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Solidarität war einmal ein starkes Wort. Es geriet in Verruf, als jeder für sein Glück und seine Not selbst verantwortlich gemacht wurde. Heute ist die Gesellschaft tiefer denn je zwischen Arm und Reich gespalten. Natürlich gibt es ein Sozialsystem, das einen Ausgleich bewirkt. Dazu brauchen wir aber ein neues Verständnis von Solidarität. Wir sollten uns nicht damit begnügen, materielle Not zu lindern, sondern im anderen uns selbst als Mensch wiedererkennen. Erst durch diese freie Entscheidung zur Mitmenschlichkeit findet eine Gesellschaft wieder zusammen. Heinz Budes Reflexionen über die solidarische Existenz liefern die Antworten auf die soziale Frage unserer Zeit.
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Seitenzahl: 197
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Solidarität war einmal ein starkes Wort. Es geriet in Verruf, als jeder für sein Glück und seine Not selbst verantwortlich gemacht wurde. Heute ist die Gesellschaft tiefer denn je zwischen Arm und Reich gespalten. Natürlich gibt es ein Sozialsystem, das einen Ausgleich bewirkt. Dazu brauchen wir aber ein neues Verständnis von Solidarität. Wir sollten uns nicht damit begnügen, materielle Not zu lindern, sondern im anderen uns selbst als Mensch wiedererkennen. Erst durch diese freie Entscheidung zur Mitmenschlichkeit findet eine Gesellschaft wieder zusammen. Heinz Budes Reflexionen über die solidarische Existenz liefern die Antworten auf die soziale Frage unserer Zeit.
Heinz Bude
Solidarität
Die Zukunft einer großen Idee
Carl Hanser Verlag
Vorwort
Die Unschuld des Trittbrettfahrers
Eine beängstigend große Idee
Das rätselhafte soziale Band
Die Apparate des Sozialen und die Sehnsucht nach Solidarität
Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!
Die Quelle des Krieges
Der Ursprung der Anteilnahme
Die dunklen Seiten des Mitgefühls
Achtsamkeit und Zuneigung
Rinder, Blätter und die Erde
Das Andere der Gerechtigkeit
Solidarität in einer Welt der Ungleichheit
Anmerkungen
Danksagung
Empfänglich für
die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt
Albert Camus
Manchmal muss man Begriffe in Frage stellen, um weiter etwas mit ihnen anfangen zu können. Das ist offenbar beim Begriff der Solidarität der Fall. Einerseits wird der Verlust von Solidarität in unserer Gesellschaft beklagt. Im Grunde denke doch jeder nur an sich. Es werde zwar viel von Empathie geredet, aber wenn es hart auf hart komme, fahren gerade die Mitfühlenden und Verständnisvollen die Ellbogen aus. Tatsächlich kann man sich den milde lächelnden Zen-Buddhisten auch als knallharten Investmentbanker vorstellen. Wer will schon wahrhaben, dass die Epoche des globalen Kapitalismus von neuen Formen der Sklaverei gekennzeichnet ist: Die Menschen in den müden Kolonnen der Gebäudereinigung, die bei lebenslanger Vollzeitbeschäftigung mit einem Hungerlohn abgefertigt werden; die Millionen illegal Beschäftigter, die in verborgenen Sweatshops totaler Überwachung unterliegen; und das Heer der Hausangestellten, die morgens die Hunde ausführen, mittags das Essen für die Schulkinder zubereiten und abends in der Sprache ihrer Heimat unendlich traurige Gute-Nacht-Lieder summen. Wer hört zu? Wen kümmert’s? Wie wird das enden?
Es fehlt andererseits freilich eine Sprache der Solidarität für dieses Elend im Reichtum. Diejenigen, die zur Solidarität der Völker oder gar des Volkes aufrufen, machen sich verdächtig, denn sie meinen zu oft das eigene Volk, das sich gegen die Fremden, die Zuwanderer und die Flüchtlinge abschließen soll. Die glühenden Verfechter der Solidarität kommen heute zumeist nicht mehr von links, sondern von rechts. Sie meinen eine exklusive Solidarität, die mit Mauern geschützt und durch Kultur behauptet wird. Solidarität zuerst für uns und unter uns, dann für die und jene da draußen. Ist das, was rettet, zugleich die Gefahr?
