Das Flüstern der Elbe - Thomas Tippner - E-Book
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Das Flüstern der Elbe E-Book

Thomas Tippner

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Beschreibung

Eine falsche Identität, ein alter Landsitz und ein berührendes Familiengeheimnis 
Der fesselnde Liebesroman zwischen Nord- und Ostsee

Nachdem Kate beim Ausräumen des Hauses ihres verstorbenen Urgroßvaters fragwürdige Dokumente und Fotos findet, ist für sie klar: Ihr Urgroßvater scheint nicht der zu sein, für den er sich ausgab. Kate weiß, sie muss zurück nach Deutschland, zu dem alten Landsitz ihrer Familie. Nicht nur um herauszufinden, wer sie wirklich ist, sondern auch, was es mit den zwei Mädchen auf sich hatte, die ihr Urgroßvater damals mit nach Amerika brachte. In Deutschland angekommen, merkt Kate jedoch schnell, dass sie nicht die Einzige ist, die sich für ihre Familiengeschichte interessiert …

Erste Leser:innenstimmen
„Fesselndes Familiengeheimnis voller überraschender Wendungen.“
„Die Hintergründe des Zweiten Weltkriegs und die persönlichen Schicksale der Protagonisten werden einfühlsam miteinander verknüpft – sehr mitreißend und emotional!“
„Eine gelungene Mischung aus Familiendrama, zarter Liebesgeschichte und historischen Fakten, die mich sofort gepackt hat!“

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Seitenzahl: 285

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Über dieses E-Book

Nachdem Kate beim Ausräumen des Hauses ihres verstorbenen Urgroßvaters fragwürdige Dokumente und Fotos findet, ist für sie klar: Ihr Urgroßvater scheint nicht der zu sein, für den er sich ausgab. Kate weiß, sie muss zurück nach Deutschland, zu dem alten Landsitz ihrer Familie. Nicht nur um herauszufinden, wer sie wirklich ist, sondern auch, was es mit den zwei Mädchen auf sich hatte, die ihr Urgroßvater damals mit nach Amerika brachte. In Deutschland angekommen, merkt Kate jedoch schnell, dass sie nicht die Einzige ist, die sich für ihre Familiengeschichte interessiert …

Impressum

Erstausgabe September 2023

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-211-4 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-483-5

Covergestaltung: Nadine Most unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © 1xpert shutterstock.com: © matka_Wariatka, © Pawel Kazmierczak, © Rudmer Zwerver Lektorat: Astrid Pfister

E-Book-Version 30.11.2023, 12:20:30.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Das Flüstern der Elbe

Kapitel 1

Schatten im Paradies

Hamburg, Deutschland, damals:

Drei Finger. Es müssen drei Finger einer erhobenen Hand sein, dachte Hans in einem Anflug ehrlich empfundener Panik. Er lehnte sich gegen eine Häuserwand. Mehr nicht. Drei Finger. Bitte, lass es drei Finger sein, die ich bald sehe.

Hans, der sein wild schlagendes Herz unter Kontrolle zu bringen versuchte, lächelte. Sein durch ihn hindurchtobendes, ihn innerlich zu zerreißen drohendes, schlechtes Gewissen, schob er beiseite.

Was ihm schwerfiel.

Ungeheuer. Kaum zu beschreiben.

So schwer, dass er die Augen schloss und sich wünschte, all die erlebten Höllen niemals losgetreten zu haben.

Wäre ich schlauer gewesen, dachte er und spürte, wie ihm das Herz zerriss, als er einen kurzen, prüfenden Blick über die beiden neben ihm herstolpernden, aneinandergepressten Kinder schweifen ließ. Weitsichtiger. Nicht so empfänglich für Überlegenheit, Hochmut und Stolz.

Da war nicht nur der in ihm bohrende Kummer, das Wissen, etwas falsch gemacht zu haben … in ihm stiegen unentwegt Gedanken auf, die ihn mit Vorwürfen überluden, die ihn in der Nacht heimsuchten, und die ihm zuraunten: Deinetwegen. Alles ist nur deinetwegen geschehen.

Du bist schuld.

Hans erschauderte, während er über die ausgebombten Straßen stolperte und die beiden Mädchen dazu anhielt, ihm zu folgen. Er wollte nicht grob zu ihnen sein – nicht, nachdem sie solch einen Horror durchlebt hatten – und musste sie dennoch antreiben, Schritt mit ihm zu halten.

Auch wenn er versuchte, seine befehlenden Worte nicht barsch und herrisch klingen zu lassen, konnte er sehen, wie die Mädchen unter jeder einzeln hervorgebrachten Nuance seiner Aufforderungen zusammenzuckten.

Sie gehen nicht mehr nebeneinanderher, dachte er, während er über Geröll stolperte, und nicht verstehen konnte, wie es so weit hatte kommen können … dass er nicht mehr an roten Backsteinhäusern im Schutz der aufkommenden Dunkelheit vorbeihuschte, sondern an ausgebrannten, rauchenden Ruinen. Der Geruch nach Qualm stieg ihm ebenso in die Nase, wie der Gestank von geplatzten Abwasserrohren, deren dunkelbrauner, übelriechender Inhalt sich fontänenartig über sie alle ergoss.

Hans erschauderte erneut, als er an die immer wieder aufklingende, jaulende Alarmsirene dachte; daran, wie der hohe, schrille Ton sich ihm in den Verstand bohrte und ihn aus seinem oberflächlichen, seichten Schlaf riss. Wie er dann, wenn er die Augen aufriss, instinktiv nach den beiden Mädchen griff, die dicht gedrängt aneinander schliefen, ihre Angst, ihren Kummer, all ihre ausgestandenen, schrecklichen Erlebnisse in ihren hübschen, dunklen Augen trugen. Augen, wie er bemerkte, in denen Leid zu sehen war, das ihm Magenschmerzen bereitete.

