Das geheime Leben der Tiere (Arktis) - Die Weisheit der Eisbären - Anna Lisa Kiesel - E-Book

Das geheime Leben der Tiere (Arktis) - Die Weisheit der Eisbären E-Book

Anna Lisa Kiesel

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Beschreibung

Die Wege der Eisbären Die Arktis ist wunderschön und voller Geheimnisse. Doch das Leben der Tiere dort ist auch gefährlich. Komm mit auf eine Reise ins endlose Eis! Die Eisbärenkinder Miki und Nuka erblicken das Licht der Welt und fühlen sich an der Seite ihrer Mutter unbesiegbar. Sie können es kaum erwarten, sich auf ihre erste große Reise zu begeben: den Bärengang zum Meer. Eine Wanderung, die Abenteuer, Freiheit und neue Freundschaften verspricht – und zugleich die Gefahren der Arktis mit sich bringt … Die Arktis ruft Erlebe erstaunliche Wunder der Natur und das aufregende Leben der Tiere – diese Kinderbuch-Reihe entführt Jungen und Mädchen ab 8 Jahren in die verschiedenen Lebensräume der Erde. Ob im tiefen Meer, im dichten Wald oder im grünen Dschungel: In diesen Geschichten erleben Tiere wunderschöne und zugleich bewegende Abenteuer. Die Kinder tauchen in die Welt der Tiere ein, werden für die Vielfalt der Natur begeistert und lernen viel Neues auf den Wissensseiten. Mit berührenden und coolen Schwarz-Weiß-Illustrationen. Lehrreich wie ein Sachbuch und berührend wie ein Disney-Klassiker! Für Fans von Peter Wohlleben und Karsten Brensing. Die Titel sind auf Antolin gelistet.

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Seitenzahl: 164

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Für Gernot, der keinen einzigen Eisbären gesehen hat.

Für Yuming und Yilin, Cati und Herwig.Danke für eure unendliche Geduld.

Inhalt

Das erste Jahr: Familie

Aufbruch

Sturm

Menschen

Teilen

Schwimmen

Das zweite Jahr: Hitze

Erste Streifzüge

Leere Mägen

Auf Futtersuche

Das dritte Jahr: Überleben

Ein plötzlicher Abschied

Durch weiße Endlosigkeit

Ein neuer Freund

Eine Horde Eisbären

Das vierte Jahr: Gefährten

Weißer Schatten, hartnäckige Verfolger

Ein Flatterding auf Futtersuche

Unerwartetes Wiedersehen, endlose Freude

Das fünfte Jahr: Neubeginn

Ich möchte dein Eisbär sein

Eine Höhle im tiefen Schnee

Atiqtuq: Der Gang zum Meer

Und wie ist es wirklich?

Das erste Jahr: Familie

Aufbruch

Die Luft kitzelte. Miki spürte es in ihrer Nase und in ihrem Fell. Sie spürte, dass es kalt war. Viel kälter als in der warmen Wurfhöhle, die sie in ihrem ganzen Eisbärenleben noch nie verlassen hatte. Und trotzdem … Die Versuchung, ihre Schnauze aus dem schmalen Durchgang zu stecken, war viel zu groß, um ihr zu widerstehen. Miki robbte ein Stück weiter und ein scharfer Schmerz bohrte sich in ihre Augen. Sie blinzelte.

„Aua“, wimmerte das Eisbärenmädchen. Es wollte sich nach seiner Mutter umsehen, aber diese unbekannte Welt dort draußen war viel zu hell für seine kleinen Augen, die bisher nur die Dunkelheit kannten. Gleißendes Sonnenlicht, das auf Millionen und Abermillionen Schneekristalle traf, blendete Miki.

„Komm“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter vor der Höhle. „Komm und schau dir die Welt an.“

Miki robbte vorwärts. Stück für Stück schob sie sich ins Freie und mit jedem Atemzug gewöhnten sich ihre Augen ein wenig mehr an den Sonnenschein. Weiß. Wohin Miki auch blickte, alles war weiß. Sie spürte ein Kribbeln in ihren Pfoten und wäre am liebsten sofort losgelaufen. Zum Meer, von dem Mama in den letzten Wochen so viel erzählt hatte. Miki stürmte voran, aber sie kam nicht weit. Das Gefühl des weichen Schnees unter ihren Pfoten war so überwältigend schön, dass sie vor Freude einen Purzelbaum schlug. Die kleine Eisbärin drückte ihr Gesicht in das kalte Weiß und sog den herrlichen Duft ein. So roch sie also, diese Welt, durch die Miki schon bald wandern sollte. Zusammen mit Mama und … „Nuka!“ Wie hatte sie bloß Nuka vergessen können? Mit unbeholfenen Schritten tappte Miki zurück zur Wurfhöhle und rief ihren kleinen Bruder ungeduldig.

