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Wie ist die Stimmung? Nicht so gut. Von Zuversicht kann keine Rede sein. Wir fühlen uns bedroht, wollen das Erreichte sichern. Wer weiß, was die Zukunft bringt? Für Heinz Bude sind Stimmungen die Gefühle der Gesellschaft. Er analysiert, wie sie entstehen, wie sie beeinflusst werden können, aber auch, wie sie kippen können. Stimmungen entscheiden darüber, wie wir die Welt wahrnehmen, deshalb ist es Politikern so wichtig, die Stimmung der Wähler zu kennen. Heinz Bude zeigt, warum Stimmungen in der Politik oft mehr entscheiden als Argumente. Stimmungen sind vage, flüchtig und unberechenbar. Aber wer verstehen will, wie unsere Demokratie funktioniert, muss von ihrer Macht über die Menschen wissen.
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Seitenzahl: 129
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Wie ist die Stimmung? Nicht so gut. Von Aufbruch, von Zuversicht kann keine Rede sein. Vielmehr fühlen wir uns bedroht, müssen sehen, wie wir das Erreichte sichern. Wer weiß, was die Zukunft bringt? Für Heinz Bude sind Stimmungen die Gefühle der Gesellschaft. Sie bündeln, was im privaten Raum oder in der Öffentlichkeit gedacht und gesagt wird, sie lenken den Blick auf ganz bestimmte Erfahrungen und drängen andere in den Hintergrund. Stimmungen entscheiden darüber, wie wir die Welt wahrnehmen, deshalb ist es Politikern so wichtig, die Stimmung der Wähler zu kennen. Sie kann Wahlen entscheiden. Heinz Bude zeigt, wie Stimmungen entstehen, wie sie beeinflusst werden können, wie sie wirken, aber auch, wie sie kippen können. Stimmungen sind vage, flüchtig und unberechenbar. Aber wer verstehen will, wie Gesellschaft und Politik funktioniert, muss von ihrer Macht über die Menschen wissen.
Hanser E-Book
Heinz Bude
Das Gefühl der Welt
Über die Machtvon Stimmungen
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-25356-8
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2016
Umschlag und Fotografie: © Peter-Andreas Hassiepen, München
Satz: Gaby Michel, Hamburg
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Es ist als hätten seine Augen keine Lider.
Hugo von Hofmannsthal
Vorwort
Wie es uns ist und wird
Stimmung für »Stimmung«
Ansteckungskreise und Schweigespiralen
Enttäuschung und Engagement
Das Verhältnis der Generationen
Etablierte und Außenseiter
Das Gefühl des Geschlechts
Die Zukünftigen
Anmerkungen
Die Aufklärung über die Macht der Stimmung konfrontiert die Soziologie mit ihrem Image beim Publikum. Der soziologische Blick soll an den Tag bringen, was hinter den Dingen steckt: wie die Stimmungsmache durch den Boulevard funktioniert, welche Entfremdung mit dem neoliberalen Diktat von positiver Stimmung einhergeht oder wie die empörenden Tatbestände einer sich vertiefenden sozialen Spaltung durch die Stimmung der Alternativlosigkeit überdeckt werden. Solche Erwartungen an die soziologische Aufklärung wird dieses Buch enttäuschen.
Stimmung ist kein Opium fürs Volk. Stimmungen stellen eine Realität eigener Art dar, die als Reflex auf Lebensumstände und Systembedingungen nur unzureichend begriffen werden. Seit 2008 wissen wir, wie Stimmungen das Geschehen auf den Finanzmärkten beeinflussen; immer schon ahnten wir, dass Stimmungswechsel für politische Machtwechsel verantwortlich sind; und ganz klar ist, wie sehr unser Konsumverhalten von Stimmungen abhängig ist. Stimmungen haben nämlich insofern eine buchstäblich grundlegende Bedeutung, als sie uns ein Gefühl der Welt vermitteln. In geeigneter Stimmung bin ich zu allem in der Lage oder zu nichts. Das gilt nicht nur für das Ich, sondern ebenso für Gruppen, Kollektive und ganze Gesellschaften.