Leid, das ich ihnen zugefügt habe. Das ich verursacht habe. Das meinetwegen …

Er ließ den Gedanken nicht zu.

Hans wollte nichts weiter als hinaus zur Veddel, hin zur von der Waffen-SS konfiszierten BallinStadt. Dort, wo damals die Auswandererbaracken gestanden hatten, von wo aus die Menschen versucht hatten, in die USA zu emigrieren.

„Nicht stehen bleiben“, befahl er den beiden Mädchen, die sofort in der Bewegung erstarrten, als die Sirenen erneut ertönten und die trügerische, in die Ferne gerückte Stille markerschütternd durchbrachen.

Weiter, wollte er hinterher schieben, um dann zu merken, wie er klang. Er lächelte schief und verkrampft, als er, in der irrigen Annahme, einfühlsam zu sein, flüsternd sagte: „Wenn wir stehen bleiben, kann es sein, dass einer der Tiefflieger auf uns aufmerksam wird. Das wollt ihr doch nicht, oder?“

Die Mädchen starrten ihn an.

„Das wollt ihr doch nicht, oder?“, schob er hinterher, mit einem gereizten, ihm zuwider klingenden Tonfall in der Stimme, den er nicht zurückhalten konnte.

Es kam ihm so vor, als würde der ganze Stress und all die Anspannung in ihm emporschießen; als würde sich all seine empfundene und mit Mühe unterdrückte Angst in ihm Bahn brechen.

Es stand zu viel auf dem Spiel.

Nicht viel, verbesserte er sich in Gedanken, als er in der Ferne den dumpfen Knall einer in einem Wohnblock einschlagenden, aus dem Himmel gefallenen Bombe zu hören meinte. Alles.

„Kommt. Bald sind wir in Sicherheit.“

Die Mädchen starrten ihn an.

Hans lächelte. „Vertraut mir.“

Seine Worte klangen selbst in seinen Ohren hohl und leer. Wie Metaphern.

Warum sollten die Kinder ihm glauben?

Nachdem, was er ihnen bereits angetan hatte?

Unbewusst, schob er in einem verteidigenden Unterton in seinen Gedanken hinterher und wusste, dass die Schuld, die er auf sich geladen hatte, für immer lichterloh und brennend heiß in seiner Seele brennen würde.

„Tötest du uns?“, wollte die Ältere-, der beiden wissen. Der Blick, den sie ihm dabei zuwarf, das verstörend ängstliche Flackern in den Augen, und um die Lippen herum ein von tief empfundener Furcht gezogenes Grübchen, ließ Hans meinen, sich übergeben zu müssen. Der Klang ihrer Stimme schnitt messerscharf in seine Seele, und die ihm unwillkürlich einschießenden Tränen ließen ihn glauben, an seinem schlechten Gewissen zerbrechen zu müssen.

„Nein“, murmelte er, schüttelte den Kopf und streckte die Hand nach dem dunkelhaarigen, ausgesprochen hübschen Mädchen aus, das ihrer Mutter auf erschreckende Art und Weise ähnlich sah. „Das könnte ich nicht“, sagte er und konnte es nicht verhindern, dass seine einst von Hass angestauten, von der Herrenrasse vergifteten Gedanken hinterher schoben: Nicht mehr.

„Ich …“, setzte er an, zuckte aber wieder zusammen, als er das ihm ins Unterbewusstsein dringende Pfeifen der vom Himmel fallenden Bomben vernahm. „… will euch retten.“

Die Mädchen starrten ihn an.

„Ich bringe euch in Sicherheit.“

Als er in der Ferne eine sich zwischen dem Schutt und den zerbombten Ruinen abzeichnende Gestalt erkannte, die winkend die Hand hob, atmete er erleichtert auf.

Drei Finger, dachte er. Es sind drei erhobene Finger …

***

Beaufort, South Carolina, USA, jetzt:

„Wieder versetzt.“ Kate Speller schüttelte den Kopf, obwohl sie wusste, dass ihre beste Freundin am anderen Ende der Leitung es nicht sehen konnte. „Ich habe einfach kein Glück bei Männern.“

„Weil du dir immer die falschen aussuchst“, hörte sie Olivia sagen und war sich sicher, dass sie das Klickklack, Klickklack, Klickklack einer Tastatur vernahm. „Ich habe dir gleich gesagt, dass diese Dating-Apps Bullshit sind, Mäuschen. Habe ich es dir gesagt, oder habe ich es dir gesagt?“

„Du hast es mir gesagt.“ Kate seufzte, während sie antwortete. Natürlich hatte Olivia sie gewarnt. So, wie Olivia sie immer und vor allem zu beschützen versuchte.

Jetzt, als sie in dem kleinen, muffigen Laden stand, in dem sich die Regale bis zur Decke erstreckten, und sich die einzelnen Fächer unter dem Gewicht der Bücher bogen, kam sie sich haltlos vor.

„Und du hast trotzdem nicht auf mich gehört.“

„Nein, habe ich nicht.“

„Böse Kate“, tadelte Olivia ihre beste Freundin mit einem herzlichen Unterton in der Stimme, der ihr ein wenig Balsam auf die geschundene Seele strich. Sie versuchte, die beklommene Bedrückung, die nach ihr gegriffen hatte, nicht an sich herankommen zu lassen. Kate wollte nicht in dem kleinen, dunklen Verkaufsraum stehen, der von nicht einem Kunden besucht war, und spüren, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.