„Ich mag nicht“, ertönte seine Stimme aus der Dunkelheit.

„Was magst du nicht?“

„Na, rausgehen. Da ist es kalt und hell und meine Pfoten tun jetzt schon weh und außerdem hat Mama gesagt, dass wir noch hierbleiben, bevor wir zu diesem doofen Meer müssen. Also, warum soll ich jetzt schon nach draußen?“ Nuka stieß ein mürrisches Knurren aus.

„Ach, Nuka! Mama hat aber auch gesagt, dass wir uns an die Kälte gewöhnen müssen, und deshalb sollen wir vor der Höhle spielen.“ Miki robbte durch den Tunnel, der hinauf in die gemütliche Schneehöhle führte. Mama hatte sie im letzten Herbst gegraben. Die Geschwister waren hier vor etwa drei Monaten geboren worden und die Höhle schützte sie gut vor der Kälte und vor anderen Tieren. Mittlerweile umfasste das Zuhause sogar zwei Räume, damit die beiden Eisbärenkinder genug Platz zum Spielen und Toben hatten. Doch der Frühling kam allmählich und für die kleine Familie wurde es Zeit, diesen Ort zu verlassen.

„Komm mit!“, bettelte Miki und biss ihrem Bruder ins Ohr. „Draußen ist es wunderschön! Alles ist weiß und es glitzert und funkelt …“

„Aber Mama sagt, ich muss heute noch nicht, wenn ich nicht möchte“, erwiderte Nuka stur.

„Du bist langweilig.“ Enttäuscht ließ Miki von ihrem Bruder ab. Sollte Nuka doch tun, was er für richtig hielt. Miki aber wartete seit Wochen auf diesen Moment und nichts konnte ihr die Freude über diesen neuen Lebensabschnitt verderben. Nicht einmal Nuka, der jetzt sein Gesicht unter seinen riesigen Tatzen vergrub. Der Eisbärenjunge haderte sichtlich mit sich selbst. Nur wenige Minuten vor ihm war Miki geboren worden, aber dies hatte gereicht, um ihn zum kleinen Bruder zu machen. Zu dem ängstlichen Eisbärenkind, das sich ständig sorgte und lieber in der schützenden Höhle geblieben wäre, als durch das endlose Weiß zu laufen. Während Mamas Erzählungen bei Miki die Neugier entfachten, schreckten sie Nuka ab. Doch der Eisbärenjunge spürte auch etwas anderes in seinem Bauch rumoren. Ärger. Ja, Nuka war verärgert, weil Miki ihn langweilig genannt hatte. Und während das Eisbärenmädchen bereits wieder durch den schmalen Tunnel an die Oberfläche robbte, kroch Nuka in seinen Lieblingswinkel. Wie gut es hier roch. Nach Mama und Miki, nach Geborgenheit und nach Zuhause.

„Und dort drüben, Mama? Ist da vielleicht das Meer?“ Miki wuselte zwischen Mamas Beinen herum, sah mal hierhin und mal dorthin und versuchte, das Meer zu entdecken. Die Mutter aber lachte.

„Nein, mein Schatz. Du kannst das Meer von hier aus nicht sehen. Es ist viel zu weit weg.“

„Aber wenn ich mich ganz groß mache …“ Miki richtete sich auf. Sie stand auf ihren Hinterpfoten und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, doch sie plumpste unbeholfen in den Schnee. Sie nieste, rappelte sich auf und schüttelte sich kräftig. „Können wir nicht heute schon losgehen?“ Sie schlang ihre Pfoten um Mamas Nase.

„Nein, mein Schatz.“ Ein Stups genügte und Miki purzelte zurück in den Schnee. Die Mutter drückte ihren Kopf gegen Mikis Bäuchlein und das Eisbärenmädchen strampelte und trat mit aller Kraft, um sich zu befreien. „Du bist stark“, lobte Mama sie und leckte Miki liebevoll über den Kopf. „Aber wir müssen trotzdem noch hierbleiben. Eure Pfoten müssen sich ans Wandern gewöhnen und eure Haut kennt die eisige Kälte nicht, denn sie hat den Wind noch nie gespürt.“

„So schlimm ist es gar nicht“, protestierte Miki.

