Das Gefühl von Sommerblau - Hannah Tunnicliffe - E-Book

Das Gefühl von Sommerblau E-Book

Hannah Tunnicliffe

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Beschreibung

Max wird vierzig und lädt seine Freunde in sein Haus in der Bretagne ein. Mit ihnen möchte er ein Wochenende lang tanzen, trinken und lachen. Und er will ihnen sein Geheimnis verraten … Juliette hat für ihre pflegebedürftigen Eltern ihr gefeiertes Restaurant in Paris aufgegeben. Ihre große Leidenschaft ist das Kochen und Backen. Zurück in der bretonischen Heimat braucht sie einen Neuanfang – und Max eine Köchin für seinen Geburtstag. Sie ahnen beide nicht, was das Schicksal an diesem Wochenende für sie bereithält.

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Seitenzahl: 411

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Das Buch

Juliette hat sich ihren Traum erfüllt und führt das bekannte Pariser Restaurant Delfine. Doch als ihre Beziehung zerbricht und ihre Mutter schwer erkrankt, lässt sie ihr Leben in der französischen Hauptstadt zurück und macht sich auf den Weg in ihre Heimat, die Bretagne. Aber was wäre Juliette ohne das Kochen und Backen? Das Jobangebot von Max, einem ehemaligen Rockstar, kommt ihr daher gerade recht. Er hat seinen Landsitz in Julietts Heimatort und braucht eine Privatköchin. Juliette hofft, dass die Ruhe und Abgeschiedenheit auf Max’ traumhaftem Anwesen ihr helfen werden, in dieser schwierigen Zeit ihr Herz zu heilen. Doch dann kommen Max’ Studienfreunde zu seinem vierzigsten Geburtstag, und die verträumte Juliette wird aus ihrer ordentlichen Küche heraus- und mitten in ein chaotisches Beziehungsgeflecht hineingezogen. Die Clique hat sich seit Jahren nicht mehr gesehen, und ein bewegtes Wochenende steht ihr bevor – voller emotionaler Verwirrungen, Überraschungen und lang versteckter Gefühle. Und auch Juliette findet weit mehr, als sie je zu hoffen gewagt hätte …

»Sinnlich.« Australian Women’s Weekly

»Unwiderstehlich.« Sun Herald

Die Autorin

Hannah Tunnicliffe wurde in Neuseeland geboren. Sie studierte Sozialwissenschaften und lebte danach in Australien, England, Macao und Kanada. Sie arbeitete einige Zeit in der Personalwirtschaft und als Karriere-Coach und wandte sich dann ihrem Traum, dem Schreiben, zu. Mit ihren Mann und ihren zwei Töchtern lebt sie heute in Sydney, Australien. Nach Der Duft von Tee und Der Geschmack von Salz und Honig ist Das Gefühl von Sommerblau ihr dritter Roman im Diana Verlag.

HANNAH

TUNNICLIFFE

ROMAN

Aus dem Englischen von Hanne Hammer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 05/2018

Copyright © 2016 by Hannah Tunnicliffe

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel A French Wedding bei Pan Macmillan Australia Pty Ltd., Sydney

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Heiko Arntz

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock/Fantom666

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-21096-0V002

www.diana-verlag.de

Für meine Eltern, Rob und Glen Tunnicliffe,

für all ihre Liebe

»Gwell eo karantez leizh an dorn

ewid madoù leizh ar forn.«

Eine Handvoll Liebe ist besser

als ein Ofen voller Brot.

(BRETONISCHES SPRICHWORT)

Prolog

Die Frühlingssonne dringt endlich durch die Wolken und wirft ihr blasses weißes Licht auf die kleine Menschenmenge. Einige blicken von ihren Unterhaltungen auf. Eine Möwe segelt im Aufwind nahe dem Wasser wie eine Origami-Figur, die jemand in den Himmel geworfen hat. Mühelos schwebt sie in der Luft, sinkt tiefer, begutachtet die Szene am Boden. Menschen in zartfarbenen Kleidern, in gebügelten Hemden und Hosen. Sie halten Gläser in den Händen, und das willkommene Sonnenlicht lässt ihre Drinks golden und bernsteinfarben erstrahlen. Eine ernst blickende Frau in einem rosa Kleid bietet Canapés auf einem Silbertablett an. Die Gäste bewegen sich langsam zu den in Reihen aufgestellten Plätzen, nur widerwillig unterbrechen sie ihre Unterhaltungen. Sie beugen sich vor, um Wangen zu küssen und Hände zu ergreifen, freuen sich, einander zu sehen, freuen sich, zu diesem Anlass hier zu sein. Ganz vorne sieht ein junger Mann mit einer Geige zu der jungen Frau hin, die am Ende des Gangs wartet und deren blondes Haar an den Spitzen rot gefärbt ist, und räuspert sich. Sie gibt ihm das Zeichen, und sofort spürt er dieses Ziehen im Innern, ein Kribbeln wie Champagner.

Die Gäste merken auf, setzen sich, schweigen. Der Garten atmet Blumenduft aus. Einen Duft, der rosa und purpurn und schwer ist, von Flieder und Hyazinthen und Rosen, die in voller und herrlicher Blüte stehen. Weiße und blassgrüne Hortensien schwanken sanft in der Brise, wie Zuckerwatte auf Stängeln. Gänseblümchen sprenkeln den Rasen, der weich und kühl ist. Dann beginnt der Geiger zu spielen. Noten steigen auf und umschwirren die Köpfe. Die Sängerin, die ein langes, mit Blumen besticktes Kleid trägt und die über dem Ohr eine rote Rose im Haar hat, stimmt in das Stück mit ein. In der Menschenmenge weint als Antwort ein Baby.

Die Braut ist jetzt am Ende des Gangs. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Sie trägt ein langes cremefarbenes Seidenkleid, das fließend bis zu ihren Füßen reicht. Die meisten halten den Atem an, einige spüren Tränen in den Augen und in den Kehlen, andere sehen sie nur an wie verzaubert. Sie schreitet über das weiche Gras, einen ungebundenen Blumenstrauß in der rechten Hand. Die Sonne, die inzwischen selbstbewusster geworden ist, scheint auch aus ihr zu leuchten, als könnte sie jeden Augenblick vor Freude in tausend glitzernde Splitter bersten. Vorne im Gang bleibt sie stehen und gibt den Strauß einer Freundin. Als sie die Hände ihres Geliebten ergreift, können die, die nahe genug sitzen, sehen, wie sie sie festhält, bis ihre Knöchel weiß sind, und hören, wie er in einem zarten Flüsterton sagt: »Du bist wunderschön.«

Sie klammern sich aneinander, ihre Gesichter leuchten, strahlen.

Hoffnung – nein! Gewissheit –, dass es möglich ist und dass es gut gehen kann.

Zwei Jahre früher – Deux ans plus tôt

Juliette

Als Juliette erwacht, riecht sie den Duft welkender Rosen. Sie waren rosa, als sie sie bekommen hat, doch jetzt haben sie die Farbe gebräunter Sommerhaut angenommen, und die Blütenblätter fallen von den Stängeln. Sie ist spät dran. Zu spät. Ausgerechnet an diesem Tag der Tage. Sie wirft einen Blick auf die Wanduhr, springt aus dem Bett und flucht: Merde, merde, merde. Sie hastet an den Blumen mit den herabhängenden Köpfen vorbei, sodass sich noch mehr Blütenblätter auf dem ungemachten Bett und dem Boden verteilen wie Hochzeitskonfetti.

Sie duscht rasch, das Haar zu einem losen Knoten gebunden. Sie trocknet sich schnell und notdürftig ab. Das Handtuch ist dünn und könnte mal ersetzt werden. Putzt sich die Zähne. Runzelt die Stirn beim Anblick ihres Gesichts, das von den vielen Abenden in der Küche blass und ganz zerknittert ist. Verteilt mit schneller, leichter Hand Make-up, zu viel, es wird sich in der Landkarte ihrer Haut – Flüsse und andere Grenzlinien – festsetzen. Mascara. Rouge, um nicht so müde auszusehen. Sie kämmt ihr Haar aus. Es ist bis über die Schultern gewachsen. Die Enden sind nicht in Topform, genau wie ihre Nerven, doch wenn sie es hochsteckt, sieht man es nicht.

