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Im Milieu von Diplomatie, Agenten, Hackern, Militär sind der hochbegabte weißrussische Mikrobiologe, Informatiker Dr. Daniel Lutschyna und die US-amerikanische virenforschende Veterinärin Lieutenant Dr. Randi Allen dem Geheimnis der Pandemie auf der Spur. Ihnen gelingt ein spektakulärer Coup gegen die Großmächte USA, Russland und China.
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Seitenzahl: 301
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Der Autor
Hans-Peter Grünebach (Jahrgang 1948) ist neben dem Bücherschreiben passionierter Sportler. In Bogen/Donau geboren verbrachte er seine Jugend in Garmisch-Partenkirchen, Coburg und München. Später lebte er berufsbedingt u. a. in Mannheim und Berlin, in den Niederlanden und Italien, zeitweise in Bosnien-Herzegowina, in Mazedonien und Afghanistan. Neben den Ländern Europas und Amerikas bereiste er studienhalber auch Russland und China. Mit »Begegnungen auf dem Balkan« machte der Autor 2001 literarisch auf sich aufmerksam. Heute begeistert er seine Leser mit politischen Gedichten, Theater, Lyrik, Kurzgeschichten und Romanen. Er wirkt im beschaulichen Kloster- und Künstlerdorf Polling in Oberbayern.
Hans-Peter Grünebach
DAS GEHEIMNISDER PANDEMIE
Roman
Engelsdorfer VerlagLeipzig2021
Der Roman spielt in den USA, in Russland, China, Weißrussland, Estland, Österreich, Deutschland, Italien, Frankreich und in der Schweiz. Manche Handlungen, Personen und Orte sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig. Ausgenommen sind Zitate aus jedermann zugänglichen Quellen globaler Medien.
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Coverbild © desertsands [Adobe Stock]
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Erfolg ist ein lausiger Lehrer.
Er verführt kluge Menschen dazu, zu denken, sie wären unfehlbar.
Bill Gates
(www.myzitate.de)
Cover
Titel
Impressum
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
17. KAPITEL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
21. KAPITEL
22. KAPITEL
23. KAPITEL
24. KAPITEL
25. KAPITEL
26. KAPITEL
27. KAPITEL
28. KAPITEL
29. KAPITEL
30. KAPITEL
31. KAPITEL
32. KAPITEL
33. KAPITEL
34. KAPITEL
35. KAPITEL
36. KAPITEL
DANIELS ÜBERSICHTSKARTEN DER FLUCHTROUTE NORD
Auch wenn Randis Vater ihr als Tierarzt eine unbeschwerte Jugend in der Society von Manhattans schicker Upper East Side ermöglichte, jetzt, gegen Ende ihrer Studienzeit war Randi froh, dass sie den Hochhausschluchten der Metropole so oft wie möglich entfliehen konnte.
Obwohl New York für Studenten Tag und Nacht ein »cooler« Ort war, und obwohl die Columbia Universität zu den zehn besten der Welt zählte, zog es Randi Allen fast täglich in den Central Park, wo sie in den weitläufigen Wäldern, an den Ufern der Seen oder auf dem Vista Rock des Belvedere Castles durchatmen und den Blick auf die Megastadt mit etwas Abstand genießen konnte.
Im Zoo stand auch ihre Bank, auf der sie jetzt viele Stunden saß, etwas über biochemische Zusammenhänge lernte oder zeichnete. Ein paar Meter von ihr entfernt hatte man für die Kinder ein temporäres Alpakagehege eingerichtet. Die neugierigen Tiere mit der begehrten Wolle waren ein Blickfang, auch für Randi. Bis sich an einem sonnigen, warmen Tag im Juni 2018 ein junger Mann im Trainingsoutfit neben sie setzte. Der große, attraktiv aussehende Typ war ihr bereits einmal im Prospect Park Zoo in Brooklyn aufgefallen. Ein Seelöwe war plötzlich aufgetaucht und hatte sich mit einem Brüllen bis vor das Geländer auf den Betonring geworfen. Kinder liefen schreiend weg, doch der junge Mann lachte nur über das Gehabe des Gernegroß im Bassin und winkte die Kinder zurück.
Nach einem »Hallo – Ich hoffe, ich störe nicht!«, das Randi mit einem verkrampften »Nein, setzt dich nur!« beantwortete, hatte er Platz genommen und eine Weile geschwiegen. Dann beobachtete sie aus den Augenwinkeln, wie sich seine Mine zu einem breiten Grinsen erweiterte; er schien sich über die Alpakas vor ihnen zu amüsieren. Es war Schulzeit und noch kein Zoo-Besucher unterwegs. Wenig später spürte Randi, wie er einen Blick auf das von ihr in Kohle gezeichnete Portrait einer weißen Alpakadame warf. Erst flüchtig, dann konzentriert. Sie schaute auf.
»Sehr gut!«, kommentierte er lächelnd, »aber wie schaffst du es nur, die weiße Stute mit einem schwarzen Stift zu zeichnen?«
Zwischen Britisch-Schulenglisch hörte Randi New Yorker Slang-Brocken heraus. »Mad« good, statt »very« good hatte er gesagt, und irgendein slawischer Akzent verbarg sich im Hintergrund. Eine interessante Stimme. Und nicht unsympathisch.
Jetzt wollte Randi wissen, mit wem sie es zu tun hatte: »Du bist aus Europa, nicht wahr?«
»Ja, aus Weißrussland. Ich bin Gaststudent und heiße Daniel.«
»Welche Fakultät?«
»Columbia Universität, Computerwissenschaften, Zweitstudium!«
Dann schaute er sie amüsiert an.
