Das Haus in Georgetown - Emilie Richards - E-Book

Das Haus in Georgetown E-Book

Emilie Richards

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Beschreibung

Etwas Entsetzliches geschah vor vielen Jahren in dem Haus in der Prospect Street, das Faith nach der Scheidung mit ihren Kindern bezieht … Es sind nur wenige Sekunden. Aber sie reichen, um Faiths' bisheriges Leben zu zerstören: Sie überrascht ihren Mann in den Armen seines Liebhabers! Sie verlässt ihn, entschlossen, einen neuen Anfang zu wagen, und zieht mit ihren Kindern in das alte Haus in der Prospect Street, das seit Generationen im Besitz ihrer Familie ist. Hier ist nichts zu spüren von dem gediegenen Luxus, an den Faith bis jetzt gewöhnt war. Zum Glück geben ihr die aufregend neuen Gefühle, die sie für ihren Nachbarn Pavel entdeckt, die Kraft und Zuversicht, die sie jetzt so dringend braucht. Denn das Haus ist eine Herausforderung - die wächst, als Faith bei Nachforschungen über seine Geschichte auf ein düsteres Kapitel ihrer eigenen Familie stößt …

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Seitenzahl: 776

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

Das Haus in Georgetown

Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen

Emilie Richards

Das Haus in Georgetown

Roman

Aus dem Amerikanischen von Dr. Andrea Kamphuis

MIRA® TASCHENBUCH erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: Prospect Street Copyright © 2002 by Emilie Richards McGee erschienen bei: Mira Books, Toronto Published by arrangement with Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln Titelabbildung: by GettyImages, München Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz Satz: Berger Grafikpartner, Köln ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-295-6

PROLOG

Dezember 1999

Immer wenn sie an „Granger’s Food and Gas“ vorbeifuhren, hatten die Bronsons das Gefühl, die Ziellinie eines Marathons zu überqueren: Ihr Wochenend-Cottage lag nur zwei Meilen hinter der Tankstelle, die gleichzeitig ein Gemischtwarenladen war. Für Faith Bronson war „Granger’s“ das ersehnte Signal, dass sich ihre Zeitreise vom entwickelten Norden Virginias in den ländlichen Westen des Landes dem Ende näherte. Mittlerweile hatte ihr Sohn Alex seine ältere Schwester Remy für gewöhnlich an den Rand des Wahnsinns getrieben, und selbst Faith, die Alex’ grenzenlose Energie insgeheim bewunderte, war dann drauf und dran, ihn zu den Taschen und Lebensmitteln in den Kofferraum zu sperren.

David, ihr Ehemann, pflegte zu behaupten, dass sich seine Atemfrequenz und sein Herzschlag spürbar verlangsamten, sobald sie „Granger’s“ mit seinen altertümlichen Zapfsäulen, seinen Abschleppwagen und Reifenbergen erreicht hatten. Es gehörte zum Ritual, dass er in diesem Augenblick den Hemdkragen lockerte und sich in den Fahrersitz lümmelte, als befände er sich nun außerhalb des Blickfeldes irgendeines unsichtbaren Schiedsrichters und stünde nicht mehr unter Beobachtung.

An diesem Vormittag saß Faith jedoch allein im Familien-Volvo. Es waren nur noch zehn Tage bis Weihnachten, und man hatte „Granger’s“ mit schier endlosen Lametta- und Fransengirlanden geschmückt. Als sie zum Tanken einbog, fühlte sie sich in der Stille, die ihr beim Aufbruch vor anderthalb Stunden noch so verheißungsvoll erschienen war, bereits unbehaglich.

„Morgen, Mrs. Bronson. Und frohe Weihnachten.“ Als sie aus dem Wagen stieg, hob Tubby, der Inhaber des Ladens, seine knotige Hand zum Gruß. Tubby war dünn wie eine Bohnenstange, und seine Latzhose warf überall Falten. Wie die Hosenträger es schafften, auf diesen hängenden Schultern Halt zu finden, war ihr schon immer ein Rätsel gewesen.

„Frohe Weihnachten, Tubby.“ Sie schraubte den Tankdeckel ab und machte sich an der Säule zu schaffen, aber Tubby nahm ihr die Zapfpistole gleich wieder ab.

„Gibt mir ‘n guten Vorwand, noch draußen zu bleiben. Letzter schöner Tag, bevor der Winter uns heimsucht, denk ich.“

Das sah Faith genauso. Das Wetter war zu warm für die Jahreszeit, eine angenehme Überraschung. In der Frühe hatten die Sonnenstrahlen sie geweckt, die ihr Gesicht und ihre Schultern streichelten. Sie hatte die Bettdecke aufgeschlagen und war schlaftrunken ans Fenster getreten, wo sie einen der vollkommensten Sonnenaufgänge erblickte, den sie je erlebt hatte. David war noch nicht von der letzten Geschäftsreise des Jahres zurückgekehrt, und Alex, der sich normalerweise für jede Kapriole von Mutter Natur begeistern konnte, murrte, als sie ihn weckte, um diesen Anblick mit jemandem zu teilen. Alex war jetzt elf, und sie versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass diese Maulerei in den nächsten Jahren zur Tagesordnung gehören würde.

Auch nachdem Faith die Kinder zur Schule gebracht hatte, hielt die Magie des Morgens noch an. Bevor er sich in einen ganz gewöhnlichen Tag verwandeln konnte, folgte Faith einer Eingebung: Sie rief ihre Mutter an und bat sie, die Kinder am Nachmittag von der Schule abzuholen und über Nacht zu sich zu nehmen.

Lydia Huston, Senatorengattin durch und durch, warf einen Blick in ihren Kalender, der stets mit Wohltätigkeitsveranstaltungen, Friseurbesuchen und Fototerminen voll gepackt war. Obwohl es bei ihr in der Vorweihnachtszeit – wie sie ihrer Tochter deutlich zu verstehen gab – noch hektischer zuging als sonst, gelang es ihr, es so einzurichten, dass Faith bis morgen verreisen konnte. Lydia ermahnte sie aber, eine derart rücksichtslose Spontaneität nicht zur Gewohnheit werden zu lassen.

