Das Feuer des Lords - Die DePiaget-Serie: Band 2 - Lynn Kurland - E-Book
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Das Feuer des Lords - Die DePiaget-Serie: Band 2 E-Book

Lynn Kurland

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Beschreibung

Das Glück wartet in den grünen Hügeln Englands: der romantische Liebesroman „Das Feuer des Lords“ von Lynn Kurland jetzt als eBook bei dotbooks. Genevieve ist als Restauratorin in den USA erfolgreich, doch über Nacht wird ihr Leben auf den Kopf gestellt: Sie erbt von einer unbekannten Verwandten eine Burg im Herzen Englands … unter der Bedingung, dort zu wohnen! Zunächst lehnt sie ab, aber als ihre Karriere wie von Geisterhand zusammenbricht, bleibt ihr keine andere Wahl, als sich auf das Abenteuer einzulassen. Sie ahnt nicht, wer sie bereits erwartetet: Der attraktive Kendrick de Piaget glaubt, nun endlich Gelegenheit zu haben, Rache an Genevieves Familie zu nehmen. Doch er hat nicht damit gerechnet, wie unwiderstehlich die Frau ist, die er eigentlich hassen will … Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Das Feuer des Lords« von Lynn Kurland ist ein besonderes Romance-Highlight für alle Fans historischer Liebesromane voller Romantik und Gefühl, das in Deutschland erstmals unter dem Titel »Das Erbe in den Highlands« erschien. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 558

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Über dieses Buch:

Genevieve ist als Restauratorin in den USA erfolgreich, doch über Nacht wird ihr Leben auf den Kopf gestellt: Sie erbt von einer unbekannten Verwandten eine Burg im Herzen Englands … unter der Bedingung, dort zu wohnen! Zunächst lehnt sie ab, aber als ihre Karriere wie von Geisterhand zusammenbricht, bleibt ihr keine andere Wahl, als sich auf das Abenteuer einzulassen. Sie ahnt nicht, wer sie bereits erwartetet: Der attraktive Kendrick de Piaget glaubt, nun endlich Gelegenheit zu haben, Rache an Genevieves Familie zu nehmen. Doch er hat nicht damit gerechnet, wie unwiderstehlich die Frau ist, die er eigentlich hassen will …

»Ein genialer Roman, den Sie nicht verpassen sollten.« Constance O'Day Flannery

Über die Autorin:

Lynn Kurland ist auf Hawaii aufgewachsen und begann dort schon im Alter von fünf Jahren mit dem Schreiben. Im College entdeckte sie schließlich ihre Leidenschaft für Liebesromane und beschloss kurze Zeit später, ihre eigenen zu verfassen. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in den USA. Wenn sie nicht schreibt, spielt die ausgebildete klassische Musikerin Cello oder Klavier.

Von Lynn Kurland erscheinen bei dotbooks auch:

»Die Leidenschaft des Highlanders«

»Die Sinnlichkeit des Highlanders«

Die Website der Autorin: www.lynnkurland.com

***

eBook-Neuausgabe Juni 2018

Dieses Buch erschien bereits 2012 unter dem Titel »Das Erbe in den Highlands« bei Verlagsgruppe Weltbild GmbH.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe »Stardust of Yesterday« 1996 Lynn Curland

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2012 Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/All kind of people, Julia ST

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-468-3

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

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blog.dotbooks.de/

Lynn Kurland

Das Feuer des Lords

Roman

Aus dem Amerikanischen von Susanne Aeckerle

dotbooks.

Für Lynn R., meine Wunschschwester,für zehn Jahre unverbrüchlicher Freundschaft.

Für meine liebe Freundin Elane und ihreunermüdliche Unterstützung.

Für Gail, meine Lektorin, die wederan diesem Buch noch an mir jemals zweifelte.

Und für Matthew,meinen lieben Ehemann und Freund,den lebenden Beweis dafür, dass die Wirklichkeitbesser ist als jede Fiktion.

Prolog

BURG SEAKIRK, ENGLAND, 1260

»Verdammt, Mann!«, brüllte Kendrick of Artane. »Wisst Ihr denn nicht, wer ich bin?«

Matildas Liebhaber sah ihn mit unbewegter Miene an. »Ich weiß sehr wohl, wer Ihr seid. Nur ist das kaum von Bedeutung, da Euer erlauchter Vater nicht hier ist, um Euch zu retten.«

»Dafür wird er Euch einen Kopf kürzer machen«, stieß Kendrick hervor. Seine blassgrünen Augen schleuderten Blitze. »Ihr erlebt das Jahresende nicht mehr, wenn er erfährt, was Ihr getan habt.« Er zerrte an den Eisenringen, mit denen seine Handgelenke und Fußknöchel an die feuchtkalte Wand gekettet waren.

Richard zuckte mit den Schultern. »Vielleicht glaubt er, Wölfe oder Straßenräuber hätten Euch überfallen. Der Möglichkeiten gibt es viele.«

»Ihr werdet den Tag noch bereuen, Richard. Dafür werde ich eigenhändig sorgen.«

Richard lächelte und legte die Armbrust an. »Für das Gold, das Ihr Matilda freundlicherweise als Mitgift überlassen habt, bin ich sehr dankbar. Ihr habt mich zu einem wohlhabenden Mann gemacht.«

»Wartet«, gebot Kendrick. »Matilda soll alles mit ansehen. Ich will ihr ins Antlitz blicken, wenn Euer Bolzen mein Herz durchbohrt.«

Richard lachte. »Natürlich. Sie ist begierig darauf, die Tat zu bezeugen.«

Mit einer Handbewegung scheuchte er seinen Knappen die Kellertreppe hinauf.

Kendrick ließ Richard nicht aus den Augen, fassungslos ob der Ereignisse der letzten Stunden.

War er denn wirklich erst am Abend zuvor frohen Mutes durch die Tore von Seakirk geritten, voller Freude, dass ihm der König Seakirk zum Lehen und dessen Herrin zur Braut gegeben hatte? War es erst am Vorabend gewesen, dass er Matilda erblickt hatte, von ihrer Schönheit verzaubert, um dann zu sehen, wie sich ihre Miene in Hass und Genugtuung verwandelte, als Richard of York mit seiner Leibgarde den Rittersaal betrat? Obwohl Kendrick viele seiner Angreifer niedergestreckt hatte, waren er und seine Mannen zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen gewesen. Und so stand er nun, an die Wand gekettet, in Erwartung des sicheren Todes.

Kendricks Blick traf den Matildas, als sie die Treppe herunterschritt, und er verfluchte sich für seine Torheit. Wie hatte er nur so blind sein können? Ihr hinterhältiges Wesen hätte er wirklich erkennen müssen: wie sie verschämt die Augen niederschlug, wie sie gerissen ihre Worte verdrehte und ein offenes Gespräch vermied. Und dann dieses Lächeln. Ihn überlief ein Schauder. Ihr Lächeln war kälter die Mauersteine in seinem Rücken.

Kopfschüttelnd verfluchte er sich erneut. Fürwahr, er war ein Narr gewesen und verdiente vielleicht, was auf ihn zukam.

Sein Blick schwenkte zu Richard zurück. Herausfordernd sah er seinem Mörder ins Gesicht und wartete darauf, dass er den Bolzen losschnellen ließ.

Was Richard tat.

Kapitel 1

SAN FRANCISCO, JULI 1995

Wie schön, wieder zu Hause zu sein. Genevieve stellte ihren Koffer am Bordstein ab, lehnte die Aktenmappe an ihr Bein und betrachtete ihr Büro mit einem zufriedenen Seufzer. Das Geschäftsschild war hervorragend gelungen, die Pflanzen in den Fenstern standen in voller Blüte, und die angelehnte Tür lud Kunden zum Eintreten ein. Ja, hierher würde ein Hausbesitzer mit Fotos seines verfallenen Hauses kommen, in der Hoffnung, es ließe sich durch ein Wunder in seinen ehemals prächtigen Zustand zurückversetzen. Und noch jeder Hausbesitzer war zufriedengestellt von dannen gezogen. Genevieve beherrschte ihr Metier und hatte andere angestellt, die davon ebenso viel verstanden. Nie wurden ihre Kunden enttäuscht.

Genevieve schleppte ihr Gepäck durch die Eingangstür und strahlte bei dem Anblick, der ihr sich bot. »Willkommen zu Hause, Gen« stand auf einem großen Spruchband, das über der Tür ihres Büros hing. Sie stellte ihre Sachen ab und trat ein. Blumen standen auf ihrem Schreibtisch, an der Decke hingen Bündel von Luftballons.

»Überraschung!«

Ihre kleine Belegschaft drängte sich um sie. Ein Teller mit Kuchen wurde ihr in eine Hand gedrückt, ein Glas mit Punsch in die andere, während man sie zu ihrem Bürostuhl schob. Fragen prasselten von allen Seiten auf sie ein.

»Und, hast du irgendwelche Filmstars gesehen?«

»Wie hat ihnen das Angebot gefallen?«

»Hast du uns was mitgebracht?«

Genevieve blickte sich lachend um. Wie schön, wieder unter Freunden zu sein. Rechts neben ihr stand Kate, die schon am längsten bei ihr war und sich vor allem dafür interessierte, welche Berühmtheiten in alten Häusern wohnten. Dann war da Peter, ein hervorragender Zimmermann, der sich um die Feinheiten jedes Auftrags kümmerte. Angela, die im Büro die Stellung hielt, war zwanzig, verwandelte sich aber in eine Zehnjährige, wenn es um Geschenke ging. Sie stand links von Genevieve und konnte es vor Vorfreude kaum erwarten. Genevieve lächelte.