»Jetzt musst du dich aber auch vorstellen. Schließlich bist du wohl öfter hier.«
Das Studentenheim des Mikrobiologen Dr. Daniel Lutschyna lag unweit der 110 Street Station. Auch ihn zog es nach Vorlesungen und Praktika in der Fakultät magisch in den Park. Obwohl er schon Studienjahre in Großstädten wie Minsk und Moskau verbracht hatte, konnte er sich an das Leben im Schatten von Wolkenkratzern nur schwer gewöhnen. Er brauchte Natur und frische Luft. Besonders bei Inversionslagen atmete Daniel gefühlt Kohlenmonoxyd und Schwefeldioxyd pur, wie neunzehn Millionen andere auch. Während andere sich daran gewöhnt hatten, war der Smog für Daniel unerträglich. Er sandte Verwünschungen in Richtung Freiheitsstatue und floh in den Central Park. In dem vier Kilometer langen Park gab es noch Frischluft. Fast hundert Kilometer Wegstrecken durch die Parkwälder Ramble und North Woods boten ihm so etwas wie Kompensation.
Bei den Seelöwen in Brooklyn war ihm das Mädchen mit der sportlichen Figur, den ebenmäßigen, ernsten Zügen und dem Schwanenhals aufgefallen. Und hier im Central Park von Manhattan hatte er sie wiedergesehen. In einem bunten Sommerkleid saß sie auf der Bank beim Zeichnen, die Sandaletten abgestreift, den Block auf den übereinander geschlagenen Beinen.
Daniel hatte sie beim Abstecher durch den Zoo spontan wahrgenommen. Magisch angezogen hatte er sein Laufen verlangsamt, überlegt, ob er es wagen könnte und sich dann einfach dazugesetzt.
»Randi. Mein Name ist Randi.«
»Die Malerin Randi ist begabt«, sagte Daniel, »sie hat den Struwwelkopf und die Lauschohren des eleganten Models exakt getroffen!«
»Hast du den Charmeur gehört, Inka?«, rief Randi lachend über den Zaun dem weißen Alpaca entgegen.
Daniel hatte Randi zum Lachen gebracht, das gelang nicht jedem.
Und Inka fletschte die Zähne und warf den Hals in den Nacken, als wenn sie Daniels Kompliment verstanden hätte.
»Zweitstudium, sagtest du?«, fragte Randi interessiert.
»Ja, vier Semester Computerwissenschaften. Davor habe ich Mikrobiologie studiert.«
»Und wie weit bist du in Computerwissenschaften, der Informatik?«
»Im Februar und März nächsten Jahres werde ich in Minsk meine Diplomprüfungen ablegen.«
Randi wusste nicht viel von Weißrussland: »Wohnst du in Minsk?«
»Ja und nein! Ich habe in Minsk nur eine Studentenbude. Eigentlich bin ich aus einer Kleinstadt am Fluss Bjaresina. Der ist dir vielleicht aus der Geschichte bekannt durch die Schlacht Zar Alexanders gegen Napoleon, 1812. Die Bjaresina oder Beresina, wie Ihr sagt, fließt östlich der Hauptstadt, etwa in der Mitte Weißrusslands, von Norden nach Süden und mündet in den Dnjepr, Länge ungefähr 600 Kilometer.«
Aha, dachte sich Randi, der sportliche Europäer mit dem intellektuellen Touch lässt sich die Würmer Gott sei Dank nicht aus der Nase ziehen.
Als hätte er Randis Gedanken erraten, fuhr Daniel fort: »Ich hatte ein Hochbegabtenstipendium und konnte deshalb schon mit zweiundzwanzig in Mikrobiologie promovieren.«
Daniel hoffte, dass er nicht wie ein langweiliger Angeber wirkte und wechselte schnell das Thema.
»Hier bin ich fast täglich zum Joggen unterwegs, läufst du auch?«
»Ja, sehr gern, aber nicht täglich. Was nicht ist, kann aber noch werden.«
Wenn Randi von Daniels Werdegang beeindruckt war, dann ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Aber neugierig war sie schon, vor allem, als sie von ihm erfuhr, dass Daniel vierundzwanzig Jahre alt war, wie sie selbst.
Die beiden Studenten verabredeten sich für den kommenden Tag zum Joggen beim Bootshaus.
Es war wieder ein Sonnentag. Für Nachmittag waren Gewitter angesagt, vor deren Heftigkeit man sich im Sommer bei 30 Grad Celsius fürchten musste, wie im Winter vor überraschenden Blizzards, bei denen die Temperaturen auf minus 30 Grad sinken konnten.
Daniel saß am Loeb Boathouse auf der Mauer zum Lake und wartete auf Randi. Er sah einem Paar zu, das sich an der Kasse um das Bezahlen von 20 Dollar Pfand stritt und um die Stundengebühr für das Ruderboot. Ja, 15 Dollar Miete eine knappe Stunde auf dem Wasser waren für den Geldbeutel eines Studenten aus Belarus kaum erschwinglich, wie auch 14 Dollar für einen Sundowner im Bootshaus. Wer beim Rudern die Zeit überzogen hatte, durfte 3 Dollar pro angefangene Viertelstunde draufzahlen, und wenn etwas am Boot war, was dem Verleiher nicht gefiel, dann wurde die Kaution kurzerhand einbehalten – andere Länder, andere Sitten.
Das Pärchen küsste sich schließlich, bezahlte dann ohne weiteres Murren und ruderte, er links, sie rechts, davon. Bis zur Landzunge am großen Brunnen konnte Daniel sie mit den Blicken verfolgen. Dann waren sie in Richtung Bogenbrücke entschwunden. Oder sie hatten sich in den schmalen Seitenarm verflüchtigt und taten dort, was junge Leute so tun, wenn sie sich unbeobachtet wähnen – auch im puritanischen Amerika.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
Randi entschuldigte sich. »Ein bisschen verspätet, böse?«
»Keineswegs. Hier am Bootshaus sieht man viel. Mir wird es zudem nie langweilig; ich rekapituliere Vorlesungen, entwerfe im Kopf Programme oder wiederhole Gedichte in verschiedenen Sprachen, das schult das Gedächtnis.«
»Ich bin beeindruckt«, sagte sie schelmisch, meinte es aber durchaus ernsthaft und forderte Daniel vergnügt auf: »Komm, wir laufen langsam los und ich zeig dir etwas, was dir hier im Central Park vielleicht noch nie aufgefallen ist.«
Daniel strahlte: »Dann los. Ich freue mich.«
Sie liefen in gemäßigtem Tempo durch den Ramble-Wald, am Hanging Rock vorbei zum Azalea Pond. Hier blieb Randy stehen.