Die Soziologie der Stimmung ist daher so grundlegend wie die Stimmung selbst. Sie hat womöglich mehr als die Soziologie der Medien, die Soziologie der Finanzmärkte oder die Soziologie der Sexualität mit dem gesellschaftlichen Sein zu tun, das unser Bewusstsein bestimmt.
Den fünften Band seiner monumentalen Autobiographie mit dem Titel Träumen beginnt Karl Ove Knausgård mit den Worten:
»Die vierzehn Jahre, die ich in Bergen lebte, von 1988 bis 2002, sind längst vorbei, geblieben sind von ihnen lediglich einige Episoden, an die sich manche Menschen eventuell erinnern, ein Geistesblitz hier, ein Geistesblitz da, und natürlich alles, was mir selbst aus jener Zeit im Gedächtnis geblieben ist. Doch das ist erstaunlich wenig. Das Einzige, was von den Tausenden Tagen noch existiert, die ich in dieser kleinen, gassenreichen, regenschimmernden, westnorwegischen Stadt verbrachte, sind wenige Ereignisse und eine Vielzahl von Stimmungen.«
Sind alle Melodien der Weltverbesserung durchgespielt? Scheint das Ganze nur noch im Zweifel möglich? Ist in der Mitte von allem das Ich seiner selbst müde geworden? Wer heute das Publikum davon überzeugen will, dass alle Wahrheiten relativ sind und auf nichts mehr Verlass ist, rennt offene Türen ein. Der Applaus kommt allerdings nur zögerlich, weil viele die stille Erwartung hegen, dass es vielleicht doch noch etwas zu glauben gibt und dass trotz der Unübersichtlichkeit der entgrenzten Verhältnisse ein Anfang möglich ist.
Man täusche sich nämlich nicht: Das einigermaßen wache und informierte Publikum kennt das Geschäft der intellektuellen Entlarvung, das gute Nachrichten über Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsaufbau in schlechte Nachrichten über den Anstieg der mittleren Erderwärmung und das innere Ausbrennen der Erwerbsbevölkerung verwandelt. Die Leute verschließen nicht die Augen vor widersprüchlichen Entwicklungen unserer Gesellschaft und ihren ambivalenten Folgen für den Einzelnen. Der Triumph eines Besserwissens aber, das zu nichts führen will, ist ihnen suspekt. Wir befinden uns offenbar am Ende einer Periode von vielleicht dreißig Jahren, welche heute vielen prominenten Gegenwartsdeutungen als Endspiel zum Untergang erscheint. Es wird wieder denkbar, dass der Kapitalismus endet,1 eine Weltgesellschaft, die nicht mehr um Europa kreist, wird vorstellbar,2 und man sucht nach Bildern für ein Anthropozän,3 für das in Millionen Jahren der Erdgeschichte keine Entsprechung zu finden ist. Aber der Ausdruck von Empörung über die zugelassene Selbstzerstörung der Welt, so wie wir sie kennen, verdeckt nur die Angst davor, selbst nicht mehr weiter zu wissen.
An zwei Komplexen lässt sich die Stimmung unserer Situation festmachen. Da ist einmal der heimatlose Antikapitalismus. Auf den kann man bei Facharbeitern von VW mit Mitgliedschaftsausweis von der IG Metall4 wie bei Ingenieuren aus den F&E-Abteilungen des Anlagebaus,5 bei Leistungsindividualisten aus Ostdeutschland wie bei arrivierten Konservativen aus Westdeutschland,6 unter Einelternfamilien mit »prekärem Wohlstand« wie in Doppelverdienerhaushalten aus der Welt der »high potentials« mit mehr als zwei Kindern treffen.7 Bei uns in der Firma, in meinem Betrieb, in unserer Familie und unter uns Einheimischen ist die Welt noch in Ordnung – aber da draußen tobt der Raubtierkapitalismus, der alles in Stücke reißt und dem nichts heilig ist. Wir kommen wohl noch zurecht. Aber wie unsere Kinder sich durchschlagen werden, das steht in den Sternen.
