopterpiloten«, gab Neele zu. Durch einen glücklichen Zufall hatte sie von ihm erfahren, dass die Ärztin zur Station geflogen werden sollte. Das war ihre Chance gewesen, die sie kurzerhand nutzen wollte.

»Der Pilot also«, seufzte Levandowa. »Das wird ein Nachspiel haben.« Sie zog die Augenbrauen zusammen und deutete mit dem Handy auf Neele. »Und jetzt raus aus meinem Zimmer, sonst rufe ich die Rezeption an! Ich bin schon spät dran.«

Neele betrachtete die Ärztin, während sie die Hand in der Seitentasche ihrer Windjacke verschwinden ließ. »Ist das Ihr letztes Wort?«

»Ja, raus jetzt!«

»Dann lassen Sie mir keine andere Wahl.« Neele zog das Pfefferspray aus der Tasche und sprühte Levandowa damit ins Gesicht. Gleichzeitig trat sie mit dem Fuß die Tür zu. Während Levandowa das Telefon fallen ließ, die Hände vors Gesicht riss und schreiend zurücktaumelte, holte Neele die Flasche Chloroform aus der Tasche. Hastig nahm sie den Deckel ab. Ihre Hände zitterten. Beim Versuch, das Tuch zu tränken, verschüttete sie die Hälfte auf den Teppich. Fuck! Augenblicklich traten ihr von dem beißenden Geruch Tränen in die Augen.

Levandowa schlug um sich, offenbar roch sie ebenfalls das Chloroform und wusste, was ihr bevorstand, aber Neele war bereits hinter ihr und drückte ihr das Tuch auf Nase und Mund. Es wirkte nicht gleich, und Levandowa wollte sich aus dem Griff befreien, da kippte Neele kurzerhand den Rest der Flasche in Levandowas Gesicht. Herrgott, verflucht! Das lief alles nicht so wie geplant.

Endlich erschlaffte der Körper der Frau. Bevor sie umfiel, packte Neele sie unter den Achseln, zog sie quer durchs Zimmer und wuchtete ihren Oberkörper aufs Bett. Da Neele wusste, dass die Wirkung des Chloroforms nach ein paar Minuten verflog, wenn man es nicht ständig nachdosierte, kramte sie den Rest ihrer Ausrüstung aus dem Rucksack und streute ihn aufs Bett.

»Du hast es so gewollt«, nuschelte sie, während sie mit den Zähnen die Folie von der Spritze riss. Sie zog eine volle Dosis aus einer Ampulle Betäubungsmittel auf. Fünf Milliliter intravenös reichen völlig aus, hatte ihr ein befreundeter Apotheker erklärt, aber in der Hektik würde sie keinen sauberen Stich in die Vene zusammenbringen. Außerdem bewegte sich Levandowa schon wieder und stöhnte leise auf.

Also nahm Neele die doppelte Dosis – zehn Milliliter –, öffnete Levandowas Thermohose und zerrte sie ihr bis zu den Knien herunter. Dann jagte sie ihr die Spritze ohne vorherige Desinfektion seitlich in den Oberschenkel. Daran wirst du schon nicht sterben!

»Süße Träume, Schönheit!« Neele wischte sich den Schweiß von der Stirn und wartete eine halbe Minute, bis das Mittel zu wirken begann. Indessen beruhigte sich ihr Herzschlag wieder.

Das war schon mal geschafft. Aber du musst dich beeilen. Der Pilot auf der Helikopterplattform würde nicht ewig auf Levandowa warten. Sie zog der Ärztin Schuhe, Hose und Parka aus, zerrte ihre Beine aufs Bett und brachte sie in eine stabile Seitenlage, nur für den Fall, dass sie sich während der Bewusstlosigkeit übergeben musste. Aber das sollte nicht passieren. Die nächsten sechzehn Stunden würde Dr. Sveja Levandowa friedlich schlafen und mitten in der kommenden Nacht bloß mit leichten Kopfschmerzen, aber einem Mordshunger aufwachen. Das war's.

Neele deckte die Frau zu. Dann hob sie den Hörer vom Festnetztelefon auf dem Nachttisch und wählte die Rezeption. Nach einer Weile meldete sich ein junger Mann. »Sveja Levandowa, Zimmer Nummer 11«, sagte sie. »Ich würde das Zimmer gern noch bis morgen früh verlängern, falls das geht.«

Neele hörte, wie der Mann auf der Tastatur herumtippte. »Das ist kein Problem, das Zimmer ist frei. Geht diese Rechnung auch auf Dr. Rohnen?«

»Ja, und bis morgen bitte keine Störungen.«

»In Ordnung, ist notiert.«

»Vielen Dank.«

Neele legte auf und zog das Kabel aus der Telefonbuchse. Danach schloss sie die Vorhänge der beiden Fenster. Augenblicklich wurde es dunkel. Im Dämmerlicht entkleidete sie sich und stopfte ihre Hose und ihre Windjacke in den Rucksack. Die Spritze, das Tuch und die Flasche Chloroform ließ sie in einer der Seitentaschen verschwinden.

Anschließend schlüpfte sie in Dr. Levandowas Thermohose und deren Parka. Da sie selbst feste Trekkingschuhe trug, würde sie die behalten. Außerdem bezweifelte sie, dass ihr die Schuhe der Ärztin gepasst hätten. Sie musste lediglich die etwas zu lange Hose unten einmal umschlagen. Der Parka hingegen saß wie angegossen. Neele hatte an Levandowas Oberschenkeln und Armen gemerkt, dass die Frau regelmäßig trainierte, aber sie selbst ging auch konsequent ins Gym und trainierte Zehnkampf. So gesehen waren sie sich optisch gar nicht so unähnlich. Und wenn sie aufrecht ging, würde den Größenunterschied niemand so schnell bemerken.

Allerdings musste sie ihre langen, gewellten, feurig roten Haare unter Levandowas Schirmmütze verstecken. Die coole Kappe zeigte das Emblem der NASA. Ihre eigene Wollmütze stopfte sie seitlich in den Parka. In der Brusttasche fand sie sogar eine Spiegelsonnenbrille. Perfekt!

Zuletzt hob sie Levandowas Handy auf. Es lag immer noch vor der Tür, wo die Ärztin es fallen gelassen hatte. Ein Smartphone mit Fingerprintsperre, die Neele mit dem Zeigefinger der bewusstlosen Frau entriegelte. Danach ging sie in die Einstellungen und löschte die Sperre.

Wie sie jetzt sah, hatte Levandowa zuvor mit dem meteorologischen Institut in Longyearbyen gesprochen. Anscheinend hatte sie sich nach den Wetterverhältnissen erkundigt.

Sie steckte das Handy ein und fand auf der Spiegelkommode eine dünne, blaue Mappe mit dem ringförmigen Logo der Sibirion Forschungs- & Entwicklungstechnik. Diese Firma gab es also wirklich, sie war nicht bloß ein Hirngespinst von ein paar Verrückten, die Verschwörungstheorien im Internet posteten. Neele stopfte auch diese Unterlagen in ihren eigenen Rucksack, den sie schulterte. Dann schnappte sie sich Levandowas Hartschalenkoffer, ein schweres Ding auf vier Rollen. Bevor sie das Zimmer verließ, schaute sie sich noch einmal um. Hatte sie etwas vergessen? Sie ging ihren Plan erneut kurz in Gedanken durch. Nein, im Moment verläuft alles noch halbwegs wie geplant.

Sie hängte das Do-not-disturb-Schild draußen an die Klinke, dann verließ sie das Zimmer in Richtung Fahrstuhl. Um nicht an der Rezeption vorbeizumüssen, nahm sie den Seitenausgang, ging über den Parkplatz und marschierte von dort zügig zum Helikopterlandeplatz.

