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Die erfolgreiche Köchin Nina Ludwig ist stolz auf ihre gehobenen Kochkünste. Nun soll sie ausgerechnet mit Julian Leroy in einer Kochshow auftreten. Er gilt als exzentrischer Charmeur und hat sich der bodenständigen Küche verschrieben. Doch das Thema der gemeinsamen Show reizt Nina: Küche anno dazumal. Zudem soll die Aufzeichnung auf einem denkmalgeschützten Bauernhof in dem bayerischen Dorf stattfinden, aus dem Ninas geliebte Großmutter Lieselotte stammte. Sie war dort Ende der 1950er Jahre als letzte Wanderhirtin der Familie aufgebrochen. Während ihrer Zeit auf dem Hof findet Nina heraus, dass ein großes Unglück sie damals in die Ferne trieb ...
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Seitenzahl: 548
DAS BUCH
Die erfolgreiche Köchin Nina Ludwig ist stolz auf ihre gehobenen Kochkünste. Nun soll sie ausgerechnet mit Julian Leroy in einer Kochshow auftreten. Er gilt als exzentrischer Charmeur und hat sich der bodenständigen Küche verschrieben. Doch das Thema der gemeinsamen Show reizt Nina: Küche anno dazumal. Zudem soll die Aufzeichnung auf einem denkmalgeschützten Bauernhof in dem bayerischen Dorf stattfinden, aus dem Ninas geliebte Großmutter Lieselotte stammte. Sie war dort Ende der 1950er Jahre als letzte Wanderhirtin der Familie aufgebrochen. Während ihrer Zeit auf dem Hof findet Nina heraus, dass ein großes Unglück sie damals in die Ferne trieb …
DIE AUTORIN
Die Österreicherin Beate Maxian wurde in München geboren und verbrachte ihre Jugend u. a. in Bayern und im arabischen Raum. Heute lebt sie mit ihrer Familie abwechselnd in Oberösterreich und Wien und arbeitet neben dem Schreiben als Moderatorin und Journalistin sowie als Dozentin an der Talenteakademie. Ihre in Wien angesiedelten Krimis um die Journalistin Sarah Pauli haben eine treue Leserschaft erobert und sind Bestseller in Österreich. Des Weiteren ist Beate Maxian die Initiatorin und Organisatorin des ersten österreichischen Krimifestivals: Krimi-Literatur-Festival.at
BEATE MAXIAN
DAS
Geheimnis
der letzten
Schäferin
ROMAN
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Originalausgabe 12/2018
Copyright © 2018 by Beate Maxian
Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Eva Philippon
Covergestaltung: Eisele Grafik Design unter Verwendung von Arcangel (Susan Fox), Bigstock (Drepicter, gkuna), Dreamstime (Jesse Kunerth)
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-23386-0V002
www.heyne.de
Es ist nur verständlich, dass die Wölfe
die Abrüstung der Schafe verlangen,
denn deren Wolle setzt dem Biss
einen gewissen Widerstand entgegen.
(Gilbert Keith Chesterton 1874–1936)
Salzburg, Juli 2017
»Hallo, Schönheit!« Zufrieden betrachtete Nina Ludwig Meter für Meter die Fassade ihres Restaurants in der Salzburger Altstadt nahe der berühmten Getreidegasse. Das gesamte Gebäude wirkte ausnehmend freundlich und frisch, fast wie ein kleines Palais. Am Vorabend war das Gerüst entfernt worden, das zwei Wochen lang den Eingangsbereich verunstaltet hatte. Doch die Sache war es wert gewesen. Die Maler konnten stolz auf ihr Werk sein. Der warme altrosa Anstrich verlieh dem Haus einen Hauch Romantik, ebenso die historischen hohen Kastenfenster mit den hellgrauen Fensterfaschen und der einladenden doppelflügeligen Eingangstür. Darüber stand in dunkelroter schwungvoller Schrift der Name des Restaurants auf der Hausmauer: Ludwig.
Mehr brauchte es nicht. Der Name stand für die Philosophie des Lokals, das ein beliebter Treffpunkt für Gäste war, die gutes Essen in stilvoller Atmosphäre schätzten. Ninas Spezialität war die gehobene Küche in Bioqualität, und dazu gab es erlesene Weine. Das hatte ihr bereits einige Auszeichnungen eingebracht, etwa zwei Hauben von Gault Millau und dieses Jahr den Gourmet-Tipp von Wo isst Österreich. An ihrem ersten Stern von À La Carte arbeitete sie noch. Dementsprechend gehörten auch Ninas Gäste zu jener Gesellschaftsschicht, die sich anspruchsvolle Küche leisten konnte und wollte. Dass sie, mit gerade einmal dreißig Jahren, zudem erfolgreich Kochbücher schrieb und ihre eigene Kochshow im Fernsehen moderierte, steigerte ihre Popularität und damit den Bekanntheitsgrad des Lokals. Nina arbeitete hart für diesen Erfolg. Ihre Freunde bezeichneten sie als unverbesserlichen Workaholic mit einem stark ausgeprägten Ordnungstick. Liebevoll gemeint, wie sie stets betonten. Egal, wie es in ihren Ohren klang, Nina konnte gut mit diesem Ruf leben.
Jetzt fehlen nur noch die Tröge mit den Oleandern, um das Bild perfekt abzurunden, dachte sie glücklich lächelnd. Der Gärtner wollte die rosa Blütenpracht noch heute liefern. Beschwingt steckte Nina den Schlüssel ins Türschloss und trat in den Gastraum.
Das Ludwig war nicht besonders groß, dafür war das Inventar exquisit. Es bestand aus sieben Tischen mit je vier Stühlen und einer langgezogenen Bar, an deren Ende eine automatische Schiebetür aus Milchglas in die Küche führte. Auf den Tischen lagen verteilt zusammengefaltete weiße Tischtücher, die Tina, die Servicekraft, später aufdecken würde. Wechselnde Kerzen in eleganten bauchigen Gläsern und eine der Jahreszeit entsprechende florale Dekoration ließen das Ludwig alle drei bis vier Monate in einem neuen Licht erscheinen. Im Sommer dominierten Weiß- und Rosatöne das Lokal, im Herbst sanfte Violett- und Brauntöne und zur Adventzeit setzte Nina auf Rot- und Grüntöne. Es kostete jedes Mal ein Vermögen, doch die Gäste schätzten das stilvolle Ambiente ebenso wie Ninas Kochkünste.
Kochen war seit Kindesbeinen an ihre große Leidenschaft. Schon als kleines Mädchen hatte sie ihrer Großmutter mütterlicherseits so oft wie möglich über die Schulter gesehen. Lieselotte Koller entstammte einem Bauernhof in Oberbayern und war eine leidenschaftliche Hobbyköchin gewesen. Unter ihrer Aufsicht durfte Nina bereits mit fünf Jahren mit einem scharfen Messer Tomaten und Gurken schneiden. Und auch später ging sie ihr oft hilfreich zur Hand. Ninas Mutter teilte diese Leidenschaft nicht. Eva war Steuerberaterin, kümmerte sich um Ninas Buchhaltung und war froh, wenn sie nicht am Herd stehen musste. Und Nina dankte ihr dafür, dass sie sich um ihre Steuer kümmerte, denn davon verstand sie nichts.
Ninas Vater war Dozent und unterrichtete an der Salzburger Universität Germanistik und Linguistik. Seine Leidenschaft galt ausschließlich Büchern, er verbrachte mehr Zeit in der Bibliothek als anderswo. Werner konnte Kafka & Co zitieren, aber Wasser brannte ihm quasi am Herd an. Den Speisen auf seinem Teller zu Hause widmete ihr Vater kaum Beachtung, was wiederum mutmaßlich an den leidenschaftslosen Kochkünsten ihrer Mutter lag. Aber Leidenschaft allein hatte selbst bei Nina irgendwann einmal nicht mehr ausgereicht, und sie wollte mehr draus machen.
»Eine gute Ausbildung ist die Basis, dir deinen Traum vom eigenen Restaurant zu erfüllen«, hatten ihre Eltern gemeint und ihre Kontakte spielen lassen, obwohl sie ihre Tochter lieber an der Universität studieren gesehen hätten. Doch sie unterstützten Nina und halfen ihr dabei, dass sie eine Lehre in einem Dreihaubenrestaurant in Wien absolvieren konnte. Unter den strengen Augen ihres damaligen Chefs hatte sie ihr Können perfektioniert und die Liebe zur gehobenen Küche entdeckt. Zum Leidwesen ihrer Großmutter. Diese schwor auf bodenständige Hausmannskost und hielt wenig »von dem ganzen Firlefanz am Teller«, wie sie es nannte. An diesem Punkt trennten sich ihre kulinarischen Wege. Doch eines war Nina schon als Kind in Fleisch und Blut übergegangen: Lebensmittel waren heilig. Diese Gesinnung betonte ihre Großmutter stets mit der Geste, wenn sie in die Rückseite eines selbst gebackenen Brotes ein Kreuz einritzte und Nina mit den Worten darauf einschwor: »Vergiss nicht, dem Herrgott dafür zu danken.«
An den außergewöhnlichen Geschmack ihres Brotes konnte sie sich erinnern, als hätte sie erst gestern eine Schnitte davon gegessen. Ein Genuss, den sie vermisste. Nie wieder hatte sie so gutes Brot gegessen wie jenes ihrer Großmutter. »Was ihr heute als Bio teuer kauft, war zu meiner Zeit ganz normal. Es wurde nicht so viel Schindluder mit den Lebensmitteln getrieben«, hatte sie behauptet, wenn wieder irgendwo ein Lebensmittelskandal aufgedeckt wurde.