Auf dem schwierigen und gefährlichen Weg durch die Tücken des verführerischen Begriffs der Solidarität soll hier Albert Camus der Führer und Gefährte sein. »Alles beginnt mit einer scharfsichtigen Gleichgültigkeit«, heißt es in seinem Mythos von Sisyphos1. Nur so könne man in einer Welt der wissenschaftlich belegten Evidenzen und der geschichtsphilosophisch bezeugten Ideologien der Wahrheit der menschlichen Existenz auf die Spur kommen. Wenn man sich fragt, was das Leben ausmacht und ob es sich überhaupt lohnt zu leben, kann man weder bei den wissenschaftlichen Erkenntnissen noch bei den politischen Ideologien Zuflucht finden. Man muss bei den Dingen des Lebens schon klar sehen wollen. Wobei der Mut zum Sein offenbar immer wichtiger als die Letztbegründung durch ein moralisches Urteil oder eine philosophische Reflexion ist.
Eines Tages steht die Frage nach dem Warum im Raum und lässt sich nicht verscheuchen. Was soll’s? »Mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an. ›Fängt an‹ — das ist wichtig. Der Überdruss ist das Ende eines mechanischen Lebens, gleichzeitig aber auch der Anfang einer Bewusstseinsregung.«2
Schulterzuckendes Phlegma ist der Sache genauso wenig angemessen wie falsche Aufgeregtheit. Für Camus führt nur eine Haltung aktiver Indifferenz weiter. Nichts ist festgelegt. Aber alles steht in Frage. Diese Gleichgültigkeit stumpft nicht ab, sie erst erlaubt es vielmehr, sich den Phänomenen so zu stellen, wie sie einen treffen.
Die hier vorgelegten Meditationen über die Zukunft der großen Idee der Solidarität sollen in »scharfsichtiger Gleichgültigkeit« die trüben Versprechen über ihre Macht wie die zynischen Ausflüchte vor ihren Forderungen offenlegen. In gewisser Weise leben wir wie seinerzeit Camus, als er den Sisyphos schrieb, in einer Zeit der enttäuschten Ideologien und der überschätzten Wissenschaft. Die avancierten Human- und die ernüchterten Geschichtswissenschaften lassen keinen Zweifel daran, dass weder die Tatbestände des persönlichen Lebens noch die Ereignisse der Weltgeschichte aus einer bestimmten Anzahl von Gesetzen hergeleitet werden können, die irgendwie die Grundstruktur des Universums ausmachen würden. Vielmehr geben die Gesetze des menschlichen Geistes, der sozialen Existenz, des biologischen Lebens und der physikalischen Gegebenheiten dem jeweiligen Gegenstand einen nur angenäherten Ausdruck und lassen das meiste offen und verschlossen zurück. Wie sollte das bei der Solidarität anders sein? Die folgenden Überlegungen sollen deshalb vor Augen führen, dass es keinen moralischen Zwang zur Solidarität gibt, obwohl sich Solidarität für das Zusammenleben als förderlich erweisen kann, aber auch dass es keinen in der menschlichen Natur angelegten Hang zur Solidarität gibt, obwohl der Mensch über einzigartige Fähigkeiten zur Empathie und zur Rollenübernahme verfügt. Solidarität ist eine Möglichkeit jedes Einzelnen. Man kann sie verwerfen, sie nutzen oder politisch oder wirtschaftlich ausschlachten. Man kann sich ihr aber auch verpflichten, weil man dadurch sein eigenes Leben reicher und lebendiger macht.