Schon von Weitem bemerkte sie den Piloten. Die Morgensonne ließ das Meer hinter ihm glitzern. Er stand mit aufgestelltem Pelzkragen neben einem gelben Eurocopter und sah ungeduldig auf die Uhr. Sie wusste nicht, wo genau die Station lag, aber der Pilot musste es wissen. Er durfte während des Flugs nur nicht allzu viele Fragen stellen.

Während sie auf die Maschine zuging, setzte sie sich die Sonnenbrille auf und zog die Schirmkappe tiefer ins Gesicht. Danach kramte sie Levandowas Handy aus dem Parka und tat so, als würde sie telefonieren.

»Ja, ich bin schon bei der Plattform … In Ordnung, Dr. Rohnen, wir starten in wenigen Minuten«, sagte sie, als sie in Hörweite des Piloten war.

»Dr. Levandowa?«, fragte dieser.

Sie nickte, dann stellte sie ihm den Koffer hin, damit er ihn einladen konnte. Normalerweise hätte sie das selbst getan, aber es war besser, den Mann zu beschäftigen, damit er nicht auf die Idee kam, misstrauische Fragen zu stellen.

Während er das Gepäck einlud, hielt sie kurz das Handy weg. »Wie lange dauert der Flug?«, flüsterte sie.

»Knapp drei Stunden.« Er schob die Frachtklappe zu und öffnete ihr die Tür. »In Longyearbyen tanken wir auf, danach geht es noch mal eine halbe Stunde weiter zur Station.«

»Danke.« Immer noch vorgebend, zu telefonieren, stieg sie ein und legte den Gurt an.

Vier Stunden – perfekt! Sie hatte ausreichend Zeit, sich in Dr. Levandowas Unterlagen einzulesen.

1. TEIL

Vier Stunden später …

DIE ANKUNFT

NOVEMBER 2021

1. KAPITEL

Der Eurocopter landete an der Westküste Spitzbergens, fünfundvierzig Kilometer landeinwärts, am Ende des Hornsund-Fjords in einer lang gezogenen engen Bucht. Die Walrossbucht. Neben dem Helikopterlandeplatz gab es nur die Basisstation, die wenige Meter vom Ufer entfernt lag, und einen Holzsteg, an dem ein kleines weißes Schiff vor Anker im Eismeer dümpelte.

Der Flug hierher sowie die Landung waren turbulent gewesen. Mit heftigem Gegenwind hatten sie die 960 Kilometer von Tromsø nach Longyearbyen in dreieinhalb Stunden zurückgelegt, aufgetankt und waren dann – wie Kim, der Pilot, ihr erklärt hatte – noch mal knapp dreißig Minuten bis hierher unterwegs gewesen.

Neele hatte keine Ahnung vom Fliegen, aber Kim hatte ihr erzählt, dass extreme Kälte einem Heli nichts ausmachte. Im Gegenteil: Je kälter, desto besser, da die Luft dann dichter war und die Rotorblätter weniger Luft durchdrücken mussten. Kim war ja ganz nett, entsprach aber mit seiner gedrungenen Gestalt, dem Bürstenhaarschnitt und dem schwarzen Ziegenbärtchen nicht unbedingt dem Bild des typischen Norwegers. Sie selbst sah zwar nicht so gut aus wie Dr. Levandowa, was Kim aber nicht daran gehindert hatte, sie zwischen seinen Erklärungen trotzdem anzubaggern. Allerdings erfolglos!

Noch während die Rotorblätter langsamer wurden, packte Neele ihren Koffer und stieg aus. Sogleich empfing sie eisiger Wind. Der Salzwassergeruch war hier um einiges intensiver. Auch war es in der Bucht um einige Grad kälter als in Longyearbyen und deutlich kälter als in Tromsø. Der Himmel war grau. Sonne gab es hier keine mehr – nicht um diese Jahreszeit.

Sie wartete darauf, dass Kim den Heli verließ, damit er sie zur Station begleiten konnte. Der harte Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Binnen Sekunden fror Neele das Innere ihrer Nasenflügel ein. Gegen den Wind gestemmt gingen sie weiter. Nun sah sie, dass es sich bei dem Boot um ein modernes Forschungsschiff handelte, die Sköldpadda. Wenige Meter weiter lag die Basisstation. Sibirion I. Neele blickte zum Funkmast mit der hohen Antenne empor, die sich gefährlich im Wind bog, und zu den beiden hoch aufragenden zylinderförmigen Türmen. Dahinter befand sich ein Kran.

»Wasser- und Dieseltank«, erklärte Kim, der die Station offenbar schon öfter angeflogen hatte. »Hundertfünfzig Kubikmeter bestes arktisches Schmelzwasser für Toilette, Küche und Dusche.«

Neele nickte nur. Zwischen den Tanks lag die Station mit einer stabilen grauen Metalltür mit fünf Eisenscharnieren. Wenige Meter davor steckte eine Tafel im gefrorenen Schnee.

Willkommen am Arsch der Welt. Sie konnte den Schriftzug kaum noch entziffern, weil das Schild bereits wie ein Schweizer Käse durchlöchert war. Vermutlich Schießübungen der gelangweilten Crew. Daneben standen zwei Schneemobile und eine große rote Pistenraupe. Jemand hatte ihr ein grinsendes Haifischgebiss auf die Seite gemalt. Lag wohl an der Einsamkeit hier draußen.

Die Tür zur Station flog auf und ein kleiner Mann im schwarz-weiß gefleckten Anorak mit Fellkapuze trat heraus. An seinem langen, blonden, geflochtenen Bart und der runden Nickelbrille erkannte sie den Ozeanografen der Station. Sein Foto in Dr. Levandowas Unterlagen zeigte ihn zwar etwas jünger, aber dennoch war das unverkennbar Skördal.

»Hallo, Kim«, rief der Mann, »guten Tag, Frau Doktor. Stürmischer Flug, nicht wahr?« Er grinste mit schiefem Mund. »Aber das Wetter wird noch schlechter.« Er reichte ihr die Hand, ohne sich den Handschuh auszuziehen. Dann blickte er auf ihren Koffer. »Ist das die ganze Ausrüstung?«

Neele nickte. Während des Tankstopps hatte sie sich mit dem Inhalt vertraut gemacht. Nur wenig medizinisches Equipment, der Rest war Kleidung. Anscheinend hatte Levandowa geplant, einige Tage auf der Station zu verbringen.

»Nun, wir haben hier genug medizinische Instrumente.« Skördal nickte zum Felsplateau hoch, das etwa fünfhundert Meter hoch aufragte und mit einem kleinen Überhang über der Bucht thronte.

Neele sah ebenfalls hinauf, konnte aber im beginnenden Schneetreiben nicht viel von einer zweiten Station erkennen. Vom Helikopter aus hatte sie jedoch das Gebäude auf dem Plateau ausmachen können. Sibirion II.

»Alexander Berger hat dieses Fleckchen einst vor über hundert Jahren entdeckt, nicht wahr?« Sie versuchte, ihre Worte wie gewöhnlichen Small Talk klingen zu lassen.

Skördal warf ihr über seine Nickelbrille hinweg einen seltsamen Blick zu. Er wirkte etwas verschroben. »Darüber weiß ich nichts«, sagte er rasch.

Aus dem ist also nichts herauszubekommen!

Neele schielte zu Kim. Keine Reaktion auf seinem Gesicht. Jedenfalls sah er so aus, als hätte er diesen Namen auch gerade zum ersten Mal gehört.

Neele nickte zum Eingang. »Da rein?«

Skördal schüttelte den Kopf. »In den Containerbauten sind nur Küche, Unterkünfte, Haupt-, Funk- und Technikraum. Und dahinter liegen die Werkzeughütten.«

… und das kleine angebaute Museum, fügte Neele in Gedanken hinzu, in dem sich laut ihren Recherchen angeblich jener Kellerabgang befand, der unters Eis führte. Sie reckte den Hals und betrachtete die Gebäude aus Wellblech, konnte jedoch nichts erkennen, was wie ein Museum aussah.