Das Läuten ihres Handys riss Nina aus der Erinnerung. Sie kramte ihr Telefon aus den Tiefen ihrer Handtasche hervor. Auf dem Display stand der Name des Produzenten ihrer Sendung. Sie wischte über den grünen Punkt.
»Hallo Oskar!«
»Servus Nina!«
Hofinger kam wie üblich sofort auf den Punkt. Und so erfuhr sie zwischen Tür und Angel, dass die Produktionsfirma eine Sendung mit ihr und dem Dreisternekoch Julian Leroy vorbereitete. Der Produzent tauchte vor ihrem inneren Auge auf, als säße er, zurückgelehnt in seinem Ledersessel hinter dem wuchtigen Schreibtisch voller Unterlagen, direkt vor ihr. Seine grauen akkurat geschnittenen Haare, der modische Anzug mit passender Krawatte ließen ihn immer top gestylt erscheinen. Er war stets korrekt, eine Ausgeburt an Höflichkeit, trotzdem in der Sache knallhart. Sie mochte ihn.
Julian Leroy? Ausgerechnet der, schoss es Nina durch den Kopf. Sie konnte den eingebildeten Münchner nicht leiden. Seine Kochsendung lief im Bayerischen Fernsehen und bestand aus einer großen Prise Selbstverliebtheit. Zudem sah er noch gut aus. Er war groß und schlank. Sein zerzaustes dunkelblondes Haar und seine strahlend blauen Augen ließen ihn jungenhaft wirken, auch wenn er sicher auf die dreißig zuging. Dazu sein lässiges Gehabe und die ewig gute Laune. Kameratauglich und übermäßig fröhlich. Auf Nina wirkte sein Getue aufgesetzt. Jedoch machte genau genommen das alles zusammen einen Großteil seiner Beliebtheit bei den Zuschauern aus, das musste Nina eingestehen.
»Hast du mir zugehört?«, vernahm sie Hofingers Stimme. Offenbar hatte er ihr eine Frage gestellt.
»Ja, ja«, behauptete Nina rasch. »Klar, hab ich dir zugehört.« Ihre gute Laune war schlagartig dahin. Sie ging zur Restauranttür und schloss sie hinter sich ab.
»Dann sag doch endlich etwas dazu!«, forderte Hofinger sie auf.
Der Gedanke, dass er sich einen Scherz mit ihr erlaubte, schlich sich in ihren Kopf, denn schließlich kannte er ihre Einstellung Leroy gegenüber. Aber Hofinger war geschäftstüchtig und nicht der Typ, der in solchen Dingen Witze machte.
»Muss es unbedingt Leroy sein?« Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit ihm in einer Küche zu stehen und fröhlich in die Kamera zu lächeln. Derweil kannte sie ihn nicht einmal persönlich. Aber sein überzogenes Auftreten in seiner Show genügte, um ihn unsympathisch zu finden. Dabei wusste sie auch, dass sie ein neues Format kaum ablehnen könnte.
»Er freut sich auch schon auf dich.« Wenn sie Hofingers zynischen Tonfall richtig deutete, hielt Julian Leroy ebenso wenig von ihr wie sie von ihm.
»Natürlich muss er es sein, Nina«, antwortete er schließlich auf ihre Frage. »Er ist ein Star, die Medien reißen sich um ihn, und das Publikum liebt ihn. Wo er auftaucht, ist die Hölle los«, fuhr der Produzent fort.
Die Hölle und Leroy passten auffallend gut zueinander, fand sie und sagte: »Die Medienwirksamkeit ist die eine Sache, die andere ist …«
»Das Thema lautet ›Küche anno dazumal in Österreich und Deutschland‹«, unterbrach sie Hofinger. »Ihr beide seid prädestiniert für diese Sendung. Und mal unter uns, Nina …« Er räusperte sich. »Die Quoten von Nina kocht sinken. Eine Show gemeinsam mit einem begehrten deutschen Starkoch schadet deiner Popularität also auf keinen Fall. Auch weil du dann erstmals bei unseren Nachbarn im Fernsehen zu sehen bist. Verstehst?« Er wirkte auf einmal leicht ungeduldig. Wahrscheinlich hatte er auf mehr Begeisterung ihrerseits gehofft, weil sie im Grunde genommen ein umgänglicher Typ war. Diszipliniert, umgänglich und einsichtig.
»Ich wusste nicht, dass du jetzt auch noch mein Agent bist.« Diese spitzzüngige Bemerkung konnte sich Nina nicht verkneifen.
»Lass es dir durch den Kopf gehen und komm gleich am Montag um zehn in mein Büro, dann besprechen wir alles Weitere.« Er verabschiedete sich und legte auf.
Nina zog eine Grimasse. Sie spürte, dass es bereits beschlossene Sache war und sie, so sie nicht einwilligte, nach Ablauf des Vertrages ihre eigene Show vergessen konnte. Damit hatte er sie in der Hand, das wusste Hofinger ganz genau.
Sie steckte das Handy weg. Es gab jetzt erst einmal anderes zu tun, als darüber nachzudenken. Es war Samstagnachmittag, in drei Stunden kamen die ersten Gäste. Bis dahin mussten sie und Ellen alles vorbereitet haben. Ellen war ihre beste Freundin und eine große Stütze in der Küche und auch sonst in ihrem Leben. Sie war zwei Jahre älter als Nina, einen Kopf kleiner und ein wahres Energiebündel.
Nina trat durch die Schiebetür in die Küche, öffnete die Fenster, um frische Luft einzulassen, und ging zurück ins Restaurant. Der private Umkleideraum befand sich im Keller, gleich neben den Toiletten. Sie stieg die Stufen hinab, zog sich die weiße Kochuniform an und band sich eine schwarze Schürze um. Dann griff sie im Schrank nach einem Schildbandana für die Haare. Einem roten, denn es war Samstag, und sie hatte entschieden, jeden Tag in der Woche, bis auf montags, denn da war Ruhetag im Ludwig, eine andere Farbe für das Band zu wählen. Nina warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ihr dunkelbraunes kurzes Haar verschwand fast zur Gänze unter der Kopfbedeckung und ließ nur noch ihre langen Stirnfransen hervorblitzen. Ihre ovale Gesichtsform brachte sie mit leicht waagrecht aufgetragenem Rouge zur Geltung. Den Tipp hatte sie von der Maskenbildnerin der Kochshow bekommen. Auch wie sie ihre großen dunkelbraunen Augen und ihren weichen geschwungenen Mund mit wenig Aufwand richtig in Szene setzte, hatte sie ihr gezeigt. Selbst wenn sie wie jetzt nur dezentes Tages-Make-up trug. Nina nickte ihrem Spiegelbild aufmunternd zu und zog sich um.
Als sie wieder oben war und sich hinter der Theke ein großes Glas Wasser einschenkte, hörte sie, wie die Tür aufgesperrt wurde. Gleich darauf rauschte Ellen ins Restaurant. Ein blond gelockter Wirbelwind mit geröteten Wangen, ungeschminktem Gesicht und ebenmäßigem Teint.
»Tut mir leid«, sagte sie außer Atem. »Die Innenstadt ist voller Menschen, bin schwer durchgekommen. Wo kommen die denn alle auf einmal her?«
»Es ist Juli, da beginnen die Festspiele, mein Engel, wie jedes Jahr um diese Zeit«, erwiderte Nina lachend, weil Ellen sie derart entrüstet ansah, als erlebe sie diese Zeit voller Promis und Touristen in der Stadt zum ersten Mal in ihrem Leben. Ihre Freundin stammte aus Wien und war vor vier Jahren nach Salzburg gezogen, als Nina das Ludwig eröffnet und Personal gesucht hatte. Sie hatten sich ein halbes Jahr vor der Eröffnung des Ludwig auf der Gast, der Gastronomiemesse in Salzburg, kennengelernt. Nina hatte an einem Stand Weine verkostet, und Ellen war mit einem Glas Gelben Muskateller aus der Südsteiermark neben ihr gestanden und hatte den Weißwein über alle Maßen gelobt. Sie waren ins Gespräch gekommen, und Ellen hatte sich bei Nina wenige Wochen später aus einer Laune heraus beworben. Das war der Beginn ihrer Freundschaft und professionellen Zusammenarbeit gewesen.
Ellen verschwand Richtung Keller, um sich umzukleiden. Nina folgte ihr mit dem Glas in der Hand und berichtete ihrer Freundin von dem Telefonat mit dem Produzenten.
»Wirklich, mit Julian Leroy? Neid!« Im Gegensatz zu Nina war Ellen ein ausgesprochener Fan von ihm. Ob das an seinen Kochkünsten oder dem guten Aussehen lag, vermochte Nina nicht zu sagen. Sie jedenfalls hatte keine Lust auf kindische Schwärmereien über diesen Mann.
Ellen band sich die Schürze über die Kochuniform, und Nina reichte ihr das rote Schildbandana. Während Ellen ihre Haare mit einer Klammer im Nacken zusammenfasste und das Tuch über die Locken zog, flog die Tür des Umkleideraums auf, und Tina kam herein.
»Hier, aus dem Garten meiner Mutter«, sagte sie lächelnd und hielt Nina einen großen Bund Basilikum und einen mit Minze hin. »Wie versprochen, ganz frisch vor einer Stunde geerntet.« Tina war schlank, hatte einen dunkelblonden Pagenkopf und dezentes Make-up aufgelegt.