Juliette bleibt mit dem Daumen in der ersten Strumpfhose hängen. Sie flucht erneut und inspiziert den Nagel, der kurz und rissig ist. Mit dem zweiten Paar ist sie vorsichtiger, lässt sich Zeit, obwohl ihr Herz vor Ungeduld in ihrer Brust rumpelt und drängelt. Zieht Kleid und Stiefel an und ist aus der Tür. Die Handtasche über der Schulter schwingt wie ein Pendel. Das Handy in der Hand. Sie schickt Louis eine SMS, entschuldigt sich, während sie durch das Treppenhaus nach unten eilt: Pardon! Arrive bientôt. J.

Ihre Stiefel machen klack!, klack!, klack! auf den Stufen. Als wollten sie sie ausschimpfen.

Madame Deschamps öffnet ihre Tür, als Juliette vorbeieilt. Sie zieht ihren Morgenmantel enger um sich und tritt einen Schritt zurück. Juliette hat keine Zeit, stehen zu bleiben und Nettigkeiten auszutauschen. Ihre Stiefel führen sie die Treppe hinunter, diese altehrwürdige sich kringelnde Wirbelsäule, und aus der Haustür hinaus auf die Straße.

Draußen ist das Morgenlicht grau und kontrastlos, und die Welt riecht nach Beton und Hundepisse und gebackenem Teig aus dem Block nebenan, und Juliette schnuppert unwillkürlich. Sie weiß, dass Henri in der boulangerie ist, bedeckt mit Schweiß und Mehl, weiß, dass er die Hintertür geöffnet hat, um etwas Luft hereinzulassen, ganz gleich, wie sie riecht, und die kühle Liebkosung auf seiner geröteten kribbelnden Haut zu spüren. Juliette weiß, dass er einen Espresso trinkt, schwarz und ohne Zucker, dass er ihn genießt wie einen Kuss und jedem von der Belegschaft, der sich ihm nähert, ein foutre le camp! an den Kopf wirft, bis er fertig ist, bis er sich neu belebt fühlt. Juliette ist natürlich willkommen. Sie sprechen über Mehl und Backhefe und über ein Dasein ohne Zigaretten und über Henris Hund, der alles für ihn ist und ein schlimmes Bein hat. Wenn sie nicht so spät dran wäre, könnte sie ihm jetzt Gesellschaft leisten und den Zigaretten nachtrauern und den Hund loben. Aber heute geht das nicht.

Juliette eilt an den Männern vorbei, die ihre Stände für den Markt aufbauen. Manche rufen ihr etwas zu, andere nicken mit den Köpfen. Kisten werden geöffnet und Lastwagen stehen mit Ladungen von Fisch und Krabben herum, mit frühen Beeren, Bündeln von süßem, zitronigem Sauerampfer, mit Schokolade, Käse, Öl und Essig in schlanken grünen Flaschen, Blumen mit lieblich duftenden Köpfen in den Farben von Süßwaren. Juliette weicht einem erschöpft aussehenden Touristen mit einer Kamera aus, die an einem Riemen um seinen Hals hängt.

Es ist nur ein kurzer Gang bis zur Metro-Station Place Monge, anderthalb Blocks. Juliette holt ihr Ticket heraus, bevor sie am Eingang ist, der von einem geschwungenen Metallschild angezeigt wird, dessen Buchstaben wie Ranken geformt sind. Die Stufen darunter sind mit Flüchen und Beleidigungen schmutzig besprüht. Juliette drückt instinktiv ihre Tasche fester an sich. Das ist das fünfte Arrondissement. Das ist Paris. Man kann nie wissen. Juliette ist die Einzige auf dem Bahnsteig, als der Zug, begleitet von einem ekelhaft warmen Wind, einfährt. Sie steigt ein und setzt sich. Sie merkt, dass ihre neuen Stiefel drücken. Sie hatte für heute etwas Schönes, etwas Neues gewollt. Neue Stiefel, um sich selber neu zu fühlen. Neu und besonders und wie jemand, über den es sich lohnt zu schreiben. Selbst wenn ihr Haar nicht perfekt ist oder ihre Nägel oder die Falten in ihrem Gesicht, die verraten, dass sie über vierzig ist und furchtbar müde.

Ein Mann auf dem Platz ihr gegenüber hebt den Kopf von der Zeitung. »Juliette!«

Sein Haar ist dick und silbrig, seine Lippen sind voll und verziehen sich zu einem Lächeln.

»Léon.« Juliette versucht, fröhlich zu klingen.

Léon ist Koch und Besitzer des La Porte Blanche, vormals Le Sel, eines Restaurants im ersten Arrondissement. Er steht von seinem Platz auf, um sich neben sie zu setzen. Eine Frau mit einem leuchtend bunten Kopftuch beobachtet sie, ihr Gesicht ist ausdruckslos. Ihr Kleid ist mit Blumen und Blättern bedruckt – orange, braun, schwarz und gelb. Juliette wünscht sich, sie würde stattdessen neben ihr sitzen.

»Ich habe gewusst, dass du es bist«, sagt Léon und neigt den Kopf. »Du siehst hübsch aus. Très jolie.«

»Merci, Léon. Danke«, antwortet Juliette.

Léon faltet die Zeitung zusammen und steckt sie in seine Manteltasche. »Du bist früh dran?«

Juliette nickt.

»Du arbeitest zu viel.«

Juliette weiß, dass das eher eine strategische Entmutigung als echte Besorgnis ist. Léon ist nicht Juliettes Verbündeter, er ist ihr Konkurrent.

»Ah, heute ist dein großer Tag, nicht?«, meint Léon.

»Wie …?«

Léon nickt bedächtig. »Ich weiß es. Ich höre so etwas. Ein Interview mit …?« Er lacht wissend.

»Gault-Millau«, murmelt Juliette. Sie hatte es vermieden, den Namen des berühmten Restaurantführers laut auszusprechen, als würde das Unglück bringen. Léons Lächeln ist breit und zufrieden.

»Dusollier?«

»Oui, Dusollier.«

»Hmmm«, brummt Léon. »Sie ist ein harter Brocken.«

»Ja, das habe ich gehört«, antwortet Juliette. Plötzlich fühlt sie sich schon viel weniger jolie. Sie wünscht, sie hätte den Friseurtermin letzte Woche nicht abgesagt. Juliette hat in der letzten Zeit viele Termine abgesagt. Verabredungen mit Freunden und Arztbesuche. Sie war seit zwei Jahren nicht mehr beim Zahnarzt und weiß, dass ein Zahn eine Füllung braucht.

»Du kennst sie?«, fragt Juliette wie beiläufig.

Léon nickt. »Natürlich.«

Sie halten an einer Haltestelle, der Zug füllt sich, die Fahrgäste drängeln zu den Sitzplätzen. Eine schwangere Frau findet keinen Platz und die, die sitzen, meiden ihren Blick. Zwischen Juliette und der Frau in dem Kleid mit dem Blumenmuster sitzen eine weitere Frau, die in den Spiegel einer Puderdose schaut und Lippenstift aufträgt und eine dunkle Handtasche unter dem Arm hat, und ein junger Mann mit einem Skateboard. Er starrt Juliette wütend an.

»Du schaffst das schon«, sagt Léon und tätschelt Juliettes Knie, wobei seine Hand einen Moment zu lange auf ihrem Bein verweilt. Er beugt sich zu ihr vor und senkt die Stimme.

»Dusolliers bellt gern. Aber Hunde, die bellen … So sind sie alle, nicht? Die Kritiker. Wollen sich nur wichtig machen.«

Juliette nickt.

»Weißt du, was der Trick ist?«, flüstert Léon.