Skördal wies nach oben zum Felsplateau. »Da geht's rauf, Lady. Ich hoffe, Sie sind schwindelfrei. Ist ein schmaler Serpentinenweg.« Er grinste. In seinem Mund befand sich nur eine Handvoll Zähne. »Haben Sie die unterschriebene Verschwiegenheitserklärung mit?«

Neele nickte. Sie hatte das Papier in Dr. Levandowas Unterlagen gefunden. Nun kramte sie den Zettel aus der Brusttasche des Parkas und gab ihn Skördal. Während er das Formular überflog, sah sie sich noch einmal in der Bucht um. Der wissenschaftliche Leiter der Station war der Geophysiker Dr. Rohnen. Darüber hinaus hatte sie über Sibirion nur wenig im Internet erfahren können, bloß, dass die Station, wie alle anderen Arktisstationen, rund um die Uhr erwärmt werden musste, da die Kälte sonst die Kabelisolierungen so zufrieren ließ, dass sie zerbröselten, sobald man sie berührte. Ebenso wusste sie, dass eine deutsche Herkules-Maschine einmal im Monat auf dem Eis landete, um den Müll abzuholen und Nahrungsmittel, Brennstoff und neue Forschungsgeräte zu bringen. Im November war das schon passiert. Die nächste planmäßige Landung war Mitte Dezember, also in drei Wochen. So lange hatte Neele nicht warten wollen. In Tromsø war sie mit ihrer Fragerei ohnehin schon unangenehm aufgefallen.

»Na fein«, knurrte Skördal und ließ das Formular in seiner Tasche verschwinden, bevor es der Wind in Fetzen riss. »Ihren Koffer packen wir hinten aufs Schneemobil. Sie fahren mit mir. Kim, du nimmst am besten das zweite Mobil.«

Kim starrte den Mann nicht gerade begeistert an. »Der Heli ist sowieso nur für höchstens vierundzwanzig Stunden gebucht. Kann ich nicht in der Station warten? Es ist saukalt.«

»Sorry, aber seit gestern ist die gesamte Station zur Hochsicherheits-Sperrzone erklärt worden. Ich kann dich nicht allein hier unten lassen, es sei denn …«, Skördal grinste, »… du hast Lust, im Heli zu warten. Da wird dir aber der Arsch abfrieren, Mann.« Er versperrte die Eingangstür, ließ den Schlüsselbund in der Jackentasche verschwinden und fingerte stattdessen zwei Schlüssel für die Schneemobile heraus. Einen warf er Kim zu, der ihn jedoch nicht rechtzeitig fing und ihn aus dem Schnee buddeln musste. »Alter, du hast eine Reaktion wie ein totes Schneehuhn. Ihren Koffer müssen Sie selbst tragen, Lady. Ich habe einen schlimmen Rücken.«

»Kein Problem.« Neele ergriff den Koffer und folgte Skördal zum Schneemobil.

Der musterte sie mit einem Grinsen von oben bis unten. »Dr. Rohnen hat mir viel von Ihnen erzählt. Hab Sie mir größer vorgestellt. Er freut sich schon darauf, Sie wiederzusehen. War wohl eine alte Liebe, was?«

Neele verharrte kurz in der Bewegung. Wiederzusehen? Ihr ging der Arsch auf Grundeis. »Tja«, sie lachte gekünstelt, »ist schon lange her.«

Skördal runzelte die Stirn. »Zwei Jahre, dachte ich. Aber verschieben wir den Small Talk auf später.« Er nickte nach oben. »Wir sollten uns beeilen. Ein Schneesturm kommt auf.«

2. KAPITEL

Oben auf dem Plateau blies der Wind noch viel schlimmer als im Tal. Die Fahrt auf dem schmalen, verschlungenen Pfad war tatsächlich beängstigend gefährlich gewesen, aber die Aussicht dafür atemberaubend schön. Zumindest auf das wenige, das Neele im Schneegestöber hatte erkennen können. Jedenfalls hatte Skördal recht behalten. Ein Sturm zog auf, der Sibirion II bald vollkommen einhüllen würde.

Jetzt parkten die Schneemobile draußen unmittelbar vor dem Eingang. Kim und Neele wärmten sich im Aufenthaltsraum auf. Sie hatten den Schnee von ihrer Bekleidung abgeklopft und Jacken und Handschuhe ausgezogen. Neeles Nase lief immer noch wie ein kaputter Wasserhahn, obwohl sie sich schon zweimal geschnäuzt hatte. Und ihr Puls war auf hundertzehn.

Skördal hatte irgendetwas erzählt, von wegen, sie müssten beide hier warten. Den Grund hatte sie vergessen. Sie konnte an nichts anderes denken als an Dr. Rohnen. Wie würde er reagieren, wenn er sie sah und begriff, dass sie gar nicht Dr. Sveja Levandowa war? Verwirrt? Zornig? Angriffslustig? Oder gar bedrohlich? Auf jeden Fall würde er sofort versuchen, die Ärztin am Handy zu erreichen, und wenn dann auch noch Levandowas Telefon in Neeles Parka anschlug – sofern es überhaupt ein Netz in dieser Gegend gab –, würde er als Nächstes das Storfjord Motel in Tromsø anfunken. Dann würde man die Tür zu Levandowas Hotelzimmer öffnen und der ganze Schwindel würde früher auffliegen, als Neele gehofft hatte.

Überleg dir schon mal eine gute Ausrede für alles!

Dr. Levandowa ist beruflich verhindert und hat dich als ihre Assistentin geschickt.

Das kauft dir niemand ab.

Sie ist über Nacht erkrankt.

Noch unglaubwürdiger!

Oder du rückst gleich mit der Wahrheit heraus und verrätst, warum du alle möglichen Risiken auf dich genommen hast, um hierherzukommen.

Ganz schlechte Idee! Das würde dir erst recht niemand glauben.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Kim. Er hatte sich einen Becher Kaffee aus dem Automaten gedrückt, an dem er sich die Finger wärmte.

Sie nickte.

»Wollen Sie auch einen?«

»Nein, danke.« Koffein würde ihren Adrenalinspiegel nur noch mehr in die Höhe jagen. »Kennen Sie Dr. Rohnen eigentlich?«, fragte sie wie nebenbei.

Kim nickte. »Flüchtig.«

»Und … wie wirkt er so auf Sie?«

»Na ja, nichts für ungut, Sie kennen ihn ja wohl besser als ich, aber mir kommt er wie ein fanatischer Wissenschaftler vor. Je mehr er unter Druck steht, desto mehr läuft er zu Höchstform auf.«

»Tatsächlich?« Mist!

»Wenn ich ehrlich sein darf, er gibt jedem das Gefühl, als wäre er von lauter Schwachsinnigen umgeben.«

Ein nettes Kerlchen. Dass sich Levandowa mit so jemanden eingelassen hat?

Da kam ihr eine Idee. Sie würde versuchen, Dr. Rohnen zu verklickern, dass Levandowa nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte – weder privat noch beruflich. Stattdessen wäre sie angereist. Ein schwaches Argument, aber vielleicht würde sie damit verhindern können, dass Dr. Rohnen auf der Stelle Levandowa anrief. Irgendwann würde Rohnen natürlich begreifen, dass sie keine Ahnung von Medizin hatte, doch bis dahin hatte sie Zeit. Sie ließ die Hand in der Tasche verschwinden und schaltete sicherheitshalber Levandowas Smartphone aus.

»Weshalb sind Sie eigentlich hier?«, fragte Kim.

Gute Frage! Neele hatte in den Unterlagen der Ärztin nichts darüber finden können. »Das unterliegt der Schweigepflicht«, erinnerte sie ihn an das Formular, das sie Skördal gegeben hatte.

Kim nickte, fragte nicht weiter nach und wärmte seine Hände am Becher.

