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Süß wie die Liebe, salzig wie das Meer – so schmeckt das Leben
Wenige Tage vor der Hochzeit stirbt Francescas große Liebe Alex bei einem Unfall. Kurz darauf erfährt sie, dass ihr vermeintlich perfekter Verlobter Geheimnisse vor ihr hatte. Am Boden zerstört, flüchtet sie in eine kleine Holzhütte in den Wäldern von Washington. Hier kann sie den Duft der Pinienbäume und des nahen Ozeans genießen und den Weg zurück ins Leben finden. Dabei helfen ihr ihre Nachbarn, die sie herzlich in ihrer Mitte aufnehmen. Und vor allem Jack, der sich zusammen mit seiner Tochter Huia in Francescas Herz schleicht.
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Seitenzahl: 404
HANNAH TUNNICLIFFE
Der Geschmack von Salz und Honig
Roman
Aus dem Englischen von Hanne Hammer
Zum Buch
Francesca erlebt einen Alptraum: Der Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte, ist beim Surfen tödlich verunglückt. An Alex’ einstigem Lieblingsort, einer Holzhütte in den duftenden Pinienwäldern Washingtons, will die junge Frau zur Ruhe kommen. Und sie hofft, dort ihrer überfürsorglichen italienischen Großfamilie zu entkommen. Doch ihre Schwester Bella, das schwarze Schaf der Familie, wird sie nicht los. Nach einem Streit herrschte jahrelang Funkstille, nun nähern sich die Schwestern langsam wieder an. Rührend versorgt Bella Francesca mit Unmengen von hausgemachten italienischen Speisen. In der Abgeschiedenheit trifft Francesca außerdem auf Menschen, die ihr helfen, langsam wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Doch dann wird ihre Welt noch einmal aus den Angeln gehoben: Offenbar war Alex nicht der, für den Francesca ihn hielt. Sie muss sich entscheiden: Möchte sie an ihrer alten Wahrheit festhalten? Oder will sie einen neuen Platz im Leben finden – und sich wieder für die Liebe öffnen?
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Von Hannah Tunnicliffe sind im Diana Verlag erschienen:
Der Duft von Tee
Der Geschmack von Salz und Honig
Deutsche Erstausgabe 05/2016
Copyright © 2015 by Hannah Tunnicliffe
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Seasons of Salt and Honey bei Pan Macmillan Australia Pty Ltd
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Heiko Arntz
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München
Umschlagmotiv: © Anest, Nailia Schwarz|, B. and E. Dudzinscy,
Zaira Zarotti, Yulia Grigoryeva / Shutterstock
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-18366-0V001
www.diana-verlag.de
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Dieses Buch ist auch als E-Book lieferbar.
Für Sian
Was fühlst du beim Anblick dieser Wälder, ihrer Schwere, ihrer Dichte, ihre gedrängten Ordnung? Wie viel Wahrheit sie enthalten, wie viel Wirklichkeit. Des Lebens Säfte fließen in ihnen. Alles ist Wachstum, Sein und Werden … Wenn der Wind durch sie hindurchfährt, erzittern sie, und doch stehen sie fest und entfalten sich im Universum – entfalten sich kleinen Samenkörnern entspringend, die dicht an Mutter Erde treiben. Zarte Kindlein, die unter der Obhut ihrer Eltern mutig ihre Blätter ausbreiten und mit mächtiger Kraft himmelwärts streben. Die im Winde schwanken, im Sonnenschein glänzen, im Regen baden und ihre Äste unter dem Schnee beugen, die den Tau trinken, in der Schöpfung frohlocken, einander umarmen und Vögeln, Wild und Myriaden von Insekten Schutz bieten.
Emily Carr, Opposite Contraries
Kapitel 1
Tante Connies Gurkensandwiches liegen, befreit von der Plastikfolie, auf einer Anrichteplatte auf Mrs. Gardners Tisch. Die spitz zulaufenden Dreiecke sind trocken und hart geworden. Wie Reihen von Zähnen. Vier Reihen. Der Kiefer eines großen Weißen Hais. Ich starre sie zu lange an und spüre, wie der Blick meines Vaters zu mir herwandert. Ich zwinge mich, ihm zuzulächeln. Er beobachtet mich, hier in diesem mit in Schwarz und Grau gekleideten Menschen gefüllten Raum. Das Wetter heute will nicht recht zu diesen Farben passen. Es ist zu heiß für die Jahreszeit, und der Muff von lange nicht getragenen Kleidern mischt sich mit dem penetranten Odeur von Frühlingsschweiß.
Ich sehe zu Mrs. Gardner hinüber, die an der Tür steht, betrachte ihren feinen rauchgrauen Cashmerepullover und die schwarze Hose mit den korrekten Bügelfalten. Sie spricht mit einer Frau. Die Finger der rechten Hand berühren leicht ihre Perlenkette. Ihr Gesichtsausdruck wirkt wie aufgemalt – freundlich, liebenswürdig, Wangen und Augen und das kleine Lächeln auf korrekte Weise arrangiert, der vollkommene Ausdruck kontrollierter Trauer.
Im Garten stehen, mit Zigaretten in den Händen, mehrere Leute in knielangen, an den Säumen ausgefransten Hosen, die vom Salz rissigen Fersen sind in den Gummisandalen sichtbar. Sie drängen sich zusammen, blicken auf ihre Getränke in den roten Plastikbechern, weil Mrs. Gardner es nicht duldet, dass sie aus Dosen trinken. Unter ihnen eine junge Frau, das lange Haar unter einem Hut verborgen. Sie schaut zu mir herüber und dann wieder weg, die Augen vom Weinen gerötet.