„Ich mache dich mit einem netten Typen bekannt. Was meinst du? Wir beide, heute Abend, am Strand? Ich habe gehört, DJ Hightower soll auflegen.“

Kate wagte nicht zu fragen, wer das war.

„Der hat gerade ein neues Album herausgebracht“, plapperte Olivia weiter, während sie ihrer sich im Dauereinsatz befindenden Tastatur offenbar eine Pause gönnte. „Nicht immer mein Musikstil, aber er ist süß.“

„Weil du ihn interviewt hast, weißt du das natürlich.“ Kate schmunzelte.

„Bingo.“

„Ich wünschte, ich könnte das auch“, gab sie mit einem kurzen, sie durchflutenden Hauch von Eifersucht zu.

„Was?“, wollte Olivia wissen.

„Flirten. So zwanglos. Wie du.“

„Ich weiß gar nicht, was du immer für Hemmungen hast, Süße. Ich meine, hey, sieh dich doch mal an. Allein wenn du mich aus deinen großen, braunen Augen anschaust, und dabei ein wenig melancholisch lächelst, denke ich mir immer: Scheiße man, wenn ich auf Frauen stehen würde, wäre Kate voll mein Typ.“

„Olivia!“

„Was denn? Ist die Wahrheit. Wenn du nur ein wenig mehr aus dir machen würdest, hättest du garantiert an jedem Finger einen Kerl, der mit dir ausgehen will. Wenn nicht sogar mehr. Ich meine, wow, dein Hintern, in einem bis zu den Knien reichenden Rock, dazu eine eng anliegende Bluse oder ein Shirt und die Kerle wissen nicht mehr, wohin mit ihren Blicken.“

„Olivia!“

„Was denn?“, wiederholte Olivia gespielt genervt, während sie wieder anfing, auf ihre Tastatur einzuhämmern. „Du bist eine kleine, sexy Maus, und zeigst es nicht. Wieso nicht? Du musst doch wissen, was für einen hübschen Arsch du in einer Jeans hast!“

„Ich bin nicht so.“

„Wieso nicht?“

„Keine Ahnung.“ Kate zuckte mit den Schultern. „Brian260381 fand mich offenbar nicht ansprechend, sonst wäre er zu dem Date erschienen.“

„Der hat nur Reißaus genommen, weil du das Wort ansprechend benutzt hast“, neckte Olivia ihre Freundin und traf Kate damit unbeabsichtigt mitten ins Herz.

Sie spürte, dass Unzufriedenheit einen immer größer werdenden Platz in ihr einzunehmen begann.

Ein sie verfolgender, immer wieder einholender Gedanke daran, dass mit ihr etwas nicht stimmte. So war es in der Highschool gewesen, später auf dem College und auch beim kurz angesetzten Studium, als sie ihren Bachelor of Science in Education erwerben wollte.

Sie hatte immer das Gefühl, nicht zu reichen.

Warum auch immer.

„Mäuschen“, riss Olivia Kate aus ihren Gedanken.

„Ja?“

„Der Typ war ein Arsch. Ehrlich. Er weiß nicht, was ihm für eine tolle Frau durch die Lappen gegangen ist. Ich kenne niemanden, der eine Portion Pasta so schnell verputzt wie du. Den Rekord aus der Tonhalle hältst du doch noch, oder?“

„Das ist mir peinlich.“ Kate kicherte. Sie lächelte erleichtert, weil ihre beste Freundin immer wusste, wie es ihr ging.

„Wer so viel essen kann, muss es ertragen können, dass er darauf angesprochen wird“, meinte Olivia, mit einer Heiterkeit in der Stimme, die Kate ausgesprochen guttat. „Aber mal im Ernst, Süße, lass dich von solchen Typen nicht immer runterziehen. Du lernst noch den Richtigen kennen. Beim Kurs für kreatives Schreiben vielleicht, oder ist …“

„Äh …“

„Sag bloß nicht …“

„Es lag mir irgendwie nicht“, erwiderte Kate ausweichend und war erleichtert, dass in dem alten Bücherladen das Telefon so antiquiert war, dass sie den Finger um das Kabel wickeln konnte.

„Du warst doch so begeistert davon, als du angefangen hast.“

„War ich auch …“

„Aber?“

„Nun, weißt du, also …“

„Lass mich den Satz für dich beenden, ja?“ Olivia räusperte sich, suchte nach den richtigen Worten und redete dann mit verstellt quietschig klingender Stimme, bevor Kate ein Wort des Protests hervorbringen konnte. „… der Dozent hat viel zu viel geredet und Dinge gesagt, die ich mit kreativem Schreiben nicht in Verbindung bringen konnte. Weißt du, ich hatte mir da echt was anderes drunter vorgestellt.“ Olivia veränderte ihre Stimme wieder. „So oder so ähnlich war es, oder?“

Kate schwieg.

„Habe ich also den Nagel auf den Kopf getroffen – mal wieder“, lobte sich Olivia. „Du musst endlich wissen, wohin deine Reise gehen soll. Mäuschen, du wirst in drei Monaten fünfundzwanzig.“

„Danke für die Erinnerung.“

„Gern geschehen. Ist mir immer wieder ein Vergnügen“, erwiderte Olivia, die ebenso schnell das Thema wechseln konnte, wie ihre Finger über die Tastatur flogen. „Die Party heute Abend geht dann klar?“

„Weißt du …“

„Ein Nein wird nicht akzeptiert.“

„Also …“

„Du kommst. Das freut mich“, überfuhr Olivia ihre Freundin und meinte außerdem: „Du ziehst was Enges an. Keine Widerrede. Ich habe dich letztens erst in kurzer Hose und Top gesehen. Du hast viel zu zeigen und die Herren der Schöpfung sollen glauben, sie trifft der Schlag, wenn sie dich sehen. Ich bin um sieben am Bücherladen. Er schließt doch um sieben Uhr abends, oder?“

„Jepp“, bestätigte Kate.