Obwohl in ihr die Furcht aufgekeimt war, eine Dummheit zu begehen, hatte Faith ihre Teilnahme am letzten Vorbereitungstreffen der Dankeschön-Weihnachtsfeier für die Lehrer abgesagt, ihre Sachen in den Wagen gepackt und war aufs Land gefahren.

„Heut den Sonnenaufgang gesehn?“ fragte Tubby. „Hat mich geweckt, direkt aus dem Bett geworfen. Mein Daddy hat immer gesagt, so ein Sonnenaufgang bringt große Veränderungen. Gottes Art, was anzukündigen.“

Faith war froh, ihre Begeisterung mit jemandem teilen zu können. „Heute muss er etwas ganz Großes vorhaben.“

„Nur mit den Leuten, die das gesehn haben. Nich mit allen. Nix wie das Ende der Welt oder so.“

Faith warf einen Blick auf die Zapfsäule und angelte einen Zwanzig-Dollar-Schein aus ihrem Portemonnaie. „Na, da bin ich aber froh. Ich dachte schon, ich müsste auf der Stelle niederknien.“

„Bei mir, da is ein Enkelchen unterwegs. Schätze, das kommt heute.“ Er schüttelte die Zapfpistole, hängte sie in die Halterung zurück und schraubte den Tankdeckel wieder zu. „Und bei Ihnen?“

„Sind es immer Veränderungen zum Guten?“

Tubby verzog das Gesicht. „Nee“, meinte er schließlich. „Als mein Daddy gestorben is, an dem Tag ging die Sonne so strahlend auf, dass ich fast geglaubt hab, ich muss blind werden.“

Da stand sie nun. Tubby wartete auf eine Antwort, und plötzlich presste die geballte Anspannung der letzten Monate ihren Brustkorb zusammen wie ein Schraubstock. Neugierig blickte der alte Mann ihr unverwandt ins Gesicht. „Tja, ich fürchte, ich muss mich einfach überraschen lassen.“

„Sagen Sie nich, ich hätt Sie nich gewarnt. Da is was Großes im Anmarsch.“ Tubby nahm den Schein und gab ihr Wechselgeld heraus. „Brauchen Sie was von drinnen? Oder hat Mr. Bronson schon alles besorgt?“

Die Frage irritierte sie. „David? Nein, er ist auf einer Geschäftsreise.“

„Und ich hab gedacht, Sie und der Mister machen mal Urlaub von den Kleinen.“

„Ich hoffe, er fährt heute Abend vom Flughafen aus direkt hierher.“ Im Hotel in Seattle hatte sie ihn nicht erreicht, ihm aber auf die Mailbox seines Handys gesprochen und bei der Sekretärin eine Nachricht hinterlassen. Vom „Dulles Airport“ war es nur eine Autostunde bis zum Wochenend-Cottage.

„Dachte, ich hätt ihn gestern Abend vorbeifahren sehn.“ Tubby versuchte, einen Fleck von der Windschutzscheibe zu wischen, feuchtete seinen Zeigefinger an und probierte es noch einmal. „Da hab ich mich wohl geirrt.“

„Er hält einen Vortrag auf einer Konferenz in Washington State.“

„Übers Schulgebet?“

David und Tubby konnten endlos über Gott und die Welt plaudern. David hatte in Harvard studiert und war Vorsitzender von „Promise the Children“, einer konservativen Organisation, die sich für Familienwerte und eine bessere Gesellschaft einsetzte. Er liebte es, jedem, der bereit war zuzuhören, seine Anschauungen auf die Nase zu binden. Tubby, der nicht einmal die High School abgeschlossen hatte, konnte ihm jedoch gut Paroli bieten.

„Ich glaube, diesmal geht es um die Notwendigkeit, die Medien zu kontrollieren“, sagte sie.

Tubby trat einen Schritt zurück und betrachtete zufrieden die Windschutzscheibe. „Gott segne ihn.“

Gottes Segen lag auf allen Bronsons. Faith wusste das und war dankbar dafür. Hübsche, kluge Kinder, gute Gesundheit, Wohlstand – und eine Ehe, die auf übereinstimmenden Wertvorstellungen fußte. Wenn es in letzter Zeit auch den Anschein hatte, dass David und sie nicht mehr so gut harmonierten, so war das doch eine Kleinigkeit, die sich vermutlich ohne weiteres wieder einrenken ließ.

Heute Nacht vielleicht?

„Also, ich bin weg“, meinte Faith. „Danke für die Hilfe.“ Sie drehte den Zündschlüssel, winkte kurz und sah, dass Tubby zurückwinkte.

Wieder auf der Straße, ließ ihr das Gespräch keine Ruhe. Während der ganzen Fahrt war es ihr gelungen, nicht an ihre Eheprobleme zu denken, aber offenbar lauerten sie ganz dicht unter der Oberfläche. Eine beiläufige Bemerkung hatte ausgereicht, um sie wieder zum Vorschein zu bringen.

Sie liebte David. Ja, er war der einzige Mann, den sie je geliebt hatte. Mit zweiundzwanzig hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verknallt, und immer noch kniff sie sich jedes Mal, wenn ihr bewusst wurde, dass der elegante, charismatische David Bronson sie zur Frau gewählt hatte.

David liebte sie. Daran gab es keinen Zweifel. Während der fünfzehn Jahre ihrer Ehe hatte er nie eine andere angesehen. Er arbeitete zu viel und war oft unterwegs, aber er war ein treuer Mann und hingebungsvoller Vater. Die meisten ihrer Freundinnen beneideten sie. David lebte gemäß den Werten, die er propagierte.