Die Luft im Zimmer ist zum Schneiden dick. Ich werfe einen Blick auf die Sandwiches, die Zia Connie nie für die Familie, sondern nur für solche Gelegenheiten macht. Für merigans, obwohl sie diesen Ausdruck in dieser Gesellschaft nicht gebrauchen würde. Ich stelle mir vor, wie die Gurke an meinen Zähnen klebt, wie die dicke Butter gegen den Gaumen matscht, wie das trockene Stück Brot in der Kehle stecken bleibt. Es sind die gleichen Sandwiches, die Zia Connie zuletzt auf der Beerdigung von Teresinas Ehemann serviert hat. Der Unterschied ist der, dass er fünfundsiebzig geworden ist. Und Alex ist erst einunddreißig. War erst einunddreißig.
Papa kommt durch den Raum auf mich zu. Ich sehe ihn aus dem Augenwinkel. In meinem Mund sammelt sich auf diese ganz bestimmte Weise Speichel, die einem sagt, dass man sich gleich übergeben musst.
Ich laufe los. »Entschuldige mich … sorry.«
Der Magen revoltiert. Ich beschleunige meine Schritte. Meine Füßen tragen mich zur Tür, die hohen Absätze trommeln einen schnellen, verzweifelten Rhythmus draußen auf der Vordertreppe. Frühlingsluft, grün und frisch, füllt meine Lungen.
»Frankie?«
Das ist Papa. Ich möchte gerne kehrtmachen und mich in seine Arme werfen, aber die Leute können uns durch die Fenster sehen, sie würden die Hälse recken und uns beobachten. Mrs. Fratelli, meine Chefin in der Stadtverwaltung, meine Tanten, Alex’ Arbeitskollegen, die Jungs, mit denen er Hockey gespielt hat und ihre Frauen. Mein Cousin, Vinnie. Und meine Cousinen, Giulia und Cristina – Cristina mit ihrem Baby auf der Hüfte. Meine Onkel Mario und Roberto, die beide noch volle Teller in den Händen halten. Ein paar Familienangehörige von Mama, entfernte Verwandte, an deren Namen ich mich nicht erinnere und die mich ständig mit den Augen verfolgen. Gardners. Caputos. Mehr Caputos als Gardners, aber alle beobachten mich, mit vollen Tellern und ernsten Gesichtern.
»Das arme Mädchen«, werden sie sagen. »Erst ihre Mutter und jetzt das.« Sie werden die Köpfe schütteln und im Stillen Gott danken, dass es nicht ihre Schwester oder Tochter oder Nichte ist. Gott danken, dass es nicht sie getroffen hat.
Ich schwanke über den heißen Rasen, als wäre ich betrunken. Aber die Luft hier draußen ist gut, besser als drinnen, ich atme tief ein, laufe weiter. Flüchte.
»Frankie?«, ruft Papa noch einmal von der Tür her.
»Alles okay.« Meine Stimme ist belegt. Wir beide wissen, dass nichts okay ist.
Er sieht mir nach, mit dieser typischen überforderten Miene. So sieht er aus, wenn er sich über Onkel Marco ärgert. So hat er damals geguckt, als Cousin Vinnie sich vor unseren Augen das Bein gebrochen hatte – der Knochen stach durch die Haut heraus. Oder – das war am schlimmsten – als Bella gegangen ist.
Ich schreite energisch aus, als wüsste ich, wohin ich will. Ich spüre das Drücken der lächerlichen schwarzen Satinsandalen nicht. Ich höre das pergamentene Rauschen des schwarzen Kleides nicht. Ich gehe an einem Zaun mit weißen Rosen vorbei. Vorbei an einem Auto mit abblätternder gelber Farbe und einer wackelnden Mutter Gottes auf dem Armaturenbrett. Eine große dunkelhaarige Frau ist im Begriff auszusteigen. Ich gehe weiter, setze mich in mein eigenes Auto und lasse den Motor an. Die Föhnhitze der Klimaanlage bläst mir ins Gesicht.
Ich fahre durch die Stadt, die sonntäglich verschlafen und ruhig ist, und weiter in die Vororte. Erst stehen die Häuser dicht zusammengedrängt, dann werden die Abstände größer. Eine Frau sieht aus dem Küchenfenster, blinzelt, hält inne, greift nach einer Handvoll Besteck. Eine Katze beobachtet mich von einer Veranda aus, als wäre ich eine Maus, die gelben Augen blicken ungerührt. Ein Kind auf einer Schaukel, ein aufsässiger Blick. Ein Hund folgt mir ein Stück, breites Grinsen, die Zunge heraushängend wie ein Lesezeichen, als wollte er dorthin, wo ich hingehe. Als wüsste er, wo ich hingehe.
Aber ich weiß es nicht. Oder nicht genau.
Ich stelle die Klimaanlage aus und öffne die Fenster, spüre, wie die Welt zu mir hereinströmt. Mein Handy klingelt. Ich sehe zum Beifahrersitz, kann mich aber nicht erinnern, dass ich es dorthin gelegt habe. Es klingelt und klingelt, hört auf und fängt wieder an. Ich kann mir ihre Fragen denken: Wo? Warum? Wielange? Und das Mitleid: Oh, mein Liebling, cara mia, so beruhige dich doch, ich weiß. Aber niemand weiß. Nur ich weiß. Er gehörte mir. Und jetzt ist er fort.