»Du weißt doch, dass New York die Stadt der Geheimagenten, die der internationalen Kriminalität, der Börsenspekulanten, die der Armen und Reichen und die der Kunsthändler ist. Aber du weißt wahrscheinlich nicht, wo sich hier kleine Vampire angesiedelt haben. Wir stehen vor einem Baum der Fledermäuse.«
Daniel war tatsächlich überrascht. Bisher hatte er die kleinen Blutsauger im Central Park noch nicht wahrgenommen.
»Sagt dir das Weißnasensyndrom etwas?«, fragte Randi mit ernster Stimme.
»Ich habe davon gehört. Ich weiß, dass es durch die Urbanisierung und durch den Pilz kaum noch Fledermäuse gibt. In New York hätte ich sie am allerwenigsten vermutet.«
Randi deutete nach oben.
Jetzt sah Daniel sie auch: Eine Traube kleiner Vampire, die alle entspannt mit dem Kopf nach unten in der Krone hingen.
»Im Herbst wirst du staunen. Wenn das Laub am Boden liegt, dann hängen sie an einem Bein und schwingen wie welke Blätter im Wind. Und weiter vorne in der Ramble Cave gibt es noch mehr von ihnen; gut geht es ihnen nicht, da das Weißnasensyndrom sie dann befällt. Und zwar während des Winterschlafs. Ihre Abwehrkräfte sind dann so geschwächt, dass der wahrscheinlich aus Europa eingeschleppte Pilz in die glatten Hautpartien an Kopf und Flügel eindringt. Das verursacht Jucken. Davon wachen sie auf und verbrauchen ihre Energiereserven. Da eine Fledermaus pro Tag etwa 1000 Mücken zum Fressen bräuchte, diese im Winter aber nicht schwärmen, sterben die Flattertiere massenweise an Schwäche.«
»Gibt es denn kein Mittel gegen den Pilz?«, fragte Daniel.
»Nur UV-Licht ist in der Lage, ihn wirksam zu bekämpfen.«
»Was tut die Parkverwaltung zu ihrem Schutz?«
»Man hat im ganzen Park Nistkästen aufgestellt, wo sie ungestört sind und Schilder, dass man sie nicht anfassen soll. Sie sind nützliche Säugetiere und tragen wie andere fliegende Gliedertiere zur Vervielfältigung der Flora bei.«
»Sicher, aber ihr Biss und ihr Kot kann auch gefährliche Viren übertragen. Du weißt, dass man MERS, SAARS-CoV-1, EBOLA und auch den ZEKA bei Fledermäusen gefunden hat?«
Nun hatte Daniel ungewollt vermintes Terrain betreten: »Coronaviren sind mein Spezialgebiet«, sagte Randi ein wenig pikiert, so als hätte Daniel sie geschulmeistert. »Ich habe Laboranalytik als Hauptfach gewählt, bin Gewinnerin des ‚Veterinary Student Award-Programms‘ und bin Teil einer Studiengruppe, die Moleküle mit strukturellen und chemischen Merkmalen erforschen, um Coronavirus-Polymerase zu hemmen. Es geht um therapeutische Ziele und mein Anteil sind die veterinärmedizinischen Aspekte, also die Überträger- und Wirtstieraspekte dabei. Die sind auch Gegenstand meiner Doktorarbeit.«
»Wow, Kompliment, ich wollte dich nicht herausfordern«, sagte Daniel entschuldigend. »Aber witzig ist das schon. Das Thema meiner Doktorarbeit lautet nämlich ‚Coevolutionsmechanismen von Arboviren und ihren Wirten unter spezifischer Betrachtung von Coronaviren‘. Sie ist veröffentlicht. Ich werde dir ein Exemplar schenken; vielleicht hilft es dir. An Deiner Arbeit bin ich sehr interessiert.«
»Du wirst bestimmt zitiert werden«, neckte Randi. »Warum aber ausgerechnet ‚Informatik‘ als Zweitstudium? Gerade zu deinem Forschungsschwerpunkt klingt das so gegensätzlich wie schwarz und weiß!«
»Das kann ich dir erklären«, sagte Daniel. »Da die wissenschaftliche Arbeit zur Virenforschung nicht ohne Statistik, und die nicht ohne Informatik auskommt, habe ich dieses Zweitstudium angehängt. Im Zeitalter von Fake News und Cyber Crime hielte ich es für wichtig, mich besonders mit Informationssicherheit auseinanderzusetzen.«
Dann schob er noch hinterher: »Meine Fakultät arbeitet mit deiner auf dem Gebiet der Information Security jetzt schon eng zusammen. Wenn wir das unverzichtbare Intranet der Uni und das damit vermaschte Internet nicht in der Lage wären abzusichern, dann würde jedes deiner Forschungsergebnisse den Chinesen das Plagiatieren erleichtern oder den russischen ‚Cosy Bear‘ in die Hände spielen.«
»Wer sind die ‚Cosy Bear‘?«
»Eine russische Hackergruppe im Dienst des Kremls; aber davon ein anderes Mal.«
»Ich bin gespannt.«
Sie liefen weiter zur Höhle und dann über die Balcony Bridge. Oben angekommen blieb Randi stehen und beschwerte sich mit gespieltem Ernst über sein Tempo: »Du hast angezogen, ohne mich zu fragen!«
»Habe ich nicht«, beschwichtigte Daniel.
Randi hatte die Arme auf die Oberschenkel abgestützt und tat so, als wenn sie vor Anstrengung hechelte.
Er streckte ihr eine Hand entgegen und zog sie behutsam mit sich. Randi lachte und blieb bis zur Halbinsel mit dem Ladies Pavillon auf seiner Höhe, ließ sich den West Drive entlang etwas abfallen, bis Daniel stehen blieb und auf sie wartete. Sie ging ein paar Schritte neben ihm her und nahm wieder Tempo auf. Einmal boxte sie ihn, um ihm anzudeuten, dass er ihr zu schnell war. Auf der Joggingspur des Terrace Drive und des East Drive waren andere Läufer unterwegs. Da strengte sie sich noch einmal an, bis sie wieder am Bootshaus angelangt waren.
