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Der österreichische Schriftsteller Andreas Gruber, der vor allem für seine Kriminalromane rund um den kauzigen Ermittler Maarten S. Sneijder bekannt ist, verbindet in DER JUDAS-SCHREIN sein bewährtes Gespür für packende Kriminalgeschichten mit seiner Begeisterung für Horror und Grusel in der Tradition von H.P Lovecraft. "Nichts ist, wie es scheint, bis Andreas Gruber alle Puzzleteile im finsteren Finale zu einer perfekten Weltuntergangsstimmung zusammenfügt." - Kai Meyer In dem abgeschiedenen Dorf Grein am Gebirge, eingeschlossen zwischen den Bergen und einem Fluss, wird eine verstümmelte Mädchenleiche entdeckt, der mehrere Rückenwirbel fehlen. Als Kommissar Alex Körner und sein Team mehrere Exhumierungen anordnen, nehmen die Ermittlungen eine ungeahnte Wendung. Zudem spitzt sich die Lage zu, als der vom Dauerregen stark angeschwollene Fluss über die Ufer tritt. Vom Hochwasser eingeschlossen und von der Außenwelt abgeschnitten, kommt eine schreckliche Wahrheit ans Licht und die grausamen Morde gehen weiter … ★★★★★ »Eine unfassbar tolle Hommage an Lovecraft! Ein kleines Dorf eingeschlossen vom Wasser.. Und unter der Erde lauert das uralte Böse... Es war ein großer Spaß diesen Roman zu lesen. Von vorne bis hinten hat Andreas Gruber einen sehr schlüssigen und einzigartigen Roman geschaffen.« - A. Waschk, Thalia Magdeburg ★★★★★ »Eine packende, beklemmende Mischung aus Thriller und Horror, wobei die düstere, geheimnisvolle Schauer-Komponente deutlich überwiegt. Überraschende Wendungen sorgen für Spannung und intensive Lesestunden bis zur letzten Seite.« - Circlestones Books Blog ★★★★★ »Wer "Mord-im-Dorf" und dann "Abgeschnitten-von-der-Außenwelt" Geschichten mag, wird diese hier lieben. Gruber erzeugt gekonnt eine lovecraftsche Atmosphäre, die mit steigendem Hochwasserpegel immer bedrückender wird. Gute Polizeiarbeit trifft hier auf historische Seltsamkeiten, deren langer Arm bis in die Gegenwart reicht. Mal eben das Buch beiseite legen wird schwierig, wenn Sie festgehalten werden. Ein leichtes Unwohlsein wird sie begleiten, wenn Sie abtauchen in dieses Dorf. Doch das ist genau das, was wir wollen, oder? :-)« - M. Sander, Thalia Centro Oberhausen
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Seitenzahl: 615
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Copyright © 2020 by Andreas Gruber
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München
Überarbeitete Auflage
Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mitGenehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlag: Michael Schubert | Luzifer-Verlag
Lektorat: Astrid Pfister
Printed in Germany
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN: 978-3-95835-480-7eISBN 978-3-95835-481-4
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind imInternet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
zur Erinnerung an
Malte S. Sembten
(1965 – 2016)
VORWORT
PROLOG
1. TEIL
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
17. KAPITEL
2. TEIL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
21. KAPITEL
22. KAPITEL
23. KAPITEL
24. KAPITEL
25. KAPITEL
26. KAPITEL
27. KAPITEL
28. KAPITEL
29. KAPITEL
30. KAPITEL
31. KAPITEL
32. KAPITEL
33. KAPITEL
3. TEIL
34. KAPITEL
35. KAPITEL
36. KAPITEL
37. KAPITEL
38. KAPITEL
39. KAPITEL
40. KAPITEL
41. KAPITEL
42. KAPITEL
4. TEIL
43. KAPITEL
44. KAPITEL
45. KAPITEL
46. KAPITEL
47. KAPITEL
48. KAPITEL
49. KAPITEL
50. KAPITEL
5. TEIL
51. KAPITEL
52. KAPITEL
53. KAPITEL
54. KAPITEL
55. KAPITEL
56. KAPITEL
57. KAPITEL
58. KAPITEL
59. KAPITEL
60. KAPITEL
61. KAPITEL
EPILOG: DIE ZELLE
Die erste Auflage von Der Judas-Schrein erschien im April 2005 im Frank Festa Verlag, gewann im Jahr darauf den Deutschen Phantastik Preis für das beste Roman-Debüt und war bald darauf bereits vergriffen.
Knapp fünfzehn Jahre später habe ich diese Fassung stilistisch überarbeitet. Allerdings habe ich die Handlung nicht in die moderne technische Gegenwart geholt, um so die Atmosphäre und unheimliche Grundstimmung des Romans beizubehalten.
Ich danke Steffen Janssen, der mir die Möglichkeit gegeben hat, den Roman in der hier vorliegenden Neuauflage im Luzifer-Verlag weiteren Lesern zu präsentieren. Für Ideen und hilfreiche Kommentare bedanke ich mich weiters bei meinen Testlesern Heidemarie Gruber, Jürgen Pichler, Günter Suda, Gaby Willhalm und Daniel Weber.
Außerdem danke ich dem niederösterreichischen Polizeibeamten Robert Froihofer und dem Wiener Kripobeamten Reinhold Aigner für ihre Einblicke in die Praxis der Kripoarbeit, dem wandelnden Lexikon und Lovecraft-Spezialisten Frank Heller für seine Ideen und Ratschläge zum lovecraft'schen Part des Romans und Alya Saleh, Renate Brandl und Susanne Link für ihre medizinischen Erläuterungen. Mein aufrichtiger Dank geht auch an den Grafiker Alex Mastny, der die Karte von Grein am Gebirge erstellt hat.
Der größte Dank gebührt jedoch Malte S. Sembten, der die Erstfassung des Manuskripts im Jahr 2004 lektoriert hat. Er war nicht nur Lektor, sondern auch Motor und Inspiration, lieferte Ideen und betreute mich zuletzt auch noch psychologisch, damit ich dem Wahnsinn, der damals nach mir gegriffen hatte, von der Schippe springen konnte.
Ihm ist dieses Buch gewidmet.
Ich hoffe, niemanden mit dieser Hommage an H. P. Lovecraft enttäuscht zu haben.
Grillenberg, im Sommer 2019
»Es ist nicht tot, was ewig liegt,bis dass die Zeit den Tod besiegt.«
– H. P. LOVECRAFT –
Von außen sah das Landeskriminalamt im dritten Wiener Gemeindebezirk wie eine abgemusterte Kaserne aus. Der düstere Koloss wuchs mit rotbraunen Ziegeln und vergitterten Fenstern aus dem Beton der Stadt. In dem alten Gemäuer befanden sich die Büros der Kriminalabteilung für Niederösterreich. Winzig prangte das Emblem des Morddezernats auf der klobigen Holztür.
Die Menschen liefen unter ihren Schirmen versteckt daran vorbei, durch die Pfützen zum nächsten Taxistand, zu den Linienbussen und Straßenbahnen, von deren Oberleitung Blitze in den grauen Himmel schossen.
Seit Tagen hingen schwarze Regenwolken über der Stadt, es goss ohne Unterlass. An einen milden Altweibersommer wagte niemand mehr zu denken, zu nass und kalt hatte die neue Woche begonnen … und für Alexander Körner begann die düsterste von allen.
Körner warf sich den nassen Mantel über den Arm. Wie ein schneidiger Wolf zog er durch die dritte Etage des Landeskriminalamts. Eisige Kälte. Hier roch es nach Kalk und feuchtem Holz. Das Quietschen seiner Schuhe hallte im Treppenhaus wider. Wie er diesen Weg hasste! Es war wie der Gang zum Scharfrichter – falsch, es war der Gang zum Scharfrichter.
Die letzten Tage hatten an seinen Nerven gezerrt. Er hatte zu wenig gegessen, zu viel gearbeitet und war abgemagert. Seine Hose flatterte um die Hüften und wurde lediglich durch den eng gezogenen Gürtel gehalten. Daran änderte nicht einmal der schwarze Pullover etwas, den er sich in den Hosenbund gestopft hatte. Um seine ausgemergelte Erscheinung wettzumachen, war er frisch geduscht und rasiert. Er musste einen guten Eindruck machen, bei dem, was auf ihn zukam.
Die große Wanduhr über dem Eingang des Reviers zeigte 8:25 Uhr. Körner war spät dran. Die Kollegen vom Morddezernat hatten die Einsatzbesprechung bestimmt schon hinter sich. Gleich würden sie wie blutrünstige Hyänen über ihn herfallen. Körner nestelte am Sakko, stopfte die Hand in die Hosentasche und stieß die Tür auf. Im Büro roch es nach Kaffee und Zigaretten.
»Da ist er«, flüsterte jemand. Ein Funkgerät knackte. Schwaiger und Kretschmer waren über Schubladen gebeugt und schauten auf, Breitner legte das Schulterholster an, Sedlak schob einen Stapel Akten zusammen. Gleichzeitig hielten sie in der Bewegung inne.
»Na, Körner, hast du deine Glock dabei?«
Verhaltenes Raunen.
»Oder kann man deine Knarre schon am Schwarzmarkt kaufen?«
Witzig! Er ignorierte die Kommentare und ging grußlos zwischen den Schreibtischen hindurch und an den Flipcharts vorbei. Einige Beamte wichen seinem Blick aus, doch andere wie Kretschmer ließen sich keine Gelegenheit entgehen.
»Streckst du neuerdings alle deine Verdächtigen mit einem Handkantenschlag nieder, Körner?«
»Wenn du deinen Partner loswerden willst, steckst du ihn am besten zu Körner ins Team, dort hat er gute Chancen, eine Kugel ins Bein zu bekommen.« Breitner zog den Holstergurt straff. Die Worte klangen veralbernd, doch seine stechenden Augen sprachen eine ganz andere Sprache.