»Also, Filmstars hab ich keine gesehen, nicht mal Sternchen, nur den Großen Wagen am Himmel. Unsere Pläne sind bestens angekommen, und dein Geschenk, Angela, ist in meinem Koffer.« Sie biss von ihrem Kuchen ab und sah die drei an, die sich um ihren Schreibtisch drängten. »Genügt euch das?«

»Ich hätte gerne einen ausführlicheren Bericht«, sagte Peter, »aber da werde ich wohl noch warten müssen. Angela, das Telefon. Gen, ich bin heute Nachmittag bei den Murphys. Iss nicht zu viel Kuchen. Von Schokolade wird dir schlecht.«

»Jawohl, Dad«, erwiderte sie mit militärischem Gruß.

»Ich bin dann auch weg«, verkündete Kate auf dem Weg zur Tür. »Ich muss noch einiges für deine Fahrt heute Nachmittag nach Carmel zusammenstellen. Die hast du doch nicht vergessen, oder?«

»Nein, nein.« Genevieve salutierte erneut. »Danke, dass du mich daran erinnerst.«

»Dafür bin ich ja schließlich da«, erwiderte Kate lächelnd. »Schön, dass du wieder da bist Lass uns morgen zu einem ausgiebigen Lunch gehen, dann kannst du mir alles genau erzählen.«

Genevieve nickte und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Das Leben war zu schön, um wahr zu sein. Nach acht Jahren harter Arbeit florierte ihr Geschäft. Was wollte sie mehr?

Sie ließ den Blick durch ihr Büro wandern und seufzte. Ein Ritter in strahlender Rüstung wäre nicht schlecht. Vielleicht könnte der sie von dem Durcheinander erlösen, das sie umgab.

Sie schloss die Augen, um das Chaos auszublenden. Traumrestaurierungen war trotz seines Charmes nur ein winziger Laden, eingezwängt zwischen zwei ebenso kleine Geschäfte in einem der malerischen Viertel von San Francisco. In Anbetracht der Quadratmeter, für die sie Miete zahlen musste, war winzig zwar wunderbar, doch es wurde zum Problem für all die Utensilien, die sie zu verstauen hatte. Ihr Schreibtisch war übersät mit Stoffmustern, Farbkarten und Kopien ihrer Steuererklärung von 1991. Auf dem Boden lag alles Mögliche herum, von halb abgelaugten Zierleisten bis hin zu Büchern über die Architektur des Mittelalters. Und im Augenblick türmten sich obendrauf noch Blumen und Luftballons. Die Schreibtische der anderen waren viel ordentlicher. Am besten brachte dieser Ritter auch gleich noch einen Terminplaner und ein paar Aktenordner mit.

»Ein Anruf für dich auf Leitung zwei, Gen. Irgendein Rechtsanwalt mit starkem britischen Akzent.« Angela war ganz atemlos. »Meinst du, das ist ein Angehöriger der Royals?«

Die Kavallerie war also schon da. Genevieve musste über ihre absurden Gedanken von vorhin lachen. »Ich sag dir Bescheid.«

»Egal, nimm den Job auf jeden Fall an. Ich wette, im Buckingham Palace gibt es tolle Andenken.«

Genevieve nahm den Hörer ab. »Genevieve Buchanan.«

Ein Mann räusperte sich. »Ähm, Miss Buchanan, mein Name ist Bryan McShane. Ich arbeite für das Büro Maledica, Smythe und deLipkau, mit Sitz in London. Ich bin diese Woche in San Francisco und wüsste gerne, wann es Ihnen passen würde, mich zu empfangen. Ich hätte eine juristische Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen.«

»Eine juristische Angelegenheit?«, wiederholte sie. Wer um alles in der Welt würde sie verklagen wollen? Und weswegen? Weil die Bodendielen in der Küche nicht ganz plan lagen oder wegen Schablonen, die nicht den allerhöchsten Ansprüchen genügten? Natürlich war sie auch nur ein Mensch, doch sie hielt sich für weitaus gründlicher als die meisten. Ihre Restaurierungsarbeit nahm sie äußerst ernst.

»Wegen einer Erbschaft«, erwiderte der Mann. Er senkte die Stimme, als befürchte er, das Gespräch könne belauscht werden. »Diese Angelegenheit kann nur unter vier Augen besprochen werden, Miss Buchanan. Hätten Sie heute Nachmittag Zeit?«

»Ich glaube, da liegt leider eine Verwechslung vor, Mr McShane«, erwiderte sie gedehnt. »Ich bin Einzelkind, und meine Eltern waren es ebenfalls. Sie sind beide verstorben, und ich habe keine weiteren Verwandten.«

»Ich versichere Ihnen, Miss Buchanan, dass Ihnen eine Erbschaft zusteht und zwar in beträchtlicher Höhe. Sie sind der letzte direkte Nachkomme von Matilda of Seakirk. Rodney, der letzte Earl of Seakirk, ist kürzlich verstorben, und ich wurde beauftragt, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, was Sie erwartet.«

»Wer? Sind Sie da sicher?«

»Der Earl of Seakirk. Und ja, ich bin mir ganz sicher. Meine diesbezüglichen Nachforschungen waren äußerst gründlich. Wann würde es Ihnen passen, die Angelegenheit bei einem Gespräch zu erörtern?«

Genevieve schüttelte den Kopf. »Aber der Earl of Seakirk muss doch Tausende von Nachfahren haben ...«

»Bedauerlicherweise sind sie alle bereits verschieden oder aus anderen Gründen nicht in der Lage, die Erbschaft anzutreten.«

»Aus anderen Gründen?«

Nach längerem Schweigen erwiderte Mr McShane: »In dieser Familie scheint der Wahnsinn zu grassieren, Miss Buchanan.«

Obwohl Genevieve es sich nach dieser letzten Information lieber gründlich überlegen wollte, ob sie überhaupt etwas mit ihren Vorfahren zu tun haben wollte, war sie ernsthaft versucht, es doch noch einmal zu überdenken. Leider hatte das wirkliche Leben an diesem Nachmittag jedoch andere Pläne mit ihr, denn sie hatte den Campbells zugesagt, ihr Anwesen in Carmel in Augenschein zu nehmen. Sie klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr, während sie sich an einem wirren Stapel von Unterlagen zu schaffen machte.

»Tut mir leid, Mr McShane«, teilte sie ihm mit, »aber heute Nachmittag ist es nicht möglich. Haben Sie nicht irgendwelche Dokumente, die Sie mir schicken können, damit ich sie mir ansehen kann?«

»Bedauerlicherweise erhielt ich die ausdrückliche Anweisung, nur mit Ihnen persönlich zu sprechen. Vielleicht noch in dieser Woche?«

Der Mann war hartnäckig, das musste man ihm lassen. Und Genevieve war trotz ihrer Vorbehalte neugierig geworden. Der Gedanke, von einem blaublütigen Vorfahren irgendwelchen Krimskrams zu erben, ließ ihr Gehirn auf Hochtouren arbeiten. Was mochte es sein? Und welche Geschichte steckte dahinter? Wenn es nun ein antiker Schatz war?

»Vielleicht ein gemeinsames Dinner?«, schlug Mr McShane vor.

»Dinner wäre gut«, hörte sie sich antworten. Ja, bis zu einem späten Dinner konnte sie zurück sein. Sie gab Mr McShane den Namen und die Adresse eines Restaurants in der Innenstadt und legte auf.

Vielleicht ging es um einen protzigen Ring. Der dürftige Inhalt ihres Banksafes konnte etwas Gesellschaft gut gebrauchen. Sie würde die Schriftstücke unterzeichnen, ihren Gewinn einstreichen, und das wäre es dann.

***

Die Geräusche im Lokal kamen ihr übernatürlich laut vor. Sie hörte das Klappern von Silberbesteck auf Porzellan, den Klang von Flüssigkeiten, die in Gläser gegossen wurden, Leute, die kauten, schluckten und verstohlen rülpsten. Sie bemerkte die Röte von Mr McShanes wässrig-blauen Augen, die Furchen der Anspannung um seinen Mund, sein unvorteilhaft schütteres Haar. Am auffälligsten jedoch waren seine Hände, die wie kleine Schmetterlinge flatterten, wenn er das Besteck oder den Stiel seines Weinglases ergreifen wollte, als hätten sie Angst, sich auf etwas niederzulassen, das plötzlich zum Leben erwachen und sie für den nächsten appetitlichen Happen halten könnte. Diese übersteigerte Wahrnehmung war die Folge des Schocks, den ihr seine Eröffnung versetzt hatte.

»Eine Burg?«, wiederholte sie mit erstickter Stimme.

»Eine Burg«, nickte er.

Seine Hand flatterte nach oben, zupfte am Knoten seiner Krawatte. »Seakirk konnte sich einst eines Nonnenklosters und des edelsten Rittersaals der ganzen Küste Northumberlands rühmen. Die Abtei liegt in Schutt und Asche, doch der Bergfried ist in nahezu einwandfreiem Zustand. Er harrt nur Ihrer sanften Hand.«

Genevieve fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, stellte fest, dass das nicht ausreichte, und leerte ihr Wasserglas in zwei Zügen. Eine Burg? Unmöglich, sie musste träumen. So etwas geschah nicht im wirklichen Leben.

»Sie machen einen Scherz, nicht wahr?«, war alles, was sie hervorbrachte.

Mr McShane schüttelte den Kopf. »Die Burg gehört Ihnen, Miss Buchanan. Um sie in Besitz zu nehmen, brauchen Sie nur dort zu wohnen.«

Energisch gebot Genevieve dem Überschwang ihrer Gefühle Einhalt. Sie legte die Hände auf die Tischplatte und schob kopfschüttelnd den Stuhl etwas zurück.

»Das geht nicht.« Sie schüttelte erneut den Kopf, für den Fall, dass ihre Worte nicht überzeugend genug geklungen hatten.