Die Tür zum Aufenthaltsraum öffnete sich mit einem summenden Geräusch und eine gut aussehende Frau Ende vierzig trat ein. Sie trug einen weißen Kittel. Als eine von zwei Frauen auf der Station – eine blutjunge und eine ältere – musste das Dr. Dröja sein.

Neele ging auf die Dame zu. »Dr. Dröja?«, fragte sie und streckte ihr die Hand entgegen. »Dr. Rohnen hat mir schon viel über Sie erzählt.«

»Ja, äh, guten Tag, danke, dass Sie so schnell kommen konnten.« Nervös drückte Dröja ihre Hand. Es sah nicht so aus, als kannte sie Levandowa persönlich. »Ich bin die Biologin der Station.«

»Ich weiß … weisen Sie mich ein?«, fragte Neele vorsichtig.

Dröja schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, aber es gibt nicht viel, das ich Ihnen berichten könnte.«

Neele runzelte die Stirn. »Das heißt?«

»Als Dr. Rohnen zuletzt mit Ihnen gesprochen hat, hatte Ekqvist bereits schweres Fieber und Schüttelfrost.«

»Ich erinnere mich«, log Neele. Sie rief sich die Datenblätter aus den Unterlagen ins Gedächtnis. Ekqvist war der Ionensphärenforscher der Station. »Wie geht es ihm jetzt?«

Dröja verzog das Gesicht. »Seit dem letzten Funkkontakt ist viel passiert. Soweit ich das beurteilen kann, wurden seine Nieren geschädigt, die Wassereinlagerungen haben seinen Körper aufgeschwemmt und ihn grotesk anschwellen lassen.«

»Grotesk?«, wiederholte Neele verunsichert.

»So was habe ich noch nie gesehen. Keines unserer Antibiotika hat etwas genutzt, und sogar das Morphium konnte Ekqvists Schmerzen nicht lindern. Heute Morgen ist er gestorben. Skördal wusste nichts davon. Er hat den ganzen Tag unten in der Basisstation auf Ihre Ankunft gewartet.«

»Oh, das tut mir leid …« Neele spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

»Selbst wenn Sie einige Stunden früher gekommen wären, hätten Sie ihn nicht mehr retten können. Es tut mir leid.« Dröjas Augen wurden feucht. Sie blinzelte die Tränen weg. Ihre Hände zitterten.

Neele hörte, wie Kim hinter ihr schluckte.

Die Biologin sah kurz zu dem Piloten. »Es wird keinen Krankentransport geben. Stattdessen müssen Sie jetzt die Leiche ausfliegen.«

Neele nickte. Ihr Gaumen war trocken. Deswegen war sie also hier. In den Unterlagen hatte sie unter anderem einen Lebenslauf von Sveja Levandowa gefunden, aufgrund dessen die Konzernleitung ihren Besuch auf der Station genehmigt hatte. Levandowa war Hämatologin und Spezialistin für Blutkörperchen und hatte am Karolinska-Institut der königlich medizinischen Universität in Solna bei Stockholm ihre Ausbildung für Innere Medizin gemacht. Seit mehreren Jahren war sie Fachärztin für bösartige Erkrankungen des Blutes, Bildungsstörungen des Knochenmarks und Blutveränderungen durch immunologische Prozesse. Offenbar hatte Ekqvists Erkrankung etwas damit zu tun gehabt.

»Kümmern Sie sich darum, dass die Leiche zum Helikopter transportiert wird?«, fragte Neele. Ein kleiner Hoffnungsschimmer machte sich in ihr breit. Mit etwas Glück würde sie gar nicht mit Dr. Rohnen zusammentreffen. Allerdings schmälerte das auch ihre Chancen, mehr über Alexander Berger zu erfahren. Jetzt gerade war zumindest kein guter Moment, um die Biologin nach ihm zu fragen.

Dröja nickte. »Ja, das wird demnächst veranlasst.« Sie starrte nervös auf die Tür, aus der sie gekommen war. Dahinter war ein gedämpftes Rumpeln zu hören. »Aber im Moment haben wir andere Probleme.«

»Andere Probleme?«, wiederholte Neele.

»Ich möchte Sie bitten, sich noch eine Weile zu gedulden. Bleiben Sie am besten hier. Ich komme gleich wieder.« Dröja nickte ihnen kurz zu, dann verschwand sie durch die Tür.

Neele erhaschte einen Blick in den langen Korridor, aber bis auf weiße Wände, Leuchtstoffröhren an der Decke und orangefarbene Schilder an den Türen war nicht viel zu erkennen.

»Puuuh«, stöhnte Kim auf, nachdem sie wieder allein waren. »Das klingt nach einer üblen Sache.«

Nun würde ihr Aufenthalt auf Spitzbergen kürzer als geplant ausfallen. Bevor sie abflog, musste sie jedoch unbedingt einen Blick in die untere Station werfen. Zur Not würde sie vorgeben, die Toilette aufsuchen zu müssen, oder einen Übelkeitsanfall vortäuschen. Du musst dieses Museum finden!

Neele zuckte zusammen. Hinter der Tür waren Getrampel und Kreischen zu hören. Erschrocken schaute sie Kim an. Der sah ebenfalls entsetzt auf und hatte unwillkürlich den Plastikbecher in der Hand zerdrückt. Kaffee lief ihm über die Finger, ohne dass er es bemerkte. »Was ist da los?«, keuchte er.

Hilfeschreie ertönten, Gläser klirrten, als fiele ein schwerer Wandschrank mit Reagenzgläsern um. »Kommt das aus den Labors?«, fragte Neele.

Kim zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, was sich hinter dieser Tür befindet.« Anscheinend wurde ihm erst jetzt bewusst, dass er den Becher zerdrückt hatte. Er zielte damit in den Abfalleimer neben dem Automaten, traf aber daneben. Statt den Becher aufzuheben, ließ er ihn einfach auf dem Boden liegen und wischte sich die Hände an der Hose ab.

»Sollten wir nicht nachsehen?« Neeles Stimme zitterte.

Kim verzog ängstlich das Gesicht. Eine Sirene schrillte los. An der Decke ging ein rotes Licht an. Mist! Kim stand wie erstarrt an die Wand gedrückt da.

»Wir müssen doch etwas tun!«, rief Neele. »Vielleicht brauchen die Hilfe.«

Kurz hintereinander fielen mehrere Schüsse. Erneut zuckte Neele zusammen.

»Ich gehe da nicht rein«, japste Kim. Sein Gesicht war fast so weiß wie die Wand hinter ihm.

Ein weiterer Schuss, diesmal näher. Wieder Schreie.

»Verdammt.« Kim schnappte sich seine Jacke und stürzte zur Tür, durch die sie in den Aufenthaltsraum gekommen waren.

»Warten Sie! Wo wollen Sie hin?«, rief Neele ihm nach.

»Wohin wohl? Zum Schneemobil.«

Verflucht, dieser Mistkerl! Sie starrte zur Tür, hinter der der Lärmpegel jetzt zunahm. Sie trat darauf zu. Die Tür öffnete sich von selbst. Der Lärm der Sirene wurde lauter. Auch in dem Gang brannte nun ein rotes Drehlicht an der Decke. Sie konnte jedoch nichts erkennen. Hörte nur den zunehmenden Tumult, das Geschrei und weitere Schüsse.

Inmitten des Lärms spürte sie auf einmal die Anwesenheit einer weiteren Person hinter sich. Kim? Ist er zurückgekommen? Sie drehte sich um. Zu spät bemerkte sie den großen Schatten.

Wer immer es war, hatte sich ihr rasch von hinten genähert. Etwas Hartes traf sie seitlich am Unterkiefer. Der Schmerz fuhr ihr augenblicklich durch den Körper. Gleichzeitig zerplatzte Sternenregen vor ihrem Gesicht. Ihr Kinn brannte wie Feuer. Benommen sank sie auf die Knie. Sie wollte den Kopf heben, doch der zweite Schlag traf sie von oben an der Schläfe. Während sie zu Boden fiel, wurde ihr schwarz vor Augen.