Juliette antwortet nicht. Sein Gesicht ist ihrem zu nahe, und er riecht zu stark nach Aftershave. Léon in die Arme zu laufen, ist nie angenehm. Juliette geht Léon aus dem Weg, wo sie nur kann – bei Branchenevents, bei Eröffnungen, wenn er mit einem Investor, den er für sich zu gewinnen sucht, in ihr Restaurant, das Delphine, kommt. Nicht nur weil er ein Konkurrent ist. Es ist mehr. In Léons Gegenwart fühlt sich Juliette immer unbehaglich. Als würden sich Schlangen in ihrem Bauch winden.

»Du musst dafür sorgen, dass sie sich als etwas Besonderes fühlen. Verstehst du?«

Léon legt seine Hand auf Juliettes. Sie wirft einen Blick darauf, auf den goldenen Ring, dann sieht sie ihn direkt an. Er hat die Hand weggenommen, als ihr Blick seinem begegnet, aber es reichte bereits. Der Zug ruckelt, und die Fahrgäste schwanken. Die Frau in dem Blumenkleid sieht sie durch eine Lücke an. Es beruhigt Juliette, dass sie da ist. Alles beobachtet.

»Verstehe. Merci«, antwortet Juliette knapp.

»Du schaffst das«, sagt Léon noch einmal, samtweich wie geschmolzene Schokolade, die zum Abkühlen auf der Arbeitsfläche ausgebreitet ist.

Juliette strafft die Schultern, ermutigt durch die Frau in dem Blumenkleid, durch die Hitze von Léons unerwünschter Berührung, die sie noch immer auf ihrer Hand spürt.

»Wie geht es Céline?«, fragt sie, der Name geht ihr leicht von der Zunge. »Deiner Frau? Und den Kindern?«

Léons Lächeln ist angespannt. »Hm, gut, danke. Es geht ihnen gut.«

»Grüß alle unbedingt von mir.«

»Ja«, antwortet Léon bedächtig.

Juliette sieht aus dem Fenster, der Zug wird langsamer. Ihre Haltestelle rückt ins Blickfeld.

»Ich muss hier aussteigen«, sagt sie, die Hand zu einer halbherzigen Entschuldigung erhoben.

Juliette zwinkert der Frau über den Gang zu, als könnte sie Juliettes Gedanken lesen. Als könnte sie ihre Dankbarkeit spüren, obwohl Juliette sich nicht sicher ist, wofür sie eigentlich dankbar ist. Sie steht bereits, als der Zug zu stark bremst. Sie stolpert auf die Frau mit der Handtasche zu, die ihren Lippenstift fertig aufgetragen hat.

»Bonne chance«, sagt Léon aalglatt. »Bei dem Interview.«

»Ich bin mir sicher, es läuft gut«, antwortet Juliette schnell, nickt und steigt aus.

Die Schlangen in ihrem Bauch zischen und spucken Gift.

*

Amélie Dusollier hat vor einem Monat im Delphine angerufen. Louis ist ans Telefon gegangen. Er ist lebhaft, Louis, dünn, mit dunklen Ringen unter den Augen und einer langen, schmalen Nase. »Gault-Millau!«, hatte er geflüstert und nervös gezappelt, bevor Juliette ans Telefon gekommen war.

An diesem Morgen war Juliettes Kopf voller neuer Worte und Ideen gewesen, voller Zutaten, die wie ein Puzzle zusammengesetzt werden wollten. Sie konnte sich nie absolut sicher sein, was zusammen harmonierte und was nicht. Manchmal kam sie sich mehr wie eine Chemikerin im Versuchslabor vor. Jean-Paul, der Mann, der als Erster mit ihr geschlafen, der sie als Erster gegen eine Theke gedrückt und geküsst hatte, der ihre Hände genommen und ihr gezeigt hatte, wie man kochte und wie man liebte, diese beiden Tätigkeiten, die jetzt fest in Juliettes Psyche miteinander verknüpft waren – Jean-Paul hätte nicht so ein Aufheben darum gemacht. Er hätte gesagt: »Was im Beet zusammenpasst, passt auch im Topf zusammen.« Aber Jean-Paul war kein Küchenchef, er musste kein Restaurant führen, nicht mit Léon und seinesgleichen konkurrieren oder sich vor der Welt beweisen. Jean-Paul fing einfach nur Fische – und Frauen. Seine beiden Lieblingsbeschäftigungen.

Wakame. Kombucha. Umami.

Das waren die Gedanken, die Juliette an diesem Morgen durch den Kopf gingen, an dem Amélie Dusollier angerufen hatte. Sie hatte mit asiatischen Aromen experimentiert. Süß und sauer und eingelegt und knusprig frittiert. Mit Zutaten, von denen Jean-Paul nie gehört hatte.

»Dusollier«, hatte sie am anderen Ende der Leitung gesagt, ihren Vornamen musste sie gar nicht erst nennen. Juliette hatte vor Schreck erst einmal geschluckt.

»Bonjour«, hatte sie dann freundlich geantwortet. »Juliette. Vom Delphine.«

»Oui«, antwortete Amélie Dusollier einfach. Kritiker und Gutachter liebten es, sich wichtig zu fühlen. Sie selbst produzierten im Grunde gar nichts, nur Worte. Sie investierten kein Geld in Unternehmen, die groß rauskommen oder kläglich scheitern konnten. Sie gingen keine Risiken ein. Und trotzdem lag es in ihrer Macht, einen Restaurantbesitzer oder Koch zum Ritter zu schlagen oder ins Exil zu verbannen. Und das wussten sie. Amélie Dusollier machte ihre Termine weit im Voraus. Sie hatte das Interview, das Probeessen und den Fotografen vor einem Monat mit Juliette vereinbart. Juliette war das damals wie eine lange Zeit vorgekommen, um sich vorzubereiten, das neue Menü zusammenzustellen und zu testen, neue Stiefel zu kaufen und zum Friseur zu gehen. Doch das Delphine musste weiterlaufen, und die Zeit war wie im Flug vergangen.

So wie Juliette jetzt fliegt, die Stufen der Metro hoch in den strahlenden Pariser Morgen.

Juliette bleibt kurz stehen, um einen Blick auf ihr Handy zu werfen. Eine SMS von Louis.

»Pas de problème.«

Sie sieht unwillkürlich zum Himmel hoch und dankt ihm für Louis. Juliette und Louis sind ein gutes Team. Louis führt das Delphine als Manager, kümmert sich um das Kaufmännische sowie um die Gäste, und er besitzt eine Intuition für die Küche, was selten ist. Juliette lässt ihn jedes einzelne Gericht probieren, bevor sie es auf die Karte setzt. Er ist gut darin, Personal zu finden, er ist gut mit Zahlen, er ist freundlich zu den Gästen, aber nicht zu freundlich. Er ist organisiert und schweigsam. Angenehm, taktvoll und diplomatisch. Er verliert nie die Beherrschung, trinkt nie zu viel, auch nicht nach Feierabend mit dem Team. Sein Privatleben ist genauso ruhig und organisiert wie er selbst. Ein Lebensgefährte, eine Katze, eine kleine Wohnung und ein Faible für japanischen Whiskey, britischen Gin und den amerikanischen Keramiker und Raumkünstler Jonathan Adler. Und er vertritt strenge Lebensmaximen:

Niemals einen schwarzen Schal tragen (macht dich unnötig blass).

Nichts mieten, was man kaufen kann.

Keinen Alkohol am Vormittag.

Hüte dich vor Versicherungsvertretern.

Fang nichts mit einem Politiker an. Sie sind schlimmer als Versicherungsvertreter.

Juliette muss sich eingestehen, dass sie fast gegen jede dieser Maximen schon verstoßen hatte. Im Vergleich zu Jules’ geordneten Verhältnissen war ihr Leben das reinste Chaos, so wie ihre Wohnung, und voller Probleme.