Ich greife nach dem Handy, als es zum dritten Mal klingelt und werfe es aus dem offenen Fenster. Ich höre nicht, wie es auf dem Asphalt aufschlägt. Es verschwindet einfach, als würde es vom Erdboden verschluckt, dann herrscht wieder wohltätige Stille. Nur die Geräusche des Motors, des Winds, der am Fenster vorbeistreicht, und der Räder auf der Straße sind zu hören.
Die letzten Häuser treten den Rückzug an, machen gähnender Leere Platz. Dann dringt das Flüstern des Meeres durch das offene Fenster herein. Das Abkühlen der Erde. Bald sind wir im Wald.
Die Sonne geht unter, Zoll um Zoll, verschwindet in den Wolken, um zu schlafen. Ich fahre jetzt langsam, um den Weg zu finden. Alex, blond, quicklebendig und immer zur Stelle, sitzt neben mir, zeigt mir den Weg. Nur dass er genau das nicht ist. Du erinnerst dich, Frankie. O ja, erinnere mich. Eine Linkskurve, dann noch eine, ich folge den Schildern. Edison, WA. Noch ein Stück weiter.
Bäume ragen auf. Einladend und warnend zugleich. Dann, endlich, wird die Straße zu einer Zufahrt, unbefestigt, knirschender Schotter. Ich werde noch langsamer. Äste bilden über mir eine Kathedrale. Hier ist die Kirche, und hier ist der Kirchturm. Öffne die Tür …
Ich halte an und steige aus, meine Füße sind nackt. Inzwischen dämmert es. Die Hütte liegt vor mir. Sie ist alt, aber intakt, klein, aber perfekt. Die alten Baumstämme sind auf eine ganz bestimmte Weise zugeschnitten und zusammengefügt, von Männern, die gewollt haben, dass sie Bestand hat. Alex gehörte zu der vierten Generation von Söhnen, die hier auf Spinnenjagd gegangen sind. Vier Generationen, die mit ihren Messern die umstehenden Douglastannen angeritzt haben, um zu sehen, wie das Harz aus ihnen heraustropft, die den langen Weg zum Meer hinuntergegangen sind, um zu schwimmen, wenn das Wasser noch viel zu kalt war.
Ich gehe um die Hütte herum, über piksende Tannennadeln, umhüllt vom würzigen Duft des Waldes. Ich fahre mit den Fingern an den Stämmen entlang. Der Schlüssel fällt auf meine Füße, schwer und rostig.
Ich stecke ihn ins Schloss, dann zögere ich, lasse den Schlüssel, wo er ist und trete einen Schritt zurück, um mich in einen der beiden alten Holzgartensessel zu setzen. Einen Moment frage ich mich, ob er unter mir zusammenbrechen wird, wie es Goldlöckchen im Märchen passiert, doch der Stuhl ist unverwüstlich. Mein schönes, unpraktisches schwarzes Kleid bleibt allerdings an einem Stück Holz hängen und reißt.
Langsam findet mich die Dunkelheit. Der Mond, der durch einen Riss in den Bäumen guckt, ist milchweiß. Der Wind flüstert in den Blättern. Die Bäume greifen nach den Sternen und schwanken. Die Sterne glitzern wie Diamanten an ihren Fingern. Mir ist kalt, und ich bekomme eine Gänsehaut. Ich zittere.
Es war so leicht, sich in Alex zu verlieben.
Ich war eine »Spätentwicklerin«. So hat es Tante Connie jedenfalls gern ausgedrückt. Oder wie Tante Rosa über ihrem Espresso mit zu viel Zucker zu sagen pflegte, als wäre ich nicht da: »Porco Dio, wann bekommt dieses Mädchen endlich einen Busen?« Bella hatte dieses Problem nicht. Sie bekam in den Sommerferien, als sie nicht einmal vierzehn war, plötzlich Brüste, und als die Schule wieder anfing, kriegten die Jungen die Münder nicht mehr zu. Im gleichen Alter verbrachte ich viel Zeit in der Bibliothek und versteckte mich vor den Jungen, die plötzlich ganz anders rochen, und den Mädchen mit ihren weichen Fleischhügeln unter den T-Shirts. Das seltsame neue Lachen, das sie miteinander teilten, das ständige Gezerre, das Stoßen und Ziehen, das nicht aufhören wollte – all das ergab für mich keinen Sinn.
Doch dann passierte es. Es war wie ein Unfall. Genau in dem Moment, da mir klar wurde, dass es Jungen gibt, die man mögen kann, in dem Moment, da mir auffiel, dass ihre Stimmen tiefer geworden waren und ihre Schultern breiter, und dass ihre Blicke zur Seite schossen, wenn ich den Gang hinunterkam, genau in dem Moment war Alex da.
Wenn ich zurückdenke, war alles furchtbar klischeehaft. Schlimmer als jede Kinoschnulze. Ich räumte gerade Bücher in mein Schließfach, und er stellte sich neben mich. Er war nervös. Er blickte auf meine Brust hinunter, dann weiter auf seine Schuhe, dann wieder hoch, holte kurz Luft und lächelte verlegen. Ich wartete. Wie erstarrt und sprachlos und hoffte, dass ich nichts sagen musste. Er trug ein T-Shirt mit einem Seahawks-Logo.
»Hey. Du bist Francesca, oder?«
Ich nickte.
»Alex. Alex Gardner.«
Ich schaffte es zu lächeln, sagte aber nichts.