»Bitte überstürzen Sie nichts«, warf Mr McShane schnell ein. »Lassen Sie sich wenigstens ein paar Tage Zeit, um darüber nachzudenken. Habe ich erwähnt, dass Sie zusammen mit der Burg auch einen Blankoscheck geerbt haben?«

»Wie bitte?«

Mr McShane zog ein Taschentuch heraus und wischte seine plötzlich beschlagenen Brillengläser ab. »Miss Buchanan, das Guthaben auf dem Bankkonto, das Sie erwartet, ist von einer derartigen Höhe, dass Sie nicht einmal den zehnten Teil davon im Laufe Ihres Lebens ausgeben können. Genau genommen stehen Ihnen mehr Mittel zur freien Verfügung, als Sie sich vorstellen können, um sie nach Belieben auszugeben. Möglicherweise zur Renovierung Ihrer Burg.« Er setzte die Brille wieder auf, starrte Genevieve eindringlich an und wartete ab.

»Oh nein«, stöhnte sie und hielt sich an der Tischkante fest. »Das kann doch einfach nicht wahr sein.«

»Ein wunderbarer Glücksfall, wenn ich mir erlauben darf, meine Meinung zu äußern. Jedenfalls eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte.«

Genevieve haschte verzweifelt nach den Bruchstücken ihrer Vernunft, die sich zu verflüchtigen schienen. »Ich kann doch nicht so mir nichts, dir nichts mein Geschäft im Stich lassen«, erklärte sie, während sie im Geiste all die Mühen auflistete, die sie dafür auf sich genommen hatte. »Können Sie sich denn vorstellen, wie viele Jahre ich gebraucht habe, um die Leute davon zu überzeugen, dass ich eine Restaurierungskünstlerin bin, nicht nur ein bessere Innendekorateurin? Zu mir kommen Kunden aus dem ganzen Land.«

Na, das klang doch schon richtig vernünftig.

»Ich liebe meine Arbeit«, erklärte sie und redete sich langsam warm. »Die Persönlichkeit der ursprünglichen Struktur zu entdecken, all die Schichten neuer und alter Farbe' abzukratzen, das ist es, was meine Vorstellungskraft beflügelt. Wie können Sie mir nur vorschlagen, das aufzugeben und den Rest meines Lebens in einer Burg zu verbringen, die mir vielleicht schon beim ersten Anblick zuwider ist?«

»Aber Miss Buchanan, was könnte denn beflügelnder sein, als eine wunderbar erhaltene Burg aus dem dreizehnten Jahrhundert zu restaurieren?«

Sein Blick war flehentlich. »Denken Sie doch an das viele Geld, und was für schöne Antiquitäten Sie dafür kaufen könnten. Ja, Sie könnten Ihr Geschäft sogar in England neu aufbauen.«

Ach, diese Anwaltslogik. Genevieve sah ihre so vernünftigen Entschlüsse wie Wasser durch ein Abflussrohr davonrauschen. Der Himmel stehe ihr bei, sie spielte tatsächlich mit dem Gedanken!

Sie musste sich retten – schnellstens, ehe sie etwas tat, das sie bereuen würde. Ihr Geschäft war ihr Leben. Dank harter Arbeit hatte sie es aus dem Nichts aufgebaut. Und sie hatte es alleine geschafft, ganz ohne fremde Hilfe. Geld und Besitz waren dagegen zweitrangig.

»Leider muss ich ablehnen, Mr McShane.«

»Aber ...« Die Schmetterlingsfinger setzten zu einem hektischen, verzweifelten Flug an. »Wenn Sie die Burg nicht annehmen, fällt sie an einen entfernten Verwandten des verstorbenen Earl. Das können Sie doch bestimmt nicht wollen.«

Genevieve stand auf. »Ich muss gehen«, erklärte sie betrübt, drehte sich um und verließ das Restaurant.

Eine halbe Stunde später betrat Genevieve ihre Wohnung. Automatisch und ohne hinzusehen verriegelte sie die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und ließ sich von der Dunkelheit umfangen. Ihre Tasche glitt zu Boden, dann ihre Jacke.

Sie stieß sich von der Tür ab und ging den Flur entlang, zählte tastend die Türen ab. Die zweite rechts. Langsam drehte sie den Knauf. Nachdem sie den Raum betreten hatte, schloss sie die Tür hinter sich. Nun erst griff sie nach dem Lichtschalter. Sofort erstrahlte sanftes, goldenes Licht und verbannte die Schatten.

Sie ließ sich auf den Boden sinken und betrachtete das, was sie umgab. Burgen. Burgen in allen Größen, Formen und Farben. Papierburgen, die sie zusammengeklebt hatte, aufgezogene Burgpuzzles, einfache Burgen aus Holz, von ihr gezimmert. Außerdem die Burgen, die sie gekauft hatte, Nachbildungen von Burgen aus früheren Zeiten, inzwischen nur noch leere Hüllen auf dieser fernen Insel.

Genevieve lächelte vor sich hin. Das hier war ihr Schrein, hierher kam sie, wenn im Leben nicht alles glatt lief. Egal, wie es im Mittelalter tatsächlich zugegangen war, eine Burg bedeutete für sie Sicherheit. Die Burg war eine Zuflucht vor den Stürmen des Lebens, ein Ort der Familie, des Lachens und der Liebe.

Und nun hatte man ihr eine angeboten.

War Bryan McShane eine verkappte gute Fee? Lieber Himmel, allein das Bauwerk ließ ihren Verstand Purzelbäume schlagen. Wie wäre es wohl, etwas zu besitzen, das mit so vielen Lagen Geschichte überzogen war, dass man die Gebrauchsspuren überhaupt nicht mehr entfernen konnte? Was sie auch gar nicht gewollt hätte. Nein, sie hätte dem Bauwerk und seiner Einrichtung wieder zum ursprünglichen Glanz verholfen, hätte Monat um Monat nach dem passenden Möbelstück für eine bestimmte Ecke oder dem perfekten Gobelin für eine Wand gesucht. Für eine Restaurierungsfachfrau wäre es der Traum schlechthin gewesen. Und wären ihre Gefühle darüber nicht hinausgegangen, wäre es ihr leichter gefallen, das Angebot auszuschlagen. Dummerweise hörte ihre Begeisterung nicht bei Steinen und Mörtel auf.

In der Grundschule, als andere Mädchen mit Puppen spielten, hatte sie von Rittern und Drachen geträumt. Während der Highschool, wenn die anderen sich Gedanken über Make-up und erste Freunde machten, hatte sie von Drachen, Rittern und deren mittelalterlichen Behausungen geträumt. Auf dem College, als die anderen Mädchen versuchten, sich einen Mann zu angeln, oder Karrierepläne schmiedeten, war sie damit beschäftigt, mittelalterliche Domizile zu entwerfen, zu zeichnen und einzurichten, in die ihr Ritter nach einem harten Tagewerk des Drachentötens heimkehren konnte. Burgen hatten in ihrer Phantasie immer schon an erster Stelle gestanden, und natürlich durfte in keiner Burg der galante, gut aussehende Ritter fehlen, der einzig und allein sie liebte.

Freud hätte seine helle Freude an ihren Tagträumen gehabt. Wieso sie ständig das Gefühl hatte, gerettet werden zu müssen, wollte sie gar nicht ergründen, aber es lag wohl hauptsächlich daran, dass die meisten Leute dazu neigten, auf ihr herumzutrampeln, und sie auch noch stillhielt und es zuließ.

Nein, diesmal würde das nicht passieren. Wer wusste denn schon, was für ein herrschsüchtiger Verwandter sie dort drüben auf jener Insel erwartete, nur allzu bereit, seine Fußabdrücke auf dem Rücken ihrer Bluse zu hinterlassen? Am besten blieb sie genau da, wo sie jetzt war. Ihr Geschäft war ihr Leben. Sie hatte geschwitzt und geschuftet, um so weit zu kommen. Ihre Arbeit hatte ihr über den schmerzlichen Verlust ihrer Eltern hinweggeholfen, sie davon abgelenkt, über einen Liebhaber nachzudenken und sie nicht der Verzweiflung anheimfallen zu lassen, weil sie keine Kinder hatte.

Ihre Mitarbeiter waren zu ihrer Familie geworden. Sie liebten sie, kümmerten sich um sie und vermittelten ihr ein Zugehörigkeitsgefühl, das sie nie gekannt hatte, nicht einmal in ihrer eigenen Familie. Ihre Arbeit beanspruchte ihre ganze Kraft. Die Liebe, die sie Kindern geschenkt hätte, steckte sie in die von ihr restaurierten Häuser. Kein Detail war zu klein oder zu unbedeutend. Altes Holz wurde unter ihren Händen wieder schön, verwitterter Stein kam unter Spachtelmasse zum Vorschein, Ziegelmauern tauchten unter Farbschichten auf. Häuser erblühten zu neuer Behaglichkeit. Dass sie dies für andere erschuf, spielte keine Rolle. Ihr machte es Spaß.

Und kein Geld der Welt war es wert, das aufzugeben. Ihr Vater war von Geld besessen gewesen, ihre Mutter davon, dass er nicht genug verdiente. Mit fünfzig erlag er einem Herzinfarkt, und ihre Mutter folgte ihm kurz darauf ins Grab. Nachdem durch den Verkauf des Anwesens die Schulden getilgt waren, hatte der Anwalt Genevieve ihre Erbschaft ausgehändigt. Welche Ironie des Schicksals. Zwei Leben, vergeudet mit der Jagd nach Dingen, die nicht einmal ausgereicht hatten, ihr ein Erbe von mehr als fünfhundert Dollar zu hinterlassen. Den Scheck besaß sie noch immer. Er half ihr, einen klaren Blick zu bewahren.