»Danke.« Nina nahm die Kräuter, schloss die Augen und atmete den würzigen Duft des Basilikums ein. Es roch so frisch und intensiv, als stünde sie in einem riesigen Feld. Dieser hohe Gehalt an ätherischen Ölen konnte sich am besten bei voller Sonne entfalten, das wusste sie. Der Sommer in Österreich war dieses Jahr perfekt dafür, heiß und sonnenintensiv. Sie öffnete die Augen und rieb mit Zeigefinger und Daumen an einem Minzblatt. Augenblicklich gesellte sich zum Geruch des Basilikums ein frisches Mentholaroma. Nina war begeistert. Sie kochte gerne saisonal und ausschließlich mit frischen Zutaten. Tinas Mutter besaß einen großen Gemüse- und Kräutergarten, hatte einen grünen Daumen und war letztes Jahr zu Ninas Quelle geworden. An diesem Tag stand unter anderem Lammschulter und Zitronenreis mit Minze auf der Speisekarte sowie Kichererbsenröllchen mit Minz-Joghurt-Dip. Mit der restlichen Minze würde sie ein Pesto zubereiten. Das Basilikum, das sie nicht für Speisen oder Dekoration benötigen würde, wollte sie ebenso gleich verarbeiten.
Sie stiegen die Stufen zum Restaurant hinauf und hörten, wie jemand an die Restauranttür klopfte.
Nina drückte Ellen die Kräuter in die Hand und eilte zur Tür. Sie ahnte, wer es sein könnte.
»Ach, wie schön«, seufzte sie kurz darauf zufrieden, als sie die Tür aufgesperrt hatte und dem Gärtner dabei zusah, wie er die großen hellgrauen Übertöpfe mit dem Oleander vom Wagen holte und sie zu beiden Seiten der Eingangstür vor dem Ludwig abstellte. Die hohen Büsche mit der fleischig rosa Blütenpracht vermittelten augenblicklich eine mediterrane Atmosphäre. Bereits vor dem Betreten würden Anblick und Duft der Pflanzen die Gäste in eine südländische Stimmung versetzen und auf die entspannte Atmosphäre des Lokals einstimmen. Genau so hatte Nina sich das vorgestellt.
»Die Zusammenstellung passt perfekt zur neuen Fassade«, lobte Nina den Gärtner, der ihr ein breites Lächeln schenkte, während sie den Lieferschein unterschrieb und danach noch einmal eingehend das Ensemble betrachtete. Gut, dass sie nichts dem Zufall überließ und Geschäftspartner hatte, die ihren Geschmack teilten. Nun war alles mustergültig aufeinander abgestimmt, eine prächtige Komposition.
Wenige Minuten später waren Nina und Ellen in die Arbeit vertieft. Die Abläufe in der Küche waren genau getaktet. Jeder ihrer Handgriffe saß, war schon tausendmal ausgeführt worden. Sie standen sich gegenseitig nicht im Weg, obwohl es nicht viel Platz gab. Es war, als arbeiteten sie im schöpferischen Gleichklang. So beschrieb es jedenfalls Nina, wenn sie jemand fragte, ob sie und Ellen beim Kochen harmonisierten.
Nina wusch die Minze unter fließendem Wasser, zupfte die Blätter vom Stängel, legte sie fein säuberlich auf Küchenkrepp und tupfte sie vorsichtig mit Papier trocken. Bevor sie die Minze kleinschnitt, nahm sie zwei Blätter, schob sich eines selbst und das andere Ellen in den Mund. Sofort breitete sich der Geschmack von Frische, gepaart mit einem zarten Kältegefühl, unter Ninas Gaumen aus.
»Ich hab gelesen, dass Minze die Konzentration steigert«, sagte sie.
»So gut wie die schmeckt, glaub ich das sofort!« Ellen lachte und zog bedächtig einem Pfirsich die Haut ab.
Als Dessert hatten sie unter anderem Pfirsichkompott mit Lavendel vorgesehen, dafür kochten in einem Topf am Herd Lavendelblüten in einer Wein-Wasser-Mischung auf.
Nina atmete tief ein. Allmählich breitete sich der vielfältige Duft nach Sommer in der gesamten Küche aus.
Sie schnitt die Minzblätter in dünne Streifen zu, um sie gleich darauf im Mörser mit den Zesten der Biozitronen, den Pinienkernen, dem kalt gepresstem Rapsöl, Salz und Pfeffer zu Pesto zu verarbeiten. Den Rest der Minze gab sie auf nasses Küchenkrepp in eine Plastikbox, legte ein zweites angefeuchtetes Papier darüber, verschloss die Box und stellte sie in den Kühlschrank.
Küche anno dazumal, schoss es ihr auf einmal durch den Kopf, und es tauchten augenblicklich Familienerinnerungen vor ihrem inneren Auge auf. Speisen, die ihre Großmutter Lieselotte gerne gekocht hatte, weil diese sie selbst an ihre eigene Kindheit in Oberbayern erinnerten. Während der Woche kam kaum Fleisch auf den Tisch, hatte sie Nina erzählt, hingegen war ein typisches Samstagessen Kraut mit gesottenem Schweinefleisch und Kartoffeln. Fisch wurde in der Familie ihrer Großmutter ausschließlich am Karfreitag zubereitet.
Nina kam ein alter Schlager in den Sinn, den sie als Kind bei ihrer Großmutter gehört hatte und den sie nun intuitiv stumm vor sich hin summte. Den Text bekam sie nicht mehr ganz zusammen, es lag zu lange zurück, aber die Erinnerung trug sie schlagartig in jenen August zurück, in dem sie als Schulkind zum ersten Mal den Großteil ihrer Sommerferien in Wien bei den Großeltern verbracht hatte. Augenblicklich entspannte sie sich und fühlte eine behagliche Innigkeit, die nach Dampfnudeln mit Vanillesauce duftete.
Wien, August 1995
»Zwei Apfelsinen im Haar …«, erklang es laut aus den Lautsprechern des Wohnzimmerradios, und Nina prustete lauthals dazu: »… und an der Hüfte Bananen!« Sie fand das Lied lustig, obwohl sie es heute schon zum dritten Mal hörten.
Ihre Großmutter fasste Nina an der Hand, und sie tanzten singend durch den Raum.
»Das ist France Gall«, erklärte ihre Großmutter ihr zwischen zwei Strophen, »eine französische Sängerin. Als ich jung war, war die ganz berühmt, hat sogar den Eurovision Song Contest gewonnen.«
Nina nickte gleichgültig und tanzte weiter, ihr war egal, wer da sang oder was gewonnen hatte, aber die Vorstellung, Orangen im Haar zu haben und Bananen um die Hüften, fand sie sehr lustig.
Als das Lied zu Ende war, klammerte ihr die Großmutter mit einem Paar Spangen die Haare aus dem Gesicht, damit ihr keine Strähne mehr ins Gesicht fallen konnte. Einzelne silberne Fäden zogen sich durch das Haar der Großmutter.
»Warum sind deine Haare nicht mehr so dunkel wie meine?«, fragte Nina. Ihre Mutter betonte oft, dass sie die Haarfarbe ihrer Großmutter verdankte.
»Das macht das Alter«, antwortete ihre Großmutter. »Ich werde im September schon sechsundfünfzig Jahre. Da werden die Haare langsam grau. Das ist ganz normal.«
Nina stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte beide Arme in die Höhe. Ihre Großmutter beugte sich zu ihr hinunter, und Nina gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ihre Haut war glatt, und die Lachfalten um die dunklen Augen bezeugten lediglich, welch humorvoller Mensch sie war. Wenngleich sie auch manchmal ganz schön streng sein konnte, aber das hielt selten lange an.
Ihr Großvater kam herein. Groß, schlank und wie immer die Ruhe in Person. »Meine beiden Südländerinnen«, scherzte August Koller mit Wiener Dialekt.
»Was ist eine Süderin, Oma?«, fragte Nina.
»Südländerin«, verbesserte ihre Großmutter sie. »Das sind Menschen, die in Ländern leben, wo die Sonne öfter scheint als hier bei uns. Und die meisten Menschen, die dort leben, haben dunkle Haare und eine dunklere Haut, so wie wir beide.«
»Und warum haben wir das?«, hakte Nina nach.
»Weil’s ist, wie es ist. Der Opa und deine Mama haben rostbraune Haare und eine helle Haut und wir eben dunklere. Menschen sind nun einmal unterschiedlich, und das ist gut, weil, wenn wir alle gleich wären, wär’s doch langweilig. Wir beide sind wie schwarze Schafe in einer weißen Herde!« Sie lachte herzlich. »So, und jetzt frag nicht so viel, wir müssen nämlich gleich Dampfnudeln machen. Die hat sich der Opa zum Mittagessen gewünscht.«
»Ja, Dampfnudeln mit Vanillesauce«, jubelte Nina, nicht nur, weil sie diese gerne aß. Sie mochte das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sie beschlich, wenn sie mit ihrer Großmutter in der Küche stand und ihr beim Kochen zusah. Es knüpfte ein unsichtbares, engmaschiges, magisches Band zwischen ihnen, machte sie auf geheimnisvolle Art zu Verbündeten.
Ninas Herz klopfte schnell vor Aufregung, als sie ihrer Großmutter in die Küche folgte. Sie ging zum Küchentisch und nahm rasch eines der dicht beschriebenen Hefte aus der Lade.
Ihre Großmutter lachte und band sich eine Kochschürze über ihre grüne Bluse und den hellgrauen Rock. »Das brauch ich nicht, Kind. Das Rezept hab ich doch schon längst hier oben.« Sie tippte sich an die faltenlose Stirn.
»Aber ich muss doch mitlesen«, erwiderte Nina und schlug nach kurzem Herumblättern die Seite mit dem Rezept auf. Dann zog sie den Schemel heran und brachte sich in Position, wie sie es meist tat, wenn ihre Liesl-Oma kochte. Sie wollte aufmerksam jeden Handgriff beobachten können.