Kurz bevor sie ohnmächtig wurde, sah sie, wer sie niedergeschlagen hatte. Es war nicht Kim gewesen …

3. KAPITEL

Als Neele erwachte, lag sie immer noch auf dem Boden. Schmerzen pochten in ihrem Schädel. Fuck! Mit geschlossenen Augen tastete sie zuerst mit der Zunge ihren Mund ab. Sie schmeckte getrocknetes Blut. Dann bewegte sie den Kiefer. Zum Glück war nichts gebrochen, allerdings tat er höllisch weh. Ebenso die Schläfe.

Langsam öffnete sie die Augen. Sie sah von ihrer Perspektive aus, auf dem Boden liegend, direkt in den Gang. Die Tür war aus den Angeln gerissen. Im Korridor flackerte immer noch das rote Deckenlicht, und die Sirene heulte nach wie vor ohrenbetäubend. Neele rappelte sich auf und tastete sich ab. Bis auf die Blessuren von den Schlägen war sie offenbar nicht verletzt.

Was ist hier passiert? Und wer zum Teufel hatte sie niedergeschlagen? Sie versuchte, sich zu erinnern, aber ihr fehlten die letzten Sekunden, bevor sie zu Boden gefallen war. Bloß die Schmerzen an Kiefer und Schläfe blieben als Erinnerung zurück.

Nun sah sie auf ihre Armbanduhr. O Gott! Sie hatte hier etwas mehr als vier Stunden lang bewusstlos gelegen. Wenigstens waren keine Schreie, kein Krachen und keine Schüsse mehr zu hören. Nur das monotone Schrillen der Sirene.

Neele zögerte, die Angst saß ihr in den Knochen, doch dann stützte sie sich an der Wand ab und trat in den Gang. Der erste Raum linker Hand war wohl tatsächlich ein Labor mit Computerarbeitsplätzen, Mikroskopen, Zentrifugen und jeder Menge Reagenzgläsern. Stühle waren umgekippt, Scherben und Monitore lagen auf dem Boden. Der Raum sah aus, als hätte ein Wahnsinniger darin gewütet.

Unter einem Tisch lag Dröja neben ihrer jungen Kollegin in einer Blutlache. Jemand hatte ihnen die Pulsadern der Länge nach aufgeschnitten. Wie an der Blutspur zu erkennen war, hatten sie versucht, sich durch den Raum zu schleppen.

Der Anblick schnürte Neele die Kehle zu. Aber es kam noch schlimmer. Im hinteren Teil des Raums saß ein grauhaariger Mann mit dem Rücken zu ihr reglos auf einem Bürostuhl. Vermutlich ebenfalls tot. Neele drehte den Stuhl und starrte in sein Gesicht. Sie kannte es aus den Unterlagen von Dr. Sveja Levandowa. Es war Dr. Rohnen, der Leiter der Station. Sein Mund klaffte weit auf, die Augen starrten zur Decke. Blut war ihm aus Nase und Ohren gelaufen.

Neele würgte. Rasch verließ sie den Raum und lief in den nächsten. Eine junge Frau lag in einem Meer aus Scherben und Blut. Herrgott! Was ist da passiert? Sie stolperte weiter. Skördal, der zahnlose Ozeanograf, lag mit zertrümmertem Schädel im Gang. Seine Augen waren nur noch schwarze Höhlen, als hätte sie ihm jemand herausgerissen. Was für ein Albtraum! Sie wollte nichts mehr von alldem sehen, sondern nur noch weg von dieser Station.

Aber wohin?

Neele atmete tief durch. Eins nach dem anderen. Sie kniete sich vor Skördal hin und durchsuchte seine Jacke. Bevor sie mit den Schneemobilen aufgebrochen waren, hatte er die Basisstation zugesperrt. Der Schlüsselbund musste hier irgendwo sein. Tatsächlich fand sie ihn und nahm ihn an sich. Sicherheitshalber! Dann stand sie auf und wankte mit weichen Knien weiter.

In ihrer Panik verlief sie sich. Auf der Suche nach dem Ausgang kam sie als Nächstes an der Krankenstation vorbei, wie sie an dem Schild an der offenen Tür erkannte. Der Raum war nicht beheizt. Auf einem chromfarbigen Tisch lag ein prall gefüllter schwarzer Leichensack von den Ausmaßen eines ausgewachsenen Mannes. Neugierig näherte sich Neele. Ein Zettel klebte auf dem Sack.

Gunnar Ekqvist.

Darunter stand das heutige Datum mit sieben Uhr früh als Todeszeitpunkt. Einen Augenblick lang glaubte sie, der Sack hätte sich bewegt. Sie wich zurück und stieß dabei ein Regal um. Der Lärm ging im Sirenengeheul unter. Panik schnürte ihre Kehle zu. Nein, das war nur eine optische Täuschung gewesen, verursacht vom rotierenden Deckenlicht.

Sie verließ die Krankenstation und hetzte den Gang hinunter. Du musst raus! Nach zwei Abbiegungen gelangte sie durch eine Seitentür wieder in den Korridor, der zum Aufenthaltsraum führte. Endlich! Vor ihr lag die aus den Angeln gerissene Tür. Der zerdrückte Pappbecher lag immer noch neben dem Mülleimer.

Sie stürzte in den Raum, schnappte sich Handschuhe und Parka vom Kleiderhaken und rannte zum Ausgang. Bevor sie ins Freie gelangte, musste sie durch den Empfangsraum. Hier dröhnte die Sirene weniger ohrenbetäubend, nur die Warnlichter flackerten nervtötend rot. Beinahe wäre Neele über einen menschlichen Körper gestolpert, der halb auf dem Boden, halb in einer zersplitterten Vitrine lag. Neele erkannte die Jacke.

Das ist Kim!

Von seinem Gesicht war nicht mehr viel zu erkennen. Jemand musste ihn mehrmals mit dem Schädel gegen die Wand geschlagen und schließlich in die Vitrine gestoßen haben.

Neele fühlte seinen Puls. Da war nichts, weder am Handgelenk noch an der Halsschlagader. Sie wich von der Leiche zurück. Übelkeit kroch ihre Kehle hoch. Rasch schluckte sie den galligen Geschmack hinunter.

Obwohl Kim gleich losgelaufen war, als das Chaos ausgebrochen war, hatte er es nicht bis zum Motorschlitten geschafft. Ihm hätten nur noch wenige Meter nach draußen gefehlt. Und jetzt war er tot – wie alle anderen in dieser Station.

Warum hast du als Einzige überlebt? Dachte der Mörder, dass du bereits tot bist, als du reglos auf dem Boden gelegen hast?

Ein schrecklicher Gedanke nistete sich in ihr Hirn ein. Vielleicht ist der Mörder noch da!

Krampfhaft versuchte sie, sich an die Dossiers in Levandowas Unterlagen zu erinnern. Denk nach! Sie hatte die Leichen aller Crewmitglieder entdeckt. Doch eine fehlte. Die von Olofsson, dem Quantenphysiker der Station. Ihn hatte sie nicht finden können. Womöglich war er noch am Leben. Er hätte ihr vielleicht erklären können, was unmittelbar nach ihrer Ankunft und während ihres Blackouts vorgefallen war. Oder vielleicht – was sogar viel naheliegender ist – ist Olofsson selbst der Mörder!

Mit zitternden Händen schlüpfte sie in den Parka und zog den Reißverschluss bis zum Hals zu. Sie blickte sich um. Hinter ihr war nichts. All diese Toten! Was für ein schrecklicher Anblick das gewesen war.

Du musst raus aus dieser Station und runter von dem Plateau!