Nach diesem Schlussspurt zur großen Runde um den See hatte Randi einen sichtbar roten Kopf. Daniel meinte es als Kompliment, als er sagte: »Du schaust ‚heated‘, erregt aus!« Dass er sich im Vokabular vertan hatte, merkte er allerdings ziemlich schnell an Randis fragendem Blick, Dabei hatte er nur sagen wollen, dass sie am Ende des Laufes noch erstaunlich fit war.
Ihm war der Versprecher peinlich. Randi nahm es mit Humor. Sie umarmte ihn und gab ihm ein Küsschen auf die Wange.
»Mach's gut, Daniel. Ich bin morgen vormittags in der Science und Engineering Library – wenn du Zeit hast, können wir uns dort sehen.«
Sie steckte ihm ein Kärtchen mit ihrer Telefonnummer zu. »Ich wohne in der 5th Avenue, in der Nähe des französischen Generalkonsulats.«
Wie zufällig hatte auch Daniel ein Kärtchen mit seinen Kontaktdaten dabei.
»Gerne«, sagte er, »von der 120. Straße ist es mit dem Rad ein Katzensprung. Wir könnten anschließend am Broadway noch ein Eis essen gehen; ich lade dich ein.«
»Darauf freue ich mich,« sagte Randi aufrichtig. Sie mochte Daniels Bescheidenheit und seine Zuvorkommenheit.
»Ich bin überhaupt viel per Rad unterwegs«, gestand Daniel. »Das geht durch den Morningside Parks meist schneller als mit der Metro. Danke für das Rendezvous mit den kleinen Vampiren. Sehr gut, dass die Parkverwaltung sich um deren Lebensräume kümmert. Wenn es so weiter geht mit der Verschmutzung unserer Umwelt, wird sich allerdings bald irgendjemand auch um uns kümmern müssen.« Daniel lachte dazu, aber Randi spürte, dass ihr neuer Freund durchaus besorgt war.
Sie winkten sich noch zu und gingen auf getrennten Wegen heim. Randy umrundete das Conservatory Water und nahm in gemütlichem Gang den Ausgang bei den Segelbootmodellen.
Daniel hatte noch gut dreieinhalb Kilometer zu laufen. Er seufzte kurz, dachte noch kurz an die Begegnung mit Randi, lächelte zufrieden und zog dann das Tempo an. Beim Joggen kamen ihm sowieso die besten Ideen.
Am nächsten Vormittag erhielt Daniel eine SMS. Randy hatte heute keine Zeit für die Bibliothek. Sie musste an einem Projektmeeting teilnehmen. Er antwortete mit einem bedauernden Smiley.
Tags drauf erreichte ihn eine weitere SMS: »Um 12 Uhr an der Alma Mater?«
Daniel musste grinsen, dann antwortete er: »Wunsch oder Befehl? Egal! Wir treffen uns um 12 Uhr, NY-Time, bei der Dame mit dem dicken Buch.«
Die bronzene Frau, die mit dem Buch auf dem Schoß vor dem Hauptgebäude der Columbia Universität thronte und als Preis allen Lernens den Lorbeerkranz trug, war jedem Studenten bekannt. Sie wurde gerne als Treffpunkt genutzt. Die Wartenden saßen dann auf den Stufen zu ihren Füßen. Die meisten lernten tatsächlich; bei so viel Motivation von oben kein Wunder, dachte sich Daniel.
Er war etwas früher da. Ein Herr mittleren Alters im Anzug, mit Krawatte, sicher kein Student, lächelte ihm zu. Eine Anmache? Daniel nickte freundlich zurück und ließ den Blick dann über den Campus streifen. Randi war noch nicht zu sehen.
Der Herr, der Daniel gar nicht aufgefallen wäre, hätte er eine Aktentasche getragen, kam zielstrebig auf ihn zu.
Ein Kontakt von der Uni? Daniel überlegte. Jeder Dozent lief hier mit einer Tasche herum. Nur Mathematiker trugen ihre Formeln im Kopf mit sich. Auch Daniel nutzte als Gedächtnisstütze nur ein kleines Notizbuch. Es musste in die Gesäßtasche passen.
»Sie sind sicher Dr. Daniel Lutschyna, Gaststudent aus Weißrussland?«
Daniel ließ sich seine Verblüffung nicht anmerken und nickte.
»Ich heiße Terry Moon und vertrete amerikanische Interessen bei Auslandsstudenten. Mit ihrer Ausbildung und dem, was wir über Sie wissen, sind Sie für uns einer der Gaststudenten, denen wir Angebote unterbreiten. Ihre Doktorarbeit ist uns bekannt und auch ihre geplante diplomatische Tätigkeit. Wir würden Sie gerne für uns gewinnen.«
Daniel hatte noch nichts gesagt. Er wollte Mister Moon aussprechen lassen. Jetzt schwieg er aus dem Grund, Mr. Moon auf die Folter zu spannen. Schließlich seufzte er kurz und ging dann in die Offensive.
»Ja, ich bin tatsächlich Daniel Lutschyna, guten Tag, Mister Moon.«
Er streckte ihm höflich die Hand entgegen. Mister Moon drückte sie nach einem kurzen Zögern. Er hatte scheinbar nicht damit gerechnet, dass Daniel sein Angebot vollkommen ernst nahm.
»Gehe ich recht in der Annahme«, fuhr der fort, »dass Sie mir im Auftrag der CIA eine Offerte machen wollen? Nachdem in den USA selbst die Heilsarmee ihre Mitglieder mit Ausweisen ausstattet, haben Sie sicher einen solchen. Nur, damit ich sicher sein kann, mit welcher der Staatsorgane, und ob überhaupt, ich spreche.«
Terry Moon musste wider Willen lächeln. Dann zog er einen Diplomatenpass hervor, der ihn legitimierte, solche Gespräche zu führen; ausgestellt vom Foreign Office.