»Ich glaub, du wirst einmal eine tolle Köchin.« Die Stimme ihrer Großmutter klang stolz. Sie nahm die Zutaten aus den orangefarbigen Küchenkästen, »Mehl, Milch, Zucker, Butter, Hefe, Eier, Salz«, und reihte sie in Reih und Glied auf der Arbeitsfläche an. »Je strukturierter du bei der Vorbereitung bist, umso leichter wird dir das Kochen fallen«, schwor sie Nina wie üblich auf die erforderliche Ordnung im Kochbereich ein. Dann wog sie das Mehl ab und siebte es in eine Schüssel.
»Du machst heute die kleine Grube ins Mehl«, forderte sie Nina auf. »Aber wasch dir vorher noch die Hände.«
Während sich Nina am Waschbecken mit glänzenden Augen eifrig die Hände sauber schrubbte, stellte ihre Großmutter den Topf mit der Milch auf den Elektroherd und schaltete die Platte ein. In der erwärmten Milch löste sie schließlich den Zucker und etwas Salz auf.
»Und jetzt nimm die Hefe, und bröckle sie in die Grube!« Ihre Großmutter zeigte auf das in Silberpapier eingewickelte Stück Germ. Bevor sie dem jedoch nachkam, steckte sich Nina ein kleines Stück davon in den Mund.
»Das macht eine schöne Haut!« Ihre Liesl-Oma lachte, nahm die Milch vom Herd, goss sie vorsichtig in die Kuhle und vermischte alles mit einer Handvoll Mehl.
Es würde noch eine ganze Weile dauern und viele Handgriffe mehr brauchen, bis sie die Köstlichkeit endlich essen konnten. Nina wurde ungeduldig, doch als sie den Teig in der Schüssel kneten durfte, machte sie sich mit Eifer daran. Als es ihr nach wenigen Minuten zu anstrengend wurde, weil ihr die Handgelenke schmerzten, löste ihre Großmutter sie ab.
Beständig fuhr sie mit der Hand den Rand der Schüssel entlang bis zum Boden. »Wichtig ist, den Teig so lange zu bearbeiten, bis er sich ganz locker vom Schüsselrand löst«, sagte sie. »Siehst du?«
Nina nickte. Der Teig bildete allmählich eine glatte, elastische, glänzende Masse, die sich ganz weich anfühlte, als sie sie mit dem Finger berührte. Ihre Großmutter stach mit dem Löffel eigroße Teiglinge heraus und legte sie auf ein bereitgestelltes bemehltes Brett. Nina reichte ihr ein Geschirrtuch. Sie ahnte, dass der Teig nun ausrasten musste, damit er sich in der Menge verdoppelte.
»Mir ist langweilig«, jammerte Nina, weil ihr das alles viel zu lange dauerte. Ihr Magen knurrte, und sie wollte endlich essen.
»Ich glaub, ich hab etwas für dich, das dich ein bisschen ablenken wird«, sagte die Liesl-Oma und verließ die Küche. Nina hob das Tuch an, riss mit den Fingern ein kleines Stück Teig ab und schob es sich in den Mund. Der warme Germteig schmeckte für sie nach viel Omaliebe.
Ihre Großmutter kam mit einem Buch in der Hand zurück und reichte es Nina. »Schau, das schenk ich dir.«
Sie nahm es vorsichtig entgegen, als wäre es zerbrechlich, derweil es dick und schwer war. Gebannt starrte Nina auf den braunen Buchumschlag, auf dem ein Krug, Brot und Speck abgebildet waren. »Vom Essen auf dem Lande«, las sie laut den Titel ab. Sie war stolz darauf, schon so gut lesen zu können.
»Die Rezepte darin sind nach den neun österreichischen Bundesländern sortiert«, sagte ihre Großmutter. »So lernst du auch gleich etwas über österreichische Esskultur. Ich hab’s mir gekauft, als ich von Bayern nach Österreich gezogen bin, damit ich dem Opa nicht nur bayerische Kost vorsetze«, zwinkerte sie Nina zu, »und jetzt gehört es dir.«
Nina strahlte und hörte nur mehr mit einem Ohr zu, denn ihre volle Aufmerksamkeit gehörte inzwischen dem Kochbuch. Behutsam trug sie es ins Wohnzimmer und setzte sich damit auf das Sofa. Ihr Großvater stand auf der Terrasse und rauchte eine Zigarette. Augenblicklich begann Nina darin zu blättern. Es war ihr erstes eigenes Kochbuch. Sie versank in den Bildern von gebackenen Holunderblüten, Mohn- und Kletzennudeln, vergaß darüber hinaus das gemeinsame Kochen. Irgendwann stellte ihre Großmutter ihr einen Teller Dampfnudeln mit Vanillesauce vor die Nase.
Salzburg, Juli 2017
»Nina, kannst du den Griff der Kühlschranktür jetzt bitte loslassen?« Ellen tippte auf die silberne Oberfläche des Kühlgerätes aus Edelstahl.
Nina zuckte zusammen, und es fiel ihr auf, dass sie die ganze Zeit über ins Leere gestarrt hatte.
»Du warst jetzt aber ganz weit weg. Woran hast du denn gedacht?«
»An das erste Kochbuch, das ich damals von meiner Oma bekommen habe.«
Ellen nickte, sie wusste, dass es einen Ehrenplatz im Regal von Ninas Wohnung hatte. »Die Sache mit Leroy bringt dich ganz schön durcheinander.«
Nina schüttelte entschieden den Kopf, öffnete die Kühlschranktür und nahm den Topf mit dem Fleisch heraus. »Leroy, heißt der eigentlich wirklich so, oder ist das ein Künstlername?«, fragte sie ihre Freundin.
»Sein Vater ist Engländer«, antwortete Ellen.
»Woher weißt du so etwas? Liest du etwa Klatschzeitschriften?«
Ellen schmunzelte, hielt sich aber bedeckt.
»Irgendwann kocht der nackt, nur um seine Einschaltquoten in die Höhe zu treiben«, knurrte Nina und machte sich daran, das Fleisch unter fließendem Wasser zu waschen.
Ihre Freundin lachte. »Das wäre nicht die schlechteste Idee!«
Nina warf ihr einen strafenden Blick zu. »Ellen, ich gebe mir hier echt Mühe, sogar wenn ich nur einen einfachen faschierten Braten zubereite … und er kocht …« Sie suchte nach einem passenden Vergleich.
»Hackbraten«, antwortete ihre Freundin. »Er macht Hackbraten. So heißt das in Deutschland.«
»Ich weiß. Hackbraten, faschierter Braten, Hefe, Germ … Ich kenne die deutschen und die österreichischen Bezeichnungen. Das meinte ich nicht.«
»Siehst du, so groß ist der Unterschied zwischen euch gar nicht«, fuhr Ellen fort, als würde sie bewusst nicht verstehen wollen.
»Oh doch, wir kommen aus unterschiedlichen Welten!«, widersprach Nina, während sie die Lammschulter trockentupfte und mit einer Öl-Rosmarin-Knoblauch-Marinade einstrich. »Julian Leroy und Nina Ludwig leben nicht auf demselben Planeten. Ich serviere meinen Gästen erlesene Küche, und er macht einen auf Abenteurer am Herd. Wirf alles in einen Topf, rühr einmal um, und fertig ist das Ganze«, äffte Nina ihn nach. »Ist doch nichts dabei, am Kochen. Der Kerl hat drei Sterne und kocht wie ein wild gewordener …« Sie verstummte, weil ihr schon wieder das passende Wort nicht einfiel. Nina musste sich eingestehen, dass sie sich innerhalb kurzer Zeit in Rage redete, wenn es um Leroy ging. »Wie ein wild gewordener Stier«, ergänzte sie schließlich.
Ellen brach in schallendes Gelächter aus. »Klar, bei deinem Ordnungstick stellen sich bei einem solchen Durcheinander im Topf die Nackenhaare auf.«
»Ich hab keinen Ordnungstick, sondern einen Ordnungssinn«, widersprach Nina und rückte instinktiv das Schneidebrett gerade. »Außerdem find ich seine abfälligen Bemerkungen über die gehobene Küche widerlich. In der letzten Sendung hat er doch glatt behauptet, man könne nicht davon ausgehen, dass einem die Speisen schmecken, nur weil das Restaurant Sterne hat.«
»Damit hat er ja nicht unrecht«, sagte Ellen.
»Was? Der soll lieber …«
»Über wen redet ihr?«, unterbrach sie plötzlich eine Stimme.
Nina wirbelte herum. Sie hatte nicht gehört, dass ihre Mutter das Restaurant betreten hatte.
»Was machst du hier, Mama?«
»Das Ludwig hat seit zehn Minuten geöffnet. Dein Vater und ich wollten eine Kleinigkeit essen.« Eva begrüßte sie und lächelte breit, was ihr markantes, dezent geschminktes Gesicht besonders attraktiv machte. Das leichte hellgelbe Sommerkleid und die beigen Sandalen waren perfekt abgestimmt auf ihre kurz geschnittenen rostbraunen Haare und den hellen Teint.
»Stell dir vor, Eva«, sagte Ellen, »deine Tochter soll gemeinsam mit Julian Leroy in einer Sendung kochen.« Sie betonte den Namen des Dreisternekochs übertrieben und rollte dabei anerkennend mit den Augen.
Nina verzog das Gesicht, als habe sie soeben in eine Zitrone gebissen, bevor sie sich wieder dem Fleisch zuwandte.
»Das ist doch der, den du nicht leiden kannst«, sagte ihre Mutter und roch an der Marinade.
»Genau, Mama. Das ist der. Solltest du dich nicht langsam um das Püree kümmern, Ellen?«
Ihre Freundin nickte grinsend und schwitzte die klein geschnittenen Schalotten in Olivenöl an. »Keine Sorge, ich hab alles im Griff.«
»Was ist das für eine Sendung?«, hakte Eva neugierig nach.
