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Liana ist verzweifelt: Ihr zehnjähriger Sohn ist verschwunden! Und er hat die geheimnisvolle Perle mitgenommen, die jedem Unglück bringt - ein epischer Roman von Emilie Richards. Matthew ist verschwunden! Liana ist außer sich vor Angst: Wie jedes Jahr sollte ihr zehnjähriger Sohn den Sommer bei seinem Vater in New York verbringen. Aber diesmal ist er nicht angekommen. Und nicht nur der Junge ist wie vom australischen Erdboden verschluckt. Sondern auch die Perle aus Lianas Safe: eine schimmernde Schönheit, die vor über einem Jahrhundert vom Grund des Indischen Ozeans geborgen wurde. Unermesslich wertvoll, hat sie allen, die sie je besaßen, Unglück und Leid gebracht … Verzweifelt machen sich Liana und ihr Exmann auf die Suche nach Matthew. Und kommen dabei nicht nur einem Familiengeheimnis immer näher, sondern einer Wahrheit, die sie sich nie eingestehen wollten.
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Seitenzahl: 489
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Emilie Richards
Das Geheimnis der Perle
Roman
Aus dem Amerikanischen von Rita Koppers
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2011 by MIRA Taschenbuch
in der CORA Verlag GmbH & Co. KG
Deutsche Erstveröffentlichung
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Beautiful Lies
Copyright © 1999 by Emilie Richards McGee
erschienen bei: Mira Books, Toronto
Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Stefanie Kruschandl
Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz /
Galen McGee Peak-Definition Productions
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-079-2 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-078-5
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
San Francisco – Gegenwart
Hey, Lady! Hüten Sie sich vor Haien!“
In einem anderen Zusammenhang wäre Liana Robeson diese Warnung vielleicht nicht so bedrohlich erschienen. Hätte eine Mutter ihrem halbwüchsigen Sohn vor dem Surfen einen Vortrag gehalten zum Beispiel. Oder ein scheidender Firmenchef die Zügel an seinen jungen Nachfolger übergeben. Dann wäre das auch sicher ein guter Ratschlag gewesen. Aber hier, auf einem Gehsteig mitten in San Francisco, kurz vor ihrer schlimmsten Panikattacke seit Monaten, versetzten Liana diese Worte in Alarmbereitschaft.
Sie war umgeben von Haien, und sie spürte, wie die Bestien sie umkreisten.
„Vergessen Sie das nicht, ja?“
Liana tätschelte die Handpuppe, mit der der Obdachlose vor ihrem Gesicht herumwedelte. „Nein … ich werde es nicht vergessen.“
Die Puppe, ein grinsender Delfin, kippte zur Seite, während der dunkelhäutige, ausgemergelte Mann ein Stückchen näher kam. „Alles klar mit Ihnen?“, rief er über das Läuten einer Straßenbahn hinweg. „Sie sehen blass aus!“
„Ich …“ Doch mehr Worte kamen Liana nicht über die Lippen. Es ging ihr gar nicht gut. Sie war eine achtunddreißigjährige Geschäftsfrau, die es kaum schaffte, allein über den Gehsteig zu gehen. Sie hatte Angst vor weiten, offenen Flächen. Sie fürchtete sich vor dem Unbekannten. Und ihr graute vor den Mächten in ihrem Leben, die sie nicht sehen oder kontrollieren konnte. Sie war eine Mutter, die ihren Sohn erst vor ein paar Stunden mit einer Boeing 737 in die große Ungewissheit entlassen hatte: Um Viertel nach acht hatte sie zugesehen, wie ihr einziges Kind in ein Flugzeug gestiegen war, das ihn zu seinem Vater bringen würde. Und jetzt bezahlte sie den Preis dafür.
Der Mann musterte sie besorgt. Er wartete, bis die Straßenbahn verschwunden war, ehe er sagte: „Wollte Ihnen keine Angst machen. Mein Flipper hier tut Ihnen nichts.“
Liana schloss die Augen. Für einen Moment befand sie sich in ihrer eigenen kleinen Welt. Kälte kroch über ihre erhitzte Haut. Sie würde sich in Eis verwandeln, wenn Liana sich nicht befreite. Ja, sie kannte diese kleine Welt, und sie wusste, was sie erwartete: eiskalte Haut, hämmernder Puls und das Gefühl von Abermillionen Nadelstichen an Armen und Beinen.