»Ich bin bei den Vereinten Nationen hier in New York akkreditiert zum Beschaffen von Informationen aus offiziellen Quellen. Nebenbei schauen wir uns die Gaststudenten näher an, die für uns interessant sein könnten. So jemand wie Sie, zum Beispiel. Wir wissen, dass Ihre Zweitstudiumszeit im März zu Ende geht und wir hätten nicht weit von hier einen lukratives Jobangebot für Sie, in der Virenforschung, das ist doch Ihr Terrain?«
Souverän und mit einem Lächeln auf den Lippen entgegnete Daniel: »Sie sind gut informiert und wussten sogar, wann genau ich mich bei der Alma Mater einfinden würde. Kompliment, Sie sehen mich staunend. Dann wissen Sie auch, mit wem ich hier verabredet bin. Ich frage mich allerdings, woher Sie diese Info haben. Ich tippe auf die NSA. In jedem Fall ist diese Info ein Fall von illegalem Datenraub, sie entstammt also keinesfalls der Auswertung offizieller Ressourcen, nicht wahr? Ich habe meine Ankunft schließlich nicht annonciert.«
Mister Moon blieb völlig ungerührt.
»Dazu darf ich Ihnen keine Auskunft erteilen. Ich kann nur sagen, dass unser Angebot Ihre Zukunft im Blick hat und in Ihrem Sinne ist. Übrigens auch im Sinne von Randi Allen.«
»Wie bitte?« Jetzt war Daniel perplex.
»Ihre Bekannte …«, jetzt zögerte er einen Moment, »… ihre Freundin wird mit großer Wahrscheinlichkeit zum US Medical Service wechseln, um in Fort Derrick über Viren zu forschen. Ebola, das Marburg-Virus, Hanta-Viren, das venezolanische Pferdevirus, Bakterien wie Anthrax, Pest, Tularämie und Toxine wie Botulinum, Rizin und die noch wenig bekannten Nervengifte der Nowitschok-Gruppe stehen dort zur Verfügung. Nach MERS und SARS-CoV-1 haben wir ein großes Interesse an Spitzenwissenschaftlern, die an der Gefahrenabwehr und an der Prüfung von Impfstoffen mitwirken. Wir lassen uns das einiges kosten.«
Daniel war überrascht von Randis Berufsplanung und noch mehr von Mr. Moons Leutseligkeit. Bekannte? Freundin? Schließlich kannte er Randi erst seit wenigen Tagen. Er überlegte kurz, ob Randi wirklich zufällig auf der Bank im Zoo gesessen hatte. Was wusste er eigentlich von ihr?
»Fort Derrick?« fragte er pflichtschuldig, nachdem er seine Nervosität wieder im Griff hatte.
»Fort Derrick ist nicht weit weg, in Frederick, Maryland. Eine malerische, eher ländliche Gegend. Ich verschaffe Ihnen ein Gespräch mit dem Leiter des Forschungslabors. Ob Sie mit Ihrer neuen Freundin darüber reden, das bleibt Ihnen überlassen.«
»Ja, das verstehe ich.«
Terry Moon hatte die Optionen parat: »Es ist vielleicht nicht ratsam, zum jetzigen Zeitpunkt mit ihr darüber zu sprechen. Sie könnten Randi Allen sowohl von ihrem Plan abbringen als auch sie dazu veranlassen, bei Dienstantritt ein Versetzungsgesuch zu stellen. Es ist auch möglich, dass sie ihnen um den Hals fällt. Ich weiß es nicht.«
Mr. Moon schien einen Augenblick zu überlegen, dann meinte er trocken: »Allerdings wären Sie als Wissenschaftler-Paar für uns auf internationalem Parkett ein Dream-Team.«
Daniel wollte sich nicht vorstellen, was Terry Moon damit meinte. Außerdem fand er es zunehmend irritierender, dass ein Mitarbeiter des Geheimdienstes mehr über seine Lebensplanung wusste als er selbst. Langsam wurde Daniel wütend.
»Ich habe ein Lebensprinzip, Mister Moon, das lautet: Sei niemals käuflich! Ich bin mit Korruption aufgewachsen und habe aus ihr gelernt. Aber hier geht es hoffentlich um ein lukratives Jobangebot, ohne dass ich als Gegenleistung mein Land verraten muss, oder? Und es geht doch nur um meine Zukunft!«
»Ich bedränge Sie nicht. Außerdem bekommen Sie gleich Besuch. Ich treffe Sie im Laufe der nächsten Tage wieder. Auf Wiedersehen!«
Randy tauchte von der Amsterdam Avenue kommend auf. Sie schob ihr Rad und winkte.
Terry Moon deutete in Richtung Broadway und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Für Außenstehende wirkte es so, als habe er nur nach dem Weg gefragt …
»Wer war das denn«, fragte Randi, als sie etwas außer Atem bei ihm hielt und ihn zur Begrüßung auf die Wange küsste.«
»Wer, der ältere Herr? Keine Ahnung. Vielleicht der Mann vom Mond«, sagte Daniel und lächelte vielsagend.
Sie waren weder im Auftrag seiner Majestät noch als Kuriere des Zaren unterwegs, aber auch die »Cozy Bear« arbeiteten für einen Geheimdienst. Im Gegensatz zum smarten James Bond mit der Lizenz zum Töten gab sich der nur mittelgroße Andrej Yelnikow in seinem Jeansanzug, dunkelblonder Mähne und Nickelbrille unauffällig. Während Sean Connery schöne Frauen reihenweise en passant flach legte, blieb Andrej für das andere Geschlecht völlig unscheinbar. Außerdem liebte er Wladimir.
Sein Arbeitskollege war wie er ein »Cozy Bear«, Angehöriger der Hackergruppe im Militärgeheimdienst GRU und Koordinator für ihre technische Ausstattung. Seine subversiven und propagandistischen Einsatzgebiete waren Großbritannien und die skandinavischen Länder.