Den Grund für den überall durchschlagenden »Imperialismus der Desorganisation« erblicken die Antikapitalisten aller Schichten und Länder in einer politisch gewollten und betriebenen Verwandlung des Kapitalismus, der sein wahres Gesicht nicht mehr verleugnet. Neoliberalismus ist der Name für einen Kult des starken Ichs, dem das soziale Miteinander, die Rücksicht auf die Schwachen und das Kollektiveigentum des Wohlfahrtsstaats geopfert wurde. Die »soziale Marktwirtschaft« wurde von den ideologischen Armeen, die Ende der 1970er Jahre mit Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Deng Xiaoping an die Macht gekommen sind, durch die »Eigentümer-Gesellschaft« ersetzt. Denn nur wenn der Mensch der Wirtschaft dient, lautete die Botschaft, kann die Wirtschaft dem Menschen dienen. Sehenden Auges haben sich neue politische Mehrheiten weltweit dieser Verkehrung der Verhältnisse verschrieben.
Die Ergebnisse sind heute zu besichtigen. Was soll gut daran sein, dass in den Vereinigten Staaten die Ungleichheit der Einkommen wieder einen Stand wie zuletzt vor hundert Jahren erreicht hat?8 Wie kann man hinnehmen, dass in einem reichen Land wie Großbritannien trotz steigender Wirtschaftskraft die materielle Not zunimmt (was man zum Beispiel daran erkennt, dass sich nach einer Untersuchung aus dem Jahre 2014 der Anteil der Haushalte, die ihre Wohnung im Winter nicht ausreichend heizen können, in den letzten drei Jahrzehnen, in denen sich die ökonomische Gesamtleistung des Landes verdoppelt hat, von 14 auf 33 Prozent gestiegen ist)?9 Wie lässt sich erklären, dass nach einer Langzeituntersuchung von Vermögen und Einkommen über die vergangenen zweihundert Jahre die Kapitalerträge der wenigen Reichen stärker wachsen als die Erwerbserträge ganzer Volkswirtschaften?10 Der Kapitalismus, dem mit dem Untergang des Sozialismus sein Gegenpart verloren gegangen ist, kennt keine Grenzen und kein Maß mehr. »Lunch is for losers« lautet die Parole für ein kapitalistisches Ich-Ideal der gnadenlosen Selbstdurchsetzung und der flächendeckenden Sozialverwüstung. Die Konventionen des guten Lebens wurden von einem Regime totaler Mobilmachung hinweggefegt. Wer schläft, droht das Neue zu verschlafen, wer wacht, muss durch Yoga seine Präsenz optimieren. Und alles nur, um aus Geld mehr Geld zu machen.
Wohin diese Manie der erweiterten und beschleunigten Selbstverwertung führt, haben wir 2008 erlebt. Wenn der Kapitalismus sich in einer Finanzindustrie erfüllt, die nur noch den Renditeforderungen einer Klasse von Geldvermögensbesitzern nachkommt, dann ist der Finanzialisierung der Welt Tür und Tor geöffnet. Sie basiert auf der Vorstellung, dass alles, was ist und uns wichtig erscheint, mit einem Marktwert ausgestattet werden kann.11 Geld regiert insofern die Welt, als es nicht mehr notwendiges Mittel für die Befriedigung unserer Bedürfnisse ist, sondern den einzigen und umfassenden Zweck darstellt, der alle Mittel heiligt. Wir sind dann nicht mehr Besitzer einer Arbeitskraft, die wir notgedrungen einem Unternehmer zum Kauf anbieten müssen, der uns für die Indifferenz, mit der wir uns dessen Anweisungen fügen, bezahlt, sondern verwandeln uns in Vermögensindividualisten, die die Verwertung ihrer Talente und Potentiale zum Zwecke der totalen Selbstverwertung selbst in die Hand nehmen. Wir hatten geglaubt, durch schlaue Kalkulationen und rationale Investitionen das Kommando über unsere Zukunft selbst übernehmen zu können, und haben dabei gar nicht gemerkt, wie wir zu Agenten eines »privatisierten Keynesianismus«12 geworden sind, bei dem wir mit unseren Schulden die Risiken für andere übernommen haben, die mit unseren Rückzahlungsversprechen wahnsinnige Wetten auf eine ungewisse Zukunft eingegangen sind.