„Haben Sie heute schon was gegessen, Schätzchen?“
Liana öffnete die Augen. Der Mann war immer noch da. Sie trug thailändische Seide und irisches Leinen; sein T-Shirt war billig und alt. Unter seinem Arm klemmte ein Stapel Zeitschriften, die von Obdachlosen herausgegeben wurden. Liana wies ihren Chauffeur immer an, eine zu kaufen, aber gelesen hatte sie sie noch nie.
„Danke, es geht mir gut.“ Um Kontrolle bemüht, deutete sie auf die Zeitungen. „Ich nehme eine.“
„Das ist nett. Sag Danke, Flipper!“ Flipper und er sahen den Stapel nach der schönsten Zeitung durch.
Erst jetzt fragte Liana sich, ob sie überhaupt Geld dabeihatte. Sie war Vizepräsidentin eines der größten Projektentwicklungsunternehmen der Bay Area. Nachdem sie ihren Sohn Matthew zum Flughafen gebracht hatte, hatte sie Pacific International an diesem Morgen schon bei zwei Meetings repräsentiert und mit einigen internationalen Immobilienmagnaten Meeresfrüchtesalat bei Tarantino’s gegessen.
Dann hatte sie den Fehler gemacht, die Limousine stehen zu lassen. Sie wollte die letzten drei Blocks bis zum Robeson Building zu Fuß zu gehen. Sie hatte sich dazu gezwungen, weil ihre Welt immer enger wurde. Sie musste dagegen ankämpfen.
Sonst würde sie eines Tages aufwachen und ihr Schlafzimmer nicht mehr verlassen können.
Sie öffnete ihre Geldbörse, fand jedoch nur eine zerknitterte Dollarnote. Das war eigentlich mehr als genug, aber sie hatte nicht oft die Gelegenheit, anderen Menschen mit Liebenswürdigkeit zu begegnen.
„Nehmen Sie das.“ Sie steckte ihm das Geld zu, während ein Fahrrad an ihnen vorbeisauste. Es überraschte sie nicht, dass ihre Hand zitterte. „Und das hier.“ Sie berührte die Brosche, die an ihrem Blazer steckte. Sie stammte noch aus der Zeit, als sie jung und dumm gewesen war. Aus der Zeit, in der sie geglaubt hatte, ihrem Herzen folgen zu müssen. Kleine Perlen, in Gold eingefasst. Der einzige Mann, den sie je geliebt hatte, hatte diese Perlen gezüchtet, und sie selbst hatte die Brosche angefertigt.
Sie hielt dem Mann das Schmuckstück hin.
Seine Augen wurden groß. „Das kann ich nicht annehmen …“
„Natürlich können Sie!“ Sie griff nach seiner Hand und schloss seine schmutzigen Finger um die Brosche. „Bringen Sie sie zu einem guten Juwelier.“
Fasziniert starrte er das Schmuckstück an, während sie sich abwandte. Sein Gesichtsausdruck verfolgte sie immer noch, als sie das Bürogebäude betrat und über den schwarzweißen Marmorboden zum Aufzug ging. Im Lift schloss sie die Augen.
Es überraschte sie nicht, dass sie gerade an diesem Tag von Panik erfüllt war. Schließlich war es Juni. Der Monat, in dem ihr geliebter Sohn seinem Vater Cullen Llewellyn gehörte. Wahrscheinlich war Matthew bereits auf dem LaGuardia Airport in New York gelandet und herzlich von Cullen empfangen worden.
Seit Wochen sprach Matthew von nichts anderem, als wieder bei seinem Vater zu sein. Sie würden eine Campingtour zu den White Mountains machen, dann weiter zur Küste nach Maine, wo Cullen ein Boot und eine einfache Fischerhütte gemietet hatte. Cullen, der im australischen Outback mit Kängurumilch und Wasserbüffelfleisch aufgezogen worden war. Cullen, halb Mad Max, halb Crocodile Dundee. Er wollte aus ihrem gemeinsamen Sohn einen richtigen Mann machen.
Mit seinen vierzehn Jahren war Matthew dafür zwar eigentlich im richtigen Alter, aber er war immer noch so empfindsam wie ein Kind. Er war ein breitschultriger Junge mit einem großen Herzen – und Lianas Ein und Alles. Obwohl nichts darauf hindeutete, dass er seinem Vater den Vorzug geben würde, hatte sie jedes Jahr im Juni Angst, er würde nie wieder zurückkehren.