Wladimirs Arbeitszimmer hatte eine Sichtverbindung, eine Art Durchreiche zu Andrejs und eine Verbindungstür zu Igor Rominow.
Igor war der Chef ihrer Sektion. Er war zuständig für den deutschsprachigen Raum. Er entwarf oder prüfte alle deutsch- und englischsprachigen Texte für subversive Operationen im Netz. Seit einiger Zeit trug Igor seine schlechte Laune offen zur Schau, weshalb die Verbindungstür besser zu blieb. Igor war mit Nadja verlobt gewesen. Dann hatte sie ihn vor einiger Zeit wegen eines GRU-Generals verlassen. Inzwischen war sie mit Boris Semanov sogar verheiratet. Das hatte Igor nicht verschmerzt. Andrej machte sich Sorgen, dass Igor auf Rache hoffte und eines Tages durch eine unbedachte Handlung ihr freundschaftliches Arbeitsverhältnis in Gefahr bringen könnte. Der neue Mann an Nadjas Seite war nicht nur General, sondern immerhin der Leiter ihrer Sabotageabteilung, ein mächtiger Mann innerhalb und außerhalb des GRU. Zu seiner Abteilung gehörten zwielichtige Gestalten und auch das Biolabor des Oberst Dr. Sergej Yenchow, Chemiker und Mikrobiologe. Yenchow sagte man nach, er würde auch mit dem Nervengift Novitschok experimentieren und es dem FSB für Anschläge auf Abtrünnige und entgleiste Regimekritiker zur Verfügung stellen. Vor diesen Leuten mussten sich auch die »Cozy Bear« in Acht nehmen.
Die Hackergruppe wurde gepflegt und gehätschelt vom Abteilungsleiter Zersetzung, mit dem General Semanov schon aus Gründen der Expertise auf Zusammenarbeit angewiesen war. Das war ihr Chef, General Leonid Kulikow. Er war ein wegen seiner Erfahrung noch jenseits des Pensionsalters im Dienst gehaltener, umsichtiger und kollegialer Menschenführer. General Kulikow, dem sie alle mit Hochachtung gegenübertraten, soll schon mit dem Präsidenten der Föderation in der DDR zusammengearbeitet und mit ihm geboxt haben, sagte man.
Andrej hatte die Spur des ehemaligen russischen Geheimdienstmanns Sergei Tretkow aufgenommen, der im Jahr 2002 in die Vereinigten Staaten übergelaufen war. Er kannte Tretkow nicht persönlich. Sergej Tretkow hatte vor seiner Zeit für den eigenen Auslandsgeheimdienst gearbeitet, war durch die Amerikaner umgedreht worden und hatte sich kurz vor Entdeckung abgesetzt. Von den vielen Spitzenagenten des eigenen Auslandsgeheimdienstes wagten nur wenige den Verrat, denn die Jagd auf die Vaterlandsverräter hörte niemals auf. Trotzdem hatte sich Tretkow lange vor der geballten russischen Aufklärung versteckt halten können. Nun hatte er überraschenderweise einem Wochenmagazin unter seinem Klarnamen ein Interview gegeben. Die Amerikaner wiegten ihn offensichtlich in Sicherheit, machten ihn glauben, dass Russland kein Interesse mehr an ihm hätte. Da aber irrten sie. Das Interview führte Kurt Lately, ein dem GRU bekannter US-Journalist, der auf Agentenstories spezialisiert war; die erhöhten die Auflagezahlen der Zeitungen und Magazine. Tretkow plauderte aus dem Nähkästchen, kurz: Er palaverte über alte Kamellen. Er gab Beispiele für angebliches geheimdienstliches Handeln zum Besten, das meist schon Geschichte war. So würde er einen Agenten in eine Abteilung der New Yorker Bibliothek einschleusen, der über den dortigen Internetzugang, ohne seine Identität zu hinterlassen, Propaganda im Netz verteilen sollte. Dazu brauchte man nicht mehr in die USA reisen. Gähn. Die »Cozy Bear«-Hacker wussten es besser.
Andrej hatte beim Lesen inzwischen eine mitleidige Mine aufgesetzt.
»Welche Inhalte, Wege, Adressaten, wollen Sie wissen?«, hatte Tretkow den Journalisten rhetorisch gefragt.
»Die von Moskauer Geheimdienstexperten gut recherchierten wissenschaftlichen Berichte und Unterrichtsmaterialen, nur in Nuancen verändert, erreichten US-Publikationen auf dem E-Mail-Weg, sowie ausgewählte Radio- und TV-Sender, oder sie wurden auf ausgewählten Webseiten gepostet. Moskaus Influencing-Kampagnen dienen der Verunsicherung der Bevölkerung anderer Länder und sollen mit dem System nicht konforme Zielgruppen, im In- und Ausland destabilisieren. Maßgeschneiderte Angriffe mit gezielten Infektionen der internen elektronischen Datenverarbeitung von internationalen Organisationen, Parlamenten, Regierungen, Großunternehmen, wurden und werden von Moskau zum Spionieren und auch zum Sabotieren eingesetzt.«
Na, gut, da hat sich seit Tretkows Tagen nicht viel geändert. Andrej wusste natürlich, dass das britische National Cyber Security Center und auch andere Cyberagenturen versucht hatten, die Richtigkeit von Sergei Tretkows Aussagen zu belegen. Hier, wie bei den meisten Fällen aus der Vergangenheit, war es aber bei dem Verdacht, dass die Moskauer Nachrichtendienste dahintersteckten, geblieben. Das russische Außenministerium hatte die Vorwürfe dazu routinemäßig als haltlos zurückgewiesen. Das war, wie in der Vergangenheit auch, bei vermuteten Kriegsverbrechen der USA, im Irak oder in Afghanistan, gängige Praxis auf dem diplomatischen Parkett. Nach kurzer Zeit war der Vorfall in der öffentlichen Wahrnehmung sowieso vergessen.
Kurt Lately hatte das Interview nicht gelenkt, wie er sollte. Er war gar nicht zu Wort gekommen.