Juliettes Stiefel klappern auf dem Kopfsteinpflaster, während sie noch einmal die Dinge durchgeht, die sie heute Morgen erledigen muss, bevor Amélie Dusollier eintrifft. Ihre Köche haben ihre handgeschriebenen Listen und sind bereits gut vorbereitet. Sie hofft, dass ihre Arbeitskleidung strahlend weiß und gut gebügelt ist, und sie hofft, dass ihre beste Kellnerin, Fleur, sich gestern Abend nicht mit ihrem Freund gestritten hat, dass sie keine säuerliche Miene aufsetzt oder schmollt. Sie hofft, dass die rosa Pfingstrosen, die sie gekauft hat, ein wenig weiter aufgegangen sind. Sie hofft, dass das Besteck makellos sauber ist und dass die Tischdecken ordentlich gemangelt sind. Louis hat sich bestimmt um das meiste bereits gekümmert, wenn sie ankommt.

Im Gegensatz zu Louis verliert Juliette manchmal die Beherrschung. Sie trinkt auch gern ein Glas mehr als nötig. Vielleicht weil sie in ihrem Herzen eine Köchin ist und Köchinnen so etwas machen. Oder weil sie das einzige Kind ihrer Eltern ist, oder weil sie eine Frau ist und das Gefühl hat, sich beweisen zu müssen. Oder weil sie so viel arbeitet, geradezu obsessiv, und es einfacher ist, im Delphine zu bleiben und noch einen mit den Mitarbeitern zu trinken, als nach Hause zu gehen, in ihre Wohnung mit den welkenden Rosen, den überall herumliegenden Kleidern und dem Bett, das immer halb leer ist und sich entsetzlich groß und kalt anfühlt.

Ein Radfahrer fährt fast in Juliette hinein. Er hat in die falsche Richtung gesehen. Jetzt schreit er Juliette an, als wäre es ihre Schuld.

»Putain!«

Juliette öffnet den Mund, um es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen. Sie umklammert das Handy, wie um es nach ihm zu werfen, aber das wäre natürlich unsinnig. In diesem Moment klingelt das Handy. Sie läuft langsamer, um auf das Display zu gucken. Sie liest »Dad«. Sie hat fast das Delphine erreicht. Sie lässt es noch zweimal klingeln. Fällt eine Entscheidung. Bleibt stehen.

»Papa?«

»Juliette!«

»Hi, Dad.«

»Guten Morgen, Liebes. Wie geht es dir? Wo bist du?«

»Auf dem Weg zum Restaurant«, antwortet Juliette, die Ungeduld kribbelt in ihr.

»Gut. Gut …« Die Stimme ihres Vaters ist fern, er wirkt zerstreut. Juliette verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, bedauert, dass sie die Stiefel nicht hat weiten lassen. Vor allem bedauert sie, überhaupt ans Telefon gegangen zu sein. »Alles okay, Dad? Ist etwas mit Mum?«

Die Stimme ihres Vaters ist jetzt klar und präsent. »Ja, sicher, Liebling. Mir geht es gut. Uns geht es gut.« Juliettes Vater räuspert sich. Juliette hört eine Stimme im Hintergrund. Sie drückt das Handy fester ans Ohr.

Ihr Vater sagt: »Ich rufe deinetwegen an. Heute ist doch dein großer Tag.«

Natürlich hat er das Gault-Millau-Interview nicht vergessen. Juliettes Vater erinnert sich an alles. Er war bei jeder Aufführung in der Schule, war bei jeder Preisverleihung. In Douarnenez einen Preis zu gewinnen, war nicht so schwer. Es gab ja nicht so viele Einwohner. Die Wahrscheinlichkeit, früher oder später irgendeinen Preis abzubekommen, war extrem hoch. Doch Juliettes Eltern haben ihre Erfolge nie leichtfertig abgetan. In ihren Augen war Juliette ein Star, ein strahlendes Licht, eine Quelle immerwährenden Stolzes. Doch damit konnten sie Juliette nicht täuschen. Sie hatte sich durchaus nicht wie ein Star gefühlt. Sie hatte ihre Mängel und Fehler mit nur noch schärferem Blick betrachtet.

»Danke, Dad«, erwidert Juliette. Sie klopft mit dem Fuß auf den Boden, dann tritt sie einen Schritt zurück, um jemanden vorbeizulassen. Sie stellt sich unter die Traufe eines Juweliergeschäfts, dessen Rollläden noch geschlossen sind.

»Wie fühlst du dich?« Der Akzent ihres Vaters fällt ihr am Telefon immer besonders auf. Juliettes Eltern waren vor ihrer Geburt von England in die Bretagne gezogen.

»Gut, wirklich. Es ist viel zu tun …«, sagt Juliette und würde doch am liebsten ausrufen: Lass mich gehen. Lass mich gehen. Sie schaut zum Delphine hinüber.

»Liebling?«, ruft die Stimme, die Juliette im Hintergrund gehört hat. Schrill und sehnsüchtig. Wie aus großer Ferne.

Juliettes Aufmerksamkeit ist sofort wieder beim Telefon. »Ist das Mum?«

»Das ist großartig. Wir wollten dir nur Glück …«

»Liebling? Wo …?«, hört sie die Stimme.

»Dad?« Juliette runzelt die Stirn. »Dad, ist das Mum? Wo bist du?«

»Mach dir keine Gedanken um uns, Liebling …«

»Dad?«

Juliette hört ein Stöhnen, das über sie hereinbricht wie eine kalte Meereswelle. Voller Schmerz. Alles andere scheint zu verschwinden. Das Delphine. Amélie Dusollier. Paris. Juliette hält das Telefon fest, als wäre es ein Rettungsring. Es gibt nur sie und das Telefon und die beiden Stimmen am anderen Ende.

»Dad? Bist du im Krankenhaus?«

»Für deine Mutter wird bestens gesorgt. Wir wollten nicht, dass du dir Sorgen machst.«

»Dad, was ist los?«

»Nichts, was dich beunruhigen …«

»Sag mir, was los ist, Dad.«

Juliettes Vater seufzt, und plötzlich ist Juliette zum Weinen zumute. Nicht heute. Nicht jetzt.

»Sie hat eine Lungenentzündung«, antwortet er resigniert.

»Liebling?« Die Stimme gehört ihrer Mutter, doch sie klingt fremd. Flüsternd und dringlich. Fern und flehend. Wie die eines Geistes. Juliette hält das Telefon so fest, dass ihre Hand wehtut. Als wollte sie es zerquetschen, als wollte sie das Gefühl in ihrer Brust nachahmen, die Schraubzwinge um ihren Kopf.

»Dad. Wie schlimm ist es?«

Juliette hört ihren Vater atmen, aber er antwortet nicht. Eine Lungenentzündung wäre schlimm genug angesichts des Alters ihrer Mutter, aber im Zusammenhang mit ihrer Krebserkrankung ergibt sich ein Befund, den Juliette sich lieber nicht genauer ausmalt. Eine vorbeieilende Frau mit einem dünnen grauen Hund an der Leine kommt Juliette unter der Traufe zu nahe. Die Nähe bringt Paris zurück. Das Licht, der Lärm, die Morgengerüche und die Stadt stürmen auf sie ein, attackieren sie. Sie blinzelt und holt Luft, taucht unter der Welle auf. Sie denkt mit Nachdruck an diesen anderen Ort, an die mineralhaltige Seeluft, die von Möwenschreien durchschnittene Stille, die grauenhafte Beengtheit ihrer Kleinstadt und an das Gesicht ihrer Mutter, das auf dem Krankenhauslaken liegt, weiß und gestärkt wie die Tischdecken im Delphine.

»Ich komme.«

»Nein …«, protestiert ihr Vater.

»Ich komme«, wiederholt Juliette.

Im selben Moment, da sie das Gespräch beendet, ruft Louis an. Sie geht bereits in die andere Richtung. Sie läuft über die Straße in den Stiefeln, die schmerzen, achtet kaum auf den Verkehr.

»Es tut mir leid«, stößt sie aus.