»Ich weiß es noch nicht genau. Ich soll am Montag zu Hofinger, dann will er mir die Einzelheiten erklären.«
Die Küchentür sprang zur Seite. Tina stürmte herein und schnappte nach Luft. »Ihr glaubt nicht, wer soeben gekommen ist.«
Nina hob fragend die Augenbrauen. »Wer?«
»Tobias Moretti!«
»Sehr schön!« Schmunzelnd nahm Nina ihre Arbeit wieder auf. »Ich schlag vor, du gehst jetzt zu ihm und fragst ihn ganz freundlich, was er trinken und essen will. Nicht, dass er am Ende wieder geht, weil er denkt, nicht willkommen zu sein.«
»Euch kann man aber auch mit gar nichts begeistern.«
»Im Ludwig sind alle Menschen gleich, Tina. Egal ob Promi oder nicht.«
Tina brummte etwas Unverständliches und zog wieder ab.
»Der Moretti spielt doch dieses Jahr den Jedermann«, sagte Eva. »Dein Vater und ich haben Karten. Ich freu mich schon sehr darauf.«
Es war nicht einfach, an Karten für das berühmte Theaterstück von Hugo von Hofmannsthal zu kommen, das seit einem knappen Jahrhundert bei den Salzburger Festspielen aufgeführt wurde. Tausende Besucher pilgerten jährlich an den Domplatz, um das Spiel vom Sterben des reichen Mannes zu sehen. Nina fand, dass das Stück überschätzt wurde. Sie hatte es einmal gesehen, das reichte ihr fürs gesamte Leben, egal welcher prominente Schauspieler den Jedermann verkörperte.
»Schön für euch … Mama, könntest du bitte Tina ein bisschen zur Hand gehen, wenn ihr gegessen habt?«, komplimentierte Nina ihre Mutter aus der Küche. »Ich komm dann nach vorne, sobald ich hier fertig bin.«
Eine Stunde später machte sie ihre übliche Runde durchs Ludwig und ging an jeden einzelnen Tisch, um zu fragen, ob es den Gästen geschmeckt hatte. Tobias Moretti war inzwischen wieder gegangen. Das Essen wäre ausgezeichnet gewesen, habe er noch zu Tina gesagt. Schwärmerisch hatte sie ihr vom höflichen Benehmen des bekannten Schauspielers berichtet.
Nina ging auf die Bar zu und begrüßte ihren Vater mit einem Kuss auf die Wange. Er zapfte gerade ein Bier und sah mit seinen zurückgekrempelten Hemdsärmeln und den lachenden dunklen Augen im Moment so gar nicht nach Uniprofessor aus. Nur die dunkelblonden akkurat geschnittenen Haare verrieten, dass er einen wichtigen Job hatte und in der Öffentlichkeit stand.
Als alle Gäste gegangen waren und sich auch Ellen und Tina in den Feierabend verabschiedet hatten, trank sie mit ihren Eltern noch ein Glas Wein. Sie waren guter Laune und plauderten mit ihr über den vergangenen Abend. Nina jedoch lag der Termin am Montagmorgen schwer im Magen.
Auch den Sonntag über hatte Nina immer wieder an das bevorstehende Gespräch gedacht. Ihre Meinung über Julian Leroy würde sich auch nicht ändern, egal wie oft Ellen ihr von seiner Lässigkeit hinter dem Herd vorschwärmte. Er war und blieb in ihren Augen ein selbstverliebter Gockel.
Dass er ihre Gewohnheiten am Montagmorgen durcheinanderbrachte, machte die Sache nicht besser. Nina hielt sich trotz der vielen unterschiedlichen Arbeiten an einen festen Tagesplan. Allein schon, weil sie sonst das Restaurant, das Schreiben an Kochbüchern und die Aufzeichnungen für ihre Sendung nicht unter einen Hut bekam, brauchte sie eine strenge Struktur. Jeden Montagmorgen erstellte sie eine Art Wochenplan und sortierte anstehende Angelegenheiten nach Dringlichkeit. Auch die Wochenkarte fürs Ludwig legte sie immer am Montagmorgen fest. Nina war, wenn man so wollte, ein Gewohnheitstier. Sie trank jeden Morgen schwarzen Tee, aß zwei Brote mit Marmelade und las die Salzburger Nachrichten, bevor sie sich in die Arbeit stürzte. Doch an diesem Montag war ihr gesamtes System zusammengebrochen.
Jetzt, wo sie in ihrem dunkelblauen fünftürigen Mini saß und auf dem Weg zur Filmproduktion war, verstärkte sich mit jedem Kilometer ihr Widerwille, mit Leroy vor der Kamera zu stehen.
Die Filmproduktion lag im Stadtteil Maxglan nahe dem Salzburger Flughafen in einem modernen Gebäude aus Glas und Beton. Seit vier Jahren schon produzierten Hofinger und sein Team Ninas Kochsendung für den ORF. Die erste Sendung wurde nur drei Monate nach Eröffnung des Ludwig ausgestrahlt. Sie parkte auf den für Gäste markierten Plätzen und nahm den Karton mit Brandteigkrapfen, die alle nach einem alten Rezept ihrer Großmutter mit Vanille gefüllt waren, vom Rücksitz. Hofinger liebte diese Süßspeise, und sie dachte, ein Mitbringsel wie dieses könne heute nicht schaden, egal wie das Gespräch verlaufen würde. Nina betrat das Gebäude durch die offen stehende Eingangstür und durchschritt das Foyer. Die schwere weiße Stahltür, die zu den Aufnahme- und Schneideräumen führte, war geschlossen. Gut möglich, dass gerade in einem der Studios im Erdgeschoss gedreht wurde. Sie stieg die breiten Stufen zum Büro des Produzenten in den ersten Stock hinauf.
Hofingers Sekretärin, eine schlanke Endvierzigerin mit strengem dunklem Pagenkopf und schwarzer Brille, stand von ihrem Stuhl auf und empfing sie. Sie trug eine hellblaue Bluse, dazu eine weiße Marlenehose und blau-weiß gestreifte Ballerina.
»Guten Morgen, Frau Winter.« Der Name passte perfekt zu ihr, fand Nina. Cäcilia Winter hatte ihr einmal erklärt, genau wie Nina ein Wintertyp zu sein. Das passte natürlich gut bei ihrem Namen. Bis dahin hatte Nina weder gewusst, welcher Typ sie war, noch hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, dass es eine derartige Einteilung geben könnte.
»Guten Morgen, Frau Ludwig«, flötete die Sekretärin und nahm Nina die Schachtel mit den Krapfen ab. »Kaffee? Sie haben sicher wieder die halbe Nacht im Restaurant gearbeitet«, sagte sie mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen.
Es war schon öfter vorgekommen, dass Nina direkt aus dem Restaurant zu Dreharbeiten ins Studio gefahren war und Hofingers Sekretärin sie an solchen Tagen literweise mit Kaffee versorgte, während die Maskenbildnerin sie kameratauglich schminkte.
Nina nickte. »Nehmen Sie sich gerne auch von den Brandteigkrapfen, Frau Winter.«
»Vielen Dank, Sie verwöhnen uns zu sehr. Gehen S’ gleich rein zu ihm. Er wartet schon.«
Nina öffnete die Tür und blieb überrascht im Rahmen stehen. Hofingers Schreibtisch war unüblicherweise aufgeräumt und bis auf einen einzigen Stapel Papier leer. Sie trat noch einmal vor die Tür und studierte übertrieben aufmerksam das Namensschild.
»Bin ich hier richtig bei Oskar Hofinger?«, fragte sie und zeigte belustigt auf den blanken Schreibtisch. »Was ist passiert? Ist dir das Papier ausgegangen?«
Müde sah er sie an, seine Augen erschienen Nina in dem Moment ebenso grau wie Hofingers kurz geschnittene Haare. Sie wusste, dass der Fünfzigjährige ein Workaholic war und viel zu wenig Schlaf abbekam. Genauso wie sie selbst. Nur sah man es ihr nicht an. Noch nicht.
»Ich hab endlich mal aufgeräumt. Die vielen Papierstöße und Magazinstapel sind mir auf die Nerven gegangen. Ich hab schon nichts mehr gefunden.«
Unweigerlich musste Nina lächeln. Ordnung ist das halbe Leben, ein Leitspruch ihrer Großmutter, den Nina Hofinger gegenüber öfter fallen ließ. Auch darin unterschied sie sich von dem Produzenten. Sie war im Gegensatz zu ihm pedantisch. Wenn in ihrer Küche etwas am falschen Ort stand oder unauffindbar war, etwa Salz oder Gewürze, konnte das fatale Folgen haben. Deshalb achtete Nina mit Argusaugen darauf, dass alles an seinem Platz stand. Sie ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder.
»Also«, begann er, »bevor du mir jetzt einen Vortrag darüber hältst, wie bescheuert du Julian Leroy findest … Die Idee, euch beide in einer Sendung zu vereinen, kam von den Sendeverantwortlichen im ORF und im BR. Wir haben ja schon einmal darüber gesprochen, dass wir über ein neues Sendeformat nachdenken. Du erinnerst dich sicher.«
»Ja, schon. Aber dass dieses neue Format ausgerechnet mit Leroy …«
»Du kennst das doch«, unterbrach er sie. »Nimm zwei prominente Köche, spann sie zusammen, und die Sendequoten erhöhen sich.«
Cäcilia Winter kam herein und brachte Kaffee. Der Produzent grinste breit, als er die Brandteigkrapfen auf dem Teller sah. »Du hast daran gedacht.«
»Ohne trau ich mich doch gar nicht mehr zu kommen.«
Hofinger schnappte sich einen und biss genussvoll ab. »Wir haben schon die perfekte Location gefunden«, sagte er kauend. »Ist zwar ein Stückchen weg von Salzburg, aber du wirst begeistert sein.« Er winkte sie zu sich herüber.