Nein, sie würde der Versuchung widerstehen. Sie stand auf und ging zur Eingangstür zurück. Nachdem sie das Licht angeknipst hatte, hob sie ihre Tasche auf, holte Mr McShanes Karte aus dem Geldbeutel und nahm sie mit in die Küche. Sie drehte den Wasserhahn auf und schaltete den Abfallzerkleinerer an.

Und erstarrte. Also gut, das war wohl doch etwas übertrieben, sogar für ihre Verhältnisse. Möglicherweise konnte sie ein Besuchsrecht aushandeln. Sie stellte den Zerkleinerer ab und drehte das Wasser ab. Vielleicht einen Monat im Winter, wenn hier nichts los war.

Sie zögerte.

Dann zog sie die Schultern zurück. Diese Art von Zerstreuung hatte sie nicht nötig. Am besten kehrte sie dem Ganzen den Rücken, solange ihr Entschluss noch feststand. Unklug oder nicht, sie hatte ihre Gründe und wusste genau, welche es waren. Sie warf Mr McShanes Karte auf einen Stapel, den sie zum Altpapier bringen wollte.

Und als sie das Licht in der Küche löschte und zu Bett ging, verspürte sie nur einen winzigen Anflug von Bedauern.

Kapitel 2

Aber ...«

»Jede weitere Unterhaltung erübrigt sich, Miss Buchanan. Guten Tag.«

Es klickte in der Leitung, dann ertönte das Freizeichen. Genevieve starrte den Hörer in ihrer Hand an und war ernsthaft versucht, das Ding auseinanderzunehmen und nachzusehen, was man ihr dort eingebaut hatte, um sie in den Wahnsinn zu treiben. Das war bereits der dritte Kunde in dieser Woche, der sie hatte fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.

Die Tür ihres Büros öffnete sich, und Kate kam herein. Genevieve schob ihre Besorgnis beiseite. »Und, wie ist es gelaufen?«, fragte sie.

Kate zuckte hilflos mit den Schultern. »Alles ging gut bis zu dem Telefonanruf, dann warfen sie mich raus. Ohne Erklärung, nur auf Nimmerwiedersehen.«

Genevieve seufzte und legte den Hörer auf, den sie noch immer in der Hand hielt. »Irgendwas liegt in der Luft. Ich habe gerade den Montgomeryauftrag verloren.«

Kate sank auf den Stuhl vor Genevieves Schreibtisch. »Du machst Witze.«

»Schön wär's.«

»Gen, das war ein Auftrag über eine halbe Million! Was um alles in der Welt hast du getan?«

Genevieve schürzte die Lippen. »Gar nichts hab ich getan.«

»Aber irgendwas musst du angestellt haben! Wieso um Himmels willen sollten sie uns feuern, wenn du sie nicht beleidigt oder sonstwie verärgert hast? Du weißt doch, wie empfindlich sie sind.«

Genevieve wusste sehr genau, wie heikel ihre Kunden waren, weil ihr in den letzten zwei Wochen schon einige den Laufpass gegeben hatten. »Falls du versuchst, mir zu helfen, stellst du es völlig verkehrt an.«

»Ich finde, du solltest irgendeinen Fortbildungskurs besuchen, Gen. Vielleicht musst du an deiner Präsentationsweise feilen. Für jemanden zu arbeiten, der sämtliche Kunden vor den Kopf stößt, kann ich mir nicht leisten. Genau genommen kann ich es mir überhaupt nicht mehr leisten, für dich zu arbeiten.«

Sie stand auf. »Ich kündige.«

Völlig entgeistert sah Genevieve ihr nach, als Kate das Büro verließ und die Eingangstür hinter sich zuknallte.

Das Telefon läutete. Als es nicht aufhörte zu läuten, runzelte Genevieve die Stirn. Wo war Angela? Schließlich nahm sie selbst den Hörer ab.

»Traumrestaurierungen, Sie sprechen mit Genevieve.«

»Gen, hier ist Peter. Ich bin am Flughafen. In Denver.«

»Was ist passiert?«

»Sie haben mich gefeuert, das ist passiert! Was hast du diesen Leuten angetan?«

Genevieve konnte kaum glauben, was sie hörte. »Ich habe überhaupt nichts getan.« Hatte sie das gleiche nicht gerade zu Kate gesagt? Das schien sich ja zu einer Unart auszuwachsen. »Hör zu, Peter, ich ruf mal kurz die Johnsons an und erkundige mich ...«

»Tu's nicht. Unternimm gar nichts. Sie wollen nichts mit dir zu tun haben und erklärten mir, sie würden uns auf Belästigung verklagen, falls sie je wieder von uns hören sollten. Ich kündige, Gen. Du ruinierst meinen Ruf.«

»Aber ...«

»Ich hol meine Sachen ab, wenn ich zurück bin. Irgendwann, wenn du nicht da bist.«

Die Leitung war tot. Genevieve traute ihren Ohren kaum und ließ den Hörer sinken. Fast im selben Moment begann es wieder zu läuten. Wo war eigentlich Angela? Genevieve stand auf und ging in das kleine Vorzimmer.

Angelas Andenkensammlung war verschwunden, doch an ihrem Computerbildschirm klebte ein Zettel, befestigt mit gut durchgekautem Kaugummi.

Gen, ich kündige auch. Tut mir leid. Angela.

Genevieve schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte auf, was eher wie ein Wimmern klang. Auftragsstornierungen waren eine Sache. Aber dass die ganze Mannschaft von Bord ging, stand auf einem anderen Blatt. Sie ließ sich schwer auf Angelas Schreibtischstuhl fallen und starrte auf die wild blinkende Telefonanlage. Vielleicht konnte sie für einen Tag eine Aushilfe bekommen, bis sie festen Ersatz gefunden hatte.

Aber wenn sie nicht ein paar Anrufe entgegennahm, hätte sie nicht mal eine freie Leitung nach draußen. Sie hob Leitung eins ab, auf das Schlimmste gefasst.

Acht Stunden später rätselte sie immer noch, wie sie die Wendung der Dinge zum Schlechten derart hatte unterschätzen können. Um zehn Uhr war Kate mit Umzugskartons erschienen und hatte ihren Schreibtisch leergeräumt. Um zwölf Uhr hatte Kates Anwalt per Boten die Forderung von zwei Monatsgehältern Abfindung überbringen lassen, mit der Androhung einer Klage, falls Genevieve nicht einwilligte.

Genevieve war wie vor den Kopf gestoßen und hatte für die Zahlung ihr Sparkonto aufgelöst.

Der Nachmittag hatte den Anwälten gehört. Genevieve bekam es noch mit mindestens einem Dutzend davon zu tun, die erklärten, ihre Mandanten wollten nie wieder etwas mit ihr zu tun haben. Hätte es nicht jedes Mal so wehgetan, wenn sie sich zwickte, hätte sie geglaubt, sie wäre in einem besonders langen, heftigen Albtraum gefangen.

Und so saß sie nach acht Stunden seelischen Infernos noch immer an Angelas Schreibtisch. Die Telefonleitungen blinkten nicht mehr. Angelas Büroschlüssel lagen auf einem ordentlichen Häufchen. Die von Kate auf einem anderen ordentlichen Häufchen gleich daneben. Genevieve versuchte sich ein Lächeln abzuringen über ihr organisatorisches Geschick. Aber irgendwie gelang es ihr nicht.

Daher legte sie den Kopf auf den Schreibtisch und weinte.

Sie konnte sie nicht finden.

Genevieve lief vor ihrem Kamin auf und ab und löffelte Karamelleis in sich hinein. Als der Löffel schließlich leer wieder herauskam, verwünschte sie die Packung, weil sie so klein war. Sie legte den Löffel auf den leeren Sims, warf den Karton ins Feuer und sah zu, wie die Flammen ihn verzehrten. Er ging in Rauch auf, genau wie ihr Leben.

Sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und versuchte sich zu konzentrieren. Da sie nachmittags ein Nickerchen gemacht hatte, konnte sie Müdigkeit nicht als Ausrede vorgeben. Ihr fiel nur das Denken schwer bei diesem Regen, der unablässig gegen die Fenster prasselte. Für September war es ungewöhnlich kalt, als hätte eine finstere Macht Kontrolle über die Elemente erlangt und würde sich nun damit vergnügen, arme Sterbliche zu quälen, die dazu verdammt waren, auf den Straßen unterwegs zu sein. Auch sie würde bald dort landen, falls sie nicht schleunigst etwas unternahm. Wenn sie doch nur diese verflixte Visitenkarte finden könnte, und wenn es nicht schon zu spät war, Ja zu sagen, könnte sie sich vielleicht aus ihrer derzeitigen Misere befreien.

Sie ließ den Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Wie schwer konnte es denn sein, ein simples Stück Papier zu finden? Ihre Möbel waren weg, verkauft, um Rückerstattungen an erboste Kunden leisten zu können. Ihr Geschäftsschild Traumrestaurierungen lehnte mit Schlagseite an der Wand. Sie wandte den Blick ab. Obwohl die Geschäftsschließung schon mehr als zwei Monate zurücklag, schmerzte sie der Verlust noch immer.

Sie musste unbedingt Mr McShanes Visitenkarte finden. Das war ihre einzige Hoffnung. Sie war pleite, hatte keine Möbel mehr und verlor täglich an Gewicht. Mit etwas Glück hatte Mr McShane den ganzen Sommer über Urlaub gemacht und niemand anderen gefunden, der diesen Haufen Steine haben wollte. Inzwischen war sie nur allzu bereit, das Angebot anzunehmen. Sie besaß keine Familie mehr, kein Geschäft und vor allen Dingen kein Geld. Nach England zu ziehen, klang von Minute zu Minute verlockender. Auch Tee zu mögen, könnte sie lernen.