Wie sollte es auch anders sein, wenn Cullen Llewellyn im Spiel war? Vor einem Jahrhundert hätte einer seiner Vorfahren beinahe die Robesons zerstört. Und vor zehn Jahren hätte Cullen beinahe sie zerstört.
Liana sank gegen die Holztäfelung und bedeckte ihre Augen. Sie sagte sich, dass sie in diesem Gebäude, in ihrem zweiten Zuhause, sicher sei. Und dass Matthew selbstverständlich wiederkommen würde.
Alles war in Ordnung.
Die vertraute Umgebung wirkte beruhigend auf sie. Auch wenn ihre Gedanken sich noch überschlugen, konnte sie allmählich vernünftiger denken. Und als sie im obersten Stock aus dem Aufzug trat, hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Mit gestrafften Schultern und erhobenem Kopf ging sie durch den Flur.
„Liana?“
Frank Fong, der Marketingdirektor, kam ihr entgegen. „Dein Ex hat angerufen. Zwei Mal.“
Liana behielt ihren Schritt bei. Sie nickte ihrem Stiefbruder Graham Wesley zu, Generaldirektor von Pacific International, der sich gerade im Flur vor seinem Büro mit einem Angestellten unterhielt. Er nickte ihr ebenfalls zu, doch ihre ernste Miene hielt ihn davon ab, zu ihr zu gehen. Ihre Sekretärin Carol, eine junge Frau, die schnell gekränkt war, sah sie erst gar nicht an, als sie an ihrem Schreibtisch vorbeiging.
Liana wartete, bis sie die Tür in ihrem Büro hinter sich geschlossen hatte, ehe sie Frank ansah. „Er klang sauer“, sagte Frank. „Carol hat ihn zu mir durchgestellt.“
„Das sind doch nur die üblichen Spielchen, Frank“, winkte Liana ab. „Cullen ruft an und sagt mir, dass Matthew gut angekommen ist, um mich dann mit Vorwürfen zu überhäufen. Zum Beispiel, dass ich die falschen Sachen eingepackt oder den Rückflug nicht richtig organisiert habe …“
„Es klang aber nach mehr als nur einer Kleinigkeit.“
„Cullen ist nicht in der Lage, seine Gefühle im Zaum zu halten“, entgegnete Liana scharf. „Deshalb war er während unserer Ehe einfach unglaublich im Bett. Den Rest des Tages war er allerdings ein kompletter Reinfall. Ich hätte mich nicht so schnell von ihm scheiden lassen, Schätzchen! Verglichen mit den meisten anderen Männern ist er ihnen zumindest im ersten Punkt einen wesentlichen Schritt voraus.“
Liana lehnte sich gegen die Schreibtischkante. Nur zögernd erwiderte sie Franks Lächeln. Frank und sie waren entfernt verwandt, ohne dass eine Ähnlichkeit erkennbar gewesen wäre.
Frank, hundertfünfzig Pfund Muskeln, war schnell mit einem Lächeln zur Hand, das genauso ansprechend wirkte wie die Straßen von Chinatown, wo er aufgewachsen war. Liana hingegen war zierlich gebaut und etwa eins fünfzig groß. Doch ihre schräg stehenden dunklen Augen und die leicht getönte Haut deuteten darauf hin, dass auch sie asiatische Wurzeln hatte.
Hastig warf sie einen Blick auf ihre Cartier-Uhr. „Hat Cullen gesagt, ob Matthew rechtzeitig angekommen ist? Ich habe nämlich gehört, dass es über den Rockies einen Sturm gegeben haben soll. Außerdem musste er in Denver umsteigen.“
„Nein, davon hat er nichts gesagt. Er wollte nur mit dir sprechen.“
Liana ließ sich ihre Verärgerung nicht anmerken. „Nun, da hat er Pech gehabt. Graham und ich müssen in zehn Minuten zu einem Interview.“
Frank wandte sich ab. „Ich habe ihm gesagt, dass du einen Termin hast und vielleicht nicht erreichbar bist.“
Erneut sah Liana ihn an. „Und was hat er gesagt?“
„Zur Hölle mit diesem verdammten Termin!“, erwiderte Frank mit australischem Akzent. An der Tür drehte er sich noch um. „Hältst du es für eine gute Idee, deinen Ex so abblitzen zu lassen? Vielleicht hat er ja etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.“
Liana dachte an all die Diskussionen mit Cullen – während ihrer Ehe und in den zehn Jahren, seit sie geschieden waren. Ein ganzes Jahrhundert stand zur Debatte, in denen die Robesons und Llewellyns sich gegenseitig umgebracht und betrogen hatten. Lianas und Cullens Liebe stand von Anfang an unter einem unglücklichen Stern. Trotzdem hatte es eine Zeit gegeben, als sie beide glaubten, die dunklen Schatten der Vergangenheit bezwingen zu können.