Als der Prozess der wundersamen Geldvermehrung nicht mehr weiter ging, weil plötzlich das Gerücht aufkam, dass vielleicht eine Million Haushalte in den USA, die sich ein Haus in einer Gegend leisten wollten, in der sie ohne Bedenken ihre Kinder auf die Schulen schicken konnten, ihre Kredite nicht mehr bedienen können, mussten die ganz normalen Vermögensindividualisten mit ihren Sparguthaben und Altersrücklagen herhalten, damit die großen, als »systemrelevant« erachteten Banken ihre »faulen Papiere« wieder loswerden konnten. In der Krise von 2008 und den mit ihr verbundenen Staatsschuldenkrisen seit 2011 mussten die Bürgerinnen und Bürger als Steuerzahlerinnen und Steuerzahler am Ende für die Krisen haften, die anderen über den Kopf gewachsen waren.
An welcher Stelle auch immer man in den Gedankengang einsteigt, ob beim Raubtier-, beim Turbo-, beim Vital-, beim Kasino- oder beim Pumpkapitalismus, immer lautet die Folgerung des hilflosen Antikapitalisten, dass die Menschheit sich selbst in eine Sackgasse manövriert hat. Natürlich sind wir mit den Pensionsfonds fürs Alter und mit den Immobilienfonds fürs Angesparte selbst zu einem Teil des Systems der Selbstverwertung geworden, das augenscheinlich seine eigenen Risiken nicht mehr zu beherrschen vermag. Aber man hört von der politischen Klasse nur, dass es dazu keine Alternative gibt. Die antikapitalistische Querfront aus Ultraliberalen und Restkommunisten, aus enttäuschten Sozialdemokraten und verstummten Christdemokraten, aus antideutschen Globalisten und biodeutschen Territorialisten ist für die Demokratie und das Volk, aber gegen Banken, Medien und Parteipolitiker.
Aber wer spricht für die, die für sich selbst sprechen könnten, wenn sie denn wüssten, was sie zu sagen haben?
Der Antikapitalismus, der sich im »Sozialismus des Kapitals«13 wiedererkennt, ist mit dem organisierten Antikapitalismus, der sich aus der klaren Frontstellung zwischen Kapital und Arbeit begreift, nicht zu vergleichen. Während man aus der Erfahrung der vorherrschenden Fabriksozialisation wusste, wo die Bosse hinter den Türen und deren Watchdogs in den Büros mit den großen Fenstern sitzen, ist in der »Fabrik ohne Mauern«, wo sich die Grenzen zwischen Leben und Arbeit verwischen, der Widerspruch zwischen Lohn und Profit, zwischen dem Preis der Arbeitskraft und der Rendite des Kapitals, in die Individuen hinein verlagert. Man vertraut nicht auf die eigene Kraft im Kollektiv, sondern misstraut dem teuflischen System. Die Angehörigen der Misstrauensgesellschaft fühlen sich in einem geschlossenen System allseitiger Abhängigkeit gefangen, dessen Teile aber kein irgendwie vernünftiges Ganzes ergeben, sondern jeweils durch selbstsüchtige Willkür und bloße Zufälligkeit bewegt sind. Gegen diese ungeheure Haltlosigkeit der Welt richtet sich die universelle Empörung, die sich mal an diesem, mal an jenem Gegenstand entzündet. Es ist Ausdruck eines Unbehagens in der Welt, das sich weder zur Weltverneinung noch zur Weltbejahung entschließen kann.
Den empörten Antikapitalisten stehen die entspannten Systemfatalisten gegenüber. Die haben die Idee eines vernünftigen Ganzen mit ehrbaren Kaufleuten, sozial verantwortlichen Unternehmern und starken Volksparteien längst aufgegeben. Sie halten den verkorksten Antikapitalisten mit ihrer heillosen Fixierung an hergebrachten Verlässlichkeiten den Sinn für andere Möglichkeiten, verborgene Überschüsse und überraschende Hybridbildungen entgegen. Systeme beruhen nun mal auf der Willkür von Einzelnen und der Zufälligkeit von Effekten, weil nur so die verrückten Ideen und kühnen Projekte zustande kommen, die dem System insgesamt seine Reaktionsfähigkeit auf wechselnde Umstände und unvorhersehbare Ereignisverkettungen sichern. Der Blick zurück im Zorn verstellt nur den Blick nach vorn zum Überleben. Die entspannten Fatalisten geben sich überhaupt zivilisierter, geschmeidiger, klüger als die mit ihrer Wut kämpfenden, von ihrem Groll beherrschten und nach Anklang gierenden heimatlosen Antikapitalisten.