Der Gegentyp zum solidarischen Menschen ist der Trittbrettfahrer. Trittbrettfahrer nehmen für sich ohne Bedenken die Vorteile und Vergünstigungen in Anspruch, die andere für ihn und für Menschen in ihrer oder seiner Lage erstritten haben. Sie denken keinen Moment daran, dass sich daraus für sie solidarische Verpflichtungen gegenüber der Gruppe ergeben, deren Repräsentanten in Tarifverhandlungen, in politischen Auseinandersetzungen oder in der Arena der Öffentlichkeit höhere Löhne, längere Ferien, breitere Fahrradwege oder das Recht auf eine bezahlte Elternzeit erstritten haben.
Im Gegenteil: Man brandmarkt gewerkschaftliches Funktionärswesen, die Selbstbedienungsmentalität der politischen Klasse und die moralische Überheblichkeit von stehen gebliebenen Ökoaktivisten. Trittbrettfahrer verurteilen gern, wovon sie selbst profitieren, weil sie den anderen genau jenes Verhalten unterstellen, das sie selbst an den Tag legen. Augenscheinlich dient dieser Selbstwiderspruch nur einem einzigen Ziel: der Abwehr von Teilnahme, Verpflichtung und Rechtfertigung. Man schaut zu, beschwert sich und nimmt mit, was mitzunehmen ist.
Aber verhält sich der Trittbrettfahrer nicht völlig normal und rational? Mancur Olson hat in einer klassischen Analyse der prinzipiellen Widersinnigkeit von kollektivem Handeln3den solidarischen Menschen, der an den sozialen Zusammenhalt, an die Wirksamkeit und Anziehungskraft der Gemeinschaft und an die Macht des großen Zusammenschlusses glaubt, für eine Schimäre wirklichkeitsfremder Sozialphilosophen erklärt. Er führt seinen Beweis am Beispiel der Steuern: Trotz der Anziehungskraft geschlossener Ideologien, trotz des Bandes einer geteilten Kultur und trotz des Glaubens an Recht und Ordnung war in der europäischen Neuzeit kein bedeutender Staat in der Lage, seine Aufgaben mit freiwilligen Beiträgen und Abgaben zu finanzieren. Man kann sich auch keine moderne Demokratie vorstellen, in der sich die Staatsbürger als Steuerzahler selbst bestimmen und aus Verantwortung für das Gemeinwesen einen Teil ihres Einkommens abzweigen. Steuern sind Zwangszahlungen, die festgelegt und nicht ausgehandelt oder erbeten werden. Im Steuerstaat können die einzelnen Steuerzahler noch nicht einmal darüber befinden, was mit ihren Steuern geschieht. Zwar wird immer wieder der liberale Gebührenstaat als Alternative zum autoritativen Steuerstaat ins Gespräch gebracht, aber schon wenn man nur einen Augenblick überlegt, wie eine Gebührenordnung, die die unterschiedlichen Einkommen berücksichtigen müsste, aussehen könnte, wird man schnell von diesem Gedanken Abstand nehmen. Niemand wird ernsthaft die Notwendigkeit von steuerlichen Zwangsabgaben zur Aufrechterhaltung eines Gemeinwesens in Frage stellen, auf die Einsicht der einzelnen in eine solidarische Kostenverteilung wird man sich dabei jedoch nicht verlassen wollen. Wir sind alle ohne schlechtes Gewissen Empfänger staatlicher Leistungen, weil wir als Steuerzahler ihre Bereitstellung zwangsweise finanzieren. Der eine trägt weniger, die andere mehr dazu bei, aber im Prinzip wird niemand vom Steuerzwang befreit.