Tretkow hatte seinen Zuhörern und Latelys Lesern weitere Einblicke in die Strukturen russischer Agententätigkeit gegeben, zwar veraltet, aber doch ein klarer, nicht hinnehmbarer Verrat: »Die Enkel von Moskaus früherer KGB-Abteilung 16, an die sich Drehbuchautoren von Agentenfilmen sicher noch erinnern werden«, hatte er ausgeplaudert, »sitzen heute beim Inlandsgeheimdienst und beim Militärnachrichtendienst GRU. Gebündelt arbeiten junge Computerfreaks der Hackergruppe APT-29 für den Kreml, mit Privilegien ausgestattet. Eure Leute nennen sie ‚Cozy Bear‘.«
Hoppla, das betraf Andrej selbst und seine Hackergruppe. Diese Interna waren zwar noch nicht an die Öffentlichkeit gedrungen, aber die amerikanischen Dienste wie CIA und NSA kannten sie natürlich, und das schon lange vor Sergei Tretkows Kamingespräch. Das Kampagnenziel des Interviews war also die öffentliche Meinung. Es ging also einmal mehr um Propaganda gegen Mütterchen Russland. Tretkow und nicht Lately hatte das Interview beendet. Was für ein arroganter Typ, dieser Sergej Tretkow, dachte Andrej. Und sagte laut vor sich hin: »Wir kriegen dich. Auch wenn du wahrscheinlich wieder abtauchen wirst, vielleicht mit einer neuen Identität, aber wir finden dich trotzdem.«
Andrej hatte erwartet, dass Lately noch mehr von Tretkow erfahren wollte. Zum Beispiel, ob Russland eine Offensive in Richtung baltischer Staaten plante. Dort lebten, wie im Westen bekannt, starke russische Minderheiten. Diesen fühlte sich russische Politik verpflichtet. Das sollte der Westen endlich verstehen. Oder, ob Russland bereit wäre, über seine Nuklearwaffenarsenale zu verhandeln. Da treiben die Amis die Rüstungsspirale an. Und wo chemische und Biowaffen gelagert wären. Aber auch da hätte Tretkow nur spekulieren können.
Tretkow war nach diesem Interview für offizielle Anfragen von Journalisten nicht mehr zu erreichen. Er hatte eine tatsächlich neue Identität angenommen.
Das werde ihn nicht schützen, meinte man bei den »Cozy Bear«. Und genau damit begann Andrejs Job. Er loggte sich erfolgreich in das Netzwerk des Magazins ein. In einer E-Mail entdeckte er den Namen desjenigen, der das Interview vermittelt hatte. Er ließ ein Suchprogramm durch sämtliche verschlüsselte Bibliotheken von GRU, FSB und Auslandsgeheimdienst laufen und wurde nach ein paar Stunden fündig. Es war ein CIA-Mitarbeiter. Nun wurde die Operation »Tretkow« eingeleitet. Über ein unvorsichtiges Telefonat des CIA-Agenten stießen sie auf die neue Tretkow-Identität. Der Rest war Formsache. Den neuen Aufenthaltsort erfuhren sie aus dem quasi-öffentlichen Register des betroffenen Einwohnermeldeamts.
Andrej hatte sein Tagwerk erledigt. Die Akte »Tretkow« ging an die Abteilung Sabotage. Tretkow würde seiner Bestrafung nicht entgehen.
Ein halbes Jahr später würde Misses Coleman ihren Mieter, Filippo Miller, leblos auf dem Boden seines Wohnzimmers finden.
Misses Coleman würde aufgeregt den Notarzt rufen, der bedauernd einen Herzstillstand nach Kreislaufversagen feststellt und den Totenschein unterschreibt.
Der verstorbene Mieter wird wie üblich durch einen Bestatter abgeholt werden. Für eventuelle auftauchende Kondolenzbesuche wird er zwei Tage aufgebahrt bleiben. Der Cousin, der ihn noch einen Tag vor seinem Tod besucht hat, wird nicht erscheinen. Man würde ihn auch nicht ausfindig machen können. Sein slawischer Akzent wird in Erinnerung bleiben und die kleine Box, die er mit sich getragen hatte.
Das Ordnungsamt von Kansas City wird die Habseligkeiten von Filippo Miller in die Hand eines Nachlassverwalters legen. Weil sich nach einer Frist niemand mit Erbanspruch melden wird, würde Filippo Miller endgültig eingeäschert. Akte geschlossen.
»Gute Arbeit, mein Junge«, lobte ihn General Kulikow bei der üblichen Morgenbesprechung, in der die Aufgaben des Tages verteilt wurden.
Andrej errötete und hoffte, dass die anderen Cosy Bear seine Verlegenheit nicht bemerkten.
Kulikow ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen sagte er in die Runde seiner Jungs: »Das Lob kommt von ganz oben. Das ist wichtig für unsere Abteilung, weil es im Apparat immer noch viele Betonköpfe gibt, die den Wert von Computerspionage nicht sehen wollen. Ihr wisst schon: Wenn es nicht wehtut, hat es auch keinen Nutzen. Die alte KGB-Schule.«
»Aber Tretkow wird es verdammt wehtun«, sagte Wladimir trocken und der Rest der Cosy Bear lachte. »Wer auf ein Pferd steigt, kann auch runterfallen«, sagte Igor ein bisschen geheimnisvoll, woraufhin Kulikow ihn warnend ansah. »Das ist nicht mehr unsere Baustelle«, sagte er, »denn von Pferden verstehen wir nichts, oder?«
Dann erhob er sich, und die morgendliche Runde war beendet. Und obwohl Andrej durchaus wusste, was mit Tretkow passieren würde, hatte er kein schlechtes Gewissen. Seine Arbeit hatte eben Konsequenzen. Punkt. Wichtig war nur, dass es nichts Persönliches geben durfte. Nicht so wie bei Igor.
Doch manchmal passiert es, dass der Konjunktiv der geheimdienstlichen Planung Kontakt mit der Realität bekommt. Dann halten alle Cozy Bears die Luft an.