Erst in der letzten Zeit hatten sich Probleme eingeschlichen. Ihre Beziehung war schon immer mehr von Zuneigung als von Leidenschaft geprägt gewesen. Bei ihrer ersten Begegnung hatten sie sich auf Anhieb verstanden, sich bis zum Morgengrauen unterhalten und diese Gespräche jede Nacht fortgesetzt, bis alles, was sie noch nie einer Menschenseele anvertraut hatten, ausgesprochen war. Seine Berührungen hatten sie erregt, aber noch mehr hatte seine ungeteilte Aufmerksamkeit sie elektrisiert. Zum ersten Mal in ihrem Leben fand jemand sie faszinierend, und sie war völlig in ihrer Ehe aufgegangen, hatte in unendlicher warmer Hingabe gebadet.

Dass der Sex so schnell zur Routine geworden war, hatte sie gelassen gesehen. David und sie waren Seelenverwandte. Auf die emotionalen Exzesse, die andere Frauen zu erleben behaupteten, konnte sie gut verzichten, wenn sie die Verlässlichkeit und Fürsorglichkeit dagegen aufwog, die David und sie verband. Sie schlief gerne mit ihm, noch mehr Befriedigung aber gab ihr das Zusammenleben.

Bis vor kurzem.

Faith ging vom Gas und bog in die sanfte Kurve der Seward Road ein, von der der Kiesweg zu ihrem Cottage abzweigte. David hatte das Haus und die fünfzehn Morgen Wald vor zehn Jahren zu ihrem fünften Hochzeitstag gekauft. Er hatte versprochen, dass sie gelegentlich ohne die Kinder übers Wochenende herfahren würden, aber dazu war es nie gekommen. Also gab sie sich damit zufrieden, das Cottage zu einer zweiten Heimat für die ganze Familie zu machen. Eines Tages, wenn die Kinder erwachsen wären, würden David und sie sich nach Belieben hier einnisten können, um das Feuer ihrer Liebe wieder zu entfachen.

Aber heute früh hatte sie, während die Sonne am Horizont aufging, darüber nachgedacht, ob womöglich gerade ihre Geduld das Verlöschen dieser Flamme mit verursacht hatte. In den letzten Monaten war ihr ohnehin wenig spannendes Liebesleben vollends versiegt. David reiste noch mehr als sonst, und wenn er zu Hause war und sie sich an ihn schmiegte, gab er vor, zu erschöpft zu sein. Er vertröstete sie auf ruhigere Zeiten, aber ihr wurde bald bewusst, dass er zum ersten Mal in seinem Leben nicht Wort halten würde.

Sie suchte die Schuld bei sich. War sie zu ungeduldig – oder zu geduldig? Nahm sie zu wenig Rücksicht auf seine angespannte Situation – oder zu viel? Sollte sie fordernder auftreten? David kümmerte sich den lieben langen Tag um die Bedürfnisse anderer, und vielleicht musste er daran erinnert werden, dass seine eigenen Bedürfnisse nicht zu kurz kommen durften.

Diese Gedanken entluden sich in Aktionismus. In Vorbereitung auf die kommende Nacht hatte Faith Kerzen und Delikatessen, frische Blumen und Massageöl ins Auto gepackt und zu guter Letzt ein Geschenk dazugelegt, das sie sich selbst gemacht, aber noch nie getragen hatte: einen Body aus Spitze, dessen Schleifchen nur darauf warteten, von den Fingern des richtigen Mannes gelöst zu werden.

Sie bog in die Zufahrt ein und bremste auf Schritttempo ab. In der Ferne glitzerte auf den höchsten Berggipfeln noch immer der Schnee, der nach Thanksgiving gefallen war, aber die Lichtung, auf der das Cottage stand, war mit Kiefernnadeln und trockenem Laub bedeckt.

Auf eben dieser winterlich braunen Lichtung blitzte Davids silberner Honda Accord hinter einem Baum hervor.

Faith fuhr bis ans Haus und stellte den Motor ab. Bei ihrem Anruf heute früh hatte sie David im Hotel nicht mehr erreicht und geglaubt, dass sie ihn um ein paar Minuten verpasst hatte – nicht aber um fast einen Tag. Tubbys Bemerkung, er habe ihn am Vorabend gesehen, hatte sie nicht ernst genommen. Aber David war hier, und zwar offenbar schon eine Weile.

Sie blieb im Wagen sitzen, und ihre Wangen glühten vor Verlegenheit. Sie war davon ausgegangen, dass sie Zeit haben würde, den Abend vorzubereiten. Sie hatte ihn mit Kerzenlicht und sanfter CD-Musik empfangen wollen. Jetzt kam sie sich albern vor. Was sollte sie tun? Das Cottage mit etlichen Einkaufstüten voller Verführungszubehör betreten und hoffen, dass er sie nicht auslachen würde?

Die Peinlichkeit wich einem noch unangenehmeren Gefühl. Offenkundig war Davids Meeting früher als geplant zu Ende gegangen, sodass er einen früheren Rückflug erwischt hatte. Anstatt nach Hause zu kommen und ihr bei den Vorbereitungen des familiären Weihnachtsfestes zu helfen, hatte er dieses Zeitgeschenk – nicht zum ersten Mal – zu einem Abstecher ins Cottage genutzt, wo er ungestört arbeiten konnte.

David hatte nicht daran gedacht, dass sie für seine Hilfe dankbar sein würde – oder für die schiere Anwesenheit eines zweiten Elternteils im Hause. Wie so oft in letzter Zeit hatte er seine Arbeit für wichtiger erachtet.

Fürs Erste wollte sie die Taschen im Auto lassen. Es war an der Zeit, mit David zu reden. Ihrer Ansicht nach fielen Eheprobleme eher in ihre als in seine Zuständigkeit. Wenn es Schwierigkeiten auszuloten und emotionales Neuland zu betreten galt, dann war es ihre Aufgabe, die Expedition zu leiten. Wenn alles gut lief, würde er ihr sicherlich später beim Hereintragen und Auspacken der Tüten helfen.