Körner ließ die Hyänen hinter sich und ging auf Jutta Korens Büro zu. Erst als seine Hand auf der Klinke lag, fühlte er den kalten Schweiß seiner Finger. Mit den Beamten des eigenen Reviers auf Kriegsfuß zu stehen war schlimmer, als mit der Dienstmarke auf die Brust geheftet im Zellenblock für Schwerverbrecher zu stecken. Er merkte, wie er die Nerven verlor, dabei hatte der Psychoterror gerade erst begonnen.
Er atmete tief durch und betrat das Büro seiner Vorgesetzten. In diesem winzigen Raum mit den hohen Wänden lag der Duft von Damenparfum. Chanel No. 5. In den Regalen stapelten sich die Aktenordner, auf dem Schreibtisch standen drei Telefone, und an jedem klebten gelbe Notizzettel. An der Wand hingen die gerahmten Fotos von Korens Vorgängern. Sie selbst bildete den Abschluss in einer langen Reihe grauer Herren im dunklen Nadelstreif.
»Schließen Sie die Tür, Körner.« Jutta Koren wandte ihm den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. »Setzen Sie sich!« Der Regen lief über die Scheiben und im grauen Einerlei des Straßenverkehrs blitzten Autoscheinwerfer und Neonreklamen auf.
Körner blieb stehen. Er strich sich über das zurückweichende Haar, das er sich immer so kurz wie möglich schnitt. Der Unterkiefer seines kantigen Gesichts mahlte. Er war knapp einundvierzig Jahre alt, die Geheimratsecken machten ihn interessant, wie er fand. Doch sein raues Äußeres, die stechenden braunen Augen und das Lächeln, das er zuweilen zustande brachte, würden ihm jetzt nicht viel nützen. Koren würde ihn zur Schnecke machen, so viel war sicher. Die Gedanken daran hatten ihn die halbe Nacht wach liegen lassen.
Die Grande Dame der Kriminalpolizei ließ sich Zeit. Sie neigte den Kopf und blickte immer noch stumm aus dem Fenster. Koren war zehn Jahre älter als er, verdammt attraktiv, sportlich und hatte einen dunklen Teint. Sie trug einen grauen Hosenanzug, hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und bohrte mit einem ihrer Absätze auf dem Parkett, als dachte sie darüber nach, ob sie gemäßigt oder aufgebracht beginnen sollte.
»Seit fünf Jahren leite ich das Mord-, Betrugs- und Entführungsdezernat«, sagte sie, als redete sie mit sich selbst, während sie der Straßenbahn hinterherblickte. »Ich habe sieben Mal die Woche einen Sechzehn-Stunden-Tag. In dieser von Männern dominierten Welt darf ich mir keinen Fehltritt leisten. Seit ich diesen Job angetreten habe, versuche ich mich von meinen Kollegen abzuheben. Ich arbeite hart, versuche, fair zu sein und lasse mich auf kein Intrigenspiel ein. Das ist der Grund, weshalb in diesem Haus von allen Seiten gegen mich gearbeitet wird. Bisher konnte ich mich aus zwei Gründen halten – ein gutes Team und herausragende Leistungen.«
Also ging sie es sanft an. Die harte Tour wäre ihm lieber gewesen, denn in der vermeintlichen Sanftheit lauerte die Gefahr.
»Ich sage es Ihnen ehrlich.« Sie wandte sich um und musterte ihn mit kalten Augen. Ihre Stirn lag in Falten, von ihrem gewohnten Lächeln war nichts mehr übrig. »Ihr Fall könnte mir das Genick brechen. Das LKA wartet nur darauf, mich aus diesem Büro zu jagen. Dennoch versuche ich, Sie so lange wie möglich zu decken.«
»Ich habe …«
»Seien Sie still!« Eine graue Haarsträhne fiel ihr in die Stirn. »Jetzt setzen Sie sich endlich!«
Körner warf den Mantel über die Stuhllehne, blieb aber stehen. Er senkte den Kopf und starrte das Narbengewebe auf seinem Handrücken an. Der Rest der alten Wunde war durch Pullover und Sakko verdeckt.
Koren ignorierte seine Sturheit. »Novak war ein alter Fuchs, die graue Eminenz im Morddezernat. Viele haben auf seinen Posten spekuliert. Als Novaks Nachfolger sind Sie einer der jüngsten Chefinspektoren des Morddezernats … und was machen Sie bei Ihrem ersten Fall als Chefinspektor? Sie rücken mit geladener Dienstwaffe aus!«
Die verdammte Waffe! Er hatte geahnt, dass dieser Vorwurf kommen würde. Gestern Abend hatte er in der achten Etage eines Hochhauses mit einem mutmaßlichen Mörder Verhandlungen geführt. Die Glock im Holster, das Sakko offen, und dann hatte er sich zu dem Verdächtigen vorgebeugt.
»Ich habe …«, begann er.
»Sie waren eine Gefahr für das gesamte Team! Sie haben dem Verdächtigen ihre Waffe direkt unter die Nase gehalten. Er wäre ein Idiot, hätte er nicht danach gegriffen. Bilanz: ein schwer verletzter Mittelsmann, ein angeschossener Beamter aus dem Bombenteam, und Dr. Sonja Berger aus Ihrer Gruppe wurde ebenfalls verwundet. Aber das Schlimmste ist, Sie haben dem Mann mit der Faust den Adamsapfel zertrümmert. Er liegt im Koma – Herrgott! Sein Anwalt hat heute Morgen Verbindung mit der Presse aufgenommen.«
»Was sollte ich machen? Der Kerl hat mit der einen Hand das Feuer eröffnet und in der anderen den Bombenauslöser gehalten. Er hatte fünf Geiseln in seiner Gewalt, das gesamte Haus war vermint und …«
»Das ist der nächste Punkt. Wo sind die Zünder?«
»Sichergestellt. Im Kofferraum meines Wagens. Das habe ich in meinem Bericht erklärt.«
»Ich weiß, der verdammte Bericht.« Sie wehrte den Gedanken mit den Händen ab. »Ihre Aussage liegt seit gestern Nacht beim LKA. Das nächste Mal sprechen Sie sich mit mir ab, bevor Sie eine Erklärung abgeben. Falls es überhaupt ein nächstes Mal gibt.« Sie seufzte. »Sie haben nicht nur eine Disziplinaranzeige am Hals, sondern Kommandant Bejk wird ein Verfahren einleiten. Er will das gesamte Programm gegen Sie durchziehen. Sie können sich denken warum. Er war nicht glücklich darüber, dass ausgerechnet Sie Novaks Nachfolger wurden. Der Kommandant hätte lieber seinen Protegé auf dem Posten des Chefinspektors gesehen, und seit gestern hat er endlich etwas gegen Sie in der Hand. Offensichtlich läuft es darauf hinaus, dass Sie zu einer Anhörung vor Gericht geladen werden. Er fordert, dass ich Sie bis dahin vom Dienst suspendiere. Aber das ist immer noch meine Entscheidung. Ich habe ihm erklärt, dass ich Sie zurzeit brauche, weil Sie an einem brisanten Fall arbeiten.« Koren verschränkte die Arme hinter dem Rücken und musterte ihn mit lauerndem Blick.
Er schluckte. »Aber ich habe keinen Fall.«
»Jetzt schon!« Sie griff in die Lade und knallte eine dünne Mappe mit Faxpapieren auf den Tisch. »Ist gerade reingekommen. Eine Leiche. Ein dreizehn- bis vierzehnjähriges Mädchen, brutal verstümmelt.«
Körner rührte sich nicht. Stumm starrte er auf den grünen Deckel der Flügelmappe und die Papiere, die daraus hervorquollen.
»Ein Mord in einer Provinzdiskothek. Das sind die Fotos. Na los, schauen Sie sich die Akte an!«
Weshalb suspendierte sie ihn nicht einfach? Breitner, Schwaiger oder Kretschmer konnten den Fall übernehmen. Als er durch die Fotos blätterte, versteifte sich sein Rückgrat. Mit einem Mal wusste er, weshalb sie ausgerechnet ihn am Tatort haben wollte. Auf den lausigen schwarz-weißen Kopien der Faxrolle war die Fassade einer Diskothek zu erkennen, mit einem Vordach, Holzstehern und verbarrikadierten Fenstern. Der Putz blätterte von der Wand und das Regenwasser sammelte sich in einer Mulde unter der Fensterbank. Den Digitalziffern am Rand des Bildes entnahm er, dass die Aufnahme erst eine halbe Stunde alt war.
Weitere Fotos zeigten die Innenräume einer Bar: Tische, Stühle, einen Tresen, speckige Holzbohlen und dunkle Querbalken mit einer Lichterkette aus Glühbirnen. Die Leiche war nur undeutlich zu erkennen. Sie lag auf dem Bauch, mit dem Gesicht nach unten. Ihre Bluse war zerrissen, der Rücken freigelegt. Neben der Leiche glaubte er, den Schatten eines Eisengestells ausmachen zu können. Es wirkte wie ein geschweißtes Stahlgerippe, mit einer Sitzbank, Seilen und Flaschenzügen.
»Wo ist das?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Koren setzte sich und stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch. »In einem Ort an der niederösterreichisch-burgenländischen Grenze, im Rosaliengebirge.«
»Ich kenne diese Diskothek.«
»Ich weiß. Das ist die Gaslight Bar in Grein am Gebirge.«
Körner versuchte zu schlucken, doch seine Kehle schnürte sich immer enger zusammen. Er schloss die Akte und legte sie beiseite. »Dort gehe ich nicht hin. Suspendieren Sie mich!« Unwillkürlich blickte er auf das hellrote Narbengewebe auf seinem Handrücken. Wie auf Befehl begann die alte Brandwunde zu schmerzen, als wäre sie nie geheilt.