„Heute nicht.“ Mamas Blick verriet, dass kein Drängen und Betteln, kein Jammern und Winseln ihre Meinung ändern würde. Sie würden weiterhin in der Nähe der Wurfhöhle bleiben, in der Nuka hockte, um sich vor der Welt zu verstecken. Miki knirschte mit den Zähnen. Nein, so hatte sie sich diesen Tag, den sie so sehr herbeigesehnt hatte, wirklich nicht vorgestellt.

„Nukaaaaa! Nuuuuukaaaaaa! Nuka, Nuka, Nuka! Komm, spielen. Bitte, bitte, bitte.“ Miki ließ nicht locker. „Bist du ein Eisbär oder ein Angstbär?“ Die Worte hallten durch den Gang der Wurfhöhle und bis zu Nukas feinen Ohren. Er knurrte. Leise und doch laut genug, dass seine Schwester es vernehmen konnte. Jetzt wusste sie, dass sie den wunden Punkt ihres Bruders gefunden hatte. Nuka hatte also tatsächlich Angst. Angst vor dem Licht, vor dem Wind, vor der Weite, vor dem Leben.

„Ja, wahrscheinlich ist es ohnehin besser, wenn du in der Höhle bleibst“, sagte Miki teilnahmslos. „Hier draußen können nur die stärksten Bären bestehen. Und du …“ Sie machte eine Pause, um ihrem Bruder Zeit zu geben, über ihre Worte nachzudenken. Nuka war nicht schwach. Er war zwar der Jüngere, aber an Kraft war er Miki keineswegs unterlegen und mit der Zeit würde er wachsen, bis er seine ältere Schwester um ein gutes Stück überragen würde. Jetzt aber hinderte Nuka seine eigene Angst daran, diese Stärke zu sehen. Miki witterte das. Sie sah sich nach ihrer Mutter um, die zufrieden in einer Schneemulde lag und die Augen geschlossen hatte.

„Mama und ich gehen auf jeden Fall bald los. Vielleicht noch heute“, fuhr Miki fort.

„Stimmt gar nicht“, rief Nuka. Es klang, als stünde er jetzt am anderen Ende des Tunnels. „Mama würde mich niemals zurücklassen.“

„Bist du dir sicher?“, fragte Miki. „Einen Angstbären wie dich kann sie vielleicht nicht brauchen.“ Sie wartete auf eine Antwort, doch Nuka schwieg. Wenn Miki den Atem anhielt, glaubte sie, sein Herz rasen zu hören. Vielleicht war es aber auch ihr eigenes, schließlich war alles so aufregend. Sie wollte am liebsten einen Schneehügel nach dem anderen erklimmen, um nachzusehen, was dahinterlag. Aber ohne ihren Bruder hatte sie darauf keine Lust.

„Tschüss, Nuka“, rief Miki. „Wir gehen jetzt.“ Das Eisbärenmädchen wandte sich um und stapfte los. Sie kam sich ein bisschen gemein vor, Nuka so anzuschwindeln, aber was hätte sie sonst tun sollen? Sie musste den kleinen Angstbären endlich aus der Wurfhöhle locken.

Plötzlich tauchten in dem Tunnel drei schwarze Punkte auf. Nukas Nase, die auf- und abhüpfte, weil er so heftig schnupperte, und seine Augen, die er vor Schreck weit aufgerissen hatte. „Nein“, rief er panisch. „Wartet auf mich! Ich kann laufen und die Sonne macht mir auch nichts aus und …“ Er purzelte aus dem Tunnel, stolperte über seine eigenen Pfoten und blieb benommen im Schnee liegen. Das helle Licht blendete ihn, so wie es auch Miki für kurze Zeit die Sehkraft geraubt hatte. Nuka schnüffelte und Miki sah, wie eine unbändige Neugier durch seinen Körper wuselte. „Riecht nach … kalt“, stellte er fest.

„Ist das nicht herrlich?“ Miki hatte keine Geduld mehr. Sie stürzte sich auf ihren Bruder, fixierte ihn mit ihren Vorderpfoten auf dem Boden und biss ihm spielerisch ins flauschige Fell. Nuka quietschte und die Eisbärenmutter hob den Kopf, um die beiden Jungen bei ihrem wilden Spiel zu beobachten. Sie wirkte zufrieden, aber ihre Augen ließen die tiefe Erschöpfung erkennen, die die Strapazen der vergangenen Monate hinterlassen hatten. Die Eisbärin riss das Maul weit auf und gähnte. Als Nuka sie aus dem Augenwinkel erblickte, sagte er: „Mama sieht nicht so aus, als wollte sie losziehen. Hast du gelogen?“

„Vielleicht“, gab Miki zu.