Sie hatte die Karte auf den Altpapierhaufen geworfen, das wusste sie genau: Aber es gab nicht weniger als zwei Dutzend Papierstöße, die an verschiedenen Stellen auf dem Fußboden lagen. Ihre Mutter wäre entsetzt gewesen, doch die Haufen waren zumindest ordentlich gestapelt. Genevieve hatte ja jede Menge Zeit gehabt, und das sah man.

Sie ignorierte die Panik, die sie zu überwältigen drohte, und begann mit dem Stapel neben der Tür. Die Karte war zu finden, man brauchte nur Geduld.

Eine Stunde und zwei Haufen später fragte sie sich, ob es mehr Geduld bedurfte, als sie je im Leben aufbringen würde.

Drei Stunden und vier Stapel später war ihr klar, dass Geduld ihr nicht helfen würde, sondern nur ein Wunder.

Bei Sonnenaufgang fing sie an zu zweifeln, ob selbst ein Wunder es schaffen würde. Sie hatte jeden Papierstoß in ihrer Wohnung durchsucht. Sie hatte den Altpapierhaufen neben ihrem Telefon kontrolliert und nichts gefunden. Sie hatte den Kartenstoß neben der Spüle durchwühlt, in der nahezu sicheren Annahme, dort Mr McShanes Visitenkarte zu finden. Bestimmt hatte sie die Karte nicht weggeworfen. Wann hätte sie dafür Zeit finden sollen bei all dem Tohuwabohu, das um sie herum ausgebrochen war?

Als es Mittag wurde, war ihre Wohnung verwüstet und Genevieve am Boden zerstört. Trotz allen Kopfzerbrechens konnte sie sich nicht daran erinnern, wie Mr McShanes Firma hieß. Sie hatte die Auskunft in London angerufen, um seine Privatnummer herauszufinden, doch ohne Erfolg.

Sie hatte es vermasselt.

Was sie brauchte, war Gehirnnahrung. Sie kramte ihr Glas mit dem Kleingeld hervor und zählte die Cents. Wenn sie wenigstens genug für einen Karton Chocolate-Chip-Eiscreme mit Keksstücken zusammenbekam, würde ihr alles bestimmt in rosigerem Licht erscheinen. Zumindest hätte sie dann genug Energie für einen weiteren Suchdurchgang.

Sie kam auf einen Dollar und sechs Cent. Kaum genug für einen ordentlichen Schokoriegel, geschweige denn Gourmet-Eiscreme.

Ihr kamen die Tränen.

Das Telefon läutete.

Genevieve ignorierte es. Wahrscheinlich nur wieder ein Anwalt, der auf den Verdacht hin anrief, dass doch noch was zu holen war. Da musste sie ihn leider enttäuschen. Falls jemand Buch führte, hätte da sicher gestanden: Drachen, jede Menge; Buchanan, nichts. Ach, wo war bloß ihr edler Ritter auf seinem schwarzen Schlachtross?

Und das Telefon läutete noch immer. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ihren Anrufbeantworter zu verkaufen. Anrufüberwachung war manchmal ganz praktisch.

Schließlich gab sie sich geschlagen. Auflegen konnte sie ja immer noch.

»Hallo?«, krächzte sie.

»Miss Buchanan?«

Genevieve sprang auf.

»Mr McShane?«, quiekte sie.

»Ja. Ich bin in der Stadt und wüsste gerne, ob wir –uns vielleicht nochmal treffen könnten?«

Sie musste laut lachen. »Wann?«

»Ähm, nun ja, hätten Sie Zeit, heute Abend mit mir essen zu gehen?«

Was für eine Frage! Mit einem matschigen Salatkopf und etwas Ketchup im Kühlschrank hatte sie ganz gewiss Zeit, essen zu gehen. Mr McShane entsprach zwar nicht gerade ihrer Idealvorstellung eines Ritters, aber im Notfall nahm sie auch mit ihm vorlieb.

»Wie wäre es mit einem späten Lunch?« Ihr war egal, ob sie verzweifelt klang. Was er ihr anzubieten hatte, war in jedem Fall besser als das, was sie jetzt hatte, nämlich absolut nichts. »Wie wär's in zehn Minuten?«

»Wenn Sie wirklich Zeit haben ...?«

»Oh, ganz bestimmt. Wissen Sie, wo die China Bowl ist?«

Er wusste es. Genevieve lachte noch, als sie auflegte.

Also gab es doch noch Wunder.

Zwanzig Minuten später saß sie dem Anwalt erneut gegenüber, diesmal vor einem Berg chinesischen Essens.

»Und?«, fragte sie mit halbvollem Mund. Der wäre ganz voll gewesen, hätte sie das Essen so schnell hineinschieben können, wie sie gewollt hätte. Was für eine erfreuliche Abwechslung von ihren üblichen Makkaroni mit Käse.

»Seakirk. Ich bin gekommen, um zu erfahren, ob Sie vielleicht Ihre Meinung geändert haben könnten.«

Das war es, was sie hatte hören wollen.

»Habe ich«, erwiderte Genevieve. »Ich werde hinziehen.«

Mr McShanes Augen wurden vor Überraschung ganz groß. »Tatsächlich?«

»Ja. Es ist ein Geschenk des Himmels.«

Verstohlen blickte er sich im Raum um, beugte sich vor und sagte: »Wissen Sie, Miss Buchanan, Sie müssen nicht annehmen, wenn Sie nicht wollen.«

»Ist sie sehr heruntergekommen?«, fragte sie lächelnd, überrascht von diesem Sinneswandel. »Sie sagten doch, die Burg befände sich in gutem Zustand. Wollen Sie denn nicht, dass ich zusage?«

»Um ehrlich zu sein«, erwiderte er und senkte die Stimme zu einem Flüstern, »die Burg hat so ihre Eigenheiten.«

Genevieve spürte, wie sich ihre Mundwinkel zu einem Grinsen verzogen. »Heißt das, es spukt dort?«

»Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben.«

Sie lachte. »Seien Sie unbesorgt, Mr McShane. Ich werde Sie nicht verklagen, falls ich nachts ein Poltern höre.«

Mr McShane machte den Eindruck, als wollte er die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen. Genevieve bekam Mitleid mit ihm und ließ sich die Reste einpacken. Sie hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, weil sie so viel bestellt hatte, besann sich aber eines Besseren. Ihr Begleiter würde ihr vermutlich sowieso die ganzen Reisespesen von der Erbschaft abziehen.

Mr McShane war bestürzt, als sie in Genevieves Wohnung kamen und er ihr leergeräumtes Wohnzimmer erblickte. Besonders deutlich hörte sie ihn nach Luft schnappen, als sie das Essen wegräumte und er den leeren Kühlschrank sah. Genevieve musste lächeln.

»Wie Sie sehen, Mr McShane, ist es tatsächlich ein Geschenk des Himmels. Also, wann soll ich kommen?«

»Wann könnten Sie denn abreisen?«, fragte er nervös.

»In einer Woche.« Sie hatte vor zwei Wochen ihren Pass verlängern lassen. Damals war ihr das nur als Wunschdenken erschienen.

Er hakte den Finger in seinen Hemdkragen und zerrte daran. »Wenn Sie meinen ...«

»Allerdings.« Sie nickte bekräftigend.

»Nun gut. Am Flughafen wird ein Ticket für Sie bereitliegen. Ich kehre nach England zurück und sorge dafür, dass alles bereit ist.«

Genevieve brachte ihn zur Tür und schloss hinter ihm ab. Sie wartete, bis seine Schritte verklangen, und führte dann einen spontanen Freudentanz auf. Sie tanzte zurück in die Küche, um nachzusehen, ob noch Glückskekse übrig waren. Als sie die Tüte auf die Arbeitsplatte leerte, fielen ein Keks und zehn Hundert-Dollar-Scheine heraus. Na, wenn das nicht ritterlich war.

Sie brach den Keks auseinander und steckte die Hälfte davon in den Mund, noch ehe sie den kleinen Zettel entrollte.

Hüte dich vor Geistern, die Geschenke schicken.

Sie musste laut lachen. Offensichtlich war gemeint: »Hüte dich vor Griechen, die Geschenke bringen.« Ein seltsam zutreffendes Versehen, aber dennoch ein Versehen. Bryan McShane war keineswegs ein Geist. Den Schauer, der ihr über den Rücken lief, missachtete sie bewusst. Burgen hatten nun mal ihre Eigenheiten. Und ob in ihrer der Keller voller Vampirsärge stand, war ihr völlig egal.

Sie hatte gerade eine ganze Burg geerbt.

Ein Traum war Wirklichkeit geworden.

Leise vor sich hin fluchend ging Bryan McShane den Korridor entlang zum Arbeitszimmer. Ausgerechnet er hatte natürlich nach Seakirk fahren müssen. Nicht genug, dass er all seinen Mut zusammengenommen hatte und in die Staaten gereist war. Natürlich nicht. Jetzt musste er sich zum zweiten Mal stählen, um Maledicas neuesten Mandanten über die momentanen Entwicklungen zu unterrichten. So viel Geld gab es gar nicht, diese Mühsal aufzuwiegen. Er fummelte nach seinem zerknitterten Taschentuch, wischte sich über die Stirn und rang um Fassung. Zehn Minuten, in zehn Minuten wäre er wieder in seinem Wagen und auf dem Rückweg. Zehn Minuten würde er überstehen.

Auf sein zaghaftes Klopfen folgte nur die barsche Aufforderung einzutreten. Zögernd kam er dem nach. Sein Blick fiel auf den Fernsehschirm, der den größten Teil einer Wand einnahm. Amerikanische Footballspieler grunzten und fauchten in ihrem Bemühen, Boden gutzumachen, und Erfolg und Misserfolg ihrer Aktionen wurden dank der Satellitenschüssel auf den Zinnen in aller Lebendigkeit wiedergegeben.