„Cool. Dann bin ich da.“

„Aber …“

„Abers sind scheiße“, konterte Olivia.

„In diesem Fall dennoch wichtig.“

„Und warum?“

„Weil ich hier nichts Enges anzuziehen habe, das den Herren der Schöpfung die Augen aus dem Kopf springen lässt.“

Olivia seufzte und klang übertrieben verzweifelt, als sie murmelte: „Was für ein Glück, dass du mich hast. Ich kenne deine Größe, ich kenne deine Vorlieben – nein, ich kaufe dir bestimmt nichts Langweiliges – und ich weiß, in was du heiß aussehen wirst. Ein Badezimmer gibt es in dem verstaubten Schuppen, in dem du deine Zeit verschwendest doch, nehme ich an?“

„Klein, aber es ist vorhanden.“

„Also eine einfache Toilette mit Spiegel an der Wand?“

„Richtig.“

Olivia klang hoffnungslos. „Mit dir habe ich einen Fang gemacht. Gut, ich haue hier in der Redaktion so gegen achtzehn Uhr ab. Halte dich bereit, ja? Ich will keine Zeit verlieren. Brian260381 soll begreifen, was für eine Chance ihm entgangen ist, als er dich sitzen gelassen hat. So ein Idiot. Dem werde ich es zeigen.“

***

Kiel, Schleswig-Holstein, Deutschland, vor einem Jahr:

„Wir müssen doch irgendetwas machen können!“

„Und was?“

Viktor wusste es selbst nicht. Während er die Stimme seines Bruders Christian im Ohr hatte, fühlte er sich ebenso hilflos wie verloren. Er hatte gewusst, dass es, um den in einer Seitenstraße liegenden Blumenladen seines Vaters, nicht gut stand, und dass sie unentwegt ums Überleben kämpften. Aber jetzt, wo er den Kummer, ach was, die Angst aus den Worten seines Bruders hörte, kam es ihm so vor, als habe man ihm mit der Faust in den Magen geschlagen.

Seine bisherigen Ideen, die er vorgebracht hatte, waren von seinem Vater und auch von Christian immer wieder abgeblockt und mit missbilligenden Blicken abgelehnt worden.

„Ich hatte …“

„Wir können es uns nicht leisten, Blumen zu verschenken oder …“

„Es geht doch nicht um verschenken, sondern um einen Internetversand.“

„Auch das Geld haben wir nicht. Weder für die Homepage noch für die erforderlichen Neuanschaffungen, um einen Versand der frischen Blumen zu gewährleisten. Viktor, wir stehen mit dem Rücken zur Wand.“

Viktor konnte nichts darauf erwidern. Er schwieg, presste sich das Telefon ans Ohr und nahm den, von einer der Auszubildenden gereichten Ordner mit einem gemurmelten „Danke“, entgegen.

„Du bist nicht kreditwürdig?“, hörte Viktor seinen Bruder fragen und bekam Magenschmerzen. Bevor er stammelnd eine Antwort herausbringen konnte, wiegelte Christian ab: „Ich habe dich nicht gefragt. Vergiss es.“

Viktor lächelte schief und sagte: „Alter …“

„Ich weiß, war eine dumme Frage.“ Christian seufzte. „Aber seit der Wirtschaftsprüfer im Haus ist, der auch bezahlt werden will, geht mir der Arsch auf Grundeis. Ich weiß, dass er uns sagen wird, dass wir schließen müssen. Scheiße Mann, ich habe doch nichts anderes. Wenn du jetzt sagst …“, fiel Christian ihm ins Wort, „… dass ich ja wie du etwas anderes als Florist hätte lernen sollen, komme ich durchs Telefon und verprügele dich.“

Viktor musste lachen, obwohl ihm nicht danach zumute war.

„Du wolltest es sagen.“

„Anmerken“, verbesserte er seinen Bruder und fügte hinzu: „Mir liegt der Laden genauso am Herzen wie dir, das weißt du. Papa und Mama haben uns zwischen Blumen und Gartenkräutern aufwachsen lassen. Ich will auch nicht, dass der Laden schließen muss.“

„Wäre Mama noch hier …“, murmelte Christian und versetzte Viktor einen Stich mitten ins Herz.

„Ja, ich weiß.“

„… dann wäre alles besser. So viel besser.“

Viktor mochte es nicht, traurig zu sein. Er wollte sich nicht den erdrückenden, sein Herz schwer werden lassenden Gedanken an seine, vorletztes Jahr verstorbene, Mutter hingeben. Er wehrte sich gegen die in ihm aufsteigenden Bilder, an das Krankenhaus, seine im Krankenbett liegende, ausgezehrte Mama. Daran, wie sie mit den Ärzten gesprochen hatten, und diese ihnen mit betont betroffen klingender Stimme sagten, dass weder eine Operation noch eine Chemotherapie das Leben seiner Mutter verlängern, geschweige denn retten könnte.

Der an ihrem Pankreaskopf wuchernde Tumor hatte eine solche Größe erreicht, dass seiner Mutter keine Chance mehr geblieben war.

„Sie hat den Laden zusammengehalten.“

„Und wie.“

„An Jazmin will ich gar nicht denken. Wie soll ich ihr das bloß beibringen?“

Viktor klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr, begann die ihm gereichten Unterlagen zu studieren und spürte dabei den unangenehmen, heißen Stich von Traurigkeit in seinem Herzen.