Die Sache sieht etwas anders aus, wenn man an die gesetzlichen Krankenkassen, an die zwischen den Tarifparteien ausgehandelten Manteltarifverträge oder an »nicht-wirtschaftliche« Lobbygruppen wie politische Parteien denkt. Inwieweit sind starke Beitragszahler zu einer Gesundheitskasse, wie sich Krankenkassen heute gern nennen, die sich ein persönliches Bewegungsprogramm auferlegen, auf den unmäßigen Verzehr von Weißmehl, Fett und Zucker verzichten und die angebotenen Vorsorgeuntersuchungen selbstverantwortlich wahrnehmen, bereit, die erheblichen Kosten von Mitgliedern mitzufinanzieren, die das alles nicht machen? Die keinen Weg zu Fuß gehen, die sich vor allem von Junkfood ernähren und denen Vorsorgeuntersuchungen lästig sind. Die einen halten durch ihr persönliches Sorgeverhalten die Kosten des Systems in Grenzen, die anderen scheren sich nicht um Prävention und hören auch nach der dritten, relativ kostspieligen Bypass-Operation mit dem Rauchen nicht auf. Das Verständnis der kostenbewussten für die kostenphlegmatischen Beitragszahler wird nicht grenzenlos sein. Verhalten sich die einen als solidarische Mitglieder der Versicherungsgemeinschaft, und sind die anderen bedenkenlose Trittbrettfahrer?
Das gleiche Problem stellt sich für Gewerkschaften, die schließlich nicht nur für ihre Mitglieder mehr Geld, längeren Urlaub und kürzere Arbeitszeiten erkämpfen. Oder für politische Parteien, die für mehr Mieterrechte, für einen Mindestlohn oder für eine Stärkung der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr eintreten. Ihr Erfolg kommt am Ende auch denjenigen zugute, die die Partei nicht gewählt oder die sich an der Wahl gar nicht beteiligt haben.
Mancur Olson sieht das Problem in den sogenannten Kollektivgütern. Damit meint er Leistungen oder Vorteile, die gleichmäßig und allgemein verteilt werden und auch Personen, die an ihrem Zustandekommen nicht beteiligt waren, praktisch nicht vorenthalten werden können4. Mit anderen Worten: Selbst diejenigen, die sich weder für die Erhaltung dieser öffentlichen oder kollektiven Güter engagieren noch etwas dafür bezahlen, kommen in deren Genuss. Altruismus findet man vielleicht bei jenen kleinen Gruppen, die sich mit den Verdammten solidarisieren oder das Reich der Gnade durch das der Gerechtigkeit ersetzen wollen. Aber wenn die Verlorenen in einem sozialen Rechtsstaat Gerechtigkeit verlangen können und nicht mehr auf Gnade hoffen müssen, dann dauert es nicht lange, und man weiß gar nicht mehr, was es bedeutet, dass alle ein Recht haben, mit am Tisch zu sitzen, und niemand vor der Tür stehen bleiben muss. Die Kollektivgüter werden als Selbstverständlichkeit empfunden und mit der Zeit verliert sich das Gefühl, dass sich jeder für ihren Erhalt und ihr Wachstum engagieren muss. Gewerkschaften bieten ihren Mitgliedern eine Tagegeldversicherung für den Fall eines Krankenhausaufenthalts an, Parteien werben unverhohlen mit der Verteilung von Pfründen nach dem Wahlsieg. Jedenfalls braucht es offenbar ein Angebot sekundärer Vorteile für den Einzelnen, damit eine wechselseitig verpflichtende Kultur kollektiver Güter aus der fühl- und sichtbaren Addierung individueller Vorteile entstehen kann.
Olson glaubt deshalb, die folgenreiche Unterscheidung zwischen einem kollektiven Gut und einem individuellen Vorteil treffen zu müssen. Obwohl alle Bürgerinnen und Bürger ein gemeinsames Interesse daran haben, einen kollektiven Gewinn durch eine solidarisch finanzierte Krankenversicherung oder ein allgemeines Recht auf bezahlbaren Wohnraum zu erlangen, haben sie doch kein gemeinsames Interesse daran, die Kosten für die Beschaffung und die Pflege dieses Kollektivgutes zu tragen. Sie verhalten sich wie Trittbrettfahrer bei der Wahrnehmung von Vorteilen, die allen zugutekommen, ohne selbst dafür etwas hergeben oder aufwenden zu wollen.