Im Moment zählte nur eines – sie musste so schnell wie möglich ein funktionstüchtiges Funkgerät finden und Hilfe holen. Ins Innere der Station würde sie sich nicht mehr wagen. Aber unten in der Basisstation lag neben dem Technikraum der Funkraum. Zumindest hatte Skördal das behauptet. Und zur Not gab es auch noch den Helikopter und das Forschungsschiff.

Sie öffnete die Ausgangstür und starrte in das Schneegestöber vor sich. Mit zwei Schneemobilen waren sie von der Bucht hochgefahren. Jetzt stand nur noch eines da. Dort, wo das zweite gestanden hatte, waren eine kleine Mulde und die Abdrücke der beiden Kufen zu erkennen, die gerade vom Schnee zugeweht wurden.

Neele schlüpfte in die Handschuhe und wischte den Sitz ab. Dann stieg sie auf. Zum Glück steckte der Schlüssel. Sie startete das Mobil und betätigte den Gashebel. Die Abgaswolke und das Röhren des Motors machten sie zuversichtlich, dass sie es unbeschadet bis nach unten schaffen würde.

4. KAPITEL

Seit fünf Minuten raste Neele bereits wie der Teufel mit dem Schneemobil den Hang hinunter. Bei jeder Erschütterung fuhr ihr ein schmerzvoller Stich durch die Handgelenke. Der Fahrtwind zerrte an ihrem Parka.

Vom vereisten Felsplateau bis hinunter zum Meeresniveau der Walrossbucht waren es nur drei Kilometer. Wahrscheinlich hätte die Crew diese Strecke problemlos in wenigen Minuten zurückgelegt, doch jetzt raubte ihr das immer schlimmer werdende Schneegestöber die Sicht. Sie drosselte ein wenig die Geschwindigkeit. Außerdem ging es auf siebzehn Uhr zu und die abendliche Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Neele konnte nicht einmal den mit Stangen markierten Weg zur Basisstation erkennen, den sie sich während der Fahrt zum Plateau eingeprägt hatte.

In der Hektik hatte sie nicht auf den Kilometerstand geachtet, als sie oben weggefahren war. Mittlerweile müsste sie längst die Küste erreicht haben, doch weder das Forschungsschiff noch der Helikopter oder die Station waren zu sehen.

Da verhedderte sich der Motorschlitten in einer Halteleine. Das Seil schnalzte und eine abgebrochene Kunststoffstange sauste an ihrem Kopf vorbei. Als der Motor aufheulte, wurde sie über den Lenker in den Schnee geworfen. Im selben Moment überschlug sich die Maschine und sauste über ihren Kopf hinweg. Instinktiv rollte sich Neele ab. Ein schmerzhafter Stich fuhr ihr durch die Schulter. Einige Meter entfernt krachte die Maschine mit den Kufen voraus in den harten Schnee.

Mühsam wischte sich Neele den kalten Matsch aus dem Gesicht und befreite sich aus der Wechte. Dann kroch sie auf allen vieren zum Mobil. Der Lenker war verbogen, die Kette drehte sich noch, kurz darauf erstarb der Motor mit einem Husten.

Verdammtes Ding! Bis auf das Heulen des Windes, der den Neuschnee meterhoch um sie herum aufwirbelte, war nichts zu hören. Du musst das Ende der gerissenen Halteleine finden! Es muss hier irgendwo sein.

Neele grub sich mit den Handschuhen bis zur Antriebskette des Motorschlittens durch. Der Treibstofftank war seitlich aufgeplatzt. Eigentlich müsste es nach Schmierfett, Öl und Diesel stinken, doch die erbarmungslose Kälte tötete jeglichen Geruchssinn.

Da ist es! Das orangefarbene Band hatte sich in der Kette verfangen und war bis zum Zerreißen gespannt. Neele legte das Seil frei und folgte ihm bis zur nächsten Stange. Diese steckten in einem Abstand von zehn Metern um die Basisstation herum im Eis.

Sie hatte also schon die Bucht erreicht. Der Haupteingang der Station konnte nur noch wenige Meter entfernt sein. Einen Augenblick lang sah sie die Umrisse der Gebäude inmitten des Schneetreibens, und sie konnte sich wieder orientieren. Nicht weit entfernt von den beiden zylinderförmigen Türmen, die jetzt wie Schatten aus dem Weiß ragten, stand der Heli. Mit nahezu vollem Tank. Das Blöde war bloß, dass Neele ihn nicht fliegen konnte.

Als sie weiter durch den Schnee stapfte und sich das Gestöber lichtete, sah sie drei Fahnen, die deutsche, die norwegische und die schwedische, nebeneinander im Wind knattern. Doch für einen Moment bemerkte sie auch etwas Fremdes zwischen den Wellblechhütten, das rasch im Schnee verschwand. Sicherlich kein Tier. Dafür war das Ding zu groß gewesen und ziemlich dunkel, fast schon schwarz. Und es hatte eine menschenähnliche Gestalt gehabt. Gott behüte! Hoffentlich war nichts vom Plateau zur Küste heruntergekommen, was nicht hierhergehörte. In der Zeit, in der sie oben bewusstlos gelegen hatte, hätte alles Mögliche passieren können. Offenbar war es das auch.

Keuchend kämpfte Neele sich durch den Schnee auf die Station zu. Ihre Schulter schmerzte noch immer von dem Sturz. Über ihr schnalzten die Fahnen, und der Wind stach wie feine Hagelkörner im Gesicht.

Endlich tauchte der Haupteingang der Station auf. Unmittelbar davor stand der zweite Motorschlitten. Neele schlüpfte aus den Handschuhen und legte die Hand auf den Motor. Sie spürte die Restwärme. Also hatte es außer ihr noch jemand vom Plateau heruntergeschafft. Es konnte nur Olofsson sein. Die Eingangstür war nicht abgesperrt. Sie stand einen Spaltbreit offen, Schnee wehte in den Vorraum.

Nachdem sie eingetreten war, wollte sie die Tür hinter sich zudrücken, aber sie klemmte. Neele musste erst den vereisten Schnee mit den Schuhen wegtreten. Endlich schnappte das Schloss zu. Sie nahm den Schlüssel aus der Tasche, sperrte die Tür zu und legte den Riegel vor. Schlagartig hörte das Tosen des Windes auf. Jetzt heulte er nur noch übers Dach und brachte die Abdeckungen zum Flattern, was gespenstisch genug klang.

Neele zog die Kapuze vom Kopf und wischte ihr schweißverklebtes Haar aus dem Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass das Licht im Vorraum unruhig flackerte. Rasch betrat sie den Hauptraum. Anhand eines Plans an der Wand sah sie, dass es von hier sternförmig zu den anderen Bereichen ging, die im Halbkreis angeordnet waren. Der Generator- und Technikraum, Unterkünfte, Küche, Archiv und Museum. Hier gab es drei Schreibtische mit Computern und Monitoren. Alles schien an seinem Platz zu sein. Nichts war verwüstet. Die Schubladen der Aktenschränke waren geschlossen und sahen nicht so aus, als hätte sie jemand durchwühlt.

Der Wanduhr über der Tür zu den Mannschaftskabinen nach war es kurz nach fünf. Bald würde es stockfinster werden und erst wieder um sieben Uhr früh ein wenig zu dämmern beginnen. Es wurde Zeit, einen SOS-Funkspruch abzusetzen und sich auf die Nacht vorzubereiten. Hier gab es sicher Propangasöfen, jede Menge Decken, bestimmt auch Lebensmittel und einen Erste-Hilfe-Kasten. Aber zuerst wollte sie die Station nach einem brauchbaren Funkgerät durchsuchen. Ihr eigenes Handy und das von Dr. Levandowa konnte sie bei diesem Sturm vergessen. Über dem Hornsund-Fjord gab es vermutlich kein gutes Mobiltelefonnetz. In anderen Gebieten Spitzbergens konnte man zwar deutsche D1- und D2-Telefone benutzen, aber das war auf den Hornsund bestimmt noch nicht ausgedehnt worden.