»Körner, um Himmels willen! Sie sind mein bester Mann. Soll ich etwa Breitner und Kretschmer dorthin schicken? Sie kennen die Einheimischen, Sie kennen die Gegend, Sie sind dort aufgewachsen.«
»Ich war seit siebenundzwanzig Jahren nicht mehr dort.«
»Dann frischen Sie Ihre alten Bekanntschaften auf. Bringen Sie mir handfeste Ergebnisse, zeigen Sie dem LKA, was Sie draufhaben!«
Seufzend nahm er die Faxrollen zur Hand und blätterte sie ein weiteres Mal durch. »Die Bilder sehen merkwürdig aus.« Er betrachtete die Digitalanzeige am Bildrand. »Wer hat die Fotos gemacht?«
»Ein Pressefotograf von der Rundschau. Er war mit einer Reporterin am Tatort.«
Körner runzelte die Stirn. »So schnell?«
»Die Reporterin hat die Leiche entdeckt.«
»Die haben die Leiche entdeckt und sofort alles fotografiert? Haben die etwa auch schon den Mörder vernommen?«
»Körner, sparen Sie sich Ihren Sarkasmus.«
Er wurde wieder ernst. »Was hat eine Journalistin in diesem Nest zu suchen?«
»Keine Ahnung. Finden Sie es heraus! Rolf Philipp von der Spurensicherung ist schon auf dem Weg dorthin. Ich habe ihm Kralicz samt Kameraset mitgeschickt. Ich schlage vor, Sie setzen sich in Bewegung. Wenn Sie jetzt losfahren, sind Sie um zehn Uhr dort.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Heute Abend möchte ich die ersten Ergebnisse sehen.«
Heute Abend? Er hatte geahnt, es würde ein mieser Tag werden. »Ich brauche so bald wie möglich ein rechtsmedizinisches Gutachten. Wer hat gerade Dienst?« Körner überflog die grünen Linien auf dem Tischkalender.
Koren schmunzelte, es war die blanke Schadenfreude. »Jana Sabriski.«
»O Gott, nein!«
»Was haben Sie gegen Frauen?«
»Nichts!« Körner hob abwehrend die Hand. »Ich meine nur, wir sollten …«
»Wir können auch darauf bestehen, jemand anderen für diesen Fall zu bekommen, aber ich sage Ihnen etwas …« Korens Stimme bekam einen süßlichen Tonfall. »… Jana Sabriski ist die Beste. Wir können froh sein, dass ihr Vierundzwanzig-Stunden-Dienst heute Morgen begonnen hat. Nur weil Sie mal mit ihr geschlafen haben, heißt das noch lange nicht, dass Sie nicht gemeinsam an einem Fall arbeiten können.«
Körner fühlte Röte in sein Gesicht schießen. Woher zum Teufel wusste sie davon? »Ich …«
»Ich gebe Ihnen einen Rat, nicht als Ihre Vorgesetzte, sondern als Freundin. Trennen Sie Berufliches und Privates. Dann schlittern Sie nicht in so einen Schlamassel.«
Körner ballte die Hand in der Hosentasche. »Sie schicken mich an den Ort, in dem ich aufgewachsen bin, dann hängen sie mir noch meine Ex-Lebensgefährtin als Rechtsmedizinerin an den Hals.«
Koren lächelte ihn an. Er hasste diesen siegessicheren Gesichtsausdruck.
»Sie haben Ihren vorigen Fall gründlich vermasselt, und diese Ermittlung bewahrt Sie vor der Suspendierung. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Entweder Sie fahren dorthin und bringen mir die ersten Hinweise, oder Sie geben mir Marke und Waffe, räumen Ihren Schreibtisch, und wir sehen uns am Montag vor Gericht.«
Körner schwieg. Er kramte die Fotos zusammen, nahm seinen Mantel und ging zur Tür.
»Körner! Vergessen Sie nicht, die beschlagnahmten Zünder im Spurensicherungsbüro abzuliefern. Die warten darauf, ihren Bericht schreiben zu können.«
»Ja, heute Abend.« Grußlos verließ er das Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Draußen lauerten die Hyänen. Sie starrten ihn erwartungsvoll an.
»Na, du Held! Suspendiert?«, fragte Kretschmer.
Körner schüttelte den Kopf.
Schlimmer, dachte er.
Der Nieselregen legte sich wie ein schmieriger Film auf die Pflastersteine der Garnisongasse. In den Lachen spiegelte sich die Neonbeleuchtung aus den Fenstern des fünfzehnstöckigen Gebäudes aus Glas, Stahl und Beton wider.
Körner steuerte den schwarzen Audi in eine Parklücke und ließ die Scheibe hinunter. Kälte strömte in den Wagen und Regenwasser tropfte auf den Beifahrersitz. Aus dem Radio trällerten Sommerhits, die nicht zum Wetter passten.
Körner ließ den Motor laufen und blickte zur Auffahrtsrampe des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien. Drei Rot-Kreuz-Wagen hielten mit Blaulicht vor der Notaufnahme. Die Schiebetüren standen offen, die Pfleger fuhren mehrere Personen in das Gebäude. Gestern Abend, nach dem katastrophalen Ende der Geiselnahme, mussten sich ähnliche Szenen abgespielt haben.
Jetzt lief eine junge Frau in einem blauen Parka von der Rampe über die geschwungene Treppe zur Straße. Körner blinkte sie mit der Lichthupe an. Sie stellte den Kragen auf, zog die Schultern hoch und rannte zwischen den Pfützen auf ihn zu. Nachdem er ihr die Tür geöffnet hatte, ließ sie sich prustend in den Sitz fallen.
»Guten Morgen.« Sie zog den Reißverschluss des Parkas auf und schüttelte das blonde Haar aus. »Herrliches Wetter.«
Sonja Berger hatte vor Jahren die Ausbildung zur Kriminalpsychologin abgeschlossen. Seit Körner vor drei Wochen zum Chefinspektor ernannt worden war, arbeitete sie in seinem Team, und gestern war sie zum ersten Mal in ihrer Laufbahn angeschossen worden.
Körner wusste, dass sie neben dem Job bei der Kripo Vorlesungen an der Uni Wien hielt und gelegentlich Artikel für die Fachpresse schrieb. Ihre Aufgabe war die Erstellung psychologischer Täterprofile. Nach Meinung seiner Kollegen war sie mit ihren dreißig Jahren zu jung und hatte bisher zu wenig verstümmelte Leichen gesehen. Körner hoffte jedoch, dass sie ihren frischen Elan behalten und nicht aus der Spur geraten, verbittert und genauso zynisch werden würde wie all die anderen Beamten auf dem Revier. Falls es dazu kam, hoffte er, dass es nicht ausgerechnet dieser Fall war, der ihr das Genick brechen würde.
»Was haben Sie?«
»Nichts.« Er schüttelte den Kopf. Ihr sonst so perfektes Make-up war in den Augenwinkeln verschmiert und ihr schulterlanges Haar nicht so schick und flott gestylt wie sonst. Sie machte den Eindruck, als hätte sie sich die Nacht im Krankenhaus um die Ohren geschlagen. Er sah flüchtig auf das zerfetzte Schulterteil ihres Parkas. Der Stoff war aufgerissen und das Futter versengt. Offensichtlich war sie über Nacht wirklich nicht zu Hause gewesen. »Wie geht es Ihnen?«
Sie verzog das Gesicht. »Alles halb so schlimm. Nur ein Streifschuss. Die haben die Wundränder gereinigt und vernäht. Nach zwei Tagen kann ich statt des Verbands ein Duschpflaster draufkleben.«
Sie hielt ein schmales Lederetui hoch, das sie danach in der Jackentasche verschwinden ließ. »Es pocht höllisch.« Sie schluckte eine schmerzstillende Tablette. »Die Fäden kommen in acht Tagen raus.«
Körner fuhr los und reihte sich in den morgendlichen Verkehr ein. »Es tut mir leid.«
»Ich lebe ja noch. Es ist eine neue Erfahrung, angeschossen zu werden. Vielleicht schreibe ich einen Artikel darüber.« Sie versuchte zu lächeln, doch dann wurde sie wieder ernst. »Ich habe für nächste Woche Montag eine gerichtliche Vorladung. Ich werde nicht gegen Sie aussagen, ich wollte nur, dass Sie das wissen. Meiner Meinung nach haben Sie richtig gehandelt.«
»Danke.« Allerdings würden sich andere finden, um gegen ihn auszusagen. Wenigstens seine Kollegin fand es richtig, dass er dem Geiselnehmer die Kehle zertrümmert hatte.
Körner griff auf den Rücksitz und stellte Berger eine braune Tüte in den Schoß. »Cappuccino und Croissants.«
Sie riss die Packung auf und stellte die Pappbecher in die Becherhalter des Audis. Es roch nach Kaffee und frischem Gebäck. »Das Essen im Krankenhaus ist unter jeder Würde.«
»Ich dachte mir, dass Sie Hunger haben würden.«
Zaghaft nahm sie ein Croissant und biss hinein.
Körner überholte einen Lieferwagen und wechselte auf den Autobahnzubringer, der aus Wien hinausführte.
Berger sah aus dem Fenster. »Wohin fahren wir eigentlich?«
»Zu einem Ort fünfzig Kilometer südlich von Wien. Wir haben einen neuen Fall.«
Sie verharrte mit erhobenem Becher. »Das heißt, Sie sind nicht suspendiert?«
»Vorerst nicht. Ein junges Mädchen wurde in einer Bar ermordet aufgefunden. Hier sind die Fotos.« Er deutete auf die Flügelmappe im Seitenfach der Beifahrertür.
Rasch packte sie das Croissant weg und blätterte durch die Faxrollen. Aufmerksam studierte sie die Fotos. Offenbar entging auch ihr die digitale Zeitangabe am Rand der Fotos nicht, da sie auf die Uhr am Armaturenbrett blickte. »Erst eine Stunde alt.«
Im gleichen Moment ertönte die Erkennungsmelodie der 9-Uhr-Nachrichten aus dem Radio.
»Grein am Gebirge! In den frühen Morgenstunden wurde in einem Ort an der niederösterreichisch-burgenländischen Grenze die Leiche eines Mädchens gefunden«, begann der Nachrichtensprecher.