Louis’ Stimme klingt besorgt: »Was ist los?«

»Maman.«

*

Die Tür zu dem kleinen Stadthaus von Juliettes Eltern ist glänzend rot. Es ist die Farbe von britischen Briefkästen und Telefonhäuschen. Auf beiden Seiten hängen Körbe mit Blumen, deren Blüten über den Topfrand gucken und aus deren grünen Knospen noch viele weitere Blüten entstehen werden. Edelwicken und Geranien und Stiefmütterchen in Gelb- und Violetttönen. All das ist das Werk ihres Vaters. Juliette zieht ihre Stiefel aus. Ihr Vater kämpft mit dem Schlüssel, dann muss er sich mit der Schulter gegen die Tür lehnen, damit sie aufgeht.

Es ist wie eine Reise zurück in die Zeit. Juliettes Vater steigt die Treppe hoch, die Wände voll behangen mit Fotografien in Holzrahmen, vor allem von Juliette. Die Farben sind schon ganz verblichen. Schulfotos und Familienfotos, auf denen sie drei ein perfektes Team bilden, einer Dreierbande, mit Juliette in der Mitte. Eins ist von ihrer Kommunion. Juliette ist eine kleine Braut mit steifen Ringellocken und gerunzelter Stirn.

Die Füße tun Juliette weh, und sie setzt sich auf die unterste Stufe und zieht die Stiefel aus. Es war leicht gewesen, sich ein Auto zu borgen. Sie hatte die Situation einer Freundin erklärt, die ihr kurzerhand ihren Wagen geliehen hatte. Doch sie hatte keine Zeit gehabt, Kleider und Schuhe zu wechseln. Auf der Fahrt hatte sie sich nach einer Zigarette gesehnt, sich stattdessen jedoch mit billigem Tankstellenkaffee zufriedengegeben und das Radio laut gestellt. Die Musik hatte nicht geholfen, ihre Angst zu vertreiben.

»Ich setze den Kessel auf«, ruft ihr Vater von oben.

Nach Meinung von Juliettes Eltern liegt die Lösung für jedes Problem auf dem Boden einer Tasse Tee. Hast du Zweifel, setz den Kessel auf. In einem Akt der Rebellion hatte Juliette im Alter von elf Jahren angefangen, Kaffee zu trinken, je schwärzer, desto besser. Doch heute akzeptiert sie resigniert den süßen Tee mit Milch. Vielleicht haben ihre Eltern recht, vielleicht geht mit Tee alles besser. Ein Wunder muss geschehen, und es kann nur geschehen, wenn Rituale eingehalten werden.

Im Krankenhaus hatte es nach Desinfektionsmitteln und Verfall gerochen. Der eine Geruch überlagerte unzureichend den anderen. Nicht nach dem Verblühen der Rosen des Geliebten, sondern nach dem Verfall von Fleisch und Blut und Haut und Knochen. Ein Geruch, der dem Duft von frisch gebackenem Brot, von in der Pfanne gebratenem Fisch, weich werdendem Knoblauch und gekühltem Wein so komplett entgegengesetzt war, Gerüche, die für Lebendigkeit und Freude stehen. Der Geruch des Krankenhauses verdarb Juliette den Appetit, verursachte ihr Übelkeit.

Ihre Mutter ist sehr krank. Kränker, als sie angenommen hat, sehr viel kränker als das letzte Mal, als sie sich gesehen haben, obwohl ihre Eltern den Ernst der Lage möglicherweise für sich behalten hatten, wie sie das gerne zu tun pflegten. Die Lungenentzündung hat ihr innerhalb kurzer Zeit verheerend zugesetzt, hatte ihr Vater zugegeben. Die Krankenschwester, die hereingekommen war, um die Verbände zu wechseln, die Behältnisse zu leeren und zu füllen und die ihre Eltern besser zu kennen schien als sie, Juliette, die Juliettes Vater freundlich die Schulter tätschelte, sodass Juliette sofort Schuldgefühle bekam. Sie alle hatten Juliettes Mutter angesehen, während sie laut und mühsam Luft holte. Sie klang, als versuchte sie, unter Wasser zu atmen, unter einer Welle.

Juliette steigt auf Strümpfen die Treppe hinauf. Ihre Fußsohlen schmerzen und pulsieren bei jedem Schritt. Die Ballen und die Seite ihres rechten Fußes tun ihr am meisten weh. Sie kommt an einem Stapel Zeitungen vorbei, der mitten auf der Treppe liegt. Der Kessel blubbert, als sie in die Küche kommt. Sie sieht sich in dem gestapelten Durcheinander um. Rechnungen, Zeitungen, Notizen, Essensreste. Auf der Arbeitsfläche liegen seltsame Dinge. Schrauben, Samenpäckchen, Bücher aus der Bücherei, ein Kamm.

»Dad?«

Er sieht in den Kühlschrank und schiebt Sachen hin und her, während er vor sich hin murmelt.

»Ich hatte doch …Oh, die Marmelade von deiner Mutter, ich sollte …«

»Dad?«

Er nimmt eine Flasche Milch und sieht auf das Datum.

»Ist heute der sechzehnte?«

»Nein, der zwanzigste.«

Er öffnet den Deckel und riecht daran, er mag nichts wegwerfen.

»Ich nehme keine Milch«, sagt Juliette.

»Tut mir leid, Liebes«, entschuldigt er sich. Als er die Flasche auf die Arbeitsfläche stellt, greift Juliette danach und wirft sie für ihn in den Müll. Aus dem Abfalleimer kommt ein Geruch von verdorbenem Essen. Als der Tee fertig ist, nehmen sie ihre Tassen mit zum Esstisch. Juliettes Vater muss weitere Zeitungsstapel wegräumen, um ihnen Platz zu schaffen.

»Ich weiß, es ein bisschen unaufgeräumt«, sagt er geistesabwesend und nippt an dem gesüßten Tee.

»Wie lange ist sie schon im Krankenhaus?« Juliette fügt kein »dieses Mal« hinzu.

Ihr Vater sieht zu einem Stapel Zeitungen hinüber und greift nach obersten.

»Dad?«

»Noch nicht lange. Ein paar Tage. Heute ist Mittwoch, nicht?«

»Ja, heute ist Mittwoch.«

»Wir sind Ende letzter Woche zum Krankenhaus gefahren.«

»Dann etwas mehr als ein paar Tage.«

Ihr Vater schwenkt triumphierend die Zeitung. »Das wollte ich dir zeigen!«

»Dad, wir reden über Mum.«

Er schiebt ihr die Zeitung hin. Es ist das Lokalblatt von Douarnenez. Juliettes Name war einige Male darin. Einmal als Vertreterin der Turnmannschaft, da war sie zwölf. Zweimal wegen ihrer guten Noten auf der Highschool. Ihre Mutter hatte die Artikel ausgeschnitten. Vermutlich gibt es sie noch irgendwo im Haus, in irgendeinem Papierstapel in einem der anderen Zimmer. Ihr Vater steht auf, um sich über den Tisch zu beugen, blättert in der Zeitung, um zu finden, was er sucht.

»Ah. Hier ist es!«

Er zeigt auf die Seite.

À vendre. Boulangerie.