„Na warte“, grummelte Nuka. Er nahm all seine Kraft zusammen und schleuderte Miki in hohem Bogen von sich weg. Das Eisbärenmädchen schnappte nach Luft. Nuka sprang auf sie und zerrte wie wild an ihrem Ohr. „Aua!“, quietschte Miki erbost.

„Nicht so grob.“ Mama schob Nuka mit der Schnauze zur Seite.

„Aber Miki hat …“, begann Nuka und wollte gerade erzählen, dass seine Schwester ihn angeschwindelt hatte, da strömte ihm ein verlockender Duft in die Nase. „Milch“, wisperte er, während er sich in das warme Fell seiner Mutter schmiegte. Nuka hatte immer Hunger. In den ersten Wochen hatte er Mamas Zitzen kaum losgelassen und sein Bauch war von der reichhaltigen Milch kugelrund geworden. Plötzlich spürte auch Miki, wie hungrig sie das Spielen gemacht hatte. Gierig schnüffelten die beiden Eisbärenkinder nach den Zitzen der Mutter. Miki wurde als Erste fündig und saugte kräftig daran. Ein Schluck warmer, fetthaltiger Milch strömte in ihren Mund und ein wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus. Es schmeckte nach Geborgenheit und Miki hätte schwören können, dass ihr niemals etwas Schlimmes widerfahren konnte, wenn sie nur ganz nah bei ihrer Mama blieb. Sie passte auf, dass es Miki gut ging. Ganz müde wurde das Eisbärenmädchen auf einmal und es fragte sich, wie sie jemals bis zum Meer gelangen würden, wenn schon eine Stunde hier draußen so anstrengend war.

„Bald geht es los“, sagte ihre Mama mit leiser Stimme, als könne sie Mikis Gedanken lesen. „Bald machen wir uns auf den Weg zum Meer.“ Da begann es in Mikis Pfoten fürchterlich zu kribbeln. Das Eisbärenmädchen spürte es ganz genau: Sie war eine Wanderin und wollte endlich loslaufen, der Unendlichkeit entgegen.

Sturm

Miki duckte sich. Sie machte sich so klein, dass sie glaubte, jeden Moment mit dem eisigen Untergrund zu verschmelzen. Es war kalt. Oh, es war so kalt, und das, obwohl Mama versprochen hatte, dass der Frühling angebrochen war und sie sich nun auf den Weg machen konnten. Wie hoch war Mikis Herz an jenem Tag gesprungen, als sie endlich losgegangen waren. Sie hatten die Wurfhöhle hinter sich gelassen, um sich auf diese Reise zu machen, die niemals enden würde. Plötzlich aber war der Winter zurückgekehrt und mit ihm ein erbarmungsloser Wind. Er zauste Mikis Fell und riss an ihren Beinen, dass sie fürchtete, fortgeweht zu werden. Unaufhörlich peitschten Schneeflocken in ihre Augen und raubten ihr die Sicht. Das Eisbärenmädchen ertappte sich bei einem Wunsch, der mit jedem Schritt größer wurde. Sie wollte zurück in die warme Höhle. Zurück in ein Zuhause, das es für sie nicht mehr gab.

„Ist es noch weit?“, hörte Miki ihren Bruder neben sich fragen. Nuka ließ sich erschöpft auf den Po plumpsen. „Meine Pfoten sind so müde. Und meine Ohren frieren und hungrig bin ich auch.“ Obwohl die Eisbärenfamilie erst vor wenigen Augenblicken eine Pause eingelegt hatte, damit die beiden Jungen sich satt trinken konnten, grummelte es in Nukas Bauch.

„Ja, es ist noch weit.“ Mama schob ihre Nase unter Nukas Körper, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. „Wir müssen gehen. Kommt! Wer stehen bleibt, den holt der Winter. Nur wer geht, erreicht den Frühling. Nur wer geht, überlebt.“

Miki verstand nicht, was Mama damit meinte. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Noch vor wenigen Tagen hatten die feinen Eiskristalle sie so sehr in der Nase gekitzelt, dass sie niesen musste. Jetzt fühlten sie sich an wie die Zähne eines Raubtiers, die sich in Mikis Haut bohrten. Noch vor wenigen Tagen hatte sie mit ihrem Bruder vor der Höhle herumgetollt und Miki hatte sich gefühlt, als sei sie die stärkste Eisbärin der Welt. Die Spaziergänge, die Mama mit ihnen jeden Tag unternommen hatte, waren immer länger geworden und Miki war so stolz gewesen. Stolz auf ihre eigene Kraft und darüber, dass sie die Welt eroberte.