Ihm kam seine Arbeit plötzlich albern, klein und unbedeutend vor. Was hatte er davon, dass er Ladung und Löschung kontrollierte, dass er die in Kiel einfahrenden Schiffe checkte und deren Fracht auf Korrektheit prüfte?

Es bringt mir ein sicheres Gehalt, versuchte er sich Mut zu machen, um dann zu merken, wie ihm ein weiterer, ihn schüttelnder Gedanke kam. Mehr nicht. Es hat dich aus der Familie herausgeschoben.

Du bist schon lange nicht mehr innig mit ihnen, nicht mehr so dicht an allen dran. Weder an Christian oder an Dad, geschweige denn an Jazmin. Sie hast du beinahe vollkommen aus den Augen verloren.

Bei dem Gedanken an seine dunkelhaarige, liebevolle aber auch zum Aufbrausen neigende Schwester, wurde ihm schwer ums Herz. Sie hatte unter dem Tod ihrer Mutter am meisten gelitten. Es hatte sie in eine Depression getrieben, die bis heute weder geheilt noch ausgestanden war.

Dabei hatte sie von uns Dreien am stabilsten gewirkt, dachte er und musste sich eingestehen, dass das nicht der Fall gewesen war – im Nachhinein betrachtet.

Ja, sie hatte immer versucht, Zuversicht zu versprühen. Hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, um ihrer Mutter das schwindende Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Nur um dann dabei zusehen zu müssen, wie ihre Mama immer magerer, schwächer und ausgezehrter wurde.

Viktor schüttelte den Kopf, als er die Ladungsnummern überflog, die ihm auf seinem Computer angezeigt wurden. „Sag es Jazmin nicht“, meinte er zögerlich, als hätte er Angst vor seinen eigenen Worten. Nur um dann hinterherzuschieben: „Noch nicht.“

Christian seufzte. „Ich werde noch wahnsinnig. Keine Ahnung wie es weitergehen soll. Verdammte Konkurrenz“, fügte er fluchend hinterher.

„Ich mache mir Gedanken, wie wir aus dem Schlamassel wieder herauskommen.“

„Das ist lieb von dir“, sagte Christian, um dann beklommen und heiser zu fragen: „Einen Kredit für uns kannst du wirklich nicht aufnehmen, wenn hier alles den Bach runtergeht, oder?“

***

Beaufort, South Carolina, USA, jetzt:

Kate beneidete Olivia für ihr lockeres, unbekümmertes und freches Auftreten. Damals, als sie sich in der Schule kennengelernt hatten, war Olivia vollkommen anders als die anderen gewesen. Egal, ob es darum ging, wie man sich kleidete, wie man sich benahm, oder was man las oder hörte. Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie die meisten ihrer Mitschüler als albern, aufgeblasen und wichtigtuerisch empfand. Sie war sich, was für Kate bis heute unbegreiflich war, immer treu geblieben.

Während sie mit Selbstzweifeln kämpfte und in einem Gespräch den angefangenen Satz unterbrach, hektisch darüber nachdachte, wie er besser klingen könnte, schien es Olivia egal zu sein, was sie wie sagte.

Sie redete einfach drauf los.

Hatte sie das nicht auch einmal gekonnt?

Vor langer Zeit, überlegte sie.

In einem anderen Leben, wie sie jetzt dachte, während um sie herum die beatlastige Musik aus den, neben dem DJ-Pult aufgestellten, Boxen ballerte und ihr unangenehm dröhnend in den Ohren nachebbte.

Als ich dachte, ich würde es zu irgendetwas bringen … so wie meine Schwester.

Der ihr plötzlich durch den Magen krampfende Schmerz überraschte sie.

Noch nie hatte sie etwas gegen Paris gehabt. Ganz im Gegenteil. Sie hatte die hochgewachsene, sportliche und seit einigen Wochen erfolgreich ihren eigenen Friseursalon betreibende Schwester immer bewundert.

Doch jetzt, wo sie sich in dem hautengen Shirt in der wild zu der Musik tanzenden Menge befand, hatte sie das überraschende Gefühl, irgendwann in ihrem Leben die falsche Abzweigung genommen zu haben.

Als wäre sie durch einen im Nebel liegenden Wald gelaufen, ohne zu merken, dass sie einen Pfad einschlug, der von dichten, kaum zu durchdringenden Spinnenweben überzogen war.

Sie schluckte schwer und schaute irritiert zu der, zwei Bacardi-Cola-Gläser durch die tanzende Menge balancierenden, Olivia, die gegen den Krach anschrie: „Wir können gleich hinter die Bühne gehen.“

„Wir sollen blühen gehen?“, fragte Kate verwirrt, die das Bumbumbum des Basses nicht nur im Magen, sondern im ganzen Körper vibrieren spürte.

„Ja, das auch.“ Olivia nickte. „Aber Hightower will mir noch einen kurzen Reel einsprechen, für meine Instagram-Wall.“

„Was?“

„Du sollst trinken!“

„Ich verstehe kein Wort.“

„Prima. Machen wir so!“

Olivia prostete der verwirrt lächelnden Kate zu, nippte an ihrem Bacardi und nickte anerkennend. Als Kate einen Schluck nahm, die Augen aufriss und einen Hustenreiz unterdrücke, stupste Olivia sie an und deutete mit einem Nicken in die im Blitzlichtgewitter gespenstisch anzusehende tanzende Menge. „Schau mal.“

„Was denn?“

Kate blinzelte, hielt die Luft an und versuchte, zu verstehen, was Olivia von ihr wollte. Diese deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger ihrer linken Hand durch die tanzende, schwitzende und wie hypnotisiert wirkende Masse zu einem, für Kate nicht ersichtlichen Punkt.