Nina erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und blickte auf Hofingers Bildschirm. Der Produzent klickte von Bild zu Bild, und Nina konnte nicht umhin, ihm begeistert zuzustimmen. Schon die Außenansicht des mächtigen Bauernhofes war fantastisch. Die Balkone auf den drei Stockwerken waren aus dunklem Holz und zogen sich über die gesamte Hausbreite, zweiflügelige Fenster mit Klappläden durchbrachen die Fassade.
»Der Hof gehört einem alten Bauern, ist dreihundert Jahre alt und denkmalgeschützt.« Hofinger nahm einen Zettel vom Tisch. »Der Besitzer heißt Vinzenz Binder. Er lebt allein dort.«
Nina besah sich noch einmal andächtig die sich ihr darbietende Ansicht. Rosenstöcke mit weißen, roten und zartrosa Blüten säumten die weiße Mauer, violettblau blühender Lavendel wuchs in den liebevoll angelegten Beeten. »Ist das ein Traum«, murmelte sie.
Über Hofingers Gesicht huschte Genugtuung. Nina ahnte, wie sehr es ihn freute, dass ihr die Location so gut gefiel. Er klickte weiter ins Innere des Hofes. Der Anblick der geräumigen Wohnküche verzauberte sie vollends. Ihr fiel sofort der alte gemauerte Herd ins Auge, der die Kochzeile dominierte. Auf so einem Herd hatte ihre Großmutter noch gekocht, als sie einmal gemeinsam im oberbayerischen Hofberg gewesen waren. Der Geruch der Kartoffelsuppe über der Feuerstelle kam ihr ins Gedächtnis, die Erinnerung zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen und einen feinen Hauch Majoran auf die Zunge. Zudem hatte sie das Knacken von verbrennendem Holz im Ohr, und plötzlich glaubte sie, die wohlige Wärme von damals auf der Haut zu spüren.
Sie sah Hofinger an. »Du sagtest, der Hof liegt ein Stück entfernt. Wo genau?«
»In Oberbayern.«
»Noch genauer.«
»In Hofberg. Das ist ein kleines Dorf mit gerade einmal tausend Einwohnern oder so. Es liegt etwa zwanzig Kilometer von Ingolstadt entfernt«, antwortete Hofinger und schnappte sich den nächsten Brandteigkrapfen.
Nina sah ihn überrascht an. »In Hofberg?«
»Ich weiß, ist nicht gerade ums Eck. Aber der Hof ist perfekt, haben jedenfalls die Leute vom BR behauptet. Sie haben die Location vorgeschlagen. Ich hab zwar gesagt, dass wir so etwas sicher auch zwischen Salzburg und …«
»Das ist jetzt nicht wahr, oder?«
»So weit entfernt ist es jetzt auch wieder nicht.« Offenbar deutete er Ninas weit aufgerissene Augen falsch.
»Nein, das meine ich nicht. Aus dem Dorf kommt meine Großmutter.« Sie spürte, wie ihr Herz aufgeregt schlug.
»Ich dachte, sie käme aus Wien?«
Nina schüttelte den Kopf. »Sie ist meinem Großvater zuliebe dorthin gezogen. Geboren wurde sie in Hofberg.«
»Na wunderbar!«, sagte der Produzent strahlend. »Dann ist ja alles bestens. Kennst du das Dorf?«
»Ich war nur ein paarmal als Kind dort, zuletzt vielleicht, als ich elf oder zwölf Jahre alt war. Der Cousin meiner Mutter lebt mit seiner Familie und meinem Großonkel noch immer dort.« Sie warf noch einen letzten Blick auf Hofingers Bildschirm, dann setzte sie sich wieder. »An diesen Hof kann ich mich jedenfalls nicht erinnern.« Als Kind war sie öfter durchs Dorf geradelt, aber in einen bestimmten Teil des Ortes sollte sie nicht fahren. Vielleicht lag der Hof ja dort. Eine Erklärung, warum das so gewesen war, hatte sie damals nicht bekommen. Sie hatte sich mit dem obligatorischen »Weil’s so ist« abfinden müssen.
»Wie auch immer, die Dreharbeiten beginnen Anfang September«, holte sie Hofinger in die Gegenwart zurück.
Nina hob die Augenbrauen. »Was, wenn ich da keine Zeit habe?«
»Hast du, Nina!«, sagte Hofinger bestimmt. »Ich hab dich vor einem halben Jahr gebeten, dir diesen Zeitraum für Dreharbeiten freizuhalten. Schau mal in deinen Kalender!«
»Ich weiß, aber doch nicht … Oskar, ich dachte, wir drehen meine Sendung. Hier, im Studio, so wie immer! Tagsüber drehen und abends bin ich im Ludwig.«
»Ursprünglich war das ja auch so gedacht, aber jetzt haben die Kollegen aus Bayern eben einen anderen Vorschlag gemacht.«
»Verstehst du, ich kann auch mein Restaurant gar nicht …«
»Um das Ludwig werden sich während deiner Abwesenheit wie immer Ellen und deine Eltern aufopfernd kümmern«, unterbrach sie Hofinger ungerührt und zeigte mit fettigen Fingern auf den Stapel Papier auf dem Schreibtisch, der an der Seite mit einem Heftstreifen zusammengehalten wurde. »Das Drehbuch kannst du gleich mitnehmen. Die Redaktion hat übrigens ein paar alte österreichische Rezepte rausgesucht. Es geht nämlich auch darum, dass ihr nicht nur eure eigenen Gerichte kocht.«
»Als hätte ich nicht auch alte Rezepte in meinen Kochbüchern«, sagte Nina schnippisch.
Hofinger überging den Einwand. »Übrigens soll es zum Sendestart auch gleich ein neues Kochbuch geben: Nina Ludwig und Julian Leroy kochen anno dazumal.«
Nina stand der Mund offen. Das wurde ja immer besser.
»Die Rezepte der Redaktion sind nur ein Vorschlag. Die Entscheidung, was gekocht wird, obliegt dir, ist ja klar. Also dir und Julian Leroy«, fügte er hinzu. »Schau’s dir einfach mal an. Vielleicht ist ja was dabei, das dir zusagt, und schick mir deine Wahl bis Mitte nächster Woche. Ach ja, Leroy hat seine Empfehlungen, was die deutsche Küche anbelangt, schon heute Morgen per Mail geschickt. Der Ausdruck liegt auch dabei.«
Ein Streber ist der Typ auch noch, dachte Nina und griff nach dem Drehbuch.
»Und denk dir auch gleich etwas Schönes für Weihnachten aus, die erste Sendung wird nämlich schon im Dezember ausgestrahlt.« Er schob ihr das Papier mit den Sendeterminen über den Tisch. Nina ignorierte es, weil sie gerade dabei war, die Vorschläge der Redaktion durchzugehen und an einem hängen geblieben war. »Toast Hawaii? Wirklich? Der wurde doch erst in den Fünfzigerjahren erfunden.«
»Das ist auch schon eine ganze Weile her, und ich hab nicht gesagt, dass in der Sendung nur Speisen aus dem neunzehnten Jahrhundert vorkommen dürfen«, sagte Hofinger.
»Außerdem wird die Erfindung Clemens Wilmendrod zugesprochen, dem ersten deutschen Fernsehkoch, von wegen die Redakteure haben österreichische Rezepte rausgesucht.«
»Ist doch egal. Es ist eine gute Geschichte für die Sendung, und damit passt’s wieder.«
»Wenn du das sagst«, sagte Nina wenig überzeugt. »Aber für einen Toast Hawaii brauchst du keine Kochsendung. Das kannst du während der Werbeeinschaltung bei den Privatsendern zubereiten, und selbst die dauert länger als die Zubereitung.«
»Wie gesagt, die Liste ist nur ein Vorschlag.« Hofinger schien das Thema beenden zu wollen.
»Soll Julian Leroy doch Toast Hawaii zubereiten, wenn er will«, murmelte Nina kopfschüttelnd und trank ihren Kaffee aus. »Ich konzentrier mich auf Österreich und nehme, wenn schon, dann ein Rezept des ersten österreichischen Fernsehkochs Franz Ruhm.« Sie nahm einen Stift von Hofingers Schreibtisch und strich das mit Ananas, Schinken und Käse belegte Toastbrot auf der Liste gleich zweimal durch.
Im Auto warf sie sofort einen neugierigen Blick auf Leroys Rezeptvorschläge. Sie musste unwillkürlich lachen, er hatte als Erstes auf der Liste »Pichelsteiner« notiert. »Klar, dass ganz oben ein Eintopf steht, Mister Superstar«, murmelte sie. »Alles in einen Topf, gar dünsten, fertig, genau wie du’s in deiner Sendung immer wieder predigst.«
Sie warf das Manuskript auf den Beifahrersitz, saß eine Weile reglos da und starrte durch die Windschutzscheibe. Was bedeutete es, dass die Dreharbeiten ausgerechnet in Hofberg stattfanden? Ihr letzter Besuch lag schon Jahre zurück, aber dennoch knüpfte ein unsichtbares Band sie an den Ort. Ihre Großmutter hatte zwar selten von ihrer Jugend erzählt, und wenn sie es tat, dann rankten sich die Geschichten zumeist um die Schafherde, um die sie sich gekümmert hatte. Darum, wie nervös sie gewesen war, als sie erstmals alleine die Tiere von einer Weide zu nächsten treiben musste, nur mithilfe der Hütehunde. Sie hatte Angst gehabt, dass die Herde ihr nicht folgen würde oder gar vom Weg abwich. Wenn sie von der Zeit erzählt hatte, wie sie ganz allein auf sich gestellt war und im Schutz des Schäferkarrens die Nächte verbracht hatte, war jedes Mal ein Strahlen über ihr Gesicht gegangen. »Geschlafen habe ich mit einem Ohr immer bei der Herde im Pferch.« Denn Mary, so hatte das Lieblingsschaf ihrer Großmutter geheißen, daran konnte sich Nina bis heute erinnern, war immer wieder ausgerissen. Die Mischlingshündin Anka hatte in solchen Momenten sofort nach dem Tier gesucht. Ihre Großmutter Lieselotte war die letzte Wanderhirtin der Familie gewesen, eine Tradition, die bis ins 16. Jahrhundert zurückging und die es seit Jahrzehnten in dieser Form nicht mehr gab.