„Wir müssen aufbrechen“, hatte Mama das fröhliche Spiel der beiden Eisbärenkinder eines Tages unterbrochen.

„Warum?“, hatte Nuka gefragt. „Warum müssen wir gehen? Hier ist es doch schön, findest du nicht, Mama?“

„Natürlich ist es schön“, hatte Mama geantwortet. „Aber wir müssen gehen, um zu fressen.“

Fressen. Nuka hatte einen Luftsprung gemacht und sich gefreut, aber Miki hatte gezögert. Sie hatten doch genug zu fressen. Mama machte das Fressen. Gute, süße, fettige Milch, die so herrlich schmeckte. Jeder Schluck fühlte sich an, als ginge die Sonne in Mikis Bauch auf. Aber Mama hatte nicht lockergelassen und die Kinder angetrieben. „Es wird Zeit, dass auch ich wieder etwas zu fressen bekomme.“ Da erst war Miki aufgefallen, dass Mama während der vielen Tage in der Wurfhöhle kein einziges Mal gefressen oder getrunken hatte. War sie etwa gar nicht hungrig gewesen? Wochenlang ohne Nahrung zu sein, konnte sich Miki beim besten Willen nicht vorstellen. Wie hatte Mama das bloß ertragen?

„Ihr seid nun groß genug und der Frühling ist da“, hatte die große Eisbärin weiter erklärt. „Eure erste Reise erwartet euch. Atiqtuq, der Gang der Bären zum Meer. Denn ich muss nach diesem langen Winter zum ersten Mal wieder auf die Jagd gehen.“

Eine Reise mit einem so wunderschönen Namen. Atiqtuq. Wie aufregend das geklungen hatte. Das Kribbeln war in Mikis Pfoten zurückgekehrt, stärker als je zuvor. „Mama sagt, ich bin groß“, hatte sie bei sich gedacht und war von tiefem Stolz erfüllt worden. Miki, dieser Name bedeutete eigentlich „klein“, aber das sollte sie nicht länger sein. Aus der kleinen Miki war ein großes Eisbärenkind geworden. Eines, das auf Wanderung gehen durfte.

„Wohin geht unsere Reise denn, Mama?“, hatte Nuka gefragt, als habe er alles vergessen, was die Eisbärenmutter ihnen in den letzten Wochen so oft erzählt hatte.

„Ans Meer natürlich, mein Dummerchen.“

Ans Meer. Miki wusste immer noch nicht, was dieses Meer war, aber schon das Wort weckte in ihr eine unbändige Sehnsucht. Es klang nach Weite, nach Freiheit und nach Abenteuer. Dann waren sie aufgebrochen, hinaus in diese endlose weiße Welt, die von der Frühlingssonne mit einem fröhlichen Glitzern überzogen worden war.

Jetzt aber war alles anders. Sie quälten sich durch einen Sturm, für den Eisbärenkinder wie Miki und Nuka nicht gemacht waren. Miki wurde plötzlich klar, dass sie kämpfen musste. Gegen den Winter und gegen das Gefühl in ihrem Herzen, das mit jeder Windböe stärker wurde.

„Du bist zu klein“, sagte das Gefühl. „Du wirst das Meer niemals sehen.“

Überleben. Langsam begann Miki zu begreifen, was Mama damit meinte. Es gab noch etwas anderes als das Leben. Da draußen wartete etwas darauf, die Eisbärenjungen mit sich zu nehmen. Es streckte seine Fänge nach ihnen aus, bereit, sie mit sich zu ziehen an einen Ort, der noch viel kälter war als diese Welt. Ja, es gab den Tod. Miki schluckte. Sie würgte den Schnee hinunter, den der Wind in ihr Maul geweht hatte, und mit ihm all die Zweifel an ihrer eigenen Stärke.

„Komm, Nuka!“ Sie stupste ihren Bruder mit dem Kopf an, so wie Mama es gerade gemacht hatte. Unbeholfen taumelte der Eisbärenjunge ein paar Schritte weiter, dann blieb er wieder stehen. Seine Beine zitterten, ob vor Angst oder Erschöpfung, konnte Miki nicht erkennen.

„Sollen wir etwas spielen?“ Sie drückte sich an ihren Bruder, damit er wieder in Bewegung kam.