„Komm!“ Olivia zerrte ihre Freundin hinter sich her. Kate kam nicht dazu, zu protestieren.

Erst als sie sich aus Olivias Griff befreite und sie auf dem aufgeworfenen und unebenen Sand sicheren Halt gefunden hatte, huschte sie ihrer Freundin hinterher. Sie drängte sich an nassgeschwitzten Leibern vorbei und ekelte sich davor, als ein vor ihr tanzender Mann seine behaarten Achseln präsentierte und ein zum Dröhnen des Bumbumbum passendes „Yeahhhhh“ ausstieß und sie zu berühren drohte.

Sie schob sich hastig weiter. Angetrieben von ihrem Ekel, da sie nasse, schweißige Haut auf ihrer kaum ertragen konnte. Obwohl sie es liebte, ins Schwitzen zu kommen, und nichts erfrischender fand, als nach dem Sport ausgepowert in sich zusammenzusinken, war es ihr ein Graus, den Schweiß anderer abzubekommen.

Auch nicht den von meinen Freunden, dachte sie, als sie sah, wie sich eine blondierte Frau mit den Händen Luft zufächelte.

Während sie den verwirrenden Gedanken hinterher hing, kam es ihr so vor, als habe sie für einen kurzen Augenblick Olivia aus den Augen verloren.

Erschrocken blieb Kate stehen.

Sie ließ ihren Blick über die Masse schweifen, die, während die Blitzlichter einsetzten, um den neu aus den Boxen ballernden Song effektvoll zu untermalen, aussahen, als wären sie abgehackte, fremde Schatten einer ihr unbekannten Welt. Gesichter tauchten aus dem Dunkel des Abendlichts auf, verwandelten sich zu Bildnissen loser, zusammenhängender Fotografien und ließen Kate schwindelig werden.

Erst als sie die Augen zusammenkniff und sich vor ihr ein hüftbreiter Korridor öffnete, der geradewegs auf das Ende der Tanzfläche zuzuführen schien, entdeckte sie Olivia wieder. Die sich, die Arme vom Körper abgespreizt, den Kopf in den Nacken gelegt, freudig im Kreis drehte.

„Wie bist du da so schnell herausgekommen?“, wollte Kate wissen. Sie erreichte Olivia und nippte an ihrem Longdrink. Verwundert stellte sie fest, dass der Lärm der Musik hier kaum zu hören war. Es gab nur das Rauschen des Meeres und das stetige Pfeifen des Windes.

„Ich dachte schon, du lässt mich allein zurück.“

„Ich bin einfach gegangen“, sagte Olivia schulterzuckend und deutete zum Strand hinunter, zu einer Felsformation, die aus dem Wasser ragte und umspült wurde von weißer Gischt werfenden Wellen. „Komm mit.“

„Was …“

„Komm einfach mit“, rief Olivia, „ohne immer alles infrage zu stellen.“

„Das mache ich doch gar nicht.“

„Doch, das machst du, und zwar unentwegt. Oh Mann, jetzt höre ich mich schon an wie du. Ich verbringe eindeutig zu viel Zeit mit dir. Ah, hi.“

Kate blieb abrupt stehen.

Sie hatte damit gerechnet, dass Olivia sie nicht aus Jux und Tollerei hierher an den Strand gelotst hatte. Aber sich jetzt hier zu befinden und zu sehen, wie ein hochgewachsener, braunhaariger Mann bis zu den Knöcheln im Wasser stand, irritierte sie. Was zu einer Steigerung ihrer Verwirrung beitrug, war, dass Olivia zu dem Mann ging und zwei seiner Begleiter mit einem weiteren, locker klingenden: „Hey“, und „Na, wie geht es dir?“, begrüßte.

„Das hier ist Steve. Solo Baby“, meinte sie, während sie auf den braunhaarigen Mann zeigte, und setzte damit in Kate eine Faszination frei. Nur um dann zu merken, dass er zwar gut aussah, aber etwas Künstliches an sich hatte; etwas Aufgesetztes.

„Äh.“

„Aus meiner Redaktion. Er ist Fotograf und hat für mich die letzte Titelstory bebildert. Die, über die Beschmutzung des Kriegerdenkmals. Du weißt schon, die aus dem Bürgerkrieg. Steve macht viele historische Fotostrecken, damals und heute. Der hat es echt drauf. Haben uns köstlich amüsiert, als wir nach zwei kritischen Fragen an den Bürgermeister wegen der Denkmalpflege auf ein luxuriöses Abendessen und einen netten Abend an der Bar eingeladen wurden.“

„War der Hammer“, meinte Steve, in dessen Kinn sich ein Grübchen bildete, das selbst von seinem Dreitagebart nicht verborgen werden konnte. „Hat Spaß gemacht. Du bist Kate?“, wollte er wissen, während seine beiden Begleiter über irgendetwas lachten, was sie sich auf einem Handy anschauten. „Freut mich, dich kennenzulernen.“

„Äh …“

„Sie ist schüchtern“, erklärte Olivia, die einen großen Schluck aus ihrem Glas nahm, und ein „Ahhh“, ausstieß, als sie sich dem im untergehenden Sonnenlicht daliegenden Meer zuwandte. „Einfach zu schön hier.“

„Olivia.“ Kate wusste, dass sich die in ihr aufsteigende Panik wie ein Bild von Munch auf ihrem Gesicht abzeichnete.