Die politische Pointe von Olsons Gedanke wird sofort klar, wenn man über das Entstehen von klassenbewusstem Handeln im Sinne einer marxistischen Gesellschaftstheorie nachdenkt5. Marx zufolge lassen sich in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung aufgrund der Eigentums- und Besitzverhältnisse im Prinzip zwei große Klassen mit bestimmten Klasseninteressen unterscheiden: die Kapitalisten als die »objektiven« Ausbeuter, die Arbeitskraft zur Verwertung ihres Kapitals kaufen, und die Proletarier als die »objektiv« Ausgebeuteten, die nichts als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben. Wenn die einzelnen Angehörigen dieser beiden Klassen im Sinne ihrer Klasseninteressen rational handeln, werden sie nach Olsons Auffassung bestimmt kein klassenorientiertes Handeln ausbilden. Ein Angehöriger der Bourgeoisie wird sich eine Regierung wünschen, die die Interessen seiner Klasse befördert. Aber daraus folgt nicht automatisch, dass er sich auch dafür einsetzt, dass eine solche Regierung an die Macht kommt. Nach der Unterstellung von Marx kann sich im Kapitalismus sowieso keine Regierung halten, die nicht die Marktkonformität ihres Regierungshandelns an die erste Stelle setzt. Außerdem wird ein einzelner Kapitalist ohnehin nicht so viel Einfluss auf den Wahlausgang ausüben können. Daher wäre es für einen Angehörigen der Bourgeoisie durchaus folgerichtig, seine Klasseninteressen nach hinten zu stellen und sich in erster Linie auf seine eigenen und die Interessen seines Betriebs zu konzentrieren.
Das gilt freilich auch für die Arbeiterinnen und Arbeiter, die von einer sozialdemokratischen oder sozialistischen Regierung eine Unterstützung ihrer Position erwarten. Warum sollten sie die Vorteile, die sie in einem kapitalistischen Betrieb durch schrittweisen Statusgewinn erworben haben, für eine Regierung der Linken aufs Spiel setzen, wenn der mögliche Verlust für die einzelne Person größer sein könnte als der in Aussicht gestellte Gewinn für ihre Klasse? Das würde erklären, warum Revolutionen gerade nicht in Gesellschaften mit starken Gewerkschaften und gegengesellschaftlich und gegenkulturell organisierten Arbeiterparteien stattgefunden haben, sondern in der Regel von einer entschlossenen, opferbereiten und disziplinierten Minderheit ins Werk gesetzt worden sind, die die Schwäche der Regierungen in Zeiten der sozialen Zerrüttung ausgenutzt haben.
Im Zweifelsfall sind wir also alle Trittbrettfahrer, die nicht unbedingt dazu neigen, die Kollisionen zwischen der einzelnen Arbeitnehmerin und der einzelnen Unternehmerin als Kollisionen zweier Klassen mit ihren jeweiligen Klasseninteressen zu verstehen. Das Kollektive ist kein Erfahrungsgegenstand, sondern eine Hintergrundstruktur. Wir schätzen es nicht aus vollem Herzen, sondern fragen uns, was es uns bringt, sich dafür einzusetzen. Olson ernüchtert unsere soziale Existenz so sehr, dass von uns nur noch, um Friedrich Engels zu zitieren, das »einzelne, lumpige Individuum«6 übrig bleibt.
Für die Rolle des Trittbrettfahrers entscheidet man sich nicht bewusst, man wächst vielmehr durch viele kleine Vorteilsnahmen in sie hinein. Trittbrettfahrerverhalten ist ziemlich normal und verlangt an keiner Stelle den Entschluss, sich über alle gutmenschliche Moral hinwegzusetzen. Es ist einfach nur die Angst, sich nicht für dumm verkaufen lassen zu wollen, die einen zum Trittbrettfahrer werden lässt, der nie auf den Gedanken kommt, dass Solidarität manchmal wichtiger ist als Selbstbewahrung.