»Die kämpfen wie Klosterschüler, finden Sie nicht?«, fragte eine tiefe Stimme.

»Jawohl, Mylord«, quiekte Bryan und musste erneut feststellen, dass seine Stimme in Gegenwart des anerkannten Lord of Seakirk nicht so funktionierte, wie sie sollte.

»Nun stehen Sie nicht da und zittern, Mann. Welche Kunde bringen Sie?«

»Sie ist hierher unterwegs. Am ersten Tag der nächsten Woche sollte sie eintreffen.«

Der Fernseher wurde ausgeschaltet, und Bryans Mandant stand vor ihm. Bryan war jedes Mal wieder überrascht, wie groß und einschüchternd der Mann war. Nicht nur die Kälte seiner blassgrünen Augen oder die meist bedrohlich gerunzelte Stirn erweckten diesen Eindruck. Auch nicht das Spiel seiner Muskeln, das die Kleider nicht verbargen, oder die Hände, die mit Leichtigkeit einen Mann in zwei Teile zerbrechen konnten. Nein, es war das spöttische Lächeln. Ein gefährliches Lächeln, dem jeglicher Anschein von Wärme fehlte. Wenn dieser Mann lächelte, hätte Bryan am liebsten das Weite gesucht.

»Ich hoffe, Sie leiten die nötigen Einzelheiten an Worthington weiter?«

Worthington war ein ältlicher Herr, der den fragwürdigen Titel eines Haushofmeisters trug. Für alles Geld der Welt hätte Bryan nicht mit ihm tauschen wollen.

»Jawohl, Mylord. Das werde ich als Erstes erledigen.«

»Und Sie haben sich Ihren Lohn genommen?«

»Jawohl, Mylord«, erwiderte Bryan, die Augen überall hin, nur nicht auf seinen Mandanten gerichtet. »Und keinen Pence mehr, als mir zusteht.«

»Hatte ich auch nicht anders erwartet. Ihr Honorar ist exorbitant, doch bei diesem Resultat will ich mich nicht beschweren. Gewiss werde ich die Dienste Ihrer Kanzlei auch weiterhin benötigen. Ich gehe davon aus, dass ich Sie in der Londoner Kanzlei erreichen kann?«

»Selbstverständlich, Mylord. Stets zu Ihren Diensten.«

Die Antwort war nur ein Brummen, und der Fernseher wurde wieder angeschaltet. Mit katzenhafter Anmut ließ sich der Mann auf seinem Sessel nieder und legte die Beine auf den Hocker davor. Bryan verstand, dass er entlassen war.

Das Ganze hätte vielleicht gar nicht so ungewöhnlich gewirkt, aber Kendrick of Artane war kein gewöhnlicher Mann. Nein, das war er ganz und gar nicht.

Er war ein Gespenst.

Kapitel 3

Genevieve war, offen gestanden, überwältigt. Bereits seit einer Viertelstunde befanden sie sich auf dem Gelände, bevor sie die Burg überhaupt sah. Als sie schließlich in der Ferne auftauchte, musste sich Genevieve zusammenreißen, um nicht auf Mr McShanes Beifahrersitz auf und ab zu hopsen. Ihre Erwartungen wurden bei Weitem übertroffen!

Hätte sie es nicht besser gewusst, wäre sie fest davon überzeugt gewesen, auf dem Weg nach Camelot zu sein. Eine äußere Mauer mit Türmen, Zinnen und Zugbrücke umschloss eine höhere, innere Mauer. Die Burg selbst ragte finster und abweisend auf. Im Gegensatz dazu wehte auf der Spitze des Bergfrieds eine schwarz-silberne Fahne fröhlich im Wind. Beinahe hätte Genevieve erwartet, eine Schar Ritter zu Pferde auf sie zupreschen zu sehen, die zu wissen verlangten, wer es wagte, auf Seakirks Grund einzudringen. Seakirk. Schon bei dem Namen musste sie lächeln.

Die Zugbrücke wurde herabgelassen, als sie sich der ersten Mauer näherten. Keine Menschenseele war zu sehen. Genevieve glaubte zwar nicht an Gespenster, doch der Mangel an Personal machte sie dennoch etwas nervös.

»Bedienstete gibt es hier schon, oder?« fragte sie beiläufig. Bryan schluckte. »Selbstverständlich, Miss Buchanan. Verzeihung, Lady Buchanan.«

»Oh, ich fürchte, ich habe nicht das Recht, diesen Titel zu tragen.«

»Ich versichere Ihnen, meine Nachforschungen waren äußerst gründlich. Sie sind die letzte lebende direkte Nachfahrin von Richard of Seakirk, einem Earl aus dem dreizehnten Jahrhundert. Sie haben jedes Recht, den Titel zu beanspruchen, sowie alles, was damit verbunden ist.«

Alles, was damit verbunden ist? Wieso klang das so ominös?

Genevieve schob diesen albernen Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das, was um sie herum geschah. Nachdem die Zugbrücke herabgelassen war, wurde ein eisernes Gitter hochgezogen, und sie fuhren über die Brücke und unter dem ehemaligen Torhaus hindurch. Vorwerk, rief sich Genevieve ins Gedächtnis. Konnte nicht schaden, sich den richtigen Jargon anzugewöhnen. Der Durchgang führte auf eine große, von der inneren Mauer umgebene Freifläche.

Sie kamen zu einem weiteren Torhaus, und wieder wurde ein eisernes Gitter hochgezogen.

»Fallgatter«, erläuterte Bryan.

»Ich weiß«, erwiderte sie, und ihre Augen hatten bereits den Burghof erspäht, der am Ende der dicken Mauern des Durchgangs zu sehen war. »Ich kenne mich in mittelalterlicher Architektur ein wenig aus«, erklärte sie bescheiden. Was natürlich eine Untertreibung war, doch Prahlerei war nicht angebracht. Mr McShane machte den Eindruck, als würde er jeden Moment zusammenbrechen und losflennen; durch einen Schlag gegen sein Ego hätte er möglicherweise den Verstand verloren.

Die Burg war eine Mischung aus dem Besten, was mittelalterliche Baukunst je hervorgebracht hatte. Das Hauptgebäude war immerhin vier Stockwerke hoch, mit Rundtürmen an jeder Ecke. In den unteren zwei Stockwerken gab es nur wenige Fenster, was die oberen aber mehr als wettmachten. Genevieve konnte kaum erwarten, die Erker hinter den Facettenfenstern in Augenschein zu nehmen.

Zu ihrer Rechten lag ein Garten mit den letzten Sommerblumen unter zahlreichen hohen Bäumen. Er wirkte allerdings etwas verwildert, und Genevieve hätte am liebsten sofort Hand angelegt.

Der Burghof war mit offensichtlich sehr alten, aber bestens gepflegten elfenbeinfarbenen Steinplatten gepflastert. Ganz benommen stieg Genevieve aus dem Wagen und erschauderte bei dem Gedanken, was sie da beinahe ausgeschlagen hätte. Das gesamte Anwesen war in ausgezeichnetem Zustand, und es gehörte ihr. Unfassbar. Sie musste sich gewaltig zusammenreißen, um nicht aus dem Auto zu springen und auf den Eingangsstufen einen kleinen Freudentanz aufzuführen.

Noch bevor der Wagen richtig angehalten hatte, war Bryan schon dabei, Genevieves Gepäck aus dem Kofferraum zu holen. Er stellte ihre beiden Reisetaschen auf den breiten Stufen ab, die zur Halle führten.

»Alles Gute«, sagte er und sprang in den Wagen.

»Aber ...«

Er winkte und fuhr eilig davon.

Genevieve schaute ihm von der Treppe aus mit recht unbehaglichen Gefühlen nach. Ähnlich denen, die sie empfunden hatte, als ihre Mutter sie zum ersten Mal im Kindergarten ablieferte, doch das hier war viel schlimmer. Wenn nun niemand zu Hause war? Oder noch schlimmer, wenn die Leute drinnen alle tot waren?

Sie atmete tief durch und wandte sich der Tür zu. Sie musste ihre Phantasie zügeln, bevor die endgültig mit ihr durchging. Das hier war ihr Zuhause. Sie hatte jedes Recht, an die Tür zu klopfen und zu erwarten, dass eine normale, alltägliche Person ihr öffnete und sie willkommen hieß.

Noch ehe ihre Fingerknöchel mit dem Holz in Berührung kamen, wurde die Tür geöffnet, und sie stand einem verdrießlich dreinschauenden Butler gegenüber. In seinem dunklen Anzug, dem gestärkten weißen Hemd und der korrekten schwarzen Fliege konnte er nur der Butler sein. Seine weißen Haare waren über den Ohren sorgfältig gestutzt, und kein Härchen tanzte aus der Reihe. Genevieve war davon überzeugt, dass er sich auch mit nichts Geringerem zufriedengegeben hätte. Unwillkürlich musste sie lachen.

»Oh, Sie sind wirklich perfekt.«

Er verzog keine Miene. »Lady Buchanan, nehme ich an«, sagte er auf irgendwie seltsame Art.

Genevieve verging das Lächeln. Der Butler schien also im Moment nicht gerade hingerissen von ihr zu sein. Wahrscheinlich galt es als unhöflich, bei der ersten Begegnung schon begeistert zu sein. Sie nickte und streckte die Hand aus.

»Zumindest mit dem Nachnamen haben Sie recht. Und Sie sind?«

»Worthington, Mylady«, erwiderte er, ohne ihre Hand zu beachten. »Der Haushofmeister.«

»Aha, der Haushofmeister«, wiederholte sie. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«

»Zweifelsohne, Mylady«, entgegnete er trocken, als er an ihr vorbeiging, um ihr Gepäck zu nehmen.