»Eine Bäckerei zu verkaufen? Dad, ich habe das Delphine.«

Ihr Vater nimmt die Zeitung wieder an sich. »Ja, ich weiß, ich wollte nicht … Es ist Stéphanies, erinnerst du dich an sie? Stéphanie Jeunet?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Ich habe es gesehen und an dich gedacht. Ich wusste, dass sie hier irgendwo ist. Die Zeitung ist erst eine Woche alt, glaube ich.« Er sieht nach dem Datum, das oben auf der Seite steht. »Ja, erst eine Woche. Sie hat noch nicht verkauft, da bin ich sicher.«

»Dad, ich lebe in Paris.«

»Ich weiß, Liebes, ich habe nur gedacht, dass dich das vielleicht interessiert. Lies es. Man weiß ja nie.« Die Zeitung landet wieder bei ihr. Juliette bedenkt sie mit einem höflichen Blick. Natürlich kennt sie die Bäckerei, natürlich erinnert sie sich an Stéphanie Jeunet. Juliette war Hunderte von Malen in Stéphanie Jeunets Bäckerei. Stéphanie hatte versucht, ihrer Mutter beizubringen, wie man kouign-amann macht, den mürben, klebrigen Kuchen, für den Douarnenez berühmt ist. Maman war es nie gelungen, doch Juliette war in ihrem Element gewesen. Als sie noch jünger war, hatte sie davon geträumt, eine Bäckerei zu besitzen. Jetzt sind ihre Pläne größer. Bedeutender. Juliette ist aus diesem jugendlichen Wunsch herausgewachsen. Sie ist aus Douarnenez herausgewachsen. Über der Verkaufsanzeige für die Bäckerei ist eine kleinere einzeilige Annonce, in der eine Haushälterin und Köchin für ein Objekt außerhalb der Stadt gesucht wird. Juliette stutzt. Nur sehr wenige reiche Leute oder Feriengäste haben Anwesen außerhalb des Stadt.

»Du musst diese Sachen nicht behalten, Dad«, sagt Juliette.

Ihr Vater sieht sich im Raum um. »Ein bisschen Aufräumen könnte nicht schaden.«

»Es sieht aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen.«

Juliettes Vater sieht verwirrt aus. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht.«

Juliette schüttelt den Kopf. »Hast du Hunger? Ich mache uns was zu essen.«

»Du fährst heute Abend nicht zurück nach Paris?«

Juliette lässt den Kopf hängen. Sie hat ihr Handy auf lautlos gestellt. Aber die Vibrationen der Anrufe und Kurznachrichten hat sie sehr wohl bemerkt. Ihr Handy hat wie ein wütendes Insekt in ihrer Tasche gebrummt. Sie hat versucht, das Brummen zu ignorieren. Auf der langen Fahrt. Während des Krankenbesuchs.

»Nein, heute Abend nicht, Dad.« Sie seufzt.

Das Gesicht ihres Vaters verzieht sich zu einem müden Lächeln. »Ja, ich könnte etwas zu essen gebrauchen. Das wäre schön.«

*

Juliette findet im Haus billigen Wein, in Flaschen abgefüllten Muschelsaft, alte Zwiebeln und Kartoffeln. Damit kommt man nicht weit. Da die Läden schon geschlossen haben, beschließt Juliette, bei den Nachbarn zu fragen, ob sie was entbehren können.

Capucine Reynauds Zuhause mit den großen Schränken aus Kastanienholz und der Standuhr, die viel zu groß und prachtvoll für die Diele ist, ist eine Hommage an alles Bretonische. An ihrer Schlafzimmertür hängt das Sonntagskleid ihrer Großmutter in traditionellem Schwarz, mit blauen und roten Vögeln und Blumen darauf, mit vollendeten Stickereien verziert. Die Fäden dick und kein bisschen verblasst. Juliette wirft einen Blick auf die Familienfotos, die meisten in Schwarz-Weiß, auf die Gesichter, deren Nasen und Augen und Lippen so vertraut sind. Juliette wendet schnell den Blick ab.

Juliettes Mutter hat Capucine Reynaud viele Jahre in Englisch unterrichtet. Nicht dass ihr Englisch dadurch besser geworden wäre, aber sie hat Juliettes Mutter vergöttert. Wie so viele in der Stadt. Sie drängt Juliette, in den Garten zu gehen und sich zu nehmen, was immer sie braucht. Sie pflückt dunkle Spinatblätter für sie, während Juliette sich etwas Kerbel nimmt und ein wenig Sauerampfer pflückt. Der würzige Duft des Sauerampfers bleibt an Juliettes Hand haften und hilft ihr, die furchtbaren Krankenhausgerüche zu vergessen.

»Geht es deiner Mutter wieder schlechter, Juliette?«, fragt Madame Reynaud am Tor.

Juliette wäre am liebsten woanders. »Leider ja.«

»Der Krebs?«

»Nein, diesmal ist es eine Lungenentzündung. Aber sie wird wieder gesund.«

Capucine Reynaud kennt den Tod, ihr Mann, ihr Neffe. Sie weiß, dass Juliette nicht die Wahrheit sagt, und sieht sie mit dem Blick an, den Juliette so fürchtet. Mitleid. Ehrliches, von Herzen kommendes Mitleid, was irgendwie schlimmer ist als Gleichgültigkeit.

»Vielen Dank für die Lebensmittel. Für den Fisch und die Muscheln …«

Capucines jüngster Sohn Paol ist Fischer. Wahrscheinlich hat er den Fisch heute Morgen gefangen. Madame Reynaud tut den Dank ab.

»Sie ist noch jung«, murmelt sie missbilligend.

Natürlich ist Maman nicht jung, sie ist Anfang achtzig, doch Madame Reynaud ist das blühende Leben, obwohl auch sie schon in den Siebzigern ist. Sie gärtnert immer noch, geht schnell und mühelos, hilft beim Nähen der Kostüme für die Ballettkonzerte ihrer Enkelin.

»Ich muss gehen. Papa …«, sagt Juliette schnell und küsst Madame Reynaud auf ihre weichen braunen Wangen.

Juliettes Vater sitzt am Esstisch, während Juliette das Abendessen zubereitet. Er will ihr nicht im Weg stehen, war ihr nur recht ist. Juliette kocht die Meeresfrüchte schonend in Wein und Muschelsaft, lässt den köstlichen Dampf in ihr Gesicht aufsteigen, bevor sie sie zur Seite stellt. Sie nimmt die gesalzene Butter aus der Keramikschüssel, in der ihre Mutter sie aufbewahrt, und macht in einem großen Topf eine Mehlschwitze, in der sie die Zwiebeln und das Grünzeug sautiert. Sie sieht zu ihrem Vater hinüber, der ein Kreuzworträtsel löst, wobei ihm die Brille auf der Nasenspitze sitzt. Er murmelt Worte vor sich hin und zählt Buchstaben. So sieht er Jahre älter aus – den Körper über den Tisch gebeugt, das Gesicht konzentriert verkniffen. Juliette will nicht daran denken, wie schnell er gealtert ist, deshalb widmet sie sich wieder ihrer Suppe, fügt die Kräuter hinzu und noch mehr Butter und das mit Crème fraîche verquirlte Eigelb. Sie rührt, schmeckt ab und atmet den Geruch ein, als könnte er all ihre anderen Gedanken vertreiben. Gedanken an das Delphine und an Amélie Dusollier, an das Gesicht ihres Vaters, das über der Zeitung alt und runzelig ist wie eine Walnussschale, an ihre Mutter, die ihnen entgleitet, die dem Leben entgleitet.

Als sie endlich essen, ist der Himmel pechschwarz. Juliette ist plötzlich furchtbar hungrig. Ihr wird klar, wie wenig sie den ganzen Tag gegessen hat. Sie essen schweigend. Die Löffel klirren gegen die Schalen. Juliettes Vater schenkt ihr ein Glas Wein ein.

»Merci.«

»Alles in Ordnung, Liebling?«

»Es war ein anstrengender Tag.«

»Du hast durch uns das Interview verpasst.«

Juliette zuckt mit den Schultern. Sie empfindet Schuld und Bitterkeit zugleich. Welche Tochter nimmt ihrer Mutter ihre Krankheit übel, ihren Krebs? »Das lässt sich bestimmt nachholen«, sagt sie, obwohl sie weiß, dass es nicht stimmt. Eine Besprechung im Gault-Millau wäre der Beweis gewesen. Der Beweis, dass sich all der Aufwand gelohnt hätte, die Zeit, das Geld, das Herzblut. Der Beweis, dass sie alles im Griff hatte, dass ihr Leben einen Sinn hatte.

»Du arbeitest zu hart«, sagt ihr Vater traurig.

Sie muss an das Zusammentreffen mit Léon im Zug denken. »Das sagst du immer«, sagt sie müde.