»Du schleppst immer so viele Bücher mit dir herum.«
Ich zuckte leicht mit den Schultern und lächelte wieder, spürte, dass meine Wangen feuerrot waren. »Ja«, sagte ich mit einem Kloß im Hals.
»Ja«, antwortete er und sah sich um, als wollte er sehen, wer zu uns hersah. »Hey, ich habe mich gefragt, ob du dieses Wochenende schon etwas vorhast?«
Wir stolperten über unsere Sätze, als wären sie Füße und als würden wir versuchen zu tanzen.
»Dieses …?«
»Samstagabend zum Beispiel?«
»Oh. Ähm …«
»Es macht nichts, wenn du …«
»Nein, das ist okay, ich …«
»Jason und ich … Jason Shannon, kennst du ihn?«
Ich nickte. Er war zwei Jahre älter als ich, der größte Junge der Schule, ein eins neunzig großes Muskelpaket. Alex’ bester Freund.
»Cool. Also, wir wollen bowlen gehen oder so. Oder einfach ein bisschen chillen, wie wär’s?«
Seine Zähne waren unglaublich weiß. Ich konnte den Blick nicht von ihnen wenden. Ich nickte wieder, dann wurde mir klar, dass ich etwas sagen musste.
»Ja. Ja, okay. Ich meine, ich habe Samstag nichts vor.« Ich hatte das Gefühl, als wäre mein Mund voller Murmeln.
Alex grinste, er schien sich zu freuen. »Ja?«
»Ja«, antwortete ich.
Wir haben uns bei der Bowlingbahn getroffen, da ich nicht wollte, dass er sah, wo ich wohnte. Nicht, wenn er in einer dieser Nobelvillen im Queen-Anne-Viertel wohnte, wie alle sagten. Ich trug ein enges weißes Top, weil ich irgendwo gelesen hatte, dass Weiß die Brüste größer wirken ließ, und ich hatte viermal Eyeliner auftragen müssen, bevor beide Seiten gleich aussahen. Alex hatte eine grüne Kugel und ich eine lila. Er berührte meine Hand, als ich sie aus der Rückgabe holen ging. Wir tranken Cola und aßen Eis. Angela O’Brien saß auf Jason Shannons Schoß. Sie knutschten hemmungslos vor allen herum, bis Alex sagte: »He, Leute, nehmt euch ein Zimmer.«
An jenem Tag am Schließfach fing alles an. Wir waren ein Highschool-Pärchen, wie alle es sich erträumen, es aber nicht erleben, weil es so etwas nur im Film gibt. Oder allenfalls zur Zeit unserer Eltern, als die Dinge noch nicht so kompliziert waren, und wenn das Mädchen schwanger wurde, wurde geheiratet. Ich wurde nicht schwanger, und ich war nicht in einem Film, ich hatte einfach Glück, und das wusste ich. Ich wusste instinktiv, wie viel Glück ich hatte. Ich wusste, dass alles perfekt war, und ich habe versucht, alles richtig zu machen, damit es so blieb. Bis heute.
Bis Alex aus dem Bad in unserer Wohnung rief: »Hey, Frankie, ich glaube, ich gehe surfen.«
Und ich antwortete: »Okay«, und hob meinen Kopf vom Kissen und fragte: »Bleibst du lange weg?«
Und er ins Schlafzimmer kam und mir einen Kuss auf die Stirn gab, genau da, wo abergläubische Leute glauben, dass das dritte Auge sitzt. Er sagte: »Nein, nicht lange. Ich denke, ich bin zum Mittagessen zurück.«
Es war ein Tag genau wie heute. Die Sonne hatte die Wolken verfärbt, das Licht war mild und gelb wie flüssiger Honig. Ein perfekter Frühlingsnachmittag.
Als mein Handy klingelte, hatte ich die Hände im Spülbecken. Ich hatte pitta ’mpigliata gemacht. Ich weiß nicht warum. Es war nicht Weihnachten. Alex aß kaum etwas Süßes, und morgen würden wir wahrscheinlich in unser Lieblingscafé zum Brunch gehen. Die Wohnung – unser feines, kleines Zuhause mit unseren feinen, kleinen Dingen: gerahmte Bilder, Bücher in den Regalen, Listen am Kühlschrank – hatte den Morgen über mir gehört, deshalb hatte ich gebacken und die Zeit vergessen. Es roch nach Feigen, Rosinen, Zimt, gebackenem Teig und Honig.
Als mein Handy klingelte, dachte ich, es wäre Alex. Aber er war es nicht.
»Hi, Francesca.«
»Hi, Mrs. Gardner … Barbara.«
Ihre Stimme klang seltsam und zittrig. Ich verstand nicht, was sie sagte.
»Suchen Sie Alex?«, fragte ich. »Er ist surfen gegangen. Dürfte aber bald zurück sein.«
»Francesca …«
Was als Nächstes geschah, weiß ich nicht mehr. Daran erinnere ich mich bis heute nicht. Einen Moment fühlte ich mich leicht und frei und schwebte, und alles war in Ordnung. Und dann war ich Alice, die in das Kaninchenloch fiel.
Pitta ’mpigliata
Süße Brotrosetten mit Früchten und Nüssen
Diese gefüllten süßen Brotrosetten stammen aus San Giovanni in Fiore in Kalabrien und werden zu Weihnachten serviert.
Für ungefähr ein Dutzend kleine Rosetten von zirka 15 cm Durchmesser.