Eine Woche nach dem Begräbnis meldete sich ein Beauftragter einer staatlichen Stelle mit einem Team von Spurensuchern. Man sagte der Vermieterin, es könne sein, dass ihr Mieter vergiftet worden ist. Aber sie fanden nichts.
Sie wurde gefragt, ob sie etwas angerührt hatte: »Nein!«, hatte sie wahrheitsgemäß gesagt.
Der Raum wurde trotzdem für vier Wochen versiegelt, ohne dass man ihr einen plausiblen Grund verriet.
Dann wurde der Nachlass abgeholt, und sie konnte das Zimmer zur Neuvermietung ausschreiben.
Ihr blieb zur Erinnerung an Filippo Miller nur ein Bild, welches er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte.
Es war das Foto eines lachenden jungen Mannes, vor dem Kreml auf dem Roten Platz in Moskau aufgenommen.
Mister Miller war so von ihrer Literaturbildung begeistert gewesen, dass er ihr das einzige Jugendfoto von sich, wie er erwähnte, schenkte. Noch nie hätte jemand gewusst, sagte er, dass sein Name auch das Pseudonym des deutschen Dichters Johann Wolfgang von Goethe während seiner italienischen Reise war.
Als Misses Coleman das Bild jetzt noch einmal näher betrachtete, entdeckte sie, dass auf der Rückseite ein wegradierter Schriftzug seinen Eindruck auf dem Fotopapier hinterlassen hatte.
Sie fabrizierte mit Bleistift und Spitzer etwas Grafit und rieb die Späne in die feine Gravur, bis sie einen Namen lesen konnte: »Sergej Tretkow«.
Misses Coleman erinnerte sich an das Interview mit einem russischen Geheimdienstmann dieses Namens. Sie fand den Artikel in den geordneten Zeitungsstapeln in ihrem Keller. Dann suchte sie die Telefonnummer der Redaktion des Wochenmagazins und verlangte nach dem Redakteur Kurt Lately.
Lately reiste nach Kansas City, interviewte sie, den Arzt, den Bestatter, den Richter, den Bürgermeister. Ein Fotograf schoss überall Fotos.
So kam ans Tageslicht, dass der mächtigste Staat der Welt, die USA, nicht in der Lage gewesen war, den russischen Geheimdienstaussteiger Sergej Tretkow vor seinen Verfolgern zu schützen. Im Gegenteil. Kurt Lately entschuldigte sich in seinem Nachruf bei der Familie Tretkow, die freigekauft werden sollte, dass sein Magazin den Aussteiger sogar den Jägern präsentiert hatte, auf eine CIA-lancierte Pressemeldung hin.
Erst nach Tretkows Tod hatte Kurt Lately begriffen, dass er selbst mit großer Wahrscheinlichkeit Opfer einer CIA-Kampagne geworden war. Amerikanische Dienste hatten wahrscheinlich getestet, glaubte Lately, wie weit die Russische Föderation mit Cyberkriegsmitteln gehen würde, um Dissidenten und Verräter aufzuspüren.
Direkt am Central Park zu wohnen war ein Privileg. Als Luxus galten in der dichtbebauten 5th Avenue die Penthäuser. Zwischen Konsulaten und Milliardärsvillen hatten die Allens den Blick ins Grüne und Zugang zum Pool der Wohnanlage. Die ehemalige Tierarztpraxis von Randis Vater Steve lag auch in Upper East Side, doch eine Ecke weg vom Park, fünf Minuten zu Fuß.
Wenige Wochen nach einem zweiten Treffen von Daniel mit dem CIA-Mann Terry Moon lud Randi Daniel in ihr Elternhaus ein.
Randis Mutter, eine gepflegte, an einigen Stellen rundlich gewordene 50erin, breitete schon an der Tür die Arme für Daniel aus. In der Küche erzählte sie ihm ein wenig von sich, dass sie Krankenschwester war, bis sie ihren Mann kennengelernt hatte und dass sie sich Jahrzehnte um den Ablauf in der Tierarztpraxis kümmern musste, neben Haushalt und Kind. Marta berichtete, dass sie direkt nach der Krankenschwesternschule für eine amerikanische Nichtregierungsorganisation in einem Urwaldhospital im Kongo gearbeitet und sich dabei eine Lungentuberkulose zugezogen hatte. »Die ist zwar ausgeheilt«, sagte sie lachend, »aber sie hindert mich vor allem daran, mit meiner Tochter joggen zu gehen. Joggen vermisse ich zwar nicht, aber ich glaube, dass das Joggen mich vermisst«, und deutete schmunzelnd auf ihre Hüftröllchen. Daniel machte ein hilfloses Kompliment.
Marta verwöhnte Daniel von diesem Tag an, als würde er zur Familie gehören. Da Daniel in seinem Studentenheim nicht viele Kontakte hatte, wurde Marta für ihn wie ein Ersatz der eigenen Mutter, die er für ein Jahr nicht sehen konnte.
Auch zu Randis Vater, Steven, hatte Daniel sofort einen guten Draht.
Steven erzählte, dass er 2004 als Reservist mit einer Civil Operations Brigade in Afghanistan im Einsatz gewesen war.
Mit einer »Galaxy«, dem größten Lufttransporter der Air Force, hatte man sie über Ramstein in Deutschland zur K2-Base in Uzbekistan gebracht. Von dort waren sie mit einer Herkules nach Kabul geflogen worden.
Steven war mit einem kleinen Team für die Hygienekontrollen bei den ISAF-Truppen zuständig gewesen. »Am schlimmsten war der kontaminierte Staub in der Luft«, sagte der drahtige Sechziger, dessen Erscheinungsbild sein wirkliches Alter nur anhand der ergrauten Schläfenhaare erkennen ließ.
»Die Abflussrohre der Toilettenanlagen in den ISAF-Camps führten in Ermangelung einer umfassenden Kanalisation in zentrale Auffangbehälter. Eine einheimische Vertragsfirma sollte regelmäßig abpumpen und für Abtransport und Desinfektion sorgen. Die Firma stellte Dünger und Heizmaterial her.«