»Ist das unser Fall?«, platzte Berger heraus.
Er nickte und schaltete das Radio aus.
»Was? Hören wir uns das gar nicht an?«
»Wir machen uns lieber selbst ein Bild davon, sobald wir am Tatort sind.«
Enttäuscht ließ sie die Schultern sinken. »Warum sind die Medien schon informiert?«
»Eine Reporterin hat die Leiche entdeckt. Das sind übrigens keine Kripofotos. Die hat der Pressefotograf dieser Reporterin gemacht.«
Sie runzelte die Stirn. »Hoffentlich zertrampelt uns niemand die Spuren. Bis die örtliche Polizei alles gesichert hat …«
In ihrem Alter war er genauso eifrig gewesen. »Keine Sorge, Rolf Philipp ist unser Spurensicherer. Der braucht zwar doppelt so lange wie andere, dafür findet er jeden Kuchenkrümel auf dem Boden. Wenigstens brauchen wir uns nicht zu beeilen. Bevor der nicht jedes Staubkorn in eine Tüte gesteckt und nummeriert hat, lässt er uns ohnehin nicht rein.«
Mittlerweile rasten sie über die Südautobahn. Zu dieser Zeit herrschte nicht mehr viel Verkehr. Körners Blick verlor sich hinter den Hügeln am Horizont.
»Sie kennen Philipp aus früheren Jahren, nicht wahr?«, fragte sie.
Aus früheren Jahren? Wie das klang! Als wäre er steinalt. Körner lächelte. »Philipp, Basedov und ich waren Mitte der Achtzigerjahre zusammen in der Polizeischule Mödling und anschließend am dortigen Posten stationiert. Wir waren jung und ziemlich verrückt. Ich spielte Saxofon in einem Jazzkeller, Philipp und Basedov genossen freien Eintritt, und wenn Philipp nicht gerade sein gesamtes Geld beim Billard verspielt hat, versoff er es an der Bar mit den neuen Rekruten aus der Kaserne. Wir waren jeden Abend so stockbetrunken, dass wir am nächsten Morgen eher in die Ausnüchterungszelle gehört hätten als auf Streife. Novak war unser Boss. Der graue Fuchs hat uns geschunden, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Ein Wunder, dass er uns damals nicht hochkant rausgeworfen hat.«
»Ich hatte nie das Vergnügen, ihn kennenzulernen.«
»Ihr Glück!«
Sie dachte einen Moment nach. »Der Kripofotograf heißt doch Kralicz …« Sie verhaspelte sich. »Weshalb nennen ihn alle Basedov?«
Körner schmunzelte. »Erstens können wir seinen Namen genauso wenig aussprechen wie Sie, und zweitens … haben Sie ihn schon einmal gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dachte ich mir. Warten Sie ab, bis Sie ihn kennenlernen, dann wissen Sie Bescheid.«
»Aha.« Mehr sagte sie nicht, stattdessen hielt sie die Faxrolle in die Höhe. »Was ist das für eine merkwürdige Bar? Gaslight?«
»Ein ziemlich heruntergekommener Schuppen.« Plötzlich war Körners gute Laune verflogen. Er merkte, wie sich seine Schultern versteiften und er das Lenkrad so fest umklammert hielt, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er atmete tief durch und versuchte die Schultern zu lockern. Wie würde er sich erst in einer Stunde verhalten, wenn er sich jetzt schon so anstellte?
»Grein am Gebirge ist eine Fünfhundert-Seelen-Gemeinde. Dort gibt es außer einer Pizzeria und diesem Lokal keine Möglichkeit, um auszugehen.«
Sie rutschte auf dem Beifahrersitz herum. »Sie kennen den Ort?«
»Bin dort aufgewachsen.«
Sie bekam große Augen. »Erzählen Sie.«
Er schwieg und starrte auf die regennasse Fahrbahn. Seit er die Fotos in Jutta Korens Büro gesehen hatte, war sein Unterbewusstsein aufgewühlt. Stück für Stück platzten seine verschütteten Erinnerungen hervor, wie verstaubte Schachteln, die von der Dachbodentreppe polterten und auf dem Fußboden des Wohnzimmers auseinanderbrachen. Er wollte nicht sehen, was sich darin befand, doch je näher sie Grein kamen, desto mehr Kartons purzelten herunter. Irgendwie schaffte er es nicht, sie alle rechtzeitig wieder zu verstecken.
»Grein ist ein ehemaliger Bergwerksort«, begann er zu erzählen. »Warum das Bergwerk während des zweiten Weltkriegs geschlossen wurde, weiß niemand. Damals zogen die meisten Einwohner fort, zurück blieben Bauernhöfe, Viehställe, Heuschober, die Heurigenlokale und ein paar Lebensmittelläden. Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater arbeitete in der Nachbargemeinde als Bauleiter. Ich verbrachte meine Kindheit in diesem Nest. Das alte Bergwerk war unser Spielplatz, die meisten Abenteuer trugen sich dort zu. Dann waren da noch der Wald am Fuß des Hohen Gschwendts und die Aulandschaft entlang der Trier. Mehr gab es nicht. Eine idyllische Gegend für ein paar Jugendliche.«
Sie verließen die Autobahn und nahmen die Bundesstraße in Richtung Rosaliengebirge. Die Straße wurde unmerklich steiler, und weit und breit war kein anderes Fahrzeug mehr zu sehen. Nebel zog auf. Nieselregen fiel gegen die Scheibe und die Wischblätter zogen Schlieren.
»Es war im September, drei Tage vor meinem vierzehnten Geburtstag, an einem ähnlich kalten, nebeligen Tag wie heute. An diesem Vormittag ist unser Haus vollständig niedergebrannt. Ich saß bis zum Abend vor den verkohlten Grundmauern, aber Vater und Mutter kamen nicht mehr aus den Flammen raus.«
Berger räusperte sich. Mit einem Mal schien sie nicht mehr so interessiert zu sein. Was hatte sie denn erwartet? Einen lustigen Bericht aus seiner unbeschwerten Kindheit? Berger brachte nicht einmal das obligatorische Tut-mir-leid hervor, das an dieser Stelle für gewöhnlich kam, und Körner war dankbar dafür. Schweigen war besser als oberflächliches Gerede. Zumindest hatte er es die letzten siebenundzwanzig Jahre so gehandhabt. Er wusste auch nicht, weshalb er ihr das alles erzählte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Berger die Erste war, mit der er über die Ereignisse von damals gesprochen hatte.
Warum? Befreite es ihn? Oder legte die Fahrt nach Grein alles frei?
Seine rechte Hand lag auf dem Lenkrad. Er bemerkte, wie sie auf seinen Handrücken starrte. Die Ärmel von Pullover und Sakko waren hochgerutscht. Das Narbengewebe war bis zum Gelenk sichtbar, ohne Haare, nur ein Strang aus Knoten und Falten.
»Eine Erinnerung an den Brand«, sagte er knapp.
Sie wandte den Blick ab. »Entschuldigen Sie bitte.«
»Schon gut. Der gesamte Arm sieht schlimm aus.« Er kniff die Augen für einen Moment zusammen. »Ich wollte meine Mutter aus den Flammen retten. Sinnloser Versuch.«
Wenn er die Augen schloss, sah er das Feuer sofort wieder. Aber die Flammen waren nicht rot oder gelb, wie man es kannte – sie waren weiß. Noch heute spürte er die Hitze auf seinem Gesicht, die Glut auf den Wangen und den Lippen, roch den Gestank verbrannter Haare und versengter Haut, hörte das Knacken der Holzmöbel und das Schmelzen des Kunststoffbodens.
Da wurde die Scheibe vom roten Schein zweier Bremslichter ausgefüllt.
»Achtung!«
Körner riss das Lenkrad herum. Reifen quietschten.
Berger saß steif wie ein Brett im Sitz. Ihre Rechte umklammerte den Haltegriff über der Tür.
Körners Herz pochte wild. Er beschleunigte und überholte den Lastwagen, auf den er beinahe aufgefahren war.
Berger stieß die angehaltene Luft aus. »Das war knapp.«
Für den Rest der Fahrt schwiegen sie. Die Wischblätter kämpften gegen den zunehmenden Regen an. Im Wagen wurde es frostig. Als Körner merkte, wie Berger sich die Handflächen rieb, drehte er die Heizung höher.
Die Bundesstraße wurde steiler, die Kurven wurden enger. Bald betrug die Sicht nur noch wenige Meter, und bis zum Rosaliengebirge war es noch ein langes Stück.
Mit jedem Meter wurde seine Kehle enger.
Die Trier war ein schmutzig grauer Fluss, der in dem nach ihr benannten Tal kilometerlang neben der Bundesstraße verlief. Der anhaltende Regen hatte das Gewässer zu einem reißenden Strom anschwellen lassen. Seit Freitagabend gingen schwere Gewitter nieder, und sie hörten nicht auf. Übers Wochenende hatte es so viel geregnet, wie sonst in vier Monaten. Lokale Überschwemmungen und Murenabgänge waren die Folge. Die Freiwillige Feuerwehr war im Dauereinsatz.
Oberhalb des Trieracher Stausees vereinten sich die Wassermassen der Trier und der Göll, und die Schleusen mussten für mehrere Stunden geöffnet werden, sodass der Fluss mittlerweile zwanzig Mal so viel Wasser wie an normalen Tagen führte. Zwischen der Trier und dem Hohen Gschwendt, dem ersten Berg des Rosaliengebirges, lagen die beiden Dörfer Grein am Gebirge und Heidenhof wie in eine Mulde gebettet.
Das Schild Grein am Gebirge war im Regen kaum auszumachen. Körner lenkte den Audi von der Bundesstraße und bog auf einen holprigen Weg, der nach wenigen Metern an einer Brücke endete. Der Wagen rumpelte über die Bodenschwellen und ratterte über die Holzbalken der Brücke. Bald würden sie den Ort erreichen.