Sie beschloss, ihr Kommen nicht anzukündigen und alles Weitere von seiner ersten Reaktion abhängig zu machen. Also öffnete und schloss sie die Wagentür leise, obwohl die steinernen Mauern ohnehin fast alle Geräusche schluckten. Sie stellte sich vor, wie er sich im Arbeitszimmer zwischen seinen Kiefernholzmöbeln eingeigelt hatte. Diesen Raum hatte er vor allen anderen eingerichtet.

Sie fragte sich, ob dies heute der erste Arbeitsaufenthalt war, den er ihr verheimlicht hatte.

Gab es noch mehr Dinge in seinem Leben, von denen sie nichts wusste?

Die Tür war abgesperrt, und sie angelte nach ihrem Schlüsselbund. Obwohl die aufschwingende Tür knarrte, kam David nicht ins Wohnzimmer. Seit Beginn des Schuljahres hatte sich die Familie nicht oft hier aufgehalten. Im Haus war es still, und es roch muffig; er war wohl zu beschäftigt gewesen, um die verdreckten Fenster zu öffnen und die Zimmer gründlich durchzulüften. Jetzt sah sie auch den Staub auf dem Kaminsims und ein labyrinthisches Spinnennetz, das von einem der frei liegenden Balken in der Ecke hing. Die Luft war relativ warm, obwohl im Kamin kein Feuer brannte. Faith schlich über die Eichendielen nach rechts in den Flur, von dem Davids Arbeitszimmer abging.

Ein Stöhnen ließ sie innehalten. Sie konnte das Geräusch nicht genau orten, aber aus dem Arbeitszimmer, das nun direkt rechts vor ihr lag, kam es gewiss nicht – eher aus einem der Zimmer am Ende des Flurs.

Ihre Füße waren wie festgenagelt. Also hielt sie den Atem an und lauschte. Gerade als sie nach David rufen wollte, hörte sie, wie etwas über den Fußboden schabte; ein leises Lachen folgte.

Erleichtert schloss sie die Augen und stellte sich vor, was ihr Mann im Schlafzimmer tat. David verrückte Möbel oder versuchte, ein Fenster zu öffnen. Eines der Fenster ließ sich nur mit Hilfe eines Schemels erreichen, den sie unter dem Bett aufbewahrten. Sie konnte sich nicht erinnern, wie oft er sich schon die Zehen daran gestoßen hatte, wenn er beim Zubettgehen seine Schuhe aus dem Weg kicken wollte. Vielleicht hatte er vorgehabt, ein Nickerchen einzulegen, und gerade die Schuhe ausgezogen ...

Als sie die Szene im Geiste so weit durchgespielt hatte, setzte sie ihren Weg durch den Flur fort. Jetzt machte sie so viel Lärm, dass sie einen Bären aus dem Winterschlaf hätte reißen können. Inzwischen war sie ihrem Mann nah genug, um seine Reaktion auf ihr plötzliches Erscheinen abschätzen zu können.

„David? Bist du da drinnen?“

Sie legte die Hand auf den Türknauf und zögerte einen Moment, ohne genau zu wissen, warum. Plötzlich tauchte der grandiose Sonnenaufgang wieder vor ihrem inneren Auge auf – Gottes Ankündigung.

Und eine Vorahnung, dass ihr die Neuigkeiten nicht gefallen würden.

Dennoch öffnete sie die Tür. Sonnenlicht durchflutete das Zimmer und umspielte die beiden Männer. Der eine war ihr Gatte. Von der Taille abwärts unbekleidet, stand er vor einem großen Spiegel, der an diese Stelle gerückt worden war. Auch den anderen Mann hatte sie früher schon gesehen, allerdings nie so wie jetzt: nackt und seinen Liebhaber umarmend. Abraham Stein, der liberale Journalist, der „Promise to Children“ so oft kritisiert hatte, umklammerte David mit seinen muskulösen Armen wie ein Kind sein liebstes Weihnachtsgeschenk.

Aus Davids fein geschnittenen Zügen wich jede Farbe. Faith beobachtete fassungslos, wie er die Hände bewegte, um seine Erektion zu verbergen.

In ihrem letzten klaren Moment des Tages fiel Faith auf, dass David sich nicht etwa gegen Abraham Steins Umarmung wehrte, er schützte sein Geschlecht vielmehr vor dem unwillkommenen Blick jener Frau, mit der er seit fünfzehn Jahren verheiratet war.

1. KAPITEL

Wie oft muss eine Frau ihren Lebenstraum offiziell für gescheitert erklären? Wie oft muss sie das Ende der ihr bekannten Welt mit Datum und Unterschrift besiegeln?

„Und Sie, Mrs. Bronson, wenn Sie bitte hier unterzeichnen möchten ...“ Carol Ann, die Vertreterin der Firma, die den Verkauf des Bronson-Hauses abwickelte, schob Faith noch ein weiteres Blatt Papier herüber. „Merken Sie sich das Datum“, sagte sie, schätzungsweise zum fünfzigsten Mal an diesem Nachmittag. „Der 7. August.“

„Danke. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass ich das vergesse.“ Faith blickte nicht auf. Sie konzentrierte sich darauf, sich in sauberer Privatschul-Handschrift von ihrer Vergangenheit zu verabschieden.

„Jetzt haben wir’s gleich.“ Carol Ann – die keinen Nachnamen zu haben schien – klopfte neben Faith’ Hand auf den Tisch, als wolle sie ihrer Klientin mit dieser Geste die Sache erleichtern.