„Ja?“

„Auf ein Wort.“

„Geht nicht.“

„Hä?“

„Starre aufs Wasser und liebe es. Hach, Steve könnte den Moment mit seiner Kamera bestimmt wunderbar malerisch einfangen. Vielleicht macht er ja auch ein Bild von dir, wie du dich am Strand rekelst, was meinst du?“

„Ich meine, nicht verkuppelt werden zu wollen.“

„Das wirst du nicht“, versicherte Steve ihr, der ihr so nahegekommen war, dass sie nicht den salzigen, algigen Geruch des Meers in der Nase trug, sondern sein nach einer im Sonnenlicht daliegenden Wiese riechendes Aftershave. „Ich habe keine Lust auf eine Beziehung. Ich will nur ein bisschen Spaß, du auch?“

Kate grinste fassungslos.

„Lass uns spazieren gehen, bevor das Interview beginnt. Lernen wir uns doch kennen.“

„Olivia!“, flehte sie.

„Ich bin immer noch beschäftigt“, flüsterte ihre beste Freundin, und sog genießerisch die Luft ein und schenkte ihr ein freches Grinsen.

***

Kiel, Schleswig-Holstein, Deutschland, vor einem Jahr:

Viktor fühlte sich getrieben.

Als er von dem Ergebnis der Betriebsprüfung gehört hatte und er nun wusste, wie viele Schulden der Blumenladen seines Vaters wirklich angehäuft hatte, war ihm schlecht geworden. Obwohl er noch am Abend in einer Konferenz gesessen hatte und mit seinem Vorgesetzten über diese und jene Abläufe innerhalb des Betriebes gesprochen hatte, war er nicht bei der Sache gewesen.

Immer wieder waren seine Gedanken zu den bestürzt klingenden Worten seines Bruders zurückgewandert; zu jenen wie erstickt klingenden schrillen Lauten, die ihm jetzt noch, als er bei Jazmin saß, eine Gänsehaut über den Rücken jagten.

Obwohl er mit keinen schlechten Nachrichten zu seiner Schwester hatte kommen wollen, hatte sie ihm angesehen, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte ihn mit ihren tiefen, braunen Augen, den wie in ihm in einem Buch lesenden Blicken bedacht, die ihn auf schmerzliche Weise an seine Mutter erinnerten.

Er lächelte schief, deutete auf die auf ihren Knien liegende Zeitschrift und fragte: „Wieder Historie?“

Sie nickte.

„Natürlich.“

„Cool.“

Viktor kam sich albern vor, weil er kein Gespräch mit seiner Schwester in Gang setzen konnte. Dass da etwas war, das ihn hemmte locker mit ihr zu kommunizieren.

Auch wenn sie beide mehr als sechs Jahre trennten und sie das Nesthäkchen der Familie war, hatte er sich ihr stets nahe und verbunden gefühlt. Sie hatte immer eine Leichtigkeit besessen, die ihn faszinierte und die ihn unwillkürlich ansteckte, und dazu trieb, Dinge zu analysieren, über die er sonst gedanklich niemals gestolpert wäre.

Aber jetzt, wo er wusste, dass das Familienunternehmen kurz vor der Pleite stand, sein Vater vor Kummer nicht in den Schlaf fand und Christian ernsthaft fragte, ob Viktor einen Kredit für den Laden aufnehmen konnte, kam es ihm so vor, als habe sich eine Mauer zwischen ihm und seiner Schwester errichtet. Diese, von dem Kummer des Verlustes gezeichnet, von einem schattenhaften Grau auf dem Gesicht heimgesucht, legte den Kopf schief.

„Es ist ein Artikel über die Nazis in Hamburg.“

„Interessant“, murmelte er und holte tief Luft. „Etwas Neues, was du lernst, oder nur eine Vertiefung deines bisherigen Wissens?“

„Es geht um Häuser und die Art, wie die Männer der Waffen-SS gelebt haben. Wie sie Friede, Freude, Eierkuchen für ihre Kinder zelebrierten, während andere Menschen ihretwegen in Not und Elend gelebt haben.“

„Umgebracht wurden, meinst du.“

„Auch, ja“, sagte Jazmin, in deren dunklen Augen ein Viktor erfreuender Glanz trat. Ein Schimmern, der den dumpfen Glimmer der durch ihren Kopf tobenden Depression für einen klitzekleinen, erleichternden Augenblick vertrieb.

„Über Uromas Schwester steht nichts drin, oder?“, wollte Viktor beiläufig wissen, während er innerlich um die richtigen Worte kämpfte, wie er mit Jazmin sprechen konnte … wie er sie davon überzeugen, ach was, zwingen konnte, wieder im Laden ihres Vaters anzufangen. Weil sie das Zünglein an der Waage war, die die Last verringern würde, Personalkosten stemmen zu müssen.

„Nicht direkt.“

Viktor schaute auf.

Jazmin lächelte, bevor sie die Zeitschrift umschlug, knickte, und ihrem Bruder die Fotografie eines alten Hauses zeigte, dessen zur Haustür führende Wege mit einer erschreckenden Geradlinigkeit angelegt worden waren. Deren Beete in solch akkurater, aufeinander abgestimmter Genauigkeit lagen, dass es einem nicht ordnungsliebenden Menschen Magenschmerzen bereitete.

Viktor zuckte mit den Schultern. „Was ist das? Ein Herrenhaus?“

Jazmin sagte: „Wenn mich nicht alles täuscht, ist dies das Haus, in dem Uromas Schwester einst gearbeitet hat und versucht hat, dem langen Arm der Vernichtung zu entgehen.“

***

Beaufort, South Carolina, USA, heute:

Die Leichtigkeit war wieder da.