¼ Tasse Olivenöl Extra Vergine
½ Tasse Muskat-/Dessertwein
1 Ei
⅛ Teelöffel Meersalz
2 Tassen italienisches Mehl (Typ 00)
8 Gramm Hefe
1½ Tassen Rosinen
½ Tasse getrocknete Feigen
½ Tasse Datteln
1 Tasse Pekannüsse
1 Tasse Mandeln
¼ Tasse Honig
Puderzucker zum Bestäuben
Zubereitung
Nüsse und Früchte grob hacken. Honig hinzufügen, gut mischen und zur Seite stellen. Ein Backblech mit Backpapier auslegen.
Wein, Olivenöl, das Ei und das Salz in die Schüssel eines Mixers geben. In eine andere Schüssel Mehl und Hefe sieben. Unter Anwendung eines Knethakens Mehl zugeben, bis sich ein Teigklumpen bildet (so viel Mehl zufügen wie nötig). Den Teig 15 bis 20 Minuten ruhen lassen.
Den Ofen auf 180 Grad vorheizen. Den Teig in mehrere Stücke teilen und zu lasagneähnlichen Platten von 5 cm Breite ausrollen. Die Länge der Streifen bestimmt die Größe der Rosette. Durch das Schneiden mit einem Teigrädchen oder einem gerillten Pasta-Schneidrad bekommt man einen schönen Rand.
Die Nuss-Frucht-Mischung auf die Teigstreifen geben und der Länge nach in der Mitte falten. Die gefüllten Streifen vorsichtig in Windrädchenform rollen.
Sollen die Rosetten größer werden, können sie mit Zahnstochern zusammengehalten werden, die in die Seiten gesteckt werden.
Die Rosetten auf das Backblech setzen und mit Olivenöl beträufeln. 25 bis 30 Minuten backen, je nach Größe der Rosetten.
Die gebackenen Rosetten mit Puderzucker bestäuben oder nach Wunsch warm mit Eis servieren.
Kapitel 2
Als ich aufwache, liege ich unter einer alten Decke, die nach Mottenkugeln riecht. Die Hütte ist ein Uterus. Ihre dicken Wände schützen mich vor Lärm und Licht. Es gibt keinen Wecker, keine Autos, die verschlafene Pendler zur Arbeit befördern, nicht einmal die Geräusche von Kindern auf ihrem Schulweg, lachend und tobend, das Rattern ihrer Tretrollerräder auf dem Bürgersteig. Meine Füße berühren das Ende des kurzen Betts. Ich wälze mich auf den Rücken. Mein Kleid raschelt, und irgendwo summt träge eine Fliege. Ich öffne ein Auge. Da ist sie, sie dreht ein paar Runden, dann ist sie verschwunden. Ich öffne das andere Auge. Staubflocken zittern im blassen Morgenlicht. Es ist so ruhig. Nur der Flügelschlag eines Vogels ist zu hören, der schleichende Gang der Wolken. Eine ganze Welt aus Blättern und Himmel und Vögeln und Insekten hinter den vier geschnitzten Holzwänden schenkt mir nicht die geringste Beachtung.
Und dann ist da noch etwas anderes. Etwas, das mich geweckt hat. Das Schlurfen von Schritten. Gemurmel. Ein Klopfen an der Tür, das noch mehr Staubflocken tanzen lässt.
Ich ziehe die Decke bis zu den Augen hoch. Sie liegt quer, sodass meine nackten Füße darunter hervorgucken.
»Hallo?«
Ich antworte nicht, atme langsam und gebe keinen Laut von mir. Es erinnert mich an Bella, wie wir mit unseren Cousins und Cousinen nascondino gespielt haben. Bella hat beim Verstecken nie gewonnen. Nie. Sie hat zu laut geatmet, sie hat angefangen zu kichern und hat, klein wie sie war, einfach zu viel Raum eingenommen. Ich habe es gehasst, mit ihr zu spielen, so wie alle älteren Kinder es hassen, mit den jüngeren zu spielen. Vor allem wenn sie in dein perfektes Versteck kriechen und dich durch ihr albernes Lachen verraten.
»Hallo? Sind Sie da?«
Ich sehe unter der Decke nach, wie um es zu überprüfen. Aber es gibt keinen Zweifel, ich bin hier. In einem steifen, schwarzen Satinkleid, das jetzt einen Riss hat, mit schmutzigen Fußsohlen, lackierten Nägeln. »Hawaiianischer Sonnenuntergang« hat die junge Frau in dem Kosmetikstudio die Farbe genannt.
»Wer ist da drin, Papa?« Die Stimme eines Mädchens, hell und leicht quengelnd.
Ich schaue unter der Decke hervor. Schritte sind auf den Blättern und dem Schotter zu hören.
»Papa?«
Eine Hand klopft die Rückwand ab, sucht nach dem Schlüssel. Mein Blick wandert über den Holzboden, den geschwärzten Kamin und den Stuhl daneben. Da ist der Schlüssel, ganz friedlich liegt er da. Ich merke, wie ich ausatme, halte die Decke aber noch immer fest.
Beim Verstecken ist der Trick der, dass man sich vorstellt, unsichtbar zu sein. Das habe ich versucht, Bella klarzumachen. »Du darfst nicht atmen«, habe ich sie angefaucht, wenn sie mir in mein Versteck gefolgt ist, als wäre das möglich.
»Papa?«
Drüben bei der Spüle ist – über einem Schrank mit ein paar angeschlagenen Tassen und Emailletellern – nachträglich ein Fenster eingebaut worden. Der Rahmen ist bereits rissig geworden und wird von den Wänden geärgert, die älter sind als er und sich so viel besser gehalten haben. Das Glas hat sich verzogen. Ich starre es an und warte. Mein Körper ist reglos und erstarrt.