Faith vermutete, dass Carol Ann es nur gut meinte, hatte sie aber von Anfang an nicht ausstehen können. Die Maklerin trug malvenfarbenen Lidschatten, der sich fast bis zu ihren schmal gezupften Brauen erstreckte, und hatte ein Lächeln aufgesetzt, mit dem sich Dampf in Schneeflocken verwandeln ließ. Carol Ann wollte weiter nichts als einen weiteren reibungslosen Abschluss: noch ein Haus, das abgewickelt und übergeben werden konnte. Noch ein Leben, das seinem Schicksal überlassen wurde.

„So, Mr. Bronson, jetzt noch Ihre letzte Unterschrift, dann sind wir fertig, glaube ich.“

Faith schob das Dokument zu David hinüber. Er saß völlig regungslos da, als könne er Faith vergessen lassen, dass er überhaupt da war, indem er sich tot stellte. Seit er von ihr in den Armen seines Liebhabers überrascht worden war, hatte David bei jeder ihrer wenigen Begegnungen diese leblose Pose eingenommen. Sie war sich nicht sicher, ob er jede Bewegung vermied, weil er in Stücke zu brechen fürchtete, oder ob er einfach nicht mehr wusste, was er mit seinem Körper anfangen sollte. Immerhin steckte er in einem ganz neuen Körper, einem ganz neuen Leben, einer ganz neuen Welt.

Ihr Ehemann, ein Schwuler.

Davids Unterschrift sah fast genauso aus wie die von Faith. Früher hatten sie darüber gelacht, wie sehr sich ihre Handschrift ähnelte, und Witze darüber gemacht, wie leicht sie wechselseitig ihre Unterschriften fälschen könnten. Jetzt wirkte die Ähnlichkeit trügerisch. Sie war so dumm gewesen, darin eine Bestätigung des Gleichklangs zwischen ihr und David zu erkennen. Sie hatte das glauben wollen. Schließlich würde ein Mann, dessen Temperament ihrem so sehr glich und der alles schätzte, was sie schätzte, ihr nie wehtun können.

„Also, das hätten wir.“ Carol Ann schlug den Papierstapel energisch auf den Tisch wie eine Richterin ihren Hammer. „Ich hoffe, Sie finden alles in bester Ordnung vor“, sagte sie zu dem jungen Paar am anderen Ende des Tisches, das gerade das Haus der Bronsons gekauft hatte. „Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich bitte an.“

Carol Anns Lächeln wurde eine Nuance wärmer, als sie sich David zuwandte. Doch sie flirtete nicht mit ihm. Schließlich wäre das unter den gegebenen Umständen reine Zeitverschwendung gewesen. Faith war überzeugt, dass sie wusste, warum sie ihr Haus verkauften. Schließlich kannte alle Welt die Story. Jedes Boulevardblatt der freien Welt hatte über Davids unfreiwilliges Coming-out berichtet.

An jenem unglückseligen Dezembertag war Faith nicht der einzige unerwünschte Gast im Ferienhaus gewesen. Ein besonders widerlicher Kollege von Abraham Stein war den beiden Männern, über deren verdächtig häufiges Zusammensein er einigen Klatsch aufgeschnappt hatte, von der Konferenz in Seattle gefolgt und hatte sein Auto im Wald geparkt. Falls der Reporter vor Faith’ Ankunft noch Zweifel gehabt haben sollte, was genau im Cottage vor sich ging, so hatten ihre tränenreiche Flucht zum Auto und die Zeit, die David brauchte, bis er in der Tür auftauchte und ihr nachrief, seinen Verdacht bestätigt.

Und wieder hatte eine Washingtoner Lichtgestalt ihren Glanz unwiederbringlich eingebüßt.

Carol Ann stand auf. „Mr. und Mrs. Bronson, wenn Sie noch Fragen haben ...“

„Danke.“ Faith griff nach ihrer Handtasche und dem marineblauen Blazer, der ihr von ihrer Mutter am schrecklichsten Weihnachtsmorgen ihres Lebens geschenkt worden war. Faith hatte alle Kleidungsstücke, die David ihr je gekauft hatte, sorgfältig weggepackt, als wären sie mit etwas durchtränkt, das sie für immer meiden wollte.

Die junge Mutter, der Faith’ Haus nun gehörte, pirschte sich an sie heran und fragte mit halb unterwürfigem, halb gebieterischem Tonfall: „Sind Sie sicher, dass Sie es bis zum Monatsende schaffen?“

Der Versuch, sich diese Frau allmorgendlich an Faith’ geliebtem Aga-Herd vorzustellen, wie sie für ihren Mann und die drei kleinen Kinder Wasser aufsetzte und Eier kochte, misslang. Sie war nicht liebenswürdig genug für dieses Haus, sie wusste den unkrautfreien Rasen und das elegante Wanddekor im großen Schlafzimmer nicht ausreichend zu würdigen.

„Machen Sie sich darüber keine Sorgen.“ Faith hängte sich den Blazer über die Schultern. Dann holte sie tief Luft, um mal wieder aus Höflichkeit zu lügen. Eine Eigenschaft, die viele Senatorenkinder schon mit der Muttermilch einsogen. „Ich hoffe, Sie werden sich in diesem Haus wohl fühlen.“

„Ich schätze, uns wird nichts anderes übrig bleiben. Der Markt ist einfach dicht, und wir konnten nichts anderes finden.“

Faith war froh, kurz vorher so tief Luft geschöpft zu haben, denn jetzt verschlug es ihr den Atem. Ihre Lungen kamen ihr wie versteinert vor – was gut war, denn Faith hätte nicht für die Freundlichkeit ihrer Antwort garantieren können.

Sie suchte Davids Blick, zum ersten Mal während der ganzen Prozedur. Er sah aufgewühlt aus. Einen Augenblick lang schien sie der Kummer zu verbinden. David hatte das Haus ebenso geliebt wie sie. Sie hatten es mit der Hilfe eines der begabtesten Architekten von Washington gebaut. David hatte den weitläufigen Garten gestaltet, ein Bewässerungssystem installiert und letzten Herbst sogar einen Fischteich ausgehoben. Diesen Sommer hatten sie Koi anschaffen und Seerosen pflanzen wollen. Aber die neuen Besitzer hatten das Haus nur unter der Bedingung gekauft, dass das Loch wieder zugeschüttet wurde.