»Nicht, ich kann ...«

Bei dem Blick, mit dem er sie bedachte, erstarben ihr die Worte auf den Lippen. Sie kam sich vor wie ein Kind, das im Kindergottesdienst ein Schimpfwort gerufen hatte. Worthington nahm seine Arbeit offensichtlich sehr ernst.

»Hier entlang, Mylady«, sagte er, und schritt voraus in die Eingangshalle.

Sie folgte ihm und blieb dann bei dem Anblick, der sich ihr bot, wie angewurzelt stehen. Ein Schauder des Entzückens durchlief sie. Der Rittersaal. Keine ihrer Burgen in den Umzugskartons, die vielleicht irgendwann eintreffen würden, wurde diesem Raum gerecht. Er war mindestens zwei Stockwerke hoch, und an jedem Ende befand sich ein großer offener Kamin. Groß war vielleicht nicht die richtige Wortwahl. In jeden davon hätte man einen halben Baum legen können, und es wäre immer noch Platz gewesen, einen oder zwei Keiler darin zu braten.

Unter ihren Füßen befanden sich Steinplatten, auf die man im Mittelalter Binsen gestreut hätte, die jetzt aber so geschrubbt und gewienert waren, dass sie richtig glänzten. Gobelins mit mittelalterlichen Motiven hingen an den Wänden und reichten vom Boden fast bis an die Decke. Entweder stammten sie aus dieser Zeit oder waren äußerst gute Kopien. Als Genevieve auf eine Wand zuging und die Hand ausstreckte, um das Material zu berühren, räusperte sich Worthington vernehmlich. Sehnsüchtig betrachtete sie die Wand, dann ihren Haushofmeister. Er wirkte leicht ungeduldig. Nun gut, die Gobelins konnten warten. Wahrscheinlich war es kurz vor der Teestunde, und Genevieve hatte den Eindruck, Worthington könnte es in puncto Tischzeiten peinlich genau nehmen. Gehorsam folgte sie ihm die Stufen hinauf.

Eine Wendeltreppe, genau wie es sie ihrer Vorstellung nach auch in Camelot gegeben hatte. Während sie Worthington folgte, ließ sie ihre Finger über den kalten Stein gleiten. Die Treppe mündete in einen langen Korridor. Lampen in Form von Fackeln erhellten das Dunkel. Sie konnte das ungläubige Lächeln nicht aus ihrem Gesicht verbannen. Mit ein bisschen Phantasie könnte sie sich tatsächlich einreden, die Herrin dieser Burg zu sein, die Nachmittage mit ihren Zofen nähend in ihrer Kemenate zu verbringen und darauf zu warten, dass ihr Ehemann und Recke von seinen Abenteuern zurückkehrte und sie mit schwer erkämpfter Kriegsbeute überhäufte.

»Ihr Gemach, Mylady«, verkündete Worthington, stellte ihre Taschen vor einer Tür ab und drehte den Knauf.

Genevieve ging an ihm vorbei und warf einen Blick hinein. Dann schnappte sie nach Luft. Das war der hässlichste Raum, den sie je gesehen hatte. Er war vom Boden bis an die Decke im Louis-quatorze-Stil eingerichtet, sogar ein vergoldeter Vogelkäfig stand in einer Ecke. Der Teppich war rosa, passend zu den rosa Stühlen, dem rosa Bettzeug und der rosa Tapete. Ihr war, als hätte sie gerade zu viel Zuckerwatte gegessen.

Sie trat einen Schritt zurück in den Korridor und schüttelte den Kopf.

»Das geht nicht.«

»Wie bitte?«

»Das Zimmer«, erklärte sie. »Es ist entsetzlich. Ich übernachte woanders: Im Gästezimmer, den Dienstbotenräumen, im Keller. Überall, nur nicht in diesem Schlafzimmer.«

Überrascht hob sich eine silbrige Augenbraue. »Es sagt Ihnen nicht zu?«

»Mir wird übel davon.«

Die andere Augenbraue gesellte sich zur ersten. »Sehr wohl. Vielleicht. möchten Sie dann die anderen Schlafzimmer besichtigen? Wir haben mehrere, unter denen Sie auswählen können.«

Sie nickte. Er zeigte ihr das Zimmer nebenan. Dekoration und Mobiliar stammten aus der gleichen Epoche, nur diesmal in Blau gehalten. Die Vorstellung, dass Scharen von Schlümpfen, gekleidet in französischem Putz, sie in ihren Träumen verfolgten, löste sofort heftiges Kopfschütteln aus.

Der nächste Raum war eine grauenhafte Mischung aus Gelb- und Orangetönen. Der allgegenwärtige Schnickschnack und Flitterkram ließ sie zurückschrecken. Sie widerstand dem dringenden Bedürfnis, hineinzueilen und Staub zu wischen, und bat dann Worthington, ihr doch die Stallungen zu zeigen. Daraufhin geleitete er sie den Korridor entlang zu den beiden letzten Gästezimmern, die nicht weniger abscheulich waren als die anderen. Vor Verzweiflung warf Genevieve die Hände hoch.

»Aber sie sind alle furchtbar kitschig«, rief sie aus.

In Worthingtons Augen leuchtete fast so etwas wie Zustimmung auf.

»Mylady, jede der letzten fünf Herrinnen von Seakirk hat eines der Zimmer eingerichtet. Sie finden an keinem davon etwas für Sie Annehmbares?«

»Ich bin davon überzeugt, dass die Damen sehr nett waren, doch ihr Geschmack war abscheulich«, verkündete sie energisch. »Das einzig Annehmbare an diesen Zimmern ist die Tatsache, dass ich das Geld habe, sie vollständig zu renovieren, was ich auch ganz bestimmt tun werde. Dann zeigen Sie mir jetzt die Ställe. Dort ein paar Nächte zu schlafen, wird mich schon nicht umbringen.«

»Die Stallungen würden zu kalt für Sie sein, Mylady«, gab Worthington mit nachdenklich gerunzelter Stirn zu bedenken. »Vielleicht könnte ich eines der Dienstbotenzimmer herrichten für eine Nacht oder ...«

Genevieve hatte sich schon abgewandt, ehe er den Satz beenden konnte. Worthington hatte gezielt eine Tür weiter hinten im Korridor ausgelassen, und Genevieve wollte wissen, wieso. Obwohl es wahrscheinlich nur ein Lagerraum war, konnte er kaum so geschmacklos sein wie das, was sie bis jetzt gesehen hatte. Sich ein oder zwei Nächte einfach in eine Decke zu rollen, wäre sicher nicht so schlimm.

»Lady Buchanan«, warnte Worthington sie eilig, »Sie können nicht ...«

Sie wandte sich um und zog hochnäsig eine Braue in die Höhe, entschlossen, in ihrem neuen Heim von vornherein die Oberhand zu behalten. Worthington war ihr Butler, nicht ihr Chef. Wenn er sie auch die letzte halbe Stunde herumkommandiert hatte, so würde sie ihm das nicht weiter durchgehen lassen. Am besten, er lernte sofort, dass sie nicht die Art von Frau war, auf der man herumtrampeln konnte.

Dass sie gerade erst zu diesem Entschluss gekommen war, spielte keine Rolle. Sie war die Herrin dieses Hauses, und das hatte ihr Butler verdammt noch mal zu akzeptieren.

»Ich kann was nicht?«, fragte sie in hoheitsvollstem Ton und stellte sich dabei vor, wie Elisabeth die Erste diese Worte wohl ausgesprochen hätte.

»Mylady«, warnte er eindringlich, »Sie werden diesen Raum verabscheuen. Davon bin ich überzeugt.«

»Das habe wohl ich zu entscheiden.«

»Ich beschwöre Sie ...«

Doch sie drehte bereits den Türgriff.

Worthington, ihre wunderbaren Entschlüsse und die Tatsache, dass sie Luft zum Atmen brauchte, gerieten bei dem märchenhaften Anblick, der sich ihr bot, völlig in Vergessenheit.

Dieses Schlafzimmer war das erstaunlichste, was sie je gesehen hatte, und sie hatte nicht nur Dutzende gesehen, sondern auch eingerichtet. Eine riesige Feuerstelle beherrschte die ganze Wand zu ihrer Rechten, bestimmt so groß wie die offenen Kamine unten in der Halle. Hohe Fenster mit schweren Vorhängen bildeten eine Seite des Raumes. Unter einem Fenster stand ein gewaltiger Schreibtisch; dieses Fenster ging sicherlich auf den Garten hinaus. Die Vorhänge eines der anderen Fenster waren zurückgezogen und gaben den Blick frei auf den gemütlichsten Fenstersitz, der ihr je zu Gesicht gekommen war. Nur mit Mühe konnte sie es sich verkneifen, hinzulaufen und sich dort zusammenzurollen.

Das ausladende Himmelbett hatte Vorhänge zum Zuziehen. Die Gobelins im Erdgeschoss mochten Kopien sein, die Vorhänge rund ums Bett sicher nicht. Sogar aus der Entfernung erkannte sie, dass der Stoff außerordentlich alt, jedoch in erstaunlich gutem Zustand war. Alles in allem fühlte sich Genevieve hunderte von Jahren zurückversetzt.

»Wunderschön«, hauchte sie.

»Aber Mylady, hier ist's sehr zugig«, wandte Worthington ein. »Sie werden sich verkühlen.«

»Das Kaminfeuer wird absolut ausreichen«, erwiderte sie. »Worthington, das Zimmer ist perfekt.« Sie schenkte dem Haushofmeister ein strahlendes Lächeln, ihre vorherige Verärgerung über ihn war vergessen. »Das haben Sie mit Absicht getan, nicht wahr? Wahrscheinlich hätte mir dieses Zimmer nicht so gefallen, wenn Sie mir vorher nicht die anderen Abscheulichkeiten vorgeführt hätten. Vielen Dank.« Voller Dankbarkeit drückte sie seine Hand, ergriff ihre Reisetaschen und machte ihm die Tür vor der Nase zu.