Ein Gesicht taucht im Fenster auf. Der Mann schirmt seine Augen mit den Händen ab, um hineinzusehen.
»Papa?«
»Bleib da, Huia!« Seine Stimme ist belegt, er wirkt gereizt. »Sind Sie eine Gardner?«, ruft er.
Die Frage trifft mich. Mein Herz schlägt schneller.
»Die Hütte ist Privatbesitz«, fügt er hinzu.
Ich schweige.
»Sind Sie eine Gardner?«, fragt er erneut, diesmal sanfter, als könnte er mich jetzt sehen und wüsste bereits, dass ich es nicht bin.
Ich ziehe mir die Decke über das Gesicht. Ich höre die Stimme des kleinen Mädchens, verstehe aber nicht, was sie sagt. Der Mann klopft vorsichtig ans Fenster, aber ich kneife die Augen zu. Die Rufe des Mädchens werden zu einem Schatten seiner Schritte um die Hütte, einmal und noch einmal und dann noch einmal andersherum. Er klopft an die Tür.
»Hören Sie mich? Das ist Hausfriedensbruch.«
»Papa?«
»Ich muss die Besitzer der Hütte benachrichtigen …«
»Papa?«
»Sie dürfen sich hier nicht ohne Erlaubnis aufhalten. Ich werde die Besitzer informieren und anschließend die Polizei, wenn Sie nicht sofort gehen.«
Ich kneife die Augen weiter zusammen. Das ist der andere Trick beim Versteckenspielen. Nicht aufgeben. Wenn du erst anfängst zu denken, dass du gesehen worden bist, hörst du auf zu denken, dass du unsichtbar bist, und dann bemerkt dich jemand. Gib nicht auf, bis dein Cousin – groß und hager und mit aufgeschrammten Knien – dich an der Schulter packt und sich auf die Stirn schlägt und ruft: »Imbecille, sto’stronza!« – duIdiot. Auch Bella hat irgendwann alle Tricks gelernt, allerdings erst als wir über das Alter für Spiele hinaus waren. Man könnte sagen, dass Verstecken ihre Stärke geworden ist.
Als ich schließlich widerwillig aufstehe, tappe ich über den Boden zum Fenster, an dem das Gesicht des Fremden aufgetaucht ist. Der Mann und das Kind sind verschwunden, soweit ich sehen kann, was nicht sehr weit ist, denn dort sind sofort die Douglastannen, Riesen-Lebensbäume, Westliche Hemlocks, Himbeersträucher, Farnbüsche. Grün, grün, grün. Ich merke, dass ich zittere, und sehe auf meine nackten Arme und das schwarze Kleid hinunter, das zerknittert ist wie ein altes Gesicht, dann wende ich mich vom Fenster ab und durchsuche die Hütte nach etwas Essbarem und nach Kleidern zum Wechseln.
Die Hütte gehörte Errol Gardner. Errol ist ein direkter Vorfahre von Alex’ Großvater. Sie ist an Marshall Gardner weitervererbt worden, Alex’ Vater, obwohl er und Mrs. Gardner nur selten hierherkommen. Mrs. Gardner erträgt die Abgeschiedenheit nicht, die Enge des Waldes, das Ungeziefer, das Klohäuschen. Vor allem das Klohäuschen.
Ich bücke mich, um in den Schrank unter der Spüle zu sehen, wische ein Spinnennetz weg. Die Spüle und der Schrank und die Toilettenspülung im Klohäuschen sind in den Fünfzigerjahren von Alex’ Großvater installiert worden, Henry – oder Hank, wie er genannt wurde. Die Schrankgriffe sind silbern und rund. Oben ist der Schrank mit hellgrünem Linoleum beschichtet. In einem Regal stehen ein paar alte Konserven – Obst, Bohnen und eine, von der das Etikett abgegangen ist und die ich zu meiden beschließe. In einer widerspenstigen Schublade finde ich einen Dosenöffner und nicht zusammenpassendes Besteck und öffne eine Dose Pfirsiche. Die orangen Halbkugeln wippen in dem seidigem Sirup wie Rettungsschwimmkörper. Ich spieße eine mit einer Gabel auf und stecke sie mir komplett in den Mund. Saft läuft mir die Wange hinunter. Ich bleibe an der Spüle stehen und sehe mich im Raum um. Es ist eine Hütte für eine Person, mit nur wenigen Möbeln: einem Bett, auf dem jetzt die weiche, abgenutzte rot-weiße Decke liegt, einem Stuhl, einem unpraktisch schiefen, schmalen Kleiderschrank, einem kleinen Tisch, einem Kamin – wenn man einen Kamin denn als Möbel bezeichnen kann – und einem spärlich bestückten Bücherregal. Seltsamerweise liegt ein Kindermalbuch aufgeschlagen auf dem kleinen Tisch.
Der Wald draußen ist wild und chaotisch, aber in der Hütte ist es gemütlich und übersichtlich. Sie ist perfekt. Ihre geringe Größe, ihr Alter und die Tatsache, dass nichts zusammenpasst – rote Decke, hellgrünes Linoleum, große Gabeln, kleine Messer –, all das hat etwas Beruhigendes. Eine verwirrte, gebrochene Frau ist hier nicht fehl am Platz. Eine verwirrte, gebrochene Frau kann hier unsichtbar werden, indem sie einfach die Augen schließt und ihre Kindheitstricks anwendet.