„Soll ich dich zurückfahren?“ fragte David, bevor Faith ihren Blick abwenden konnte.

Sie fand ihren Atem und ihre Stimme wieder. „Meine Mutter kommt.“

„Ich könnte dich ...“

„Nein.“ Sie hängte die Handtasche über die Schulter und verabschiedete sich von Carol Ann. Bevor David noch ein Wort sagen konnte, brach Faith zum Parkplatz auf.

Dass sie sich weigerte, mit ihm allein zu sein, war nicht neu. Seit jenem Vormittag im Dezember hatten sie sich nur im Beisein ihrer Anwälte oder von Faith’ Vater gesprochen. Joe Huston, Virginias dienstältester Senator, war auch an jenem Tag zugegen gewesen, als David Faith eröffnete, dass der Vorstand von „Promise the Children“ ihn entlassen und sich auf die moralische Vorbehaltsklausel seines lukrativen Vertrags berufen hatte. David musste die Prämien, die er jahrelang umsichtig investiert hatte, zurückzahlen, und der Abschwung an der Börse hatte den Rest des Familienvermögens dahinschmelzen lassen. Es blieben ihnen fast nur das Haus in McLean und das Ferien-Cottage in West-Virginia, die beide mit Hypotheken belastet waren.

Zumindest dem Cottage, das sie ebenfalls hatten verkaufen müssen, weinte Faith keine Träne nach.

Der Vertragsabschluss war so schnell über die Bühne gegangen, dass Lydia noch nicht da war und Faith warten musste. Letzte Woche war der Leasing-Vertrag für den Volvo ausgelaufen, und Faith hatte die Restkaufsumme nicht aufbringen können. Jetzt blieb ihr zu allem Überfluss nichts anderes übrig, als einen Gebrauchtwagen zu suchen, der etwas taugte und den sie sich leisten konnte.

Obwohl sie sich beeilte, holte David sie ein. Widerwillig wandte sie sich dem Menschen zu, der noch immer – bis die Scheidung rechtskräftig würde – ihr Ehemann war. Sie wollte, dass ihre Unterhaltung von außen wie ein ganz alltägliches Gespräch aussah. Sie wusste nur zu gut, dass es immer Leute gab, die sie beobachteten.

Sie dämpfte ihre Stimme. „Bitte sag nichts. Ich will nicht hören, wie Leid es dir tut oder wie schlecht du dich fühlst. Das spielt keine Rolle.“

„Tut mir Leid, dass du so aufgebracht bist.“

Ihre Augen blieben trocken, denn sie hatte schon zu viele Tränen vergossen. Acht Monate hatte sie jedes Mal, wenn die Kinder es nicht sehen konnten, ihrem Kummer freien Lauf gelassen, aber jetzt hatte sie genug davon. „Du solltest gehen. Mutter bringt die Kinder mit, und die wollen nicht mit dir zusammentreffen.“

„Das muss anders werden.“

David trug wie üblich einen Anzug. Seine Garderobe stammte von Brooks Brothers und würde ihm wohl noch einige Jahre bei der vergeblichen Jagd nach einer neuen Stelle treue Dienste leisten, wenn er nicht weiter so stark abnahm. Er war immer schlank gewesen, aber jetzt wirkte er dürr. Die grauen Strähnen in seinem blonden Haar hatten sich deutlich vermehrt.

„Ich weiß nicht, was ich dazu beitragen könnte“, sagte sie. „Ich wiegle sie nicht gegen dich auf. Ich versuche dich einfach nicht zu erwähnen. Aber Remy und Alex verstehen beide, was passiert ist. Und sie sind nicht erpicht darauf, mit deinem neuen Selbst Bekanntschaft zu schließen.“

„Es gibt kein neues Selbst.“

„Das stimmt. Es ist nicht neu, du hattest nur vergessen, es zu erwähnen.“

„Ich habe es nicht einmal mir eingestanden, Faith.“

Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Gerade hatte sie ihr Haus veräußert, ein unermesslicher Verlust. Doch zugleich fühlte sie sich seltsam erleichtert. „Du willst mir weismachen, dass du gar nicht bemerkt hast, wie sehr du meinen Körper verabscheutest, wenn wir zusammen im Bett waren?“

„Um Himmels willen, fang jetzt nicht an, dir Dinge vorzustellen, die nie passiert sind. Wie kannst du annehmen, dass es so war?“

„Ich habe eine Menge Zeug geglaubt, das nicht so war, wie es schien, stimmt’s?“

„Auch ich habe versucht, an unsere Liebe zu glauben.“ Er trat einen Schritt näher. „Ich möchte, dass du das begreifst. Ich habe mich selbst verleugnet. Nicht nur vor dir und dem Rest der Welt, sondern auch vor mir selbst. Vielleicht habe ich allen etwas vorgemacht, aber ich mochte die Rolle so sehr, dass ich sie liebend gern bis ans Ende meiner Tage weitergespielt hätte.“

„Bis Abraham Stein aufgetaucht ist. Ein liberaler Journalist, David! Bestimmt kein wiedergeborener Christ. Wie viele Kehrtwendungen kann ein Mann machen?“

„Nein, das hat mit Ham nichts zu tun. Ihn trifft keine Schuld. Mein Leben war eine einzige Lüge, und das war dir gegenüber nicht fair. Sie hat keinem von uns beiden gut getan.“

„Wirklich? Das ist komisch, denn mir hat unser Leben irgendwie gefallen. Ich war mit dem Mann verheiratet, den ich über alles geliebt habe. Ich hatte zwei großartige Kinder, ein Heim, Anerkennung. Jetzt habe ich die Wahrheit und sonst nichts – außer den Kindern, die innerlich zerbrechen. Und am Monatsende werden wir nicht einmal eine Bleibe haben. Wir müssen zu meinen Eltern ziehen.“