Plötzlich, von einem Moment zum anderen, gesellte sie sich zu ihr. Ob es an dem Kate langsam in den Kopf steigenden Bacardi lag, oder daran, dass Steve es ausgezeichnet verstand, sie zu unterhalten und – ja, sie genoss es – zu umgarnen, wusste sie nicht. Was sie aber wusste, war, dass es ihr zu gefallen begann, zusammen mit Steve am Strand entlangzuspazieren. Sie mochte es, sich anzuhören, wie er sich Perspektiven aussuchte, Lichtverhältnisse studierte, und sein zu fotografierendes Objekt platzierte, damit das in seinem Kopf entstandene Bild Wirklichkeit werden konnte.

Was ihr gefiel, und das ließ in ihr ein kurzes Gefühl der Zuversicht aufsteigen, war die sanfte Berührung Steves an ihrer Hand, als er meinte: „Komm, ich will dir was zeigen.“

Er hatte sie nur kurz am Handrücken berührt, und hatte damit bei ihr etwas in Gang gesetzt, das ihr wie ein Elektroschlag unter die Haut gegangen war. Verwirrt von der Tatsache, dass sich ein wohliges Kribbeln in ihrem Magen ausbreitete, hatte sie gesehen, was er ihr zeigen wollte. Keinen kitschig wirkenden, zu Verführungszwecken dienenden langweiligen Sonnenuntergang. Nein, es war ein kaum wahrnehmbares, leises Pfeifen, das von der Felsformation zu kommen schien, an der sie sich vorhin getroffen hatten. Er lächelte sie an – was ihr einen weiteren kribbelnden Moment von weiblicher Vorfreude auf eine womöglich schöne Nacht bescherte – und erklärte: „Der kleine, singende Freund spielt jeden Abend ein anderes Lied.“

„Kleiner, singender Freund?“

„Ich habe mir die Freiheit genommen, den Felsen hier so zu nennen“, erklärte er und watete, bis zu den Waden ins lauwarme Wasser, das Kates Füße umspülte. Als ihm das Wasser bis zu den Knien reichte und die Feuchtigkeit bis zu den Oberschenkeln seine Jeans durchnässte, blieb er stehen, winkte sie zu sich heran und deutete auf ein zerklüftetes, faustgroßes Loch. „Heute spielt er nur für dich.“

„Für mich?“, fragte sie skeptisch.

„Hör hin.“

Sie tat es und war überrascht.

Als sie den immer wieder über ihr Gesicht streichenden Wind spürte und sie das Rauschen des Wassers vernahm, war da ein plötzliches, leises Pfeifen in der Luft. Es war zaghaft, so, als wäre die aufklingende Stimme schüchtern. Nur um dann lauter zu werden, angenehmer, einem Zwitschern gleich, das durch den beginnenden Morgen durch friedliche Stille ebbte.

„Schön“, murmelte sie, schloss die Augen und genoss es, was sie hörte.

„Nachdem ich den Mädchen das gezeigt und ihnen gesagt habe, dass der Wind heute ihre Schönheit besingt, haben sie alle mit mir geschlafen.“

Kate, die Steve gegen die Schulter stieß, rief: „Wie billig ist denn das?“, und musste lachen, als er ihr mit spielerisch hochgezogenen Augenbrauen und kussförmigem Mund signalisierte, dass er sie leiden konnte. Sie lachte, watete aus dem Wasser, setzte sich an den Strand und zeigte der auf sie zukommenden Olivia spaßeshalber den Mittelfinger.

„Hau bloß ab.“ Sie schmunzelte, als ihre Freundin, die Arme unter der Brust verschränkt, den Blick verklärt, auf sie zukam. „Mit dir rede ich heute kein Wort mehr.“

„Musst du auch nicht“, sagte diese entspannt. „Es reicht, wenn du mir Steve überlässt.“

Dieser schaute auf die Armbanduhr und fragte: „Jetzt schon?“

„Ich sage es nur ungern, aber ja.“

„Wie schade“, erwiderte er, als er den Kopf drehte, und die im Sand sitzende, ebenfalls hinaus aufs Meer schauende Kate betrachtete. „Ich wäre gerne hiergeblieben.“

„Überrede das launische Miststück doch, uns zu begleiten. Was eigentlich albern ist.“ Olivia erhob heiter die Stimme: „Denn vorhin auf der Tanzfläche hat sie schon zugestimmt.“

„Mit dir rede ich nicht.“

„Steve“, forderte sie ihn auf. „Kommst du bitte?“

Dieser schüttelte grinsend den Kopf. „Ein wenig doof seid ihr beide schon.“

„Sie ist doof. Ich bin niedlich“, meinte Olivia. „Und wenn du das Gegenteil behauptest, buche ich dich niemals wieder als Fotografen.“

„Mensch, was bist du für ein niedliches, freundliches und überhaupt nicht zum Machtmissbrauch neigendes Mädchen. Himmel, sowas wollte ich schon immer mal kennenlernen.“

„Braver Wauwau.“

„Wuff“, machte Steve, und streckte Kate die Hand entgegen, damit diese sie ergreifen konnte.

Kate blieb sitzen, schmunzelte und meinte: „Hätte nie gedacht, dass du so leicht zu manipulieren bist.“

„Arbeit zahlt die Miete.“ Steve seufzte. „Und die muss ich leider Monat für Monat aufbringen, damit dieser sonnengebräunte, muskulöse und den Frauen ausgesprochen gut gefallende Körper ein wenig Erholung findet nach anstrengenden Befehlsempfängen wie diesen.“

„Oh“, machte Kate und verzog spöttisch das Gesicht. „Mit Worten kann er auch noch.“

„Aber nur, wenn sie sich um mich drehen“, versicherte er mit erhobenem Zeigefinger. „Also? Kommst du mit?“

„Sag der da, dass ich gewillt bin, darüber nachzudenken …“

„Ah …“