Ich gehe zum Schrank. Hier habe ich im Dunkel der vergangenen Nacht die Decke gefunden. Der Geruch von Mottenkugeln schlägt mir entgegen, als ich die Tür aufmache. Der Schrank sieht jetzt noch schiefer aus. Wie in dem Geschirrschrank unter der Spüle ist nicht viel darin. Eine Öljacke auf einem umhäkelten Kleiderbügel, ein großes Paar Stiefel, blaue Gummisandalen. In einer Schublade befinden sich eine grüne Bettdecke und gestärkte cremefarbene Laken mit einigen grauen Stellen, in der anderen ein Männerpullover aus Wolle mit marineblauen Schulterklappen und drei braunen Lederknöpfen, Socken, denen eine hungrige Motte nicht hatte widerstehen können, und ein Paar alte Gartenhandschuhe. Abgesehen von dem penetranten Geruch nach Mottenkugeln riecht es nach Wolle, Erde und Staub.
Ich falte den Pullover auseinander und ziehe ihn an. Die Wolle kratzt auf der Haut, wärmt aber schnell. Ich werfe einen Blick auf den Holzstuhl an dem kleinen Tisch, beschließe aber, mein Frühstück draußen einzunehmen. Die Tür gibt einen kreischenden Protestlaut von sich, als ich sie aufstoße.
Ich sehe mich auf der Lichtung um, die gepflegt und ordentlich aussieht, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass einer der Gardners das war. Alex ist lange nicht mehr hier gewesen, und sein Bruder, Daniel, steckt mitten im Studium. Er will Anwalt werden, zur Freude seiner Eltern. Ich halte Ausschau nach dem Mann und seiner Tochter, kann sie aber weder sehen noch hören.
Ich lasse mich in einem der schweren Gartensessel nieder, platziere meine Dose und meine Gabel auf der Armlehne und lehne mich zurück. Ich war nur wenige Male in der Hütte. Sie liegt in einem kleinen Waldgebiet an der Küste nahe dem Chuckanut Drive zwischen Seattle und Vancouver. Der nächste Ort heißt Edison, was ich mir nur wegen Thomas Edison gemerkt habe und weil wir ein paarmal dort gehalten haben, um einen Kaffee zu trinken. Einen Kaffee mit einem Keks in einem Laden, der nur Bargeld nimmt. Ich würde jetzt was geben für einen Kaffee.
Die Bäume hier sind Giganten, sie zwingen das Licht, sich zu ducken, sich zwischen ihnen hindurchzudrängen, um seine Strahlen auf das Hüttendach zu werfen. Staubpartikel und kleine Insekten werden von den leuchtenden Fingern erfasst. Doch trotz des Lichts ist es im Wald immer kühl, die Bäume absorbieren den größten Teil der Sonnenwärme, bevor sie durch das Baumkronendach dringt. Die Caputos klagen ständig, es sei zu kalt in Washington. Der viele Regen und die Kälte beleidigen das warme sizilianische Blut in ihren Adern, aber mir macht das Klima nichts aus.
Ich höre ein Auto die Zufahrt entlangkommen und setze mich etwas aufrechter hin. Ich überlege, mich in die Hütte zurückzuziehen, doch was hätte das für einen Zweck. Der Mann, der heute Morgen vorbeigekommen ist, weiß bereits, dass ich hier bin. Die Musik wird laut, als das Auto sich nähert. Ich vermute daher, dass es nicht die Polizei ist. Schließlich ist die Nasenspitze eines weißen Fords zu sehen, die Musik wird abrupt heruntergedreht. Ein langer Kerl entsteigt dem Fahrzeug.
»Francesca?«
Die Stimme von Alex. Für einen Moment stockt mir der Atem.
»Daniel.«
Er setzt sich neben mich und fährt sich mit der Hand über das Gesicht.
Daniel sieht Alex kein bisschen ähnlich, doch ihre Stimmen klingen so gleich, dass ich am Telefon manchmal Schwierigkeiten hatte, sie auseinanderzuhalten. Mit zunehmendem Alter ist es noch schwieriger geworden. Daniel sieht wie ihr Vater aus – braunes Haar und grüne Augen –, während Alex ihrer Mutter geähnelt hat.
Daniel schaut mich an, nimmt schweigend den Strickpullover wahr und das schwarze Kleid, das darunter hervorguckt. Als sein Blick zu meinen Füßen wandert, fällt mir ein, dass ich keine Schuhe anhabe.
»Ich habe mir gedacht, dass du hier bist«, sagt er.
»Hab ich euch Ärger bereitet?«
Er schüttelt den Kopf und rutscht ein wenig tiefer in seinen Stuhl. »Weil du weggelaufen bist? Ich denke nicht.«
Vielleicht habe ich ihnen keinen Ärger bereitet, aber ich weiß mit einem Anflug von Schuld, dass Papa und die Tanten sich Sorgen um mich machen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich werfe einen Blick auf die Dosenpfirsiche und stelle mir ihr Entsetzen vor. Die kannst du doch nicht zum Frühstück essen! Bitte, mein Liebes, mein Herzblatt, komm nach Hause. Du fällst noch vom Fleisch.