Nina war sehr gespannt darauf, was sich dort seitdem verändert hatte und inwieweit sich ihre Kindheitserinnerungen mit der heutigen Realität deckten. Früher gab es noch Hühner, Gänse und Hasen am Hof, und im Stall standen vier oder fünf Kühe. Der Cousin ihrer Mutter hatte den Hof nur nebenbei betrieben und hauptberuflich bei Audi in Ingolstadt gearbeitet. Sollte sie ihren Verwandten Bescheid geben, dass sie dort drehen würde? Nein, sie wollte sie überraschen. »Die werden Augen machen, wenn ich nach so langer Zeit plötzlich vor der Tür stehe«, murmelte sie amüsiert, und der Gedanke hob ihre Laune.
Eine weitere Kindheitserinnerung trug sie, wenn nicht in den Lainzer Tiergarten nach Wien, wo sie oft mit ihren Großeltern gewesen war, dann oft auf die auf eintausendfünfhundert Meter hoch gelegene Fuchsbauhütte am Aberg, auf der ihre Großmutter als Sennerin gearbeitet hatte. Von dort aus hatte man einen unbezahlbaren Blick auf den Hochkönig und das Steinerne Meer. »Wanderer wurden damals ausschließlich mit selbst gemachten Lebensmitteln verköstigt«, hatte ihr die Großmutter erzählt, als sie einmal gemeinsam oben gewesen waren. »Brot, Butter und Käse etwa, und jeden Morgen musstest du die Tiere suchen, weil sie frei herumliefen.« Heute war es anders, die Weiden waren eingezäunt, und aus der Almhütte war ein richtiges Gasthaus geworden, das zwar noch immer Eigenproduktionen auf der Speisekarte hatte. Aber es gab eine Aussichtsterrasse, Übernachtungsmöglichkeiten, einen Kinderspielplatz und Streichelzoo.
In Hofberg hatte Lieselotte das Gleiche wie auf der Alm getan, nur eben im Tal, weil die Berge fehlten: Sie versorgte als Siebzehn-, Achtzehnjährige selbstständig die Schafe. Als Kind war Nina die Alm mit dem Weidevieh wie ein Paradies erschienen. Der Klang der Kuhglocken glich in ihren Kinderohren ähnlich einer Hymne an die Freiheit. Keine Schule, keine Verbote, keine Tischsitten. Sobald sie die Alm erreicht hatten, streifte Nina Schuhe und Socken von den Füßen und lief barfuß über die Wiese. Ein himmlisches Gefühl. Wenn sie sich danach auf dem satten Gras wälzte, glaubte sie den Geruch der Wiesenblumen anzunehmen und so zur besten Freundin der kleinen Geisterwesen zu werden, die in den ausladenden Wurzelgebilden der mächtigen Bäume des naheliegenden Mischwaldes wohnten. In dem Moment hatte sie fantasiert, eine zauberhafte Fee zu sein. Selbst die Erinnerung an den Geruch der Kühe und Schafe und ihre stoische Ruhe war im Laufe der Jahre kaum verblasst. Auch nicht, was ihre Liesl-Oma ihr eingebläut hatte, wenn sie auf der Alm einem Schaf über die feste und leicht fettige Wolle strich. »Sie riechen weich, nicht streng. Und dumm sind sie auch nicht, ganz im Gegenteil. Merk dir das, Nina!«
In dem Moment realisierte sie, dass sie zum letzten Mal vor zwanzig Jahren oben am Aberg gewesen war. Ihre Großmutter war mit vierundsechzig Jahren viel zu jung gestorben. Nina war damals sechzehn und hatte gerade ihre Kochlehre in Wien begonnen.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie fehlte ihr so sehr. Sie seufzte tief und startete den Wagen. Im Radio lief Castle on the Hill von Ed Sheeran. Sie sang laut mit und trommelte im Rhythmus aufs Lenkrad.
Auf dem Weg in den Salzburger Stadtteil Aigen überlegte Nina, rasch bei ihren Eltern vorbeizufahren. Das Einfamilienhaus, in dem sie aufgewachsen war, lag ebenfalls in Aigen unweit ihrer eigenen Dachgeschosswohnung. Doch der Drang, ihre Rezeptliste mithilfe des alten Kochbuchs zu erstellen, überwog, und sie beschloss, ihre Eltern anzurufen. Sie parkte ihren Mini auf dem ausgewiesenen Platz vor dem modernen Wohnhaus.
»In Aigen muss man heutzutage schon erben, um sich eine Wohnung leisten zu können«, pflegte Ninas Vater zu sagen, denn der Stadtteil zählte zur teuersten Wohngegend Salzburgs. Es war ein renommiertes Villenviertel, und im Laufe der Zeit hatten sich viele wohlhabende Unternehmer und Promis niedergelassen. Wobei die Wohnungspreise in Salzburg generell hoch waren und seit Jahren ins Unbezahlbare stiegen. Mit Unterstützung ihrer Eltern und jahrelangem eisernem Sparen hatte sie sich vor einem Jahr ihren Traum von der eigenen Wohnung verwirklichen können.
Nina fuhr mit dem Lift bis unters Dach, sperrte die weiße Eingangstür auf und betrat ihre Wohnung. Den Hausschlüssel legte sie wie üblich in die Keramikschale im Flur, ihre Handtasche hängte sie an die Garderobe, nachdem sie das Handy herausgenommen hatte. Sie konnte es einfach nicht leiden, etwas suchen zu müssen. Die Räume der achtzig Quadratmeter großen Wohnung waren lichtdurchflutet, die Holzfußböden und warmen Wandfarben strahlten Behaglichkeit aus, ebenso die hellen stilvollen Möbel. Sie öffnete die Terrassentür, trat hinaus und wählte. Mit dem Handy am Ohr betrachtete sie den naheliegenden knapp eintausenddreihundert Meter hohen Gaisberg. Der Blick war unbezahlbar.
»Hallo Nina.«
»Hallo Mama. Du, ich komme gerade von der Besprechung mit Hofinger. Ich kann dir jetzt Näheres über die bevorstehenden Dreharbeiten sagen, und ich hoffe, du hilfst mir wieder.« Sie wollte die Sache mit der Vertretung im Restaurant gleich klären, deshalb kam sie augenblicklich auf den Punkt.
»Das bedeutet, du bist die ganze erste Septemberhälfte nicht da?«, fragte Eva Ludwig mit einem Hauch Protest in der Stimme.
»Ja, so ist es wohl. Wenn du und Papa den Mädels zur Hand gehen könntet, wäre ich euch echt dankbar.«
»Für Papa ist das sicher kein Problem, er hat da eh noch Ferien. Außerdem, wozu hättest du ihm sonst ordentlich Bier zapfen und Wein ausschenken beigebracht? Aber ich …«
»Ich weiß, für dich ist das komplizierter, Mama«, schnitt Nina ihr das Wort ab. »Immerhin bist du den ganzen Tag im Büro. Ich denke, Ellen wäre schon geholfen, wenn du am Abend abrechnen würdest. Dann muss sie sich nur ums Kochen und den Einkauf kümmern. Da die Festspielzeit vorbei ist, ist eh nicht mehr ganz so viel los in der Stadt wie im Moment. Bitte, bitte!« Sie kam sich vor wie ein kleines bettelndes Kind.
Nina hörte ihre Mutter seufzen. »Also gut«, sagte sie.
»Danke. Ihr seid wirklich die Besten.« Dann kam Nina auf die Dreharbeiten in Hofberg zu sprechen.
Ihre Mutter schwieg kurz, als Nina endete. »In Omas Dorf?«, fragte sie dann, weil es namensgleiche Orte auch in Österreich gab.
»Ja, ist das nicht ein witziger Zufall?«
»Da muss ich gleich den Onkel Fritz anrufen. Du fährst doch sicher am Hof vorbei?«
»Ja, natürlich, das hatte ich vor. Aber ruf nicht an, Mama. Ich will, dass es eine Überraschung wird.«
»Mein Gott, wie lange waren wir schon nicht mehr dort?«, fragte sie. »Das hätte sich deine Oma nicht träumen lassen, dass du einmal eine Fernsehsendung in ihrem Dorf drehst. Wär sie noch am Leben, würde sie glatt mitfahren. Ach, sie wär so stolz auf dich, Nina«, sagte ihre Mutter wehmütig.
»Und ich hätt sie gerne mitgenommen.« Nina schluckte schwer, und sie schwiegen beide eine Weile.
»Sagt dir der Name Vinzenz Binder etwas?«, unterbrach Nina schließlich die Stille.
»Hm«, kam es nachdenklich, »gehört hab ich den Namen schon einmal. Binder, Binder … lass mich nachdenken. Wahrscheinlich in Zusammenhang mit einer alten Geschichte, aber ich hab grad keine Erinnerung dazu im Kopf … Ich such mal die alten Bilder raus, vielleicht entdecke ich ja etwas«, fügte sie noch hinzu.