„Was denn?“, jammerte der Eisbärenjunge.

„Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist …“ Miki sah sich um. Ihr Blick reichte kaum drei Eisbärenlängen weit und alles, was sie erkennen konnte, war weiß. Die Luft und der Boden. Selbst Mamas und Nukas und auch ihr eigenes Fell wirkten in dieser Umgebung weiß, obwohl die einzelnen Haare eigentlich durchsichtig waren.

„Das ist ein blödes Spiel“, beschwerte sich Nuka. „Ich will zurück in unsere Höhle. Ich will in unserem Spielzimmer von einer Ecke in die andere flitzen. Ich will, dass Mama uns noch ein Zimmer neben der Schlafkammer gräbt. Ein Purzelbaumzimmer. Ja, das wäre schön.“ Nuka stieß bei dem Gedanken ein herzzerreißendes Quieken aus. Der Wind aber erfasste sein Weinen und riss es mit sich, als mache er sich über den Wunsch des Eisbären lustig.

„Kommt, Kinder!“, rief Mama in diesem Moment. „Wenn ihr dicht hinter mir bleibt, müsst ihr nicht so stark gegen den Sturm ankämpfen.“

Miki senkte den Kopf und beschleunigte ihre Schritte. Sie war froh, dass Mama bei ihr war. Mama wusste, was zu tun war. Sie kannte den Weg zum Meer, obwohl das Schneetreiben immer heftiger tobte. Wieder und wieder hob die Mutter ihre Nase und schnupperte.

„Der Sturm wird noch stärker werden“, stellte sie beunruhigt fest.

Prüfend sog Miki die Luft ein. Es roch kalt, nach Eis und nach etwas, das Miki nicht zuordnen konnte und das sie dennoch zu rufen schien. War es das Meer, dessen Duft so unwiderstehlich, so salzig und süß zugleich war?

„Es ist zu gefährlich. Wir müssen Schutz suchen“, beschloss Mama. Miki hörte die Sorge in ihrer Stimme und sie sah die Müdigkeit in ihren Augen.

„Bist du hungrig?“, fragte Miki und leckte ihrer Mutter über die Schnauze.

„Hungrig? Ja, ich bin hungrig! Ich, ich, ich!“ Nuka schien all seine Furcht und die quälende Erschöpfung vergessen zu haben. „Darf ich trinken, Mama? Bitte, bitte!“ Er schubste seine Schwester zur Seite, um unter seine Mutter zu kriechen.

„Nicht jetzt! Wir müssen noch ein Stück gehen.“ Mama knurrte und zog die Lefzen nach oben. Nuka wich schnell zurück. Selbst er wusste, wann er zu weit gegangen war, und jetzt war dieser Moment erreicht. Mama hatte keine Lust auf einen lästigen Nuka, der an ihren Zitzen zerrte.

„Hier!“, sagte Mama, als sie eine besonders hohe Schneewehe erreichten. „Das ist ein guter Platz.“

„Wofür?“, wollte Miki wissen, aber sie erhielt keine Antwort. Die Eisbärenmutter schwieg und grub. Sie grub und grub, bis eine tiefe Mulde auf der windgeschützten Seite der Schneewehe entstanden war. Erst dann zeigte sich auf ihrem Gesicht so etwas wie Erleichterung. „Hier sind wir geschützt. Legt euch hinein und kuschelt euch an mich. Der Schnee wird uns bedecken und morgen … Ja, wenn wir Glück haben, dann ist der Sturm morgen vorbei.“ Die Eisbärin stieß ein Seufzen aus, das getragen wurde von ihrer Erschöpfung. Sie musste sich ihre verbleibenden Kräfte gut einteilen, wenn sie sicher ans Ziel kommen wollten.

Nuka sprang in die Mulde und rollte sich zusammen. „So, Mama?“

„Genau so, mein Schatz.“

„Aber ich dachte, wir wollten zum Meer“, warf Miki ein. Sie rührte sich nicht, starrte dorthin, wo eigentlich der Horizont sein sollte und wo ein Vorhang aus dichten Wolken die Sicht versperrte. „Ich dachte, wir müssen gehen, um den Frühling zu erreichen.“ Miki versuchte, in der Ferne etwas zu erkennen, aber es war vergeblich. Dem Eisbärenmädchen kam es vor, als seien die Wolken vom Himmel gefallen und hätten alles gestohlen. Die große Weite des Eises, den Weg zum Meer und den Beginn der warmen Jahreszeit.