»Es ist so.«

Juliette versucht, nicht ungehalten zu sein. »Es ist mein Leben, Dad.«

»Ja, aber …«

Sie sieht von ihrer Schale auf. »Aber was?«

»Nichts.« Ihr Vater lässt die Schultern hängen.

»Was wolltest du sagen?«

»Du hast gesagt, es ist dein Leben. Ich wollte sagen, dass es nicht dein Leben ist, weißt du. Es ist dein Job. Es ist deine Arbeit.«

Juliette legt ihren Löffel hin. »Es ist nicht nur ein Job. Das Delphine ist sehr wohl mein Leben. Es ist mein Traum. Es ist das, was ich tun will.«

Juliettes Vater nickt. »Ich weiß, Liebling. Es ist nur, dass du mein Leben gesagt hast. Du weißt, dass wir uns Sorgen um dich machen. Deine Mutter und ich.«

Er neigt den Kopf, als säße ihre Mutter direkt neben ihm und würde ihm zustimmen.

»Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ich bin ein großes Mädchen.«

»Ja, aber du bist unser Mädchen.«

»Dad. Bitte.«

»Wir lieben dich.«

»Das weiß ich, Dad. Das weiß ich.« Die Verzweiflung ist deutlich in Juliettes Stimme zu hören. Sie bedauert das, aber sie nimmt es ihnen auch übel. Sie müsste nicht so zugeknöpft sein, wenn ihre Eltern nicht so sorgenvoll wären, so erdrückend. Sie wünschte, sie würden sie nicht so sehr brauchen. Sie zieht am Ausschnitt ihres Kleids. Manchmal hat sie das Gefühl, in Douarnenez, in diesem Haus, keine Luft zu bekommen. Sie sitzen da und essen, holen die kleinen Muscheln aus ihren schwarzen Schalen und löffeln die salzige, cremige Suppe, die mit grünem Sauerampfer gesprenkelt ist.

Als sie fertig ist, bringt Juliette ihre Schale zum Spülbecken. Ihr ist warm, die Luft ist stickig. Sie hat ihr Interview verpasst, und das wird Konsequenzen haben. Sie macht sich Sorgen um das Delphine. Sorgen wegen der Nachrichten auf ihrem Handy, die sie nicht gelesen hat. Sie möchte in Paris sein, nicht hier. Überall, nur nicht hier.

»Man kann sich so leicht verzetteln im Leben«, fährt Juliettes Vater fort. Juliette möchte sich die Ohren zuhalten. Sie dreht den Hahn zu schnell auf, sodass das Wasser geräuschvoll herausspritzt. Trotzdem hört sie ihren Vater sagen. »Man kann so leicht den Blick für das große Ganze verlieren.«

Sie dreht ihn fest in die andere Richtung.

»Mein Gott, Dad.«

Er sieht zu ihr hoch, beunruhigt.

»Es ist nicht nur ein Job, okay?«

»Ich wollte nicht …«

»Das Delphine bedeutet mir etwas. Ich habe mein ganzes Leben danach ausgerichtet.«

»Juliette …«

»Es läuft gut. Es läuft wirklich gut. Und es gehört mir. Mein Schweiß und meine Tränen stecken darin, Dad. Dafür brauche ich mich nicht zu schämen.«

»Natürlich nicht.«

»Ich bin stolz darauf«, sagt Juliette mit zitternder Stimme.

»Wir sind sehr, sehr stolz auf dich, Liebling«, sagt er. »Das sind wir immer gewesen, und das werden wir immer sein.«

»Ich weiß.« Juliette fühlt sich plötzlich klein. Sie hält sich am Rand des Spülbeckens fest. »Entschuldige.«

Ihr Vater bringt seine Schale zum Spülbecken und tätschelt ihr den Rücken. Emotionales hat in ihrer Familie nie eine große Rolle gespielt. Wohl das britische Erbe. Juliette ist es immer sehr recht gewesen. Die Hand ihres Vaters auf dem Rücken spricht Bände.

»Wir lieben dich.«

»Danke, Dad.«

»Aber Liebling …«

Juliettes Vater beißt sich auf die Lippe und runzelt die Stirn.

»Du solltest dein Leben nur nach einer Seite ausrichten«, sagt er leise.

*

Juliette schickt ihren Vater ins Bett und macht den Abwasch. Er protestiert nicht, küsst sie nur auf die Stirn und schlurft in sein Zimmer. Das Spülen beruhigt und lenkt sie davon ab, auf ihr Handy zu gucken, das erneut vibriert. Sie wagt es nicht, die Nachrichten abzurufen, die Panik in Louis’ Stimme zu hören. Der bloße Gedanke daran verursacht ihr Magenschmerzen. Als sie mit dem Abwasch fertig ist, wischt sie sich die Hände ab, bleibt mit dem Rücken gegen das Spülbecken gelehnt stehen und lässt den Blick durch das Esszimmer schweifen. Wie konnte alles nur so schnell so unordentlich werden? Juliette versucht, sich an das letzte Mal zu erinnern, als sie in Douarnenez war. Sie ist sich einen kurzen Moment sicher, dass es erst wenige Wochen her ist. Doch dann zählt sie die Wochenenden zurück, die geschäftigen Zeiten im Delphine, die sie sich durch die Gäste, die da waren, in Erinnerung rufen kann, und durch das Aufwachen morgens – oft noch in den Klamotten vom Vortag auf den Laken liegend, auf ihrem Sofa und einmal sogar auf dem Badezimmerboden. Sie zählt acht Wochenenden, dann hört sie auf. Es kann einfach nicht so lange her sein.

Das letzte Mal, dass Juliette ihre Mutter besucht hat, war sie noch zu Hause, hat aufgeräumt und Staub gewischt. Es standen immer zu viele Dinge herum, Souvenirs und Fotos und die Porzellanstatuetten, die ihre Mutter so liebt. Doch bei dem Besuch war ihr das Haus ordentlicher vorgekommen. Jetzt erscheint es ihr traurig und alt. Als wollte es aufgeben. Juliette reibt sich die Augen. Sie kann sich nicht erinnern, ob es bei ihrem letzten Besuch wirklich anders ausgesehen hat oder ob die Gegenwart ihrer Mutter diesen Eindruck bei ihr hat entstehen lassen. Ihre Mutter ist eine strahlende Persönlichkeit. Die Leute halten sie für Mitte sechzig, was seit schon seit zwei Jahrzehnten nicht mehr stimmt. Montags geht sie in die Bücherei, donnerstags zum Yoga und samstagmorgens zum Bridge. Sie spielt wirklich gut Bridge. Ohne ihre Mutter ist ihr Vater ein hilfloser alter Mann, muss Juliette denken. Das Murmeln über dem Kreuzworträtsel, und wie er beim Gehen schlurft. Juliette fragt sich, wann er selbst das letzte Mal bei einem Arzt war.