Nach Lieselottes Begräbnis vor vierzehn Jahren hatte August Koller seiner Tochter eine Schatulle mit Schwarzweißfotos überreicht. »Deine Mutter wollte, dass du sie bekommst«, hatte er zu ihr gesagt. Eva hatte lange die Kraft gefehlt, sich die Bilder anzusehen. Doch zwei Monate nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie eine Flasche Wein geöffnet und sich einen ganzen Abend lang unter Tränen damit auseinandergesetzt.
»Wir drehen auf dem Binder-Hof, Mama. Der ist uralt und denkmalgeschützt. Da muss die Crew den Leroy sicher ein bisserl einbremsen. Der haut beim Kochen manchmal ziemlich herum, da kann schon mal etwas auf den Boden knallen. Nicht, dass er am Ende noch was zerstört.« Nina lachte.
»Denkmalgeschützt, sagst du? Dann muss er zu den ältesten Höfen im Dorf gehören. Wie auch immer, du schaust auf jeden Fall beim Onkel Fritz, dem Xaver und der Antonia vorbei. Versprochen?«
»Ja, Mama, das mache ich sicher.«
»Die werden schön schauen, wenn du nach so vielen Jahren wieder vor der Tür stehst.« In ihrer Stimme schwang ein wenig Melancholie mit. Hatten sie sich früher zumindest alle paar Jahre gesehen, war nach dem Tod von Ninas Großmutter der Kontakt nahezu eingeschlafen, beschränkte sich auf ein oder zwei Telefonate im Jahr. Die beiden Kinder von Evas Cousin Xaver lebten ihres Wissens in Berlin und Nürnberg, zu ihnen gab es noch seltener Kontakt.
Nina verabschiedete sich von ihrer Mutter, ging zurück in die Wohnung und steuerte direkt auf das Regal mit den Kochbüchern zu. Ihr Blick blieb einen Moment lang an dem Foto im silbernen Bilderrahmen hängen, das dort neben den Büchern stand. Es zeigte sie zu dritt am Domplatz vor der Mariensäule in Salzburg, Eva, Lieselotte und Nina, drei Generationen. Sie stand in der Mitte, musste da ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein, denn sie hatte ihr grellrosa Lieblingskleid und ihre pinkfarbenen Sandalen an. Ihre dunklen Haare reichten bis zur Schulter. Mit sechs Jahren wollte sie von einem Tag auf den anderen ihre Haare kurz geschnitten haben und kein Rosa mehr tragen, hatte ihr ihre Mutter erzählt. Ihre Großmutter trug ein schlichtes dunkelblaues Kleid, das einen bezaubernden Kontrast zu ihren dunklen üppigen Haaren und ihrer olivfarbenen Haut bildete. Nina ließ ihren Blick auf ihrer Mutter ruhen. Wenn man sie so nebeneinander betrachtete, könnte man glauben, Eva wäre aus einem anderen Stoff gemacht. Schon damals waren ihre rostbraunen Haare kurz geschnitten, und ihre helle Haut schützte sie mit einer langärmeligen hellgrünen Bluse und einer langen weißen Sommerhose.
Nina riss sich von dem Anblick los und griff nach dem Kochbuch, das ihr die Großmutter damals geschenkt hatte. Gedankenverloren betrachtete sie den Umschlag mit dem Krug, Brot und Speck. Es war Jahre her, dass sie darin geblättert hatte. Ein Gefühl der Ehrfurcht durchströmte sie, und der Geschmack von Dampfnudeln mit Vanillesauce legte sich plötzlich auf ihre Zunge. Sie schluckte und setzte sich aufs Sofa, blätterte dann zu der Stelle, an der sie das Buch vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal aufgeschlagen hatte: das Rezept mit den gebackenen Holunderblüten. Schade, dass sie diese nicht auf den Speiseplan für die Kochsendung setzen konnte, aber die Zeit der Holunderblüten war bereits vorbei. Behutsam strich sie über die Seite und lehnte sich dann seufzend zurück. Es gab so viel Interessantes zu erzählen, die österreichische Küche bestand aus einem Speisesammelsurium anderer Länder, insbesondere der ehemaligen Kronländer der Donaumonarchie Böhmen, Ungarn, Norditalien. Natürlich kamen ihr bei dem Sendethema auch die Salzburger Nockerl in den Sinn. Immerhin konnte die Süßspeise auf eine Tradition verweisen, die bis in die Renaissancezeit zurückführte. Doch die Köstlichkeit war auch heute noch sehr präsent, deshalb strich sie sie von ihrer imaginären Liste. Ihre Suche galt Gerichten, die heutzutage nicht mehr auf jeder Speisekarte zu finden waren. Sie schlug im Buch die Seite mit den Suppen auf. Die Salzburger Altmalzbiersuppe erschien ihr perfekt, weil sie damit in der Sendung auf die alte Bierbrautradition Salzburgs verweisen konnte. Das Nächste, was ihr einfiel, waren die unterschiedlichen Sterzrezepte.
Nina streckte den Rücken durch, nahm den Kugelschreiber zur Hand, notierte Bohnensterz und schrieb auch gleich die Zutaten darunter: »Wachtelbohnen, Heidenmehl (Buchweizenmehl), Wasser, Salz, Schmalz, und fertig ist das ehemalige Armeleuteessen.«
Ganz zufrieden war sie jedoch noch nicht mit der Rezepteauswahl. Ihr fiel ein, dass die erste Sendung bereits vor Weihnachten ausgestrahlt werden sollte. Die Zuschauer erwarteten sicher ein geschmackvolles Weihnachtsmenü anno dazumal, obwohl Heiligabend früher als Fastentag gegolten und es nur einfache Gerichte gegeben hatte. Sie nahm die Rezepteliste von Julian Leroy zur Hand. Sein Vorschlag bezog sich genau darauf, er hatte Würstel mit Kraut und Kartoffelsalat für diesen Sendetermin vorgeschlagen. Weiterhin merkte er an, dass der Brauch des Würstelessens mutmaßlich damit zusammenhing, dass vor Weihnachten geschlachtet wurde.
»Leroy, Leroy, da hast du’s dir aber sehr einfach gemacht«, sagte sie leise tadelnd und sah sich schon mit dem Dreisternekoch beim Würstelbraten. »Die Sendung wird genau zehn Minuten lang dauern!« Sie lachte und erhob sich, ihr war nämlich auf der Heimfahrt eine Idee gekommen. In ihrem Bücherregal stand ein weiterer wunderbarer Schatz, das Kochbuch der Josefine Türck, veröffentlicht 1908 anlässlich des sechzigsten Regierungsjubiläums von Kaiser Franz Joseph. Die renommierte Köchin hatte zu ihrer Zeit einen derart guten Ruf, dass sie an der Jubiläums-Kochausstellung in diesem Jahr teilnehmen durfte. Prämiert wurden seinerzeit ihre schwarz-gelbe Jubiläumstorte und ihre Canapés zum Five o’Clock Tea.
»Das nenne ich österreichische Küche anno dazumal«, sagte Nina zufrieden und setzte sich wieder. Das Kochbuch war zwar ein Nachdruck, dennoch in gedruckter Kurrentschrift verfasst, und beinhaltete Menüs für sämtliche Feiertage des Jahres. Es war naturgemäß bestimmt für Adelige und betuchte Bürger dieser Zeit, denn das gemeine Volk konnte sich weder Austern noch Rebhühner oder Gänseleber leisten. Auf Seite achtundfünfzig fand Nina das Menü für Heiligabend, sie notierte es ebenfalls: »Gestoßene Fischsuppe mit Ragoutwürstchen, Schwarzfisch (Schwarze Makrele), Polnische Sauce, Serviettenknödel, Backfisch, Bordeauxpflaumen und Birnen, garnierter Salat. … Na, ihr habt’s es euch nicht schlechtgehen lassen«, murmelte sie und hatte ob der Speisenfülle Bedenken.
Das laute Schrillen ihrer Wohnungsklingel riss Nina aus ihren Überlegungen. Sie überlegte, wer sie besuchen kam, denn sie erwartete niemanden, und öffnete.
»Musst du nicht in der Kanzlei sein?« Überrascht sah Nina ihre Mutter an. Sie trug ein geblümtes Kleid und blaue Keilsandaletten.
»Ich bin die Chefin, kann also kommen und gehen, wann ich will. Schon vergessen? Dem Umstand hast du’s auch zu verdanken, dass ich auf dein Restaurant aufpassen kann, wenn du weg bist, mein Schatz.« Eva grinste schief und hielt Nina die Schatulle mit den alten Bildern ihrer Großmutter vor die Nase. »Ich glaub, ich weiß jetzt, wer Vinzenz Binder ist.« Sie küsste Nina zur Begrüßung auf beide Wangen und schob sich an ihr vorbei. »Du wirst staunen.«
»Werd ich das?« Nina folgte ihrer Mutter ins Wohnzimmer.
Eva warf einen Blick auf die Zettel und die beiden Kochbücher auf dem Couchtisch. »Machst du einen Plan für die Sendung mit Leroy? Das schaut aber sehr nach bodenständiger Küche aus.«
»Anno dazumal, Mama. Das sagt doch schon alles!« Nina fuhr mit den Fingern fast zärtlich über den Deckel der Schatulle, die ihre Mutter auf dem Esstisch abgestellt hatte. Sie ähnelte einem Schmuckkästchen mit Intarsien aus verschiedenen Hölzern, die eine Almlandschaft mit Schafen zeigten. Ihr Großvater hatte sie eigens als Geburtstagsgeschenk für Ninas Großmutter in Auftrag gegeben.
»Machst du uns einen Kaffee?« Eva deutete auf die rote Illy-Espressomaschine, die auf der breiten Arbeitsfläche in der offenen Küche stand. Unvermittelt setzte Nina sich in Bewegung und ließ zwei Espressi heraus.