„Du warst mit einem Mann verheiratet, der dich nicht so lieben konnte, wie du es verdienst.“ Er legte ihr die Hand auf die Schulter, und als sie sich ihm zu entziehen versuchte, verstärkte er den Griff. „Jetzt hörst du mir mal zu. Du verdienst etwas Besseres. Du verdienst einen Mann, der seine Hände nicht von dir lassen kann, jemanden, der es nicht erwarten kann, nach Hause zu kommen, und der morgens kaum fähig ist, sich von dir loszureißen. Keinen besten Freund. Einen Liebhaber.“

Sie stand ganz still da, aber in ihrer Stimme schwang Verachtung mit, als sie hervorstieß: „Du hast das für mich getan? Aus Mitleid?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich nie wieder anfassen würdest.“

Er ließ sie los. „Was ich habe, ist nicht ansteckend.“

„Ach? Manches von dem, was damit zusammenhängt, aber schon.“

„Mein Anwalt hat es dir schon mitgeteilt, Faith: Seit ich mit Ham zusammen bin, habe ich nicht mehr mit dir geschlafen. Und vorher bin ich dir immer treu gewesen. Du warst nie in Gefahr, dich mit HIV zu infizieren.“

„Ich habe trotzdem einen Test gemacht. Warum sollte ich mich auf dein Wort verlassen?“

Er wirkte erschüttert. „Wenn du mir glauben könntest, dass ich dir treu war, würdest du auch verstehen, was für einen Kampf ich durchlebt habe. Ich war nicht der Mann, der ich sein wollte, aber dir zuliebe habe ich es versucht. Unsere ganze Ehe hindurch habe ich versucht, so zu sein.“

Sie wurde selten sarkastisch, aber jetzt konnte sie nicht anders. „Oh, herzlichen Dank. Nur für mich?“

„Faith ...“

„Oder hast du diese Schmierenkomödie in Wirklichkeit für deinen Vater aufgeführt – oder für meinen? Bis zu seinem Todestag hat dein Vater angenommen, er hätte den perfekten Sohn aufgezogen. Und mein Vater? Mein Vater hat dich sogar zu seinem Nachfolger im Senat aufgebaut.“

„Das war Joes Idee.“

Sie überhörte seinen Einwand und fuhr fort. „Wahrscheinlich wolltest du nur die Welt erhalten, die du um dich herum aufgebaut hast. Der Tugendbold David Bronson, Hüter der Familienwerte. Der Mann, zu dem alle aufblicken, der allen die Richtung weist.“

„Ich wollte dieser Mann sein, Faith. Für euch alle.“

Trotz ihrer Wut verspürte sie einen Hauch von Mitleid, auch wenn ihr das nicht gefiel. Vielleicht hatte sie ihren Tränenvorrat doch noch nicht völlig verbraucht, denn plötzlich war ihr zum Heulen zu Mute.

„Warum hast du es mir nicht einfach gesagt? Am Anfang? Bevor ... bevor es zu spät war.“

„Ich konnte dir nicht sagen, was mir selbst nicht klar war.“ „Du willst mir erzählen, dass du dich vor unserer Heirat nicht zu Männern hingezogen gefühlt hast?“

„Ich hielt Homosexualität für eine Sünde. Ich konnte nicht glauben, dass ich ...“

„... schwul bin“, schnauzte sie, um nicht weinerlich zu klingen. „Das Wort ist ,schwul‘. Man kann das sogar noch drastischer ausdrücken. Mit Formulierungen, die Alex in der Schule zu hören bekommen hat, als die Geschichte die Runde machte. Oder mit Worten, die Remy immer benutzt, wenn sie sich die Seele aus dem Leib heult.“

Er zuckte zusammen. „Ich wollte ihnen nie wehtun.“

Noch vor dem Enthüllungsbericht in der Zeitung war die Infrastruktur der Familie unwiderruflich kollabiert. Aber erst jetzt stellte sie ihm die eine Frage, die sie seitdem umtrieb.

„Aber warum hast du dich dann nicht weiter verstellt, David?“ Sie konnte nicht länger verhindern, dass ihr Tränen in die Augen schossen. „Wenn ich dich nicht mit Ham entdeckt hätte, hättest du dann weitergemacht? Wenn ich damals nicht zum Cottage gefahren und der Reporter euch nicht gefolgt wäre, hättest du es mir dann jemals erzählt? Oder hätten wir dann noch immer alles, was wir verloren haben?“

„Würdest du das wollen? Jetzt, wo du die Wahrheit kennst?“

Sie konnte nichts erwidern, weil sie keine Antwort wusste.

„Ich war entschlossen, es dir mitzuteilen. Sobald ich den richtigen Weg gefunden hätte.“ Ein missglücktes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich war noch nicht über den Eröffnungssatz hinausgekommen. Es wäre die schwierigste Rede meines Lebens geworden.“

„Ein Bild hat mehr gesagt als tausend Worte.“

Er griff in seinen Anzug und zog ein Taschentuch hervor. Er hatte stets ein frisch gebügeltes Taschentuch dabei. Vor langer Zeit einmal, da hatte sie dafür gesorgt. David bot es ihr an, aber sie schüttelte den Kopf.

Er steckte es zurück, und es hing schief aus der Tasche, wie die Notflagge eines sinkenden Schiffs. „Ich gehe jetzt, aber du weißt, wo du mich erreichen kannst. Ich werde da sein, wenn du mich brauchst.“

„Kannst du mir helfen, mein Leben wieder zusammenzusetzen?“

„Ich kann dir meine Freundschaft anbieten.“

Darauf fiel ihr keine freundlich klingende Erwiderung ein. Sie wandte sich von ihm ab, zur Straße. „Kümmere dich um deine Kinder, David. Das dürfte dich schon voll und ganz auslasten.“

2. KAPITEL

Eine Frau, die an Albträumen leidet, zieht es vor, nicht zu schlafen, aber jahrelange Schlaflosigkeit fordert ihren Tribut. Seit fast vierzig Jahren fürchtete sich Lydia Huston davor, die Augen zu schließen.