Die entspannten Fatalisten beobachten die Dinge lieber, als sich dauernd darüber aufzuregen, dass sie nicht so laufen, wie man sich das wünschen würde. Ihnen ist es wichtiger, das Feld zu überblicken, als die Welt zu verbessern. Dann kann man nämlich für sich selbst Optionen erkennen und sich stets für günstige Gelegenheiten bereithalten. Was als Sackgasse von Entwicklungen erscheint, ist einfach nur der Selbstbezüglichkeit von Prozessen geschuldet, die kein Ziel haben und keiner Logik folgen. Weil alles anders sein könnte, hat der Systemtheoretiker Niklas Luhmann schon Anfang der 1970er Jahre in einer Abhandlung über Risiken der Wahrheit und die Perfektion von Kritik gesagt, kann ich fast nichts ändern.
In der Einschätzung der Lage mögen sich beide Seiten womöglich sogar einig sein: Die junge Generation von heute wächst in eine Welt prekärer Berufsperspektiven, zunehmender Einkommensungleichheit, globaler politischer Instabilität und einer sich zuspitzenden ökologischen Krise hinein. Die Debatte über die Generationengerechtigkeit belegt, dass diese Tatsachen ein beherrschendes Thema zwischen den Generationen geworden sind. Die jüngeren wie die älteren Systemfatalisten ziehen es nur vor, ihre Erwartungen in einer Haltung der Gleichmütigkeit zu reduzieren, statt sich im inneren oder äußeren Aufbegehren dagegen zu verschleißen.
Was den Kapitalismus betrifft, wollen sie schon aus Gründen der Lebensdienlichkeit nicht so schwarzsehen. Es kommt doch auf die Perspektive an. 1989 bedeutet schließlich in doppelter Hinsicht eine Zäsur:14 Der Fall der Mauer markiert insofern eine historische Trendumkehr in der Entwicklung der weltweiten Ungleichheit, als sich nach der Erledigung sozialistischer oder gar kommunistischer Alternativen durch das Wirtschaftswachstum in den Schwellenländern die zweihundertjährige Abstandsnahme zwischen den Industrieländern des globalen Nordens und den Entwicklungsländern des globalen Südens umgekehrt hat. In dem Maße, wie es in China, Indien, Brasilien, Vietnam oder Südafrika gelungen ist, Technologien, Organisationsmodelle und Finanzierungspraktiken der kapitalistischen Kernländer zu inkorporieren und weiterzuentwickeln, konnten sie durch enorme Wachstumssprünge den Abstand der zwischenstaatlichen Lebensstandards erheblich reduzieren. Dieses Wirtschaftswachstum hat den Anteil der Armen an der Weltbevölkerung kontinuierlich reduziert. In Anbetracht des Bevölkerungswachstums insgesamt ist allerdings nicht ausgemacht, ob dieser proportionale Rückgang der weltweiten Armutsbevölkerung ausgereicht hat, um ihren Anstieg in absoluten Zahlen aufzuhalten. Zumindest steht fest, dass zum ersten Mal seit Beginn der industriellen Revolution der wirtschaftliche Fortschritt das Bevölkerungswachstum übertrifft.
Gleichzeitig haben sich allerdings sowohl in diesen aufholenden Ökonomien des Südens als auch in den aufgeholten Ökonomien des Nordens die innergesellschaftlichen Ungleichheiten des Lebensstandards erheblich vergrößert. Die soziale Kluft zwischen den Großverdienern, den Mittelverdienern und den Kleinverdienern innerhalb eines Landes ist überall tiefer und unüberwindbarer geworden. Es ist also, so stellt es der Systemfatalist mit mokantem Lächeln fest, auf der Welt alles besser und schlechter zugleich geworden. Dabei lässt er offen, ob er für eine Haltung der Weltflucht oder der Weltbezogenheit plädiert.