Verhalte ich mich tatsächlich solidarisch, wenn ich in meinem Handwerksbetrieb mit vier Beschäftigten einen unbegleiteten Flüchtling aus Syrien als Auszubildenden einstelle? Und ziehen sich große Firmen mit Weltmarktführerambitionen unsolidarisch aus der Affäre, wenn sie vom Staat verlangen, der müsse zuerst für die Ausbildungsfähigkeit von jungen geflüchteten Menschen sorgen, bevor denen ein Ausbildungsvertrag angeboten werden könne? Bin ich unsolidarisch, wenn ich an einer Bettlerin achtlos vorübergehe, und bin ich solidarisch, wenn ich für »Brot für die Welt« spende? Denke ich solidarisch, wenn ich als finanziell beträchtlich belasteter junger Berufstätiger akzeptiere, dass ich für die Versorgung der älteren Generation mehr Geld in die Rentenkasse einzahlen muss als ich später, wenn ich selbst auf Rentenzahlungen angewiesen bin, erwarten kann, und erweise ich mich als unsolidarisch, wenn ich dann eine gewisse Renditegerechtigkeit für jede Generation fordere? Und bin ich solidarisch auf Kosten anderer, wenn ich für ein bedingungsloses Grundeinkommen eintrete, und solidarisch mit der arbeitenden Bevölkerung, wenn ich die bedingungslose Vergabe von leistungslosem Einkommen im Einklang mit der entsprechenden empirischen Forschung übers Gerechtigkeitsempfinden7 für eine Ungerechtigkeit halte?
Die Beispiele zeigen, dass Solidarität nicht mit Barmherzigkeit gleichgesetzt werden kann, obwohl schwer vorstellbar ist, dass Solidarität ohne Mitgefühl möglich ist. Sie werfen aber auch die Frage auf, was ein wohlfahrtsstaatlich organisiertes Solidarsystem mit bürgergesellschaftlicher Geschwisterlichkeit zu tun hat. Und sie führen vor Augen, dass Solidarität nicht einfach nur als Sammelbezeichnung für menschliche Freundlichkeit, allgemeines Wohlwollen und sozialstaatliche Folgebereitschaft verwendet werden kann. Solidarität berührt mein Verständnis von Zugehörigkeit und Verbundenheit, meine Bereitschaft, mich den Nöten und dem Leiden meiner Mitmenschen zu stellen, und mein Gefühl der Verantwortung und Bekümmerung für das Ganze. Auf Solidarität pfeift, wer nur an sich glaubt, Solidarität entbehrt, wer die anderen ihrem Schicksal überlässt, und Solidarität ist ein Fremdwort für Menschen, denen der Zustand des Gemeinwesens gleichgültig ist.
Begriffe haben dem Begriffshistoriker Reinhard Koselleck zufolge8 ein Janusgesicht. Sie sind insofern rückwärtsgewandt, als sie sich auf frühere Gegebenheiten und Erfahrungen beziehen, die uns heute womöglich nicht mehr verständlich sind; sie sind aber gleichzeitig nach vorwärts gerichtet, wenn sie Bedeutungsakzente aus sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen und kollektiven Praktiken aufnehmen und ausdeuten. Man könnte meinen, dass dies für den Begriff der Solidarität ganz besonders gilt: Er kommt vielen wie eine überkommene und ausgeleierte Begriffsschablone vor, die höchstens sentimentale Bedürfnisse nach einer guten alten Zeit befriedigt, aber er wird trotzdem immer wieder in Anschlag gebracht, wenn es um den Ausdruck des Überdrusses mit dem Menschenbild des rationalen Egoisten oder gar um eine Abrechnung mit dieser merkwürdigen Periode des Neoliberalismus der letzten dreißig bis vierzig Jahre geht.
Öffnet man die Schachtel dieses Begriffs, purzeln einem ganz verschiedene Worte und Sentenzen aus ganz unterschiedlichen Zeiten entgegen. Da findet man den Freundschaftsbegriff von Aristoteles aus dessen Nikomachischer Ethik mit dem Satz: »Und wo Freunde sind, da bedarf es keiner Gerechtigkeit.«9 Wenn man dem Freunde um seiner selbst willen das Gute wünscht, braucht es in der Tat keine Begründung dafür, was ihm zusteht und was man von ihm verlangen kann. Es ist meine Erfahrung mit dieser einen Freundin, die mir sagt, worüber ich jetzt mit ihr reden und worüber ich besser schweigen sollte. Ich glaube zu spüren, was ihr im Augenblick ihres Selbstzweifels und ihrer Niedergeschlagenheit hilft und was ihr schadet. Ich verhalte mich nicht gerecht gegenüber meiner Freundin, ich stehe ihr vielmehr, ohne lange darüber nachzudenken, in Freundschaft bei.