Sie geht zum Esstisch und greift nach der Zeitung, die ihr Vater oben auf dem Stapel liegen gelassen hat. »Bäckerei zu verkaufen«. Sie versucht, nicht die Nase zu rümpfen. Das wäre grausam. Stéphanie Jeunet hat tagaus, tagein in dieser Bäckerei gearbeitet, und für eine solche Arbeit muss man sich nicht schämen. Juliette ist über das Backen zum Kochen gekommen. Die Erfahrung, kouign-amann zu machen, die Brote und Kuchen für die Heiligenfeste, die Geburtstage und für Weihnachten zu backen. Mit fünfzehn hat Juliette Bestellungen für ihre bûches de Noël aufgenommen, die traditionellen Schokoladencremerollen, und für die großen Ingwerbrote mit Honig, die sie am Weihnachtstag in die Häuser der Nachbarn geliefert hat, eingepackt in Zellophanpapier mit großen roten Schleifen. Doch jetzt hat Juliette das Delphine. Das Delphine gehört ihr. Juliette wirft einen Blick auf ihre Tasche, die sie oben auf dem Treppenabsatz abgestellt hat. Auf ihrem Handy, das in der Tasche steckt, sind viele Nachrichten. Sie schuldet der Bank immer noch jede Menge Geld. Das Delphine gehört ihr noch nicht ganz, und eine positive Erwähnung im Gault-Millau wäre entscheidend für den weiteren Erfolg des Restaurants. Juliette sieht wieder in die Zeitung in ihrer Hand. Es gibt nur eine Seite mit Stellenangeboten und zum Verkauf stehenden Geschäften in Douarnenez. Juliette geht noch einmal die Anzeigen durch – Bäckerei, Elektrogeschäft, Kinderbekleidung. Kellnerin, Klempnerlehrling und die Köchin-/Haushälterin-Stelle, die ihr vorhin aufgefallen ist. Sie zerknüllt die Zeitung in der Hand und macht einen Ball daraus, sodass die Worte darin verschwinden, bevor sie sie auf den Boden wirft. Blödes Provinznest. Sie hasst es. Es gibt keine Jobs, keine Wirtschaft, alles befindet sich in einem fortwährenden Verfall. Diese Stadt verunsichert sie. Gibt ihr das Gefühl, als könnte all das Lähmende ansteckend sein, als müsste sie von hier weg, schnell, bevor sie sich infiziert. Sie wird langsamer werden, kraftlos und matt, ihr Leben wäre dem Tod geweiht.

Juliette geht schnell zum Spülbecken und greift nach der Rolle mit den grauen Mülltüten, die ihre Mutter in dem Fach darunter aufbewahrt. Sie nimmt eine mit zum Esstisch und wirft die Zeitungen hinein. Dann tritt sie einen Schritt zurück. Auf dem Tisch ist jetzt eine nackte Stelle, frei von Staub, wo die Zeitungen gelegen haben. Sie greift nach einem Stapel mit Briefen und Rechnungen, der neben dem Telefon liegt, und wirft sie ebenfalls in die Tüte. Auch einige Fotografien, vor allem von Juliette als Teenager – mürrisch und ernst –, kommen hinein. Zeitschriften, alte Zeitungen, Plastikdeckel, ein unscharfes Foto von ihrem Cockerspaniel, der seit Langem tot ist, lose Münzen, eine kaputte Schere, Hosen mit einem Riss in der Tasche und einer Nadel im Stoff, die darauf wartet, gebraucht zu werden. Juliette holt eine weitere Mülltüte. Und nach und nach kommt alles hinein, bis der Raum fünfmal größer und heller erscheint und Juliette besser atmen kann. Die Uhr an der Wand tickt laut. Es ist bald Mitternacht. Juliette ist ganz außer Atem. Schließlich sieht sie auf dem Boden die Zeitung, die sie zu einem Ball zusammengeknüllt hat, und steckt auch sie in die Tüte und bindet sie oben zu. Sie braucht ihre ganze Kraft, um die Säcke die Treppe hinunter und aus der Haustür zu tragen. Einer nimmt fast ihre Handtasche mit. Sie spürt das weiche Gewicht der Zeitschriften und das Geklapper von Glas und Holz von den Fotorahmen, als sie sie an den Rand des Bordsteins stellt. Als sie sich streckt, füllt kalte Nachtluft ihre Lunge. Über ihr glitzern Hunderte von Sternen im schwarzen Tuch des Himmels. Juliette blickt erstaunt. In Paris sieht der Nachthimmel nie so klar aus.

*

Als Juliette aufwacht, braucht sie einen Moment, um sich zu erinnern, wo sie ist. Sie schaut das blau geblümte Kissen an und den dicken braunen Teppich, auf dem ihre Handtasche steht, die weit offen ist, sodass ihr Handy sie anguckt. Sie greift danach und scrollt durch die Nachrichten. Vierzehn sind es, vor allem von Louis, keine von der Person, von der sie geträumt hat. Der Person, die daran schuld ist, dass ihr heiß ist und dass sie sich fehl am Platz fühlt und schuldig, als sollte sie solche Gedanken nicht im Schlafzimmer ihrer Kindheit haben, nur dass das genau der Ort ist, an dem diese Gedanken zum ersten Mal aufgetaucht sind.

Juliette steht auf. Betrachtet einen Moment das alte T-Shirt und die Leggins, die sie im Dunkeln in Ermangelung eines Nachthemds angezogen hat.

»Dad?«

Es kommt keine Antwort. Juliette klopft vorsichtig an die Tür zu seinem Zimmer. Die Tür ist nur angelehnt und gleitet sanft auf. Das Bett ist nicht gemacht. Die Fensterläden sind geschlossen.

»Dad?«, ruft Juliette noch einmal. Sie fragt sich, ob ihr Vater auf den Markt gegangen ist, um Essen zu kaufen. Er würde das tun, wenn er denken würde, dass sie dann länger bleibt. Er würde ihr Lieblingsobst kaufen, frisches Brot holen und ein großes, klebriges Stück kouign-amann in einer braunen Papiertüte. Durch die geschlossenen Fensterläden hört sie einen Lastwagen auf der schmalen Gasse. In diesem Moment klingelt in der Küche das Telefon.

Das Telefon, das einmal cremefarben war, ist vergilbt wie die alten Fotos im Flur. Juliette drückt den Hörer ans Ohr.

»Bonjour?«

»Juliette?«

»Oui. Bist du das, Dad?«

»Oh, gut, dass du noch da bist. Ich komme bald zurück.«

Juliette spürt das schlechte Gewissen wie einen Dolchstoß. Offensichtlich hat er angenommen hat, dass sie bereits gefahren ist, geflohen. In der kurzen Pause, die folgt, hört Juliette die Geräusche des Müllwagens, der von Haus zu Haus fährt.

»Wo bist du?«

»Ich bin … ich bin im Krankenhaus.«

»Bei Mum? Warum hast du mich nicht geweckt?«

»Ich bin früh aufgebrochen. Ich habe einen Anruf bekommen. Ich wollte dich schlafen lassen. Du schienst so müde zu sein.«

»Dad. Du hättest …«

»Juliette?«

Der Ton seiner Stimme, die Dringlichkeit, lässt Juliette nach Luft schnappen. Das plötzliche Schweigen ist dünn und spröde, wie Karamell, der jeden Moment zerbrechen kann.

»Was ist los?«, flüstert Juliette.

»Ich bin gleich zu Hause«, sagt ihr Vater und versucht, seiner Stimme Festigkeit zu geben. Doch in seiner Stimme schwingt ein Schmerz mit. Trauer.

Jetzt hört Juliette alles. Den Müllwagen, der lauter wird, ihren Atem, die Geräusche des Krankenhauses im Hintergrund, das Geräusch ihres eigenen Herzschlags hinter dem mühsamen Atem ihres Vaters.

Der Müllwagen.

»Liebling …«

Juliette lässt das Telefon fallen, sodass es an der Schnur baumelt, und stürzt die Treppe hinunter. Fotos von ihr, von ihrem Kindheitsselbst, ihrem jugendlichen Selbst sehen zu, wie sie vorbeieilt, ein verschwommener Umriss aus ungekämmtem Haar und einem zu großen T-Shirt und Leggins, die an den Knien ausgebeult sind. Juliette reißt die Tür auf und stürzt auf die Straße. Die Männer sehen sie an, sind für einen Moment abgelenkt, ihre behandschuhten Hände greifen nach grauen und schwarzen Plastiksäcken.

»Arrête!«

Juliette stürzt, kann sich im letzten Moment mit den Handflächen abstützen. Rappelt sich auf.

»Pardon?«, fragt einer.

»Arrête!«, ruft sie noch einmal und hält die Handflächen hoch, die aufgeschürft sind und zu bluten anfangen. Und dann auf Englisch: »Stopp! Lassen Sie die! Lassen Sie die Säcke hier!«

Die beiden Männer sehen sich an.

»Das ist kein Müll!«, weint Juliette, noch immer auf Englisch. »Lassen Sie sie. Bitte, lassen Sie sie.«