Aber sie hatten sich geirrt.
Frank wurde allmählich ungeduldig. „Was ist denn jetzt, Liana?“
„Sollte ich noch da sein, wenn Cullen das nächste Mal anruft, sag Carol, dass sie ihn zu mir durchstellen kann. Ansonsten soll er mich heute Abend zu Hause anrufen. Carol soll sich inzwischen mit Matthew in Verbindung setzen. Vielleicht findet sie ja heraus, ob er gut gelandet ist.“
Kaum war Frank verschwunden, sackten ihre Schultern herab. Sie konnte nicht einmal tief durchatmen, schon klopfte es, und Graham erschien in der Tür.
Liana winkte ihn herein. Sie und ihr Stiefbruder waren keine Freunde, dafür hatte ihr Vater gesorgt. Aber sie akzeptierten einander, weil sie beide unter Thomas gelitten und ihn doch überlebt hatten. Der blonde Graham, der mit seinen vierzig Jahren immer noch gegen seinen Babyspeck ankämpfte, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Liana. Und doch gab es eine Gemeinsamkeit: die Verbindung zu dem verachtenswerten Mann, der sie beide aufgezogen hatte.
Graham schloss die Tür und lehnte sich dagegen. „Jonas hat vor einer Weile angerufen.“
Jonas Grant war Reporter beim San Francisco Chronicle und für den Wirtschaftsteil zuständig. Liana zuckte die Schultern. „Ich habe ihm Unterlagen über all unsere derzeitig laufenden Projekte geschickt. Zumindest die, von denen er wissen darf. Braucht er noch mehr?“
„Er will, dass du die Perle mitbringst.“
Einen Moment starrte Liana ihn sprachlos an. Es gab nur eine Perle, die Graham meinen konnte: die Köstliche Perle, die Pearl of Great Price, benannt nach einer Heiligen Schrift. Die Perle, die über Jahrzehnte zwischen ihren und Cullens Vorfahren hin und her gegangen war, seit man sie im Indischen Ozean gefunden hatte. Die Perle, die das Logo ihrer Firma zierte.
„Soll das ein Scherz sein?“, sagte sie schließlich.
„Nein. Er meinte, die Perle wäre ein guter Aufmacher für seinen Artikel. Sie wollen ein Foto davon machen.“
Liana verfiel in Schweigen und dachte über Grants Anfrage nach. Erneut stieg Panik in ihr auf. Sie ging zum Fenster und warf einen Blick auf die Stadt und die Bucht davor.
„Ich nehme sie nur ungern in die Hand, Graham.“ Die Perle hatte eine turbulente Geschichte hinter sich. Sie war einzigartig in ihrer makellosen Schönheit, und doch hatte sie niemandem Glück gebracht. Und gerade heute, wo Matthew zur Ostküste aufgebrochen war, wollte Liana die Perle nicht anfassen. Sie drehte sich wieder um. „Ich kann sie ja nicht einfach zu meinem Lippenstift in die Handtasche stecken.“
Graham nickte verständnisvoll. „Wenn du sie wirklich nicht anfassen willst, kann ich das für dich tun. Es ist doch nur eine Perle.“
Die Tür fiel hinter Graham ins Schloss. Liana wartete einen Moment, ehe sie das Büro durchquerte und sie absperrte. Dann lehnte sie sich dagegen und starrte auf den Druck von Georgia O’Keeffe, der an der Wand neben ihrem Schreibtisch hing. Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr war es still in diesem Raum, nur der Verkehrslärm drang gedämpft von unten herauf. Doch Liana war hier trotz der verschlossenen Tür nie richtig allein. Das Büro hatte ihrem Vater gehört. Und obwohl Lianas Innenarchitekt sein Bestes gegeben hatte, hing immer noch Thomas Robesons Geist über allem. Schlimmer noch: Hinter der Wand lag der greifbare Beweis dafür, dass manche Dinge unvergänglich waren.