Körners Rücken versteifte sich, und er atmete so heftig, dass die Seitenscheibe leicht beschlug. Er öffnete das Fenster. Kühle Luft strömte in den Wagen, es roch nach Regen, die klirrende Kälte biss förmlich in der Nase. Berger, die bis jetzt entspannt im Sitz gelehnt hatte, schob sich hoch.
Er blickte aus dem Fenster. »Wir sind bald da.«
Unvorstellbare Wassermassen schossen unter der Brücke hindurch. Äste, Büsche, Plastikfolien und manndicke Baumstämme wurden von Strudeln eingefangen, tauchten an anderer Stelle wieder auf und wurden von der Gewalt der Strömung weitergerissen.
Auch Berger ließ ihre Seitenscheibe einen Spalt breit herunter. Fasziniert starrte sie den Flusslauf hinauf, der nach einigen Windungen im Nebel verschwand. Am künstlich errichteten Deich standen mehrere Leute in Regenmänteln und Gummistiefeln, starrten zuerst auf das trübe Wasser, dann auf den Wagen.
»Hier kommen zwar Traktoren und Mopeds, aber selten Autos vorbei, stimmt's?«, fragte Berger.
»Zumindest keine mit Wiener Kennzeichen.«
Sie holperten von der Brücke. Nach wenigen Minuten wandelte sich die trostlose Gegend in besiedeltes Gebiet. Sie kamen zur Ortstafel, und unmittelbar dahinter stand die gelbe Hütte einer Bushaltestelle am Straßenrand. Gegenüber lag eine winzige Tankstelle mit nur einer Zapfsäule. Wegen Regen geschlossen! stand auf eine Pappe gekritzelt, die unter dem Vordach hing. Der Karton weichte im Regen auf und die Farbe der Buchstaben begann zu verrinnen.
Die meisten Häuser gruppierten sich längs dieser Dorfstraße.
»Hier ist ja Ihre Pizzeria.« Berger lächelte, als sie auf das schiefwinkelige grüne Gebäude mit dem Biergarten und den wild wuchernden Hecken blickte. Offenbar amüsierte sie die Tatsache, dass Körner den Ort so treffend beschrieben hatte.
Sie kamen an einem Fußballplatz vorbei, dessen Rasen komplett unter Wasser stand, an der Volksschule, einigen Bauernhöfen, Viehställen und einstöckigen Wohnhäusern, deren Dachschindeln längst einer Erneuerung bedurften. Kindheitserinnerungen drängten sich in Körners Gedächtnis. Mein Gott, die dicke Fellmütze mit den Ohrenschützern. Er erinnerte sich an den winterlichen Fußmarsch vom Haus seiner Eltern bis zur Schule, einem einfachen Gebäude mit nur einer Klasse, in der alle Sechs- bis Zehnjährigen unterrichtet worden waren.
»Ich war seit siebenundzwanzig Jahren nicht mehr hier. Nichts hat sich verändert.«
Langsam fuhren sie an einem verkohlten Gebäude vorbei, das einmal ein Einfamilienhaus gewesen war; das schwarze Gerippe des Daches längst eingestürzt. Bloß die Grundfestung und eine Mauer standen noch. Die Fenster ausgebrannte Löcher, die Ziegel schwarz.
Körner umfasste das Lenkrad fester. Seine Brandwunde begann zu pochen.
Nachdem sie den Ort zur Hälfte durchfahren hatten, gelangten sie zum Hauptplatz. Körner parkte den Wagen am Randstein, sie stiegen aus. Die örtliche Polizei hatte den Platz mit einem gelben Plastikband abgeriegelt. Der Wind zerrte daran und ließ es leise schnalzen. Vor der Absperrung drängten sich einige Männer und Frauen, die sich unter ihren Schirmen dicht aneinander kauerten. Einheimische sind das nicht, dachte Körner, und schon brach das Blitzlichtgewitter los.
»Kein Kommentar.« Körner wedelte abwehrend mit der Hand. Mehr sagte er nicht. Er hob das Band, und Berger und er schlüpften unter der Absperrung hindurch.
Sie marschierten quer über den Hauptplatz, der leicht bergauf führte. Das Regenwasser schnellte ihnen zwischen den Rillen der Pflastersteine in Rinnsalen entgegen.
Körners Magen zog sich zusammen. Hier hatte sich nichts verändert. Auf einer Anhöhe über dem Platz thronte die Kirche, ein verwinkeltes Gebäude mit Erkern und einer angebauten Sakristei auf einem Hügel, der von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben war und wohl immer noch einen Garten darstellen sollte. Der Kirchturm war ein gedrungener Klotz aus rohen, unverputzten Ziegeln.
In seiner Kindheit war Körner das Gebäude viel größer, mächtiger und unheimlicher erschienen, und der sonntägliche Gang zur Messe war für ihn stets der Ausflug in eine von Weihrauch geschwängerte und von Wachskerzen erhellte Dunkelheit gewesen. Jetzt hatte die Kirche nichts mehr von dem Flair vergangener Tage an sich. Der Zeiger der Kirchturmuhr sprang mit einem lauten Klack um: zehn Uhr. Die Kirchenglocken begannen zu läuten.
Mitten auf dem Dorfplatz stand ein Springbrunnen, der mit seiner Höhe eher an eine Pestsäule erinnerte. Aus den Gefäßen der Marmorengel sprudelte das Wasser, das von ovalen Becken aufgefangen wurde. Ein junger Setter mit verfilztem, rotbraunem Fell schnüffelte an der Steinbalustrade. Rechts von der Skulptur lag die Lebensmittelhandlung, ein schmuddeliger Krämerladen, den es schon vor dreißig Jahren gegeben hatte. Körner erinnerte sich an die in buntem Papier eingewickelten Lutscher mit Brausepulver – und plötzlich spürte er wieder den prickelnden Cola-Geschmack im Mund. Wie hartnäckig Erinnerungen doch waren!
Linker Hand, gegenüber dem Laden, befand sich der Braune Fünfender, jenes Gasthaus, in dem sich die Bauern auf einen Schnaps trafen und die Mitglieder des Kirchenchors nach den Proben ihr Bierchen tranken. Als Jugendlicher hatte er das Gasthaus so gut wie nie von innen gesehen, denn weder seine Mutter noch sein Vater hatten zu den Stammgästen gezählt. Im oberen Stockwerk des Wirtshauses lagen die Fremdenzimmer, die unter der Bezeichnung Frühstückspension vermietet wurden. Doch schon damals hatten sich nie viele Gäste nach Grein verirrt, und so stand auch jetzt noch die ausgeblichene Tafel Zimmer frei im Fenster.
Trotz der Kälte saßen auf einer Holzbank unter dem Vordach drei alte Männer mit breiten Hutkrempen und dicken Steppmänteln. Er kannte sie, es waren Bauern aus Heidenhof. Einer von ihnen bewirtschaftete sogar die Viehställe neben dem Wohnhaus, in dem Körners Ex-Frau wohnte. Vor den Männern plätscherte das Regenwasser vom Dach und lief das Gefälle hinunter.
»Der Ex-Mann der Schabinger Marli«, murmelte einer der Greise.
Natürlich! Das hätte er sich denken können! Seine Ex hieß Marla, doch jeder hier nannte sie Marli, auch wenn sie mittlerweile schon vierzig Jahre alt war.
»Woher kennen die Ihre Ex-Frau?«, flüsterte Berger.
»Sie wohnt im Nachbarort.« Er nickte die Dorfstraße hinauf, die sich nach dem Hauptplatz zwischen den Häusern verlor. »Einige Kilometer flussaufwärts, in Heidenhof.«
»Sie scheinen hier nicht besonders beliebt zu sein«, stellte Berger fest.
»Wer ist hier schon beliebt?« Er deutete auf die alten Männer, die auf der Bank saßen, als hätte man sie an die Rückenlehne genagelt. »Die sind doch wie Schiffbrüchige, die nie aus dem Ort herauskommen! Die behandeln alle anderen wie Eindringlinge.«
Berger lächelte. »Sie übertreiben.«
»Sie haben ja keine Ahnung.«
Der Scheidungsrichter hatte vor Jahren festgelegt, dass er seine Tochter einmal im Monat besuchen durfte, und wenn er nach Heidenhof kam, fuhr er niemals durch Grein. Er blieb auf der Bundesstraße, raste neben der Trier entlang, ließ Grein links liegen und nahm die nächste Brücke nach Heidenhof. Keine zehn Pferde hätten ihn je wieder in dieses Dorf gebracht. Bis heute.
Plötzlich sah er aberwitzige Parallelen: Immer wenn er zu Marla fuhr, um die Kleine abzuholen, saß seine Ex aufrecht und steif in der Küche, ähnlich wie die drei Alten; als hätte man sie an die Rückenlehne der Bank genagelt. Das musste an der Gegend liegen, vielleicht am Kalkgehalt des Brunnenwassers oder weiß Gott woran. Jedenfalls hielt er sich nie lange bei ihr auf, schnappte sich Verena und verschwand mit ihr so schnell es ging, in eine Pizzeria, den Zoo, ins Kino, oder einfach nur in die Einkaufsparks der nächstgrößeren Stadt. Die Kleine hatte sich nie darüber beschwert – obwohl, klein war sie bei Gott nicht mehr. Mittlerweile war Verena fast vierzehn und reichte ihm schon bis zur Schulter.
Sie rauchte heimlich, hatte ein Piercing unter der Lippe, weil Marla ihr das erlaubt hatte, und wollte sich sogar ein Celtic-Tattoo auf die Schulter stechen lassen. So viel er wusste, hörte sie Offspring und Puddle of Mudd, weshalb sie auch zu den Außenseitern des Ortes gehörte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie in Neunkirchen zur Schule ging und ein wenig Abstand zu den Dorfgewohnheiten hatte. Bestimmt saß sie auch jetzt in der Schule und ahnte gar nicht, dass ihr Vater gerade im Nachbarort in einem Mordfall ermittelte.