Dann stößt man auf das »Gleichnis vom Gericht des Menschensohns über die Völker« aus Matthäus 25,40. Die Gerechten fragen den Menschensohn, der für die Völker der Erde gelebt hat und gestorben ist, Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich als Fremden gesehen und dich in unser Haus aufgenommen oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf antwortet der Menschensohn, der als Jesus ganz Mensch geworden ist und als Christus von den Toten wieder auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist: »Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan.«10
Schon an dieser Stelle erhebt sich die Frage, was für eine Verbindung zwischen der Philia des Aristoteles und der christlichen Brüderlichkeitsethik im Blick auf einen für uns heute angemessenen Solidaritätsbegriff besteht. Das Gemeinsame ist offenbar die Singularität des Angesprochen- und Verpflichtetseins. Diese eine Freundin in ihrer ganz bestimmten Situation und dieser Fremde in abgerissener Kleidung und mit fremdem Aussehen, der mir als der geringste Mensch erscheint, fordern mich heraus und verlangen, dass ich mich ihnen zuwende und ihnen zu Hilfe komme. Jedenfalls dann, wenn ich mich als jemand verstehen will, der Freunde hat und Freundschaften pflegt sowie an die Gotteskindschaft aller Menschen glaubt.
Sofort stellen sich weitere Einwände und Bedenken ein. Es kann doch nicht allein um die Solidarität unter Freunden gehen, die in der griechischen Sklavenhaltergesellschaft die herrschende Schicht der Freien und Gleichen bildeten. In deren »Politik der Freundschaft«11 existierten weder die Frauen, die das Haus bestellten und die Kinder bekamen, noch die Werktätigen, die sich um die Notwendigkeiten des alltäglichen Lebens kümmerten und weder Rechte hatten noch Zeugnisse hinterlassen haben. Eine derart vergiftete Idylle kann doch nur einen oberflächlichen Solidaritätsbegriff hervorbringen.
Und schleppt der Solidaritätsbegriff christlichen Ursprungs nicht bis in unsere Tage die Unterscheidung zwischen denen, die an den einen Gott glauben, und jenen, die den Monotheismus für eine gefährliche kulturelle Erfindung halten, die unausweichlich zu Religionskriegen führen muss, mit sich? Man denke nur an die genealogischen Streitereien zwischen dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, die sich um die Frage drehen, ob der Messias in den Reihen des von Gott auserwähltem Volkes noch kommt, um die Welt zu erretten und die Menschen zu erlösen, ob er in Jesus Christus schon unter uns war und in seiner von Petrus gegründeten und von Maria beschützten Kirche fortlebt oder aber ob Gott im Unfrieden mit seinen Geschöpfen den Propheten Mohammed gesandt hat, um die Lehre vom richtigen Leben zu erneuern. Die drei monotheistischen oder besser: abrahamitischen, auf den gemeinsamen Stammvater Abraham zurückgehenden Religionen werden sich wegen der Konflikte darüber, wem die Definitionshoheit zukommt, kaum auf eine jüdisch-christlich-muslimische Brüderlichkeitsethik einigen können, auch wenn sie sich im Blick auf eine Haltung der anteilnehmenden Zuwendung und aufrichtenden Zuneigung einig sind. Unentwegt überlappen sich, kaum wahrnehmbar, die Bilder des erbarmungswürdigen Bruders und des gläubigen oder ungläubigen Feindes. Und was ist schließlich mit jenen, die mit einem Gott, der ein göttliches Gesetz aufstellt und durch die Menschen in der Welt wirkt, nichts anzufangen wissen, weil sie die heiligen Geschichten der Juden, Christen und Moslems allesamt für einen falschen Trost halten? Für sie muss es doch eine andere Geschichte über den Ursprung des Begriffs der Solidarität geben.