Verbittert wiederholte sie Grahams Worte. „Es ist doch nur eine Perle.“
Ohne zu überlegen, ging sie zur Wand, hängte das Bild ab und stellte es vorsichtig auf den Boden. Dann wandte sie sich wieder der holzvertäfelten Wand zu und schraubte die vier kleinen Schrauben aus einem Panel. Schließlich starrte sie auf den Safe dahinter.
Graham und Frank wussten natürlich, dass sich die Perle hier befand. Die Vertäfelung konnte sie nicht hinters Licht führen. Allerdings war der Safe so sicher wie kein anderer. Dafür hatte ihr Vater gesorgt.
„Du warst ein Mistkerl, Thomas Robeson!“
An manchen Tagen vergaß sie beinahe, dass die Perle sich in diesem Raum befand. Dachte sie doch daran, redete sie sich ein, dass die Perle, sicher verschlossen hinter Stahl und Holz, ihr keinen Schaden zufügen konnte.
Und dann gab es wieder Tage, an denen sie sich von der Perle beobachtet glaubte. Verhöhnt.
Missmutig verzog sie das Gesicht, wischte ihre schweißfeuchte Hand am Rock ab und gab die lange Nummernkombination ein. Nur drei Menschen auf der ganzen Welt kannten diese Zahlen. Ihr verstorbener Vater, sie selbst und der Mann, der den Safe kalibriert hatte.
Sie trat zurück, ehe sie die letzte Zahl eingab.
In diesem Augenblick erklang Carols hohe Stimme durch die Gegensprechanlage. „Miss Robeson, Mr Llewellyn ist am Apparat.“
Liana zuckte zusammen, und ihr Herz schlug plötzlich schneller. Sie war hin und her gerissen zwischen der Perle und dem Mann, der ihr immer noch wehtun konnte.
„Miss Robeson, sind Sie da?“
Sie hörte, dass Carol leise hüstelte. Liana gab die letzte Zahl ein und öffnete den Safe, ehe sie zum Schreibtisch ging. Sie räusperte sich. „Hat er Ihnen gesagt, wie es Matthew geht?“
„Nein, tut mir leid. Aber er klingt aufgebracht.“
Liana sackte gegen die Schreibtischkante. Offenbar blieb ihr nichts anderes übrig, als das Gespräch entgegenzunehmen.
Sie nahm den Hörer, ehe sie wütend die Verbindung herstellte. „Cullen, spar dir deine Worte. Sag mir einfach nur, ob Matthew gut angekommen ist.“
Am anderen Ende war es still, bis auf eine Lautsprecherdurchsage vom Flughafen LaGuardia in New York. Dann knackte es in der Leitung. „Verdammt, Cullen, hör auf mit den Spielchen.“
Sein breiter, australischer Akzent dröhnte durch die Leitung. „Was soll das heißen, ob er gut angekommen ist? Soll das ein Witz sein?“
Leise wurde an die Tür geklopft, und Grahams Stimme erklang dahinter. „Liana, wir müssen gehen!“
Liana bedeckte ihr freies Ohr mit der Hand. „Das war eine einfache Frage! Hör zu, wenn Matthew bei dir ist, gib ihn mir. Ich hab es eilig. Wir beide können ein anderes Mal reden.“
„Er ist nicht angekommen, verdammt! Und das weißt du genau! Weil du ihn nicht in dieses Flugzeug gesetzt hast.“
Für einen Moment blieb ihr Herz stehen. „Was soll das heißen?“
„Matthew war nicht im Flugzeug! Er ist nie in dieses verfluchte Ding eingestiegen. Wo ist mein Sohn? Entweder sagst du mir sofort, was los ist, oder ich nehme den nächsten Flug nach San Francisco und schüttle es aus dir raus!“
„Liana, wir kommen zu spät!“, rief Graham jetzt lauter.