Berger wischte sich das Regenwasser aus dem Gesicht. »Die Diskothek sieht ja noch verkommener aus als auf dem Foto.«
Sie folgte Körner quer über den Platz, zu einem unscheinbaren, schwarzen Holzschuppen, dem letzten Gebäude auf dem Hauptplatz: die Gaslight Bar. Obwohl ein Pressefahrzeug vor der Tür stand, lag eine ungewohnte Ruhe über dem Platz. Daneben parkten ein weinroter Kastenwagen mit Wiener Kennzeichen, das Auto von Philipp, dem Spurensicherer, und ein Rettungsfahrzeug. Die beiden Hecktüren standen offen und im Ambulanzbereich brannte Licht.
Körner erhaschte einen Blick in das Innere des Sanitätsautos, wo eine Frau mit schwarzem Lockenschopf und hochgekrempeltem Ärmel auf der Liege kauerte. Ein Mann, vermutlich der Dorfarzt, saß ihr gegenüber und bereitete gerade eine Injektion vor. Mit der freien Hand malte sie auf einem Papierblock. Körner hörte sie schluchzen. Das musste die Reporterin sein, die die Leiche entdeckt hatte. Er würde sich später um sie kümmern, zuerst wollte er den Tatort sehen.
Unter dem Vordach der Diskothek versperrte ihnen ein Mann in grüner Uniform und Dienstmütze den Weg. Er war an die fünfzig, hatte dichte Augenbrauen, einen Hundeblick und eine Knollennase. Er sah aus, wie die Dorfpolizisten in dieser Gegend eben aussahen, und hätte genauso gut auf einem Traktor den Maisacker pflügen können.
Mit einer Hand lehnte er an einem Holzsteher und starrte Berger unverhohlen auf die Brüste. Erst jetzt bemerkte Körner, dass seine Kollegin den Parka offen trug, die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatte und das Kreuz durchstreckte, damit sie größer wirkte. Sonja Berger war eine kleine, stramme Person, mit einer sportlichen Figur, die man selbst unter dem Parka erkennen konnte. Auf Männer wirkte sie bestimmt nicht wie eine Profilerstellerin der Kripo.
»Sie sind die Ermittler?«
»Vom Landeskriminalamt Wien.« Berger stellte Körner und sich vor.
Der Polizist schnalzte mit der Zunge. »Mein Name ist Friedl, ich bin der Postenkommandant von Grein. Wobei …« Er lächelte. »Posten ist übertrieben, ich bin allein für die beiden Orte verantwortlich. Ich habe Unterstützung vom Polizeiposten Neunkirchen erhalten. Der liegt nur fünfzehn Kilometer entfernt von hier, die Männer waren gleich zur Stelle. Die örtliche Polizei hat alles abgeriegelt. Die Beamten suchen in einem Radius von fünfhundert Metern nach Spuren.« Er machte eine Pause und musterte Körner. »Stimmt es, dass das Haus vermint war und Sie den Geiselnehmer mit bloßen Händen überwältigt haben?«
Im ersten Moment war Körner sprachlos. Mittlerweile schien das jeder zu wissen, sogar bis zu einem Nest wie Grein hatte sich diese Geschichte rumgesprochen. »Dehnen Sie den Radius auf eintausend Meter aus«, antwortete er.
Der Polizist stieg von einem Bein aufs andere. »Ich denke fünfhundert genügen. Wenn wir nichts finden, können wir immer noch …«
Körner kam näher. »Ich wusste gar nicht, dass Sie die Ermittlungen leiten.« Er wartete keine Antwort ab. »Wie wollen Sie einen zu klein festgelegten Sperrbereich nachträglich vergrößern, ohne dass Spuren verloren gehen? Jetzt machen Sie schon, bevor uns der Regen noch alles wegspült!«
Er ging um den Polizisten herum, schlüpfte unter dem gelben Plastikband hindurch und betrat die Bar. Berger folgte ihm. Zunächst fiel ihm auf, dass in der schweren Holztür das Schloss fehlte. Es war fachmännisch aus der Vertiefung entnommen worden. Körner fasste nichts an, sondern notierte dieses Detail in Gedanken.
Wie er schon auf den Fotos gesehen hatte, war der Raum dunkel. Der Boden bestand aus speckigen Holzbohlen, über die bestimmt schon literweise Bier geflossen war, die Wände waren ebenfalls mit Brettern verkleidet, und unter der Decke verliefen schwere Holzbalken mit einem geschlungenen Kabel voller Glühbirnen, die wohl das Flair einer Diskothek erzeugen sollten.
In dem Raum roch es nicht nur nach Bier und kaltem Zigarettenrauch, sondern auch nach Eisen. Aber das war nicht alles … darüber lag der penetrante Geruch verfaulter Eier, wie im Schwefelbad eines Seniorenheims. Von der Leiche konnte dieser Gestank nicht stammen.
Leichen rochen anders.
»Passen Sie auf.« Körner deutete auf den Weg, den die Spurensicherung für die Ermittler gelegt hatte. Winzige Zapfen stecken im Boden, an denen Schnüre gespannt waren.
Berger folgte ihm entlang der Wegführung. Sie kamen zu den Barhockern. Der Tresen war alles andere als blank poliert, Bierdeckel lagen herum und Reste von Kerzenwachs klebten am Holz. Durch den mannshohen Spiegel hinter der Bar wirkte der Raum doppelt so groß. Von dem Deckenaufbau hingen die Gläser und Portionierer der Bourbon- und Barcadi-Flaschen. Wie Körner jetzt bemerkte, hatte er als Jugendlicher mit diesem Schuppen nicht viel versäumt.
Entlang mehrerer Holzsäulen, an denen Plakate von Livebands und Showevents hingen, gelangten sie zur Tanzfläche. Der enge, kreisrunde Platz wurde von Tischen und Stühlen umrahmt, dahinter befand sich das Podest für die Band. Mikrofonständer, Boxen und lose Kabel lagen herum.
Basedov hatte auf Stative montierte Scheinwerfer um die Tanzfläche herum gestellt, um jeden Winkel des Tatorts ausleuchten zu können. Er selbst war nicht zu sehen. Hinter einem Paravent aus Alufolie flammten Blitzlichter auf. Offensichtlich war er schon bei der Leiche angelangt.
Vor dem Paravent kroch Philipp auf allen vieren, mit Plastiküberziehern an Händen und Schuhen über den Boden. Mit seiner Statur wirkte er wie ein Bär in einem Dekontaminierungsanzug. Von Beginn an hatte jeder gewusst, dass er der geborene Spurensicherer war. Nach der Erprobung in Wien hatte festgestanden: Philipp ging zur Spurensicherung, Basedov wurde Kripofotograf und Körner wechselte zum Morddezernat. Manchmal arbeiteten sie gemeinsam an einem Fall … heute war so ein Tag.
Philipp drehte ein hell schimmerndes Objekt zwischen den Fingern. »Fragment des dritten oder vierten Lendenwirbels«, murmelte er in das Diktafon, das er sich dicht vor den Mund hielt. »Vier Zentimeter, elf Gramm. Entfernung zur Leiche …« Er las die Ziffern auf einem Maßband ab, das unter dem Paravent verschwand. »Drei Meter vierzig. Nummer siebzehn.«
Er packte das Teil in eine Folie, nummerierte sie mit einem Stift und markierte den Fundort mit einer Steckfahne. Danach legte er die Folie zu einem Berg von Tüten, der sich hinter ihm angesammelt hatte. Zuletzt fotografierte er den Platz.
»Der intensive Eisengeruch rührt von der hohen Blutmenge und den Knochenbrüchen der Wirbelsäule her«, setzte er sein Protokoll fort. »Auffällig ist jedoch der starke Schwefelgeruch. Möglicherweise ist die Wunde des Opfers mit Fluimucil versetzt worden.«
Körner und seine Kollegin beobachteten ihn fasziniert. Er hatte ihr Eintreten nicht bemerkt. Körner räusperte sich, Philipp schaute hoch und beendete die Aufzeichnung.
»Die Kavallerie ist da.« Philipp richtete sich vollends auf. Er war annähernd so groß wie Körner, nur hatte er beinahe den doppelten Brustumfang, ohne dabei dick zu wirken. Er hatte buschige Augenbrauen, einen dichten Kinn- und Oberlippenbart und eine Halbglatze mit hoher Denkerstirn. Dennoch trug er das nach hinten gekämmte Haar schulterlang wie ein Künstler.
Als er Körner erkannte, hellte sich sein Blick auf.
»Dir hat Koren den Fall übertragen? Ich hätte drauf wetten können, dass dich der alte Drachen suspendiert.«
Körner ging nicht darauf ein. Er deutete auf die Tanzfläche. »Fehlt etwas?«
»Kann ich hellsehen?« Philipp breitete die Arme aus. »Bin gerade mal eine Stunde hier. Ich muss erst alles einsammeln und ins Labor bringen. Zieh dir Handschuhe an und hilf mir!«
»Danke! Wenn der Mörder ein Stück von der Leiche als Andenken mitgenommen hat, möchte ich das wissen.«
»Du bist der Erste, der es erfährt.«
»Ist dir aufgefallen, dass das Türschloss fehlt?«, fragte Körner.
Philipp verdrehte die Augen. »Ich habe das Zylinderschloss ausgebaut und werde es der Kriminaltechnik schicken. Ich glaube, jemand hat daran rumgefummelt.«
»Sonst noch etwas gefunden?«
»Ja, den Ausweis des Mörders«, fauchte Philipp. »He, was glaubst du, was ich hier mache? Es gibt nichts Schrecklicheres als eine Spurensicherung in einer Diskothek. Hunderte frische Fingerabdrücke am Geländer und an den Gläsern, Stofffasern an den Stühlen, unzählige Fußabdrücke. Finde da mal raus, welche zur Tat gehören und welche nicht.«
»Ja, ja, ich habe verstanden: Wir lassen dich in Ruhe arbeiten.« Körner hob beschwichtigend die Hände. »Das ist übrigens Dr. Sonja Berger. Sie …«
»Guten Morgen.« Berger nickte knapp.