Unter einer großen Landkarte Spitzbergens mit zahlreichen Eselsohren, die mit Klebeband schief an die Wand geheftet war, fand sie tatsächlich ein Funkgerät. Sie schaltete es ein, woraufhin die Lampen und Displays zum Leben erwachten. Das Gerät schien intakt zu sein. Zum Glück!

»Sie konnten also auch entkommen«, erklang eine Stimme hinter ihr.

5. KAPITEL

Neele fuhr herum. Sie erkannte das Gesicht aus den Dossiers. Olofsson, der schwedische Wissenschaftler, den sie bereits vermisst hatte, stand hinter ihr. Er hatte sie in gebrochenem Englisch angesprochen. Seine Augen funkelten. Was für ein verrückter Ausdruck! Ihr schauderte bei dem Anblick.

Olofsson trug lediglich einen Pullover und eine Schneehose. Schweiß lief ihm übers Gesicht, und das lange krause Haar klebte nass an seiner Stirn, als hätte er die letzte Stunde wie ein Tier geschuftet.

Mit wildem Backenbart, knallrotem Gesicht, breitem Nacken und großen tellerförmigen Händen sah er nicht so aus, wie man sich den typischen Quantenphysiker vorstellte. Obwohl er sich beruflich nur mit den kleinsten Bausteinen der Materie auseinandersetzte, wusste er bestimmt auch, wie man dieses Funkgerät bediente.

»Sie können doch sicher einen Hilferuf absetzen …« Neele verstummte. In diesem Moment trat eine bruchstückhafte Erinnerung in ihr Bewusstsein.

»Können schon«, antwortete er.

Nun sah Neele den alten Trommelrevolver in seiner Hand und fühlte erneut den Schmerz der Schläge, die ihr jemand oben in der Station zugefügt hatte. Sie hob den Blick und starrte Olofsson an. Er war es gewesen! Sie erinnerte sich jetzt wieder. Er hatte sie mit dem Griff der Waffe bewusstlos geschlagen. Danach hatte er sie einfach liegen lassen und war mit dem Schneemobil abgehauen.

»Haben Sie die anderen getötet?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

Olofsson lachte verzweifelt auf. »Ich bin kein Mörder.«

Intuitiv starrte sie auf seine Füße. Einer steckte nur in einem zerschlissenen Socken. Er hatte einen Schuh verloren. Ist er etwa so auf dem Schneemobil hierhergefahren? Falls ja, hatte er bestimmt schlimme Frostbeulen. Trotz des Schweißes zitterte Olofsson am gesamten Leib.

»Warum haben Sie mich niedergeschlagen?«, fragte sie.

Er hinkte auf sie zu, den Revolver auf sie gerichtet. »Es war zu Ihrem eigenen Schutz.«

»Blödsinn!«, fuhr sie ihn an. »Warum haben Sie mich nicht mit runter in die Bucht genommen?«

»Und dann? Ich hatte keine Zeit für Diskussionen und lange Erklärungen. Sie hätten nicht verstanden, was ich vorgehabt habe.«

»Was haben Sie denn vorgehabt?« Sie starrte ihn an. »Was ist dort oben passiert? Wer hat Dröja, Skördal, Dr. Rohnen, meinen Piloten und die anderen umgebracht?«

»Nicht wer, sondern was!«, korrigierte er sie. »Ich habe sie alle der Reihe nach sterben sehen.« Seine Stimme klang verzweifelt. »Sie bluteten aus Nase und Ohren. Und ihre Augen, ihre verdammten Augen!«

»Legen Sie die Waffe weg«, sagte Neele nun sanft. »Wir …«

»Nej!«, schrie er.

»Gemeinsam bringen wir alles wieder unter Kontrolle«, versuchte sie, ihn zu beruhigen, bevor er ganz durchdrehte. »Helfen Sie mir!« Sie machte einen Schritt auf ihn zu.

Sofort riss er die Waffe hoch. »Halt, keinen Schritt weiter! Es tut mir leid, dass Sie in die ganze Sache hineingezogen wurden. Aber wie Sie selbst gesehen haben, ist es mittlerweile zu spät. Wir brauchen keine Ärztin mehr.«

Neele würde sich hüten, das Missverständnis aufzuklären und ihm zu verraten, wer sie wirklich war … nicht, solange Olofsson eine Waffe in Händen hielt.

»Ich habe heute Morgen das Festland angefunkt, dass Sie nicht herkommen sollen«, erklärte er weiter. »Aber da waren Sie schon unterwegs. Mein Fehler, ich war zu langsam. Sie hätten nicht herfliegen sollen! Und Skördal, dieser Idiot, hätte Sie niemals mit raufnehmen sollen. Aber er dachte, eine Ärztin könnte uns helfen … eine Ärztin!« Er lachte verzweifelt und dem Wahnsinn nahe auf. Tränen liefen ihm über die Wangen. »Alles ist aus dem Ruder gelaufen.« Er wischte sich die Tränen weg.

Sie starrte auf seine Füße. »Lassen Sie mich Ihnen helfen.«

Er schüttelte den Kopf. »Zu spät.«

»Was haben Sie getan?«, wiederholte sie.

»Ich war auf der Sköldpadda und habe das Funkgerät und die tragbaren Batterien zerstört.«

»Sie haben was?« Ihr Puls beschleunigte sich.

»Dann habe ich die Kurbelwelle zerstört und wollte anschließend ein Leck in die Schiffswand schlagen. Ist mir aber nicht gelungen. Also habe ich kurzerhand den Frachtraum geflutet.«

Sie kam sich vor wie in einem Albtraum. »Wozu?«

»Wozu?«, rief er. »Damit wir nicht von hier wegkommen!«

»Was? Wovon reden Sie? Wir müssen weg!«

»Etwas ist dort oben außer Kontrolle geraten. Es hat sich wieder geöffnet …«, keuchte Olofsson.

»Was meinen Sie mit geöffnet?«

»Sie haben doch mit eigenen Augen gesehen, was da oben passiert ist! Nichts darf die Station verlassen! Alles von der Außenwelt abzuriegeln, ist die schlimmste, aber letzte Alternative, die uns noch bleibt.«

»Was darf die Station nicht verlassen? Mann, wovon reden Sie?«, rief Neele panisch. »Genetisch mutiertes Material? Strahlung? Ein tödliches Virus?«

»Nichts von alldem.«

»Was dann?«

»Wenn Sie lange genug am Leben bleiben, werden Sie es herausfinden und am eigenen Leib zu spüren bekommen. Und ich versichere Ihnen, Sie hätten an meiner Stelle genauso gehandelt. Glauben Sie mir, wenn ich den Mut hätte, würde ich Sie erschießen. Eine Kugel ist gnädiger als das, was uns bevorsteht.« Er wedelte mit dem Revolver. »Aber ich bin kein Mörder«, wiederholte er.

»Sind wir beide die einzigen Überlebenden?«

»Ja, noch …«, er nickte, »… aber genau das werde ich versuchen, zu verhindern.«

In seinen Augen sah sie, dass er es ernst meinte. Aber sie wollte nicht sterben. Nicht hier, und nicht heute.

6. KAPITEL

»Aber ich habe dort draußen noch etwas anderes gesehen«, widersprach sie. »Jemand muss …«

»War das Ding groß und dunkel, als wäre seine Haut verbrannt? Hat es sich schnell bewegt?«

Sie nickte zögerlich. »Ja, ich glaube schon …«

»Sind Sie sicher?«, herrschte er sie an.