Fest presste Liana die Hand gegen das freie Ohr. „Du warst in der falschen Ankunftshalle, Cullen. Verdammt, er wartet irgendwo am Flughafen auf dich!“
„Ich weiß, wo er ankommen musste. Aber er war nicht da. Ich habe in der letzten Stunde auch alle Flüge aus Denver und San Francisco gecheckt. Er war in keinem von ihnen.“
„Ich habe ihn doch selbst zum Flughafen gebracht. Und ich habe gesehen, wie er eingestiegen und abgeflogen ist.“
Wieder war es still am anderen Ende. Schließlich sagte Cullen: „Dann ist unser Sohn irgendwo zwischen San Francisco und New York verloren gegangen, Liana.“
Der Hörer glitt ihr aus den Fingern. Sie hörte Cullens Stimme, hörte, wie Graham hinter der Tür nach ihr rief.
Langsam drehte sie sich um und starrte auf den geöffneten Safe. Als wäre die makellose Perle, die für ein Jahrhundert das Leben ihrer beider Familien schicksalhaft bestimmt hatte, von ihrem samtenen Podest gerollt und hätte ihren Sohn entführt.
Und dann wurde ihr bewusst, wie dumm diese Vorstellung war. Denn der Safe war leer.
Nicht nur das Kind, das ihr mehr bedeutete als alles andere auf der Welt, war verschwunden. Sondern auch die Perle.
Broome, Australien – 1900
Australien nährte sich von den Seelen der Männer, zermahlte sie zu feinem rotem Staub, der über den endlosen trockenen Weiten niederging. Ein Land voller Versprechungen, die sich nie erfüllten; ein Land von quälender Hitze, die jede andere Hölle, der die Männer vielleicht eben noch entronnen waren, in den Schatten stellte. Und trotzdem spielte nichts von alledem eine Rolle. Australien war jetzt Archer Llewellyns neue Heimat. Bei der Schlacht in Cuba 1898 hatte er einen Offizier der Kavallerie getötet.
Er konnte nie wieder nach Hause zurück.
„Der gehört mir, Tom.“ Archer duckte sich, als ein Mann über den wackligen Tisch flog. Dann bearbeitete er ihn mit seinen Fäusten, bis sein Gegner zu Boden ging. Als der Kerl, der einen unangenehmen Gestank nach verdorbenen Austern verströmte, sich wieder aufrappeln wollte, kippte Archer den Tisch um und schickte den Riesen ein weiteres Mal zu Boden.
„Danke.“ Tom Robeson warf seinem Freund ein Grinsen zu, das jedoch verrutschte, als ihn die Faust eines Fremden traf.
„Verdammt, Tom, nimm deinen Kopf runter!“ Archer nahm Toms Angreifer in den Schwitzkasten und versetzte ihm mit der Stirn einen Schlag gegen den Kopf. Für einen Moment sah er nur Sterne; sie sahen allerdings anders aus als die, die seit zwei Jahren jede Nacht über ihm am Himmel leuchteten. Der Mann in seinem Arm hörte auf, sich zu wehren, und sackte zu Boden.
Archer trat ein Stück zurück und rief: „Will sich vielleicht noch jemand anders aus dieser gottverlassenen Stadt mit mir anlegen?“
Das halbe Dutzend Männer, das zugesehen hatte, wandte sich ab, als wäre nichts geschehen.
„Alles okay?“ Archer drehte Toms Wange ins Licht.
Grinsend schüttelte Tom die Hand seines Freundes ab. „Und was ist mit den beiden hier?“
Archers Blick flog zu den beiden Schlägern. Der Kleinere half dem Riesen gerade auf die Füße. Als sie dann zur Tür schwankten, sah keiner der beiden die zwei Amerikaner an. Archer verzog das Gesicht. „Sieht so aus, als könnten sie den nächsten Kampf gar nicht abwarten.“
Tom rieb sein Kinn. „Du hast mir den Hals gerettet. Wieder einmal.“
Archer tastete sein Kinn und seine Brust nach Blessuren ab. „Du wirst es nie lernen, wie? Du kannst dich zwar in einem Boxring behaupten, aber in einem Ort wie Broome hält sich keiner an die Regeln. Das wird dich noch den Kopf kosten.“
„Aber offensichtlich nicht, solange du in meiner Nähe bist.“ Tom streckte die Hand aus. Eine feingliedrige Hand, in der trotzdem Kraft steckte. Eine Hand, die sich nicht vor Schmutz drückte und die immer ausgestreckt wurde, wenn es galt, einem Freund zu helfen.
Grinsend schubste Archer den Freund von sich. „Lass uns weitermachen.“
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