Sie drehte sich um und lehnte sich gegen die Tür. Das Zimmer war ein Traum. Und es war ihres.

Hätte sie noch Tränen übrig gehabt, sie hätte sie vergossen, doch es wären Freudentränen gewesen. Dieses Schlafzimmer und diese wunderbare, märchenhafte Burg waren jeden einzelnen sorgenvollen Moment wert, den sie in den vergangenen drei Monaten durchlitten hatte.

Und mehr als das.

Sie war zu Hause.

Worthington wollte nur noch eines: hinunterlaufen, sich im Weinkeller verkriechen und sich bis zur Bewusstlosigkeit betrinken. Leider würde das nichts nützen. Seiner Lordschaft musste Bericht erstattet werden, und das bald, ehe er selbst die Wahrheit herausfand.

Tief seufzend ging er den Korridor zurück. Nie waren ihm die Stufen zum zweiten Stock so steil und so zahlreich vorgekommen. Er schleppte sich durch den Flur zu Lord Seakirks Arbeitszimmer, blieb stehen und klopfte kurz.

»Herein, und zwar schnell«, brüllte Kendrick.

Worthington seufzte und richtete einen beschwörenden Blick himmelwärts, bevor er den Raum betrat. Kendrick ging im Zimmer auf und ab, die Hände im Rücken verschränkt.

»Nun?«, fragte er ungeduldig. »Welchen Raum hat sie gewählt, alter Mann? Hoffentlich den blauen. Ich wollte schon immer mal eine Frau in einem blauen Zimmer zu Tode erschrecken.«

»Mitnichten, Mylord, nicht den blauen.«

Kendrick verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte grimmig. »Dann sag mir, dass sie den gelben Flitterkramraum genommen hat. Lady Emily hat sich vor ihrem unzeitigen Ableben solche Mühe mit diesem Zimmer gegeben.«

Worthington konnte den Seufzer nicht unterdrücken. »Mein Lord Kendrick, ich meine, Ihr solltet es Euch noch einmal überlegen.«

Missvergnügt runzelte Kendrick die Stirn. »Diese letzte der Buchanans loszuwerden ist meine einzige Hoffnung, wie du nur zu gut weißt.«

»Sie ist nicht wie die anderen.«

»Sie ist eine Buchanan. Mehr ist dazu nicht zu sagen.«

»Sie hat Mut.«

»Und wahrscheinlich sieht sie aus wie Matilda.«

Worthington schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht. Sie hat dunkle Haare und das schönste Paar haselnussbrauner Augen, das ich je sah. Sie ist gewiss keine Frau, die Ihr umbringen wolltet, abgesehen davon, dass Ihr das in der Vergangenheit auch nie geschafft habt.«

Kendricks grimmige Miene verfinsterte sich beträchtlich. »Ich sehe, sie hat schon begonnen, dich in ihren Bann zu ziehen.« Er schritt zum Fenster und sah hinaus. »Alle Buchanan-Frauen waren Hexen, angefangen bei der ersten Hexe, die ich fast geheiratet hätte. Es mag durchaus sein, dass ein Mord nicht vonnöten ist, doch ich werde von ihr bekommen, was ich will.« Er drehte sich um und richtete einen frostigen Blick auf Worthington. »Nun sprich, welches der fünf Zimmer hat sie gewählt? Mir steht der Sinn heute nicht mehr nach Rätseln.«

Worthington sah ein, dass weitere Argumente vergebens waren. Wenn es um Matilda oder eine ihrer glücklosen Nachfahrinnen ging, war Kendrick für jegliche Vernunftgründe unzugänglich. Worthington hatte schon vor Langem aufgegeben, seinen Herrn ändern zu wollen. Weder sein Vater hatte es geschafft, noch einer seiner Vorväter.

Worthington wandte sich mit einem Seufzer ab. »Sie hat keines davon genommen«, gab er über die Schulter zurück und verließ das Arbeitszimmer.

Einige Momente lang herrschte Stille, lange genug, dass Worthington bis in den ersten Stock hinunter gelangte.

Kendricks Wutschrei hallte durch die ganze Burg.

Worthington lächelte vor sich hin, während er den Korridor entlangging. Vielleicht würde der Lord of Seakirk es sich zweimal überlegen, die junge Frau umzubringen, wenn ihr Blut über sein eigenes Bett strömen würde.

Um Mitternacht erschien Kendrick in ihrem Zimmer. Mein Zimmer, dachte er grimmig. Genevieve las beim Schein einer Kerze. Verdammt romantisch. Direkt neben ihrem Bett stand eine Lampe, sie hätte nur richtig hinzuschauen brauchen.

Er hielt sich im Schatten und überdachte ein letztes Mal, was er zu tun beabsichtigte. Je nun, es war der einzige Weg. Die Letzte der Buchanans sollte noch vor Ende der Woche entweder geflohen, wahnsinnig oder tot sein. Fürwahr, es war ihm egal, wie die Tat vollbracht wurde, obschon ihn auch der Gedanke reizte, sich ein wenig Rache zu gönnen für all den Ärger. Wenn er sich genug Mühe gab, könnte er sich möglicherweise einreden, Genevieves Schreie seien tatsächlich die von Matilda.

Er warf nochmals einen Blick auf seine Aufmachung. Vielleicht mangelte es ein wenig an Raffinement, aber der Armbrustbolzen war doch eine nette Idee. Der garstige Schaft ragte geradewegs aus seiner Brust. Und die blutdurchtränkte Kleidung war immer für einen oder zwei erstickte Schreie gut gewesen. Aye, für einen ersten Schreck war es wohl einfallsreich genug. Mit einem finsteren Lächeln stellte er sich den markerschütternden Schrei von Mistress Buchanan vor und die darauf garantiert erfolgende überstürzte Flucht aus seinem Bett.

Vielleicht würde sie schreiend durch den Korridor, den Rittersaal und zur Eingangstür hinausrennen. Den Wagen hatte er direkt davor geparkt, der Schlüssel steckte, für alle Fälle.

Nachdem sie aus der Burg geflohen war, würde er Bryan McShane anrufen, der sie aufsuchen und ihr die entsprechenden Dokumente zur Unterschrift vorlegen sollte. Gewiss wäre sie nur allzu bereit, eine Erklärung zu unterzeichnen, die besagte, sie habe die Burg gesehen und würde keinen Anspruch darauf erheben. Alles wäre absolut legal und absolut endgültig.

Und dann, dank einer sorgfältig gefälschten Geburtsurkunde, wäre die Burg sein, wie sie es seit siebenhundert Jahren schon hätte sein sollen.

Und dann wäre er frei.

Genevieve kuschelte sich tiefer in die Kissen und rückte mit dem Buch näher an die Kerze. Bei Kerzenschein zu lesen mochte zwar romantisch sein, war auf alle Fälle jedoch anstrengend für die Augen. Sie lächelte trotzdem. Was machte es schon aus, wenn sie Kopfschmerzen bekam? Hier ging es ums Prinzip. Genauso hatte sie es sich vorgestellt; in ihrem mittelalterlichen Bergfried in ihrem mittelalterlichen Schlafzimmer zu sitzen und bei Kerzenlicht zu lesen. Jetzt fehlte ihr nur noch eine mittelalterliche Handschrift, um alles echt wirken zu lassen.

Ihr erster Tag auf Seakirk war ganz ohne Schwierigkeiten verlaufen. Allerdings hatte sie am Nachmittag ein Furcht einflößendes Brüllen gehört, doch Worthington hatte ihr versichert, das seien nur Leitungsrohre, die solche Geräusche machten. Genevieve war zwar dankbar dafür, dass irgendein vernünftiger Mensch eine Wasserleitung hatte verlegen lassen, doch sie verlangte von Worthington, am nächsten Morgen als Erstes den Installateur anzurufen. Die vielen Andeutungen von Bryan McShane hatten sie etwas nervös gemacht. Je weniger es in ihrem Heim polterte, desto lieber war es ihr.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich beim Kamin ein Schatten bewegte. Mit einem Ruck schoss ihr Kopf hoch, und sie atmete zittrig aus. Nichts. Sie schob ihre Ponyfransen hinter die Ohren zurück. Tückische kleine Biester. Erstaunlich, wie sie durch ihr Baumeln ängstliche Naturen glauben machten, Dinge zu sehen, die nicht da waren.

Die Kerzenflamme begann wild zu flackern, als pustete jemand sacht dagegen. Genevieve überlief ein Angstschauer, und sie atmete geräuschvoll aus.

»Stell dich nicht so an«, sagte sie laut. »Es zieht doch nur.«

Allein die Worte auszusprechen, verbesserte ihre Stimmung um hundert Prozent. Sie beruhigte sich, als die Flamme zu flackern aufhörte, und zwang ihr Herz, nicht mehr so laut gegen ihre Rippen zu hämmern. Worthington hatte recht gehabt mit der Zugluft. Bei Tageslicht würde sie sich den Raum genauer ansehen und ergründen, woher der Zug kam. Sich den Tod zu holen, musste nicht sein.

Rums.

Worthington werkelte wohl wieder in der Küche herum. Sie würde sich umgehend mit ihm über seine Arbeitszeiten unterhalten müssen. Ein kalter Schauer lief ihr wie eine Spinne über den Rücken und ließ sie nervös zusammenzucken.

Rums.

Putzte er die anderen Zimmer? Um Mitternacht? Oh ja, sie würde schleunigst mit ihm reden müssen.

Rums. Knurr.

Knurr?