Zum Glück gibt es für die religiös Unmusikalischen im Römischen Recht, das zwischen der Mitte des 5. Jahrhunderts vor Christus und dem 3. nach Christus als ein allgemeingültiges Regelwerk entwickelt worden ist, den in Stein gemeißelten Grundsatz »in solidum«: »Alle für einen und einer für alle.« Entweder als »Solidarobligation« im Sinne einer unbegrenzten Haftung jedes Schuldners für eine Gesamtschuld, woraus sich Forderungen ergeben, die bei jedem Einzelnen geltend gemacht werden können, oder als »Solidargemeinschaft«, in der Lasten und Schäden eines jeden Teilhabers in gleichem Maße, aber von jedem gemäß seiner unterschiedlichen Leistungsfähigkeit getragen werden. Dadurch erfüllt sich der Sinn des Wortstamms »solidus«, was so viel wie fest, dicht, gediegen und ganz heißt. Diese Bedeutung von Solidarität, die Solidität mit sich bringt, ist abgeleitet von der Rechtsidee einer Schuld oder Verpflichtung fürs Ganze.
Dafür braucht es zwar keinen Gott, aber die Vorstellung einer Gesamtverantwortung, die die Einzelverantwortung nicht voraussetzt, sondern allererst hervorbringt.12 Diese rechtliche Verwendungsweise des Begriffs der Solidarität ist insofern bemerkenswert, als sie weder einen großen Anderen, der eine Schuld auferlegt, noch eine Einheit am Ursprung, die in Anteile aufgeteilt wird, voraussetzt, sondern lediglich die Pflicht, die Lasten für das gemeinsam Bewerkstelligte und die Gewinne für das gemeinsam Hervorgebrachte auf die Schulter aller Beteiligten zu legen und niemanden davon auszunehmen. Solidarität ist hier nicht das Ergebnis einer Abmachung, sondern ergibt sich aus der Akzeptanz einer Schuld.
Woher diese Schuld kommt und warum ich sie zu ertragen habe, bleibt im römischen Rechtsverständnis freilich offen. Ich muss sie übernehmen, wenn ich gemeinsam mit anderen etwas zustande bringen will, was nicht von vornherein festgelegt werden kann und für das keine Kriterien seiner Erfüllung formuliert werden können. Entweder ich beteilige mich und ermögliche dadurch ein Zusammenspiel, bei dem niemand die Regie führt, oder ich versuche allein für die beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen meines Tuns in der Welt geradezustehen.
Die Formel, mit der die neuere Geschichte des Begriffs der Solidarität beginnt, ist die der Französischen Revolution von 1789: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«. Hier ist aber nicht Gott, sondern ein Mord der Bezugspunkt einer politischen Brüderlichkeitsethik. Die Multitude von Paris verwandelte sich durch die Enthauptung von Ludwig XVI. und seiner jungen Frau Marie Antoinette zu einem Volk im Kampf um Freiheit und Gleichheit. Der politische Körper des Königs von Frankreich wurde durch den des französischen Volkes ersetzt. Danach war der dritte Begriff neben den beiden Rechtsbegriffen der Freiheit und der Gleichheit nicht die Gerechtigkeit oder die Vernunft oder die Einheit (die selbst noch unter der Herrschaft der Jakobiner als Varianten für das Dritte der Republik gehandelt wurden), sondern die Brüderlichkeit. Die Brüder hatten den Vater der großen französischen Familie ermordet und hatten sich im Namen von Freiheit und Gleichheit an seine Stelle gesetzt. In der politisch sich selbst erwählenden Nation, in der Napoleon später sich selbst die Kaiserkrone aufsetzen sollte, rissen die Brüder die Macht des Vaters an sich und fassten im Gefühl der brüderlichen Macht den Mut, sich selbst zu regieren.