»Ja.«

»O Gott!«

Olofsson schluckte. »Es ist nichts Lebendiges mehr! Sie müssen dafür sorgen, dass es nicht in diese Station kommt.«

»Ich?« Sie sah sich verzweifelt um. »Und was machen Sie?«

»Ich habe andere Pläne.«

Neele sah Angst und Panik in Olofssons Blick. Beschwichtigend hob sie die Arme. »Okay, eins nach dem anderen. Soviel ich weiß, ist Baranów in der Nähe, richtig?«

»Die polnische Wetterstation?« Olofsson, immer noch die Waffe auf sie gerichtet, nickte hinter sich zur Tür. »Fünfundvierzig Kilometer westlich, an der Mündung des Fjords.«

»Gibt es nichts Näheres?«

»Nein – und selbst diese Station ist menschenleer.«

Anscheinend wollte er sie für dumm verkaufen. »Auf Baranów sind fünf Mann stationiert«, widersprach sie. »Meeresbiologen und Ozeanografen. Die nehmen Ozon-, Strahlungs- und Spurenstoffmessungen vor und analysieren atmosphärische Gase.«

»Bestens informiert, wie ich sehe.« Olofsson lachte auf. »Und was würde Ihnen das bringen? Dort wären Sie genauso abgeschnitten wie hier.«

»Netter Versuch – die Station hat Kontakt zu zwanzig mobilen Beobachtungsstationen, Schiffen, Messbojen und Bohrinseln«, widersprach sie erneut. »Die Polen haben große Pläne. In zwei Jahren wollen sie dort ein Nordlichtobservatorium errichten.«

Beeindruckt hob er die Augenbrauen. »Für eine Ärztin sind Sie ganz schön gut informiert.«

Stimmt – bloß, dass sie keine Ärztin war. »Wir können es bis dorthin schaffen«, versuchte sie es erneut.

»Sie verstehen es nicht!« Genervt fuhr er sich mit der Hand über den Bart. »Die Umstände lassen mir keine andere Wahl. Ich muss uns von der Zivilisation abschneiden.«

Neele versuchte es weiter. »Könnten Sie den Helikopter fliegen?«

Wiederum deutete er mit dem Kopf nach draußen. »Sie meinen den Eurocopter, mit dem Sie hergekommen sind? Tatsächlich habe ich meinen Flugschein vor vielen Jahren auf einem Vorgängermodell gemacht. Eine Spitzenmaschine. Nachtsichttaugliches Cockpit, digitales Moving-Map-System, GPS-Navigationssystem, GSM-Telefon und drei taktische Funkgeräte.«

»Sie haben einen Blick ins Cockpit geworfen?«

Er nickte. »Der Heli hat sogar Ausrüstung für Alpinbergungen an Bord und ein Doppelhakensystem für Taubergungen, aber das alles werden wir nicht mehr brauchen.«

Sie atmete tief durch. »Lassen Sie uns doch einmal vernünftig über alles reden, bevor Sie etwas Unüberlegtes tun.«

Er lächelte resigniert. »Ich dachte mir, dass Sie um jeden Preis versuchen würden, von hier wegzukommen. Wenn ich Sie nicht fliege, würden Sie es sogar selbst versuchen, auch wenn Sie dabei einen Crash riskierten, nicht wahr?« Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Sie lassen mir keine andere Wahl.« Olofsson zog ein kleines schwarzes Gerät mit rotem Knopf aus der Hosentasche, das wie eine Fernbedienung aussah.

Sie kniff die Augen zusammen. »Was haben Sie vor?«

»Wonach sieht es denn aus?«

Nach einem Fernzünder! »Sie bluffen«, stellte sie fest, erkannte aber im selben Augenblick, dass hier der Wunsch Vater des Gedankens war. Der Mistkerl blufft nicht! So verrückt der Mann im Moment auch auf sie wirkte, sein Verhalten hatte Methode.

»Fünfhundert Gramm Plastiksprengstoff. Normalerweise verwenden wir das Semtex, um Lawinen zu sprengen.« Olofsson legte den Finger auf den Knopf. »Bevor Sie Gelegenheit haben, die Station mit dem Hubschrauber zu verlassen, werde ich ihn in die Luft jagen.«

»Olofsson, bitte! Ich kann sowieso keinen Heli fliegen«, gab sie zu.

»Und die Funkgeräte an Bord?«

»Ich verspreche Ihnen, die werde ich nicht anrühren. Wir sollten …«

»Ich wünschte, Sie würden die Wahrheit sagen.« Er strich mit dem Finger über den Knopf.

»Seien Sie vernünftig!«, rief Neele. Sie machte einen Schritt auf ihn zu.

Olofsson drückte den Knopf, und durchs nächstgelegene Fenster sah sie, wie ein greller Blitz die Dämmerung erhellte. Der Helikopter explodierte, die Erde bebte, die Fensterrahmen knirschten, und Sekunden später prasselten Splitter wie kleine Hagelkörner aufs Dach.

»Sie sind verrückt!«

»Ach, ich bin verrückt?«, brüllte er. »Ich bin der Einzige von uns beiden, der hier noch bei klarem Verstand ist.« Er schleuderte die Fernbedienung in die Ecke und richtete die Waffe auf sie. »Was wissen Sie schon? Dr. Rohnen hat Sie erst vor zwei Tagen angefordert, richtig?« Er lachte bitter auf.

Sie nickte und dachte zugleich an die schreckliche Schilderung der Biologin. »Was ist Ekqvist zugestoßen?«

»Hat Dröja es Ihnen nicht erklärt?« Olofsson presste die Lippen aufeinander. »Zum Glück hatten Sie keine Gelegenheit mehr, ihn zu sehen. Glauben Sie mir, er sah übel aus. Gleich nach ihm hat es Nylander erwischt, unseren Ingenieur für Robotertechnik. Er war unten im Schacht, sein Schutzanzug ist gerissen. Mit den beiden hat alles angefangen.«

Neeles Mund wurde trocken. »Was ist mit den anderen passiert?«

»Dr. Rohnen war der Nächste, Dröja folgte kurz darauf, dann erwischte es den Rest. Skördal war der Letzte.«

»Ich habe bereits geahnt, dass Sibirion keine gewöhnliche Wetterstation ist«, sagte Neele. »Was ist dort oben wirklich passiert?« Sie sah seinen harten Blick, darum fügte sie rasch hinzu: »Sie können es mir verraten. Wem sollte ich es erzählen? Wir werden hier sowieso krepieren.«

Olofsson dachte nach. »Sie haben recht.« Er hob die Schultern. »Sibirion ist ein Geheimprojekt mehrerer Regierungen, finanziert von den Norwegern, Schweden und Deutschen. Mehr weiß ich nicht.«

»Und woran haben Sie geforscht?«

»Für eine Ärztin sind Sie ganz schön neugierig.«

»Ich bin keine Ärztin«, gab sie nun zu. »Dr. Sveja Levandowa ist noch in Tromsø. Ich bin statt ihr hergeflogen.«

»Statt ihr?« Er sah sie überrascht an. »Und wozu?« Er lachte irre auf, als könnte er es nicht fassen.

»Um herauszufinden, was hier vorgeht.«

Für einen Moment klappte sein Mund auf. »Sind Sie Journalistin? Oder von einer geheimen Behörde der Regierung?«

»Weder noch.«

»Wer zum Teufel sind Sie dann?«

»Neele Tujunen.«

»Tujunen …«, wiederholte er lang gedehnt, als begriffe er mit einem Mal die Zusammenhänge. »Sind Sie etwa tatsächlich …?«

»Ja, das bin ich, aber es wäre zu kompliziert, Ihnen das jetzt alles zu erklären.«

Er lächelte traurig. »Selbst wenn es stimmte, was Sie sagen, es würde nichts ändern.« In einem Anfall von Galgenhumor lachte er erneut laut auf. »Das heißt, Sie sind auf eigenen Wunsch hin, aus freien Stücken hergekommen?« Fassungslos schüttelte er den Kopf. »An einen Ort wie diesen … unbegreiflich. Aber warum zum Teufel?«