»Sie sind also diese junge Kriminalpsychologin.« Philipp setzte ein charmantes Lächeln auf. »Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Passen Sie gut auf sich auf, wenn Sie in seiner Nähe sind. Ich habe gehört, er reicht seine Waffe öfter mal an verdächtige Personen. Um so eine intelligente Frau wie Sie wäre es nämlich verdammt schade.«
Berger rümpfte die Nase.
»Ich weiß sehr wohl, dass ich auf dem Revier Psychotante genannt werde, also sparen Sie sich Ihre Schmeicheleien.«
Schlagartig herrschte ein frostiges Klima, doch Körner schmunzelte.
»Sie haben mich ertappt, Psychotante. Eins zu null für Sie.« Philipp widmete sich wieder seiner Arbeit.
Ihn schien Bergers Vorwurf nicht wesentlich aus der Fassung gebracht zu haben. Körner nahm ihm das sogar ab. Frauen gegenüber war Philipp ziemlich abgebrüht – entweder flirtete er schamlos mit ihnen, oder er beleidigte sie.
Körner wandte sich ab und ging den markierten Weg entlang.
»Zertrampele bloß keine Spuren«, rief Philipp ihm hinterher. »Ein Köter ist vorhin in die Bar gelaufen und hat den Tatort versaut.«
»Ja, ja! Ich muss mir ansehen, wie der Mörder alles arrangiert hat. Wenn man den Künstler verstehen will …«
»… muss man sein Werk betrachten. Ich weiß, das ist ein alter Hut.« Philipp deutete auf die ausgesteckte Wegführung. »Aber nur da entlang, du Kunstkenner!«
Berger folgte ihm nicht, sie blieb zurück und plauderte mit Philipp. Körner hörte nicht, worüber sie sprachen, doch an ihrem Tonfall merkte er, dass Berger interessiert Fragen stellte. Auch wenn Philipp ruppig war, beruflich konnte man einiges von ihm lernen.
Körner ging auf den Paravent zu und war auch schon am Ende des Raums angelangt. Durch einen Torbogen führte nur noch ein Gang an den Toiletten vorbei und endete in einem Hinterhof mit Parkplatz.
Hinter der Alufolie, die Basedov zum Erhellen des Raumes verwendete, zuckte noch immer das Blitzlicht. Für einen Moment sah Körner nur grelle Sterne. Basedov stand hinter der Nikon und presste das Auge an den Sucher. Er hantierte am Objektiv und betätigte den Auslöser.
Wenn man ihm bei der Arbeit zusah, glaubte man, er blickte mit einem Auge in den Sucher, während er einen mit dem anderen musterte. Sein basedow'scher Blick sah dann noch schlimmer aus, als hätte man einen Frosch mit der Fahrradpumpe aufgeblasen, zumindest behauptete das Philipp immer, wenn er über Basedov scherzte. Der Fotograf war ein netter Kerl, der die ständigen Witze auf seine Kosten mit stoischer Ruhe erduldete.
Basedov wirkte mit seinem Mittelscheitel so bieder wie ein Familienvater, der tagsüber beim Finanzamt die Eingangspost stempelte. Der Spitzname Basedov war letzten Endes eine von Philipps geschmacklosen Kreationen: Basedow mit russischem Akzent gesprochen – geprägt an jenem Tag, als Basedov eine Ukrainerin geheiratet hatte, mit der er mittlerweile zwei Kinder großzog.
Basedov starrte Körner an. »Morgen, Alex. Wieder mal vereint, wie in alten Zeiten.«
»Ja, war eine tolle Zeit …«
»Wir waren schon damals ein einmaliges Team«, rief Philipp jenseits des Paravents. »Seitdem hat sich nicht viel verändert, stimmt's?«
»Du hattest mehr Haare«, konterte Basedov.
»Schnauze!«
Basedov verstummte. Anscheinend hatte er keine Lust auf niveaulose Wortgefechte mit Philipp.
»Warten wir ab, ob wir dieses Mal auch so gut sind. Basedov, ich wollte …«
Das Blitzlicht flammte auf und Körner stockte. Das Eisengestell, das er bereits auf dem Foto gesehen hatte, stand wie ein Gerippe an der Wand. In dem Gerät befand sich tatsächlich eine eingeschweißte Sitzbank. Auf den ersten Blick sah es wie das Trainingsgerät eines Fitnessstudios aus, doch mit den Seilen, Flaschenzügen und Lederriemen wirkte die Konstruktion befremdend und ließ keinen Sinn erkennen. Noch nicht! Die Jungs im Labor würden sich darum kümmern.
Neben dem Gestell lag die Leiche auf dem Bauch. Ein Mädchen in Jeans, Bluse und Turnschuhen, Arme und Beine von sich gestreckt. Basedov hatte eine Kreidelinie um den Leichnam herum gezeichnet. Unschwer ließ sich erkennen, woran sie gestorben war.
Jetzt verstand er auch, weshalb ihre Wirbelsäule auf der gesamten Tanzfläche verstreut lag.
Körner ging in die Hocke und betrachtete die Tote, die rund zwei Meter von ihm entfernt lag. Philipps Wegmarkierung ließ ihn nicht näher heran, doch diese Distanz reichte vollkommen aus.
Der Tatort wirkte, als wäre ein Serienmörder am Werk, der an der Grenze seines Verstandes experimentierte – und der Gefallen an seinem Spiel hatte. Was wollte er ihnen mit dieser Inszenierung mitteilen?
Hallo Leute, das ist mein erstes Opfer. Weitere folgen in Kürze.
Das Mädchen lag mit dem Gesicht nach unten, als wollte der Mörder vermeiden, seinem Opfer in die Augen zu sehen. Vermutlich kannte er die Tote, war vielleicht benachbart oder sogar mit ihr verwandt gewesen. Die Bluse war am Rücken in zwei Hälften zerrissen. Der Anblick wirkte verstörend. Wie oft musste der Killer mit dem Messer in ihren Rücken gehackt haben, um das zu verursachen? Warum war es ausgerechnet so passiert und nicht anders? Warum war der Mord ausgerechnet an dieser Stelle in diesem Lokal passiert und nicht woanders? Warum hatte der Mörder von allen Mädchen aus der Umgebung ausgerechnet dieses Opfer ausgewählt und kein anderes?
Körner betrachtete ihr blondes, zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar. Ich finde es heraus, Kleine. Er glaubte nicht an Zufälle und war davon überzeugt, dass der Killer genau wusste, was er tat. Er musste nur noch hinter den Plan des Wahnsinnigen kommen. Er musste das Muster erkennen.
Das Eisengestell, das wie ein düsteres Omen neben der Leiche emporragte, gab ihm das nächste Rätsel auf. Körner erhob sich aus der Hocke. »Weiß schon jemand, wozu dieses Gerät dient?«
Philipp lachte obszön. »Ich hab es noch nicht ausprobiert.«
Vielleicht war Sarkasmus ja Philipps Art, mit dem Schrecken umzugehen, den sie tagtäglich sahen. Jeder hatte seine Masche: Sabriski ging Tiefseetauchen, Basedov war mit Leib und Seele Familienvater und Körner selbst konnte abschalten und sich am besten entspannen, wenn er durch den Wienerwald joggte, am Sandsack trainierte oder in der Küche stand und kochte. Am ärmsten waren jene dran, die noch keine Methode gefunden hatten, den Schrecken auf Distanz zu halten.
»O Gott!« Plötzlich stand Berger neben ihm und starrte mit offenem Mund auf die Leiche.
»Ja. Furchtbar«, sagte Körner. »Das ist Basedov, unser Fotograf«, fügte er rasch hinzu, um sie abzulenken. Er bemerkte, wie sie weiß im Gesicht wurde.
Keine Tausend Fotos konnten jemanden darauf vorbereiten, wie es war, wenn man das Opfer eines wahnsinnigen Mörders tatsächlich vor sich sah.
Bergers Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Im Moment würgte sie bestimmt Magensäure hoch. Er kannte das, jedem passierte das beim ersten Mal. Es war nicht nur der Anblick, sondern auch der entsetzliche Geruch und der Geschmack im eigenen Mund. Alles zusammen rief unglaubliche Assoziationen hervor.
Körner stupste Berger an. »Das ist Basedov! Unser Fotograf!«, wiederholte er. »Und das ist Dr. Sonja Berger, sie erarbeitet Täterprofile und verfasst Artikel für psychologische Fachzeitschriften. Sie sind ziemlich gut darin, habe ich recht?«
Sie blickte auf. Endlich war der Bann gebrochen. »Guten Morgen. Ja, ich erstelle Profile.« Ihre Stimme war ein heiseres Krächzen. »So etwas habe ich noch nie gesehen …«
»Ich habe noch nichts von Ihnen gelesen. Sie müssen mir mal ein paar Ihrer Artikel zukommen lassen.« Basedov lächelte sie scheu an.
»Gern.« Geistesabwesend wandte sie den Blick ab und betrachtete das Eisengestell.
Basedov trat einen Schritt zur Seite und deutete auf die Sitzbank. »Meiner Meinung nach hat das Gerät nur einen Sinn: Jemand setzt sich darauf und wird mit den Lederfesseln über diese Stange nach vorne gebeugt, sodass sein Rücken durchgebogen wird.«
»Aber wozu?«
»Können wir gleich an Basedov ausprobieren«, rief Philipp hinter dem Paravent.
Körner deutete auf das zerfetzte Rückgrat des Mädchens. »Und dann passiert so etwas?«
»Eine schöne Sauerei.« Philipp raschelte mit den Plastiktüten. »Vor sieben Jahren hatte ich in Krems einen ähnlichen Fall. Der Mörder hatte einem jungen Burschen die Wirbelsäule freigelegt.«
Berger presste ihre Lippen zu einem weißen Strich zusammen.