»Woher hast du gewusst, dass ich hier bin?«
Daniel zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich vermute mal, ich habe überlegt, wo Alex hingehen würde.« Mir fällt auf, wie abgespannt er aussieht, wie dunkel die Ringe unter seinen Augen sind. »Warum bist du hergekommen?«
»Aus demselben Grund. Ich habe nicht groß nachgedacht. Ich musste einfach raus. Und hier bin ich.«
Er nickt. »Ja, die …« Er kann es auch nicht aussprechen, »war ziemlich … bedrückend. Es ist schön hier, nicht?«
Wir sehen uns beide um.
»Ja. Es ist schön«, stimme ich ihm zu. Ich möchte die Hand nach ihm ausstrecken, ihn vielleicht umarmen, aber es kommt mir zu seltsam vor. Daniel war immer der kleine Bruder, und wir fühlen uns befangen in der Gegenwart des anderen. Ich rufe mir in Erinnerung, wie ich ihn das erste Mal getroffen habe. Wie alt war er da? Fünfzehn? Er hat im Souterrain mit einem Freund Gitarre gespielt, und Alex und ich sind Händchen haltend die Treppe heruntergekommen. Er hat zwischen uns hin und her gesehen und dann auf unsere Hände, und dann ist er dunkelrot angelaufen.
Alex hat sich geräuspert. »Das ist Francesca.«
Ich erinnere mich, dass mir ebenfalls ganz heiß geworden ist – so, wie Alex das gesagt hat, so ernst. Als wäre ich wichtig.
»Das ist mein Bruder Daniel«, hat Alex erklärt.
Daniel hat uns weiterhin nur angestarrt. Dann hat er gestammelt: »Du bist eins von den Caputo-Mädchen.« Als käme das einer First Lady gleich.
»Ja«, habe ich gesagt, und er hat genickt, stumm und strahlend und rot wie Papas Tomaten.
Selbst jetzt, Jahre später, sieht Daniel verlegen aus, wie er da halb liegend auf dem Stuhl neben mir sitzt. Irgendwie zu groß oder nicht groß genug, als würde es ihn verwirren, mehr Raum einzunehmen, als ihm zusteht. Ich zermartere mir den Kopf nach etwas, das ich ihn fragen, worüber ich reden kann, doch ich kann nur an Alex denken.
»Ich vermisse ihn«, sagt Daniel schließlich mit erstickter Stimme.
»Ich vermisse ihn auch«, antworte ich leise.
»Es ist nichts Bestimmtes, was ich vermisse, irgendwas, worüber wir geredet haben oder wie er die Dinge gemacht hat, oder so. Die Leute fragen mich, was vermisst du am meisten? Und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist einfach alles, verstehst du? Wie er gesprochen hat, wie er war. Einfach … ihn.«
»Ja, ich weiß.« Ich nicke.
Daniel holt tief Luft. »Und das Haus fühlt sich anders an, obwohl er seit Ewigkeiten nicht mehr zu Hause gewohnt hat.«
»Als wäre ein Schatten in jedem Raum.«
»Ja.«
»Deshalb kann ich nicht nach Hause gehen.«
Daniel sieht mich an.
»Er ist überall«, sage ich. »Überall und nirgends. In der Küche, im Wohnzimmer, im Schlafzimmer. Entschuldige, aber … überall im Schlafzimmer. Da liegt ein hoher Stapel Surf-Magazine, die er nie aussortiert hat, er fällt immer um. Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass er sie wegräumen oder wegwerfen soll, und jetzt wünschte ich, das ganze Zimmer wäre voll davon.«
Daniel schweigt.
»Entschuldige«, murmele ich.
»Nein, ich verstehe das. Manchmal möchte ich ihm sagen, dass er verschwinden soll. Aus meinem Kopf, meine ich. Und dann fühle ich mich schlecht, weil ich ihn einfach zurückhaben will. Das macht mich völlig …«
»Völlig fertig«, sage ich und nicke. »Es ist schrecklich.«
»Es ist schlimmer als schrecklich«, stimmt Daniel mir zu und tätschelt meinen Arm.
Ich sehe auf seine Hand hinunter. Daniels Geste ist unbeholfen, aber auch liebevoll. Er stellt mir keine Fragen und sagt mir nicht, dass alles wieder gut wird. Er weiß, dass die Welt sich verändert hat. Etwas ist kaputtgegangen, und es gibt keine Möglichkeit, das zu reparieren. Ich hole tief Luft und versuche, mir nicht zu wünschen, dass er Alex wäre, versuche stattdessen, dankbar zu sein, dass er Alex wenigstens so ähnlich ist.
»Er hat dich geliebt«, sagt Daniel ruhig.
Ich sehe ihn an. Er ist wieder rot geworden.
»Ich meine, ich weiß, dass ihr beide seit Langem zusammen wart, und er war nicht immer gut darin, dir zu sagen … ich meine, das liegt in der Familie …«
Ich ziehe meinen Arm unter seiner Hand weg. »Ich weiß.«
»Er hat es vielleicht nicht dauernd gesagt …«
»Oft genug.«
»Und es hat lange gedauert, bis er dich gefragt hat, ob du ihn heiraten willst … aber er hat dich gefragt …«
»Es ist okay«, unterbreche ich ihn. Daniel sieht mich an, beunruhigt. »Danke. Ich meine … ich weiß, dass er mich geliebt hat.«
»Natürlich. Ich wollte nicht andeuten …«
»Wir wollten heiraten.«
»Ja.«
Jetzt, wo wir schweigen, scheint sich eine Kluft zwischen uns aufzutun. Daniel streckt keine Hand mehr nach mir aus. Ich wünschte, ich könnte so selbstverständlich Ehefrau sagen wie Daniel Bruder.
ENDE DER LESEPROBE