»Aber es kommt noch schlimmer«, sprach Philipp weiter. »Zwei Jahre darauf hat Basedov in Gmunden annähernd gleiche Fotos von einer jungen Frau geschossen. Das war ein Schlamassel! Erzähl es ihnen!«
»Ich erinnere mich«, druckste Basedov herum, »aber ich will nicht darüber …«
»Es reicht!« Körner wandte sich an seine Kollegin. »Lassen Sie sich von dem Burschen nicht aufziehen. Atmen Sie tief durch.«
Plötzlich flog die Hintertür der Diskothek auf. Der Wind pfiff durch das Lokal, Regen klatschte auf die Pflastersteine und ein kühler Luftzug strömte ins Innere. Jana Sabriski stand im Türrahmen, vollgepackt mit Boxen und Tragtaschen.
»O nein, verflixt, der Hund!«, rief sie.
Ein verfilzter Setter mit triefend nassem Fell schlüpfte zwischen ihren Beinen hindurch und jagte den Gang entlang, an den Toiletten vorbei auf die Tanzfläche. Körner wollte das Tier am Halsband packen, doch es stürzte an ihm vorbei, setzte über die Bodenmarkierung hinweg und schlitterte mit den Krallen über den Parkettboden. Dann warf es beinahe das Kamerastativ mitsamt dem Paravent um und sprang neben dem Eisengestell an der Wand hoch. Es winselte und jaulte und schabte mit den Krallen über die Holzverkleidung. Es war der Hund, den sie am Hauptplatz gesehen hatten.
»Da ist der verfluchte Köter wieder! Schafft das Mistvieh weg, bevor ich es erschieße.« Philipp raste hinter dem Paravent hervor. Er war rot im Gesicht und fuchtelte mit den Armen herum. »Der Drecksköter verliert überall Haare und sabbert alles voll!« Er warf Sabriski einen bissigen Blick zu.
Die Rechtsmedizinerin stand neben Körner und stellte ihre Taschen zu Boden. »Tut mir leid, aber ich habe den Hund nicht gesehen. Was jetzt?«
Basedov machte einen Schritt zurück, als wollte er dem Tier nicht zu nahe kommen. »Der Hund schleicht ständig vor dieser Wand herum und beschnuppert alles. Er ist mir schon zwei Mal ins Bild gelaufen«, erklärte er. »Wir haben ihn vor einer Stunde mit Mühe und Not aus der Bar gelockt.«
Berger stieg kurzerhand über die Absperrung und näherte sich dem Tier von hinten. »Braver Hund«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Du bist ja ein süßer Hund.«
»Ja, total süß!«, brauste Philipp auf.
»Seien Sie still!« Berger ging unmittelbar hinter dem Tier in die Hocke. Es jaulte und kratzte mit der Pfote über die Leiste an der Wand. Offenbar interessierte sich der Hund weder für die Leiche noch für das Eisengestell. Berger streichelte ihm übers Fell. »Bist ein netter Kerl. Braver Hund. Komm her!« Sie strich ihm über den Kopf, dann packte sie ihn am Halsband. Sanft zog sie ihn von der Wand weg. Er ließ sich von ihr führen.
»Komm mit mir, kleiner Kerl. Ich bring dich raus. Vielleicht finden wir was zum Fressen für dich.«
Philipp kramte in der Jackentasche und streckte ihr einen verpackten Müsliriegel entgegen.
»Danke.« Sie wehrte ab und führte den Hund durch die Bar zum Hauptausgang.
Philipp sah ihr nach, wie sie aus der Diskothek verschwand. »Sollte beim Drogendezernat die Schnüffelhunde leiten.«
»Puuuh!« Sabriski ließ die Schultern sinken. Mit dem Fuß schob sie die Tasche zur Leiche. »Noch ein paar Proben, dann bin ich fertig.«
»Parkt dein Wagen hinten?« Körner deutete zur rückwärtigen Tür.
Sabriski ignorierte ihn. So klirrend kalt zu schauen wie ein Schlittenhund – das brachte nur Sabriski zustande. Sie zog den Reißverschluss der Tasche auf und breitete Pinzetten, Injektionsnadeln und Ampullen auf einer Folie aus.
»Wie lange ist die Kleine schon tot?«, versuchte er erneut ein sachliches Gespräch mit ihr zu beginnen.
Sabriski wandte sich um, strich sich das lange braune Haar hinters Ohr und warf Körner einen bösen Blick zu. Wenn sie wütend war, konnte sie ganz besonders hübsch sein.
»Ausgerechnet dir haben sie den Fall angehängt? Toll, und ich hatte gehofft, ich hätte nichts mehr mit dir zu tun.«
Vielleicht hätte Körner auf Jutta Korens Rat hören und Privates und Berufliches von Beginn an trennen sollen, doch jetzt war es zu spät. Was von einer fünfjährigen Beziehung blieb, war nichts weiter als bissige Kommentare. Trotzdem versuchte er, bei der Sache zu bleiben. »Kannst du schon sagen, ob die Kleine vergewaltigt worden ist?«
»Das ist alles, woran du denkst?« Sie ließ den Verschluss einer Box aufschnappen.
»Oh, oh!« Philipp wandte sich ab.
»Dicke Luft«, grummelte Basedov und hantierte geschäftig an der Kamera herum.
Körner schüttelte den Kopf. »Die Detektivin mit dem Skalpell, scharfzüngig wie immer. Du hast dich nicht verändert, aber ich würde vorschlagen, wir lassen das. Was weißt du bisher über das Mädchen?«
»Der Dorfarzt hat den Totenschein ausgestellt. Frag ihn, wenn du etwas wissen willst.«
»Ich frage aber keinen zweitklassigen Dorfarzt, ich will es von dir wissen, Jana. Sprich mit mir!«
Philipp verschränkte die Arme vor der Brust. »Komm schon, sag es ihm. Je eher wir hier fertig sind, desto eher können wir verschwinden.«
»Ihr Männer haltet immer zusammen«, beklagte sie sich. »Tatwaffe haben wir keine. Ich kann dir im Moment noch nicht sagen, womit sie so zugerichtet worden ist.« Sie blickte kurz zu Körner auf. Ihre Stimmung beruhigte sich. Während sie die Handschuhe überstreifte und die Bluse des Mädchens vollends entfernte, sprach sie weiter. »Sieht so aus, als wären fremde Haare, Blutspuren, Horn- und Knochensplitter im Körper, die nicht zur Leiche gehören. Die Wundränder sind mit einem braunen Saft durchsetzt. Definitiv kein Maschinenöl. Eine DNA-Typisierung im Labor wird uns mehr sagen.«
»Okay, was noch?«
»Eine Punktion in der linken Armbeuge. Mit Sicherheit von einer Injektion, die noch keine zwei Stunden alt ist.« Sie schaute auf die Armbanduhr. »Gegen acht. Wahrscheinlich hat sie ein starkes Beruhigungsmittel bekommen.«
»Vielleicht hat sie sich die Spritze selbst gesetzt«, vermutete Körner.
Sabriski schüttelte den Kopf. Sie deutete auf die Leiche. »Schau! Der linke Oberarm ist kräftiger, sie ist Linkshänderin. Sie hätte sich unmöglich die Spritze in die linke Armbeuge gesetzt.«
Sabriski packte ihre Instrumente in die Box. »In Ordnung. Ich bin so weit.«
»Alles klar, ich hab alles im Kasten«, ergänzte Basedov.
»Dann los!« Philipp beugte sich über die Leiche. »Vorsichtig!«
Sie ergriffen das Mädchen an Händen und Füßen und drehten es langsam auf den Rücken.
»O Scheiße!«, fluchte Sabriski.
Körner blickte rasch zur Seite. Eine Sekunde reichte vollkommen aus, er hatte genug gesehen. Für ihn war das der schlimmste Moment an jedem Tatort. Die Augen des Opfers. Das verzerrte Gesicht der Toten sah noch schrecklicher aus, als die Wunde in ihrem Rücken. Lidschatten und Wimperntusche waren verlaufen, das Rouge auf den Wangen verschmiert. Inmitten dieser Farben waren die Augen weit aufgerissen, genauso wie der Mund. Auf dem Bauch des Mädchens prangte ein ovaler, dunkelvioletter Fleck, mehr hatte er nicht gesehen.
Sabriski schaltete das Aufnahmegerät ein. »Die Wunde ist tief«, diktierte sie, »an die zwanzig Zentimeter, reicht bis in die Bauchhöhle, schwere innere Blutungen, der gesamte Torso ist betroffen. In der Mundhöhle des Opfers steckt ein Knebel … ein Stofftuch, wie es scheint.«
Körner schielte zur Leiche. Philipp zog dem Mädchen mit der Pinzette ein weißes Tuch aus dem Mund und ließ es in einer seiner Plastiktüten verschwinden.
»Interessant.« Er warf Körner die Tüte zu.
Der Knebel sah aus wie eine Platzdecke. Speichel tränkte den Stoff, und in die Ecke waren mit Goldfäden zwei Buchstaben gestickt: BF.
»Was ist das?«, fragte Basedov.
Körner reichte dem Fotografen die Tüte. Der drehte sie im Scheinwerferlicht zwischen den Fingern. »BF – Initialen vielleicht? Womöglich die des Mörders?«
»Hervorragend.« Philipp schnippte mit den Fingern. »Wir haben ihn! Benjamin Franklin war es! O nein, der ist ja schon tot. Aber Brendan Fraser, der Schauspieler vielleicht?«
»Idiot! Ich wollte nur helfen.« Basedov gab die Tüte an Philipp weiter.
»Dann fotografiere und misch dich nicht ein!«
»He, Ruhe!« Sabriski erhob sich und stand zwischen den beiden. »Phil, nimm die Fingerabdrücke vom Ring, der Uhr und dem Armband der Kleinen.« Sie deutete auf den Schmuck, den die Tote trug.
»Zu Befehl, Lady.« Philipp machte sich an die Arbeit.
Schritte ließen sie aufblicken. Der Dorfpolizist marschierte quer durch das Lokal. »Wir haben den Radius ausgedehnt«, meldete er Körner.
»Kennen Sie das Opfer?«