Die alles durchdringende Müdigkeit hatte vor den Wechseljahren eingesetzt, doch ihre Lebenslust war Lydia schon lange vorher abhanden gekommen. Sie aß nur, wenn sie musste, und selbst einfachste Aufgaben traute sie sich nicht mehr zu. In den letzten Monaten hatte sie mit ansehen müssen, wie ihr blonder Bubikopf dünner und ihre sorgsam gepflegte Haut faltig und runzlig geworden war.

In ihrem Albtraum blieb sie natürlich jung. Aber sie war nicht die goldmähnige Debütantin, die sich stolz an den Arm ihres Vaters, des Botschafters, lehnte, nicht die eifrige Braut, die sich an den Arm ihres Mannes, des Kongressabgeordneten, schmiegte, sondern eine junge Mutter, verängstigt und allein, der kein Arm der Welt je wieder den nötigen Halt geben konnte.

In diesem Traum lag das Haus um sie herum im Dunkeln. Trotz der kleinen Zimmer und des schmalen Korridors fand sie ihren Weg nicht. Sie tastete sich an Wänden entlang, stolperte über Teppiche, fiel auf die Knie und verlor dabei endgültig die Orientierung.

Musik ertönte, sie hallte von den Wänden wider und stieg zum Dachboden empor. Arpeggio-Akkorde bauten sich auf und brachen zusammen wie die Wellen einer sturmgepeitschten See. Alle paar Augenblicke blieb Lydia stehen, da sie nicht recht wusste, wo oben und wo unten war, und wagte dann wieder einen Schritt.

Sie stolperte über die unterste Treppenstufe und griff nach dem Geländer, um nicht zu stürzen. Sie setzte einen Fuß auf die Treppe, richtete sich auf und zog den anderen Fuß nach. Ihr wurde erneut schwindelig, und sie griff ins Leere.

Die Musik schwoll an, bis sie in den Ohren schmerzte. Lydia versuchte sie auszublenden und aus der Dunkelheit ein Wimmern, ein Murmeln herauszuhorchen, aber jetzt erklangen Tonleitern, die erst auf-, dann abstiegen, Oktave um Oktave.

Mit Mühe gelang ihr der dritte Schritt. Beim vierten verschwand plötzlich das Geländer, sodass sie beinahe hinfiel. Das Geländer hätte da sein müssen – es war immer dort gewesen. Nicht so an diesem Tag.

An diesem Tag. Nicht in dieser Nacht. Es war Tag, auch wenn kein Licht ins Haus drang. Sie näherte sich dem Ziel, aber nicht schnell genug. Der unsichtbare Musiker begann eine temperamentvolle Polonaise, Liszt oder Chopin. Sie hatte auf einen Walzer gehofft, eine Nocturne, irgendetwas, das die Geräusche von oben nicht übertönen würde. Sie lauschte zwischen den Phrasen, während ausgedehnter Fermaten, und betete, dass sie zwischen den musikalischen Themen jenen einen Laut vernehmen würde, nach dem sie sich am meisten sehnte.

Aber es gab wenig Pausen und keine Geräusche aus dem Obergeschoss.

Sie nahm eine weitere Stufe. Etwas – jemand – streifte sie und hätte sie um ein Haar wieder in die Leere zurückgerissen. Sie warf sich nach vorn und taumelte heftig, und gerade als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, endete die Musik.

Auf dem Boden, knapp unter ihr, lachte jemand. Ein schreckliches, dämonisches Gelächter, dann das Jammern eines Säuglings. Ein dünnes, durchdringendes Gewimmer, gefolgt von der tiefsten Stille, die man sich vorstellen kann.

Sie versuchte dem Weinen zu folgen. Sie versuchte, um Hilfe zu rufen. Und als sie es tat, erwachte sie – wie immer.

„Hey, die Ampel steht schon ewig auf Grün, Großmutter.“

Albträume können eine Frau auch im Wachzustand überfallen, und Lydia war wieder einmal nicht genügend auf der Hut gewesen. Sie trat aufs Gas und schoss auf die Kreuzung, als die Ampel gerade auf Gelb sprang. „Ich kann sehr wohl ohne deine Hilfe fahren, Alex.“

„Na ja, du hast nicht aufgepasst. Und Remy sagt nie was. Sie will, dass ich den Ärger kriege.“

Lydia war durch den Albtraum und das Ereignis, aus dem er sich speiste, ein anderer Mensch geworden. Toleranz und Geduld waren ihr zur gleichen Zeit wie ihre Energie abhanden gekommen, aber meistens gelang es ihr, das zu kaschieren. Sie konnte Gettoschulen besuchen, spontane Dinnerpartys für fünfzig Leute geben und glaubhaft versichern, ihr Ehemann sei ein Gottesgeschenk für den Senat der Vereinigten Staaten. Aber an den Menschen, die sie eigentlich lieben sollte, fand sie keinen Gefallen und keine Freude. Wenn sie sich um ihre Enkel kümmern musste, was die meisten Großmütter nur zu gerne tun, fühlte sie sich so wohl wie in einem Löwenkäfig.

Als sie den Mercedes in die schmale Gasse lenkte, in der Faith wartete, blaffte sie ihren Enkelsohn noch einmal an. „Ich dulde keine weiteren Unverschämtheiten, Alex. Ich habe genug gehört. Deine Schwester will nur ihre Ruhe haben.“ Genau wie ich, fügte sie im Stillen hinzu.

„Du bist immer auf ihrer Seite.“

„Auf ihrer Seite wird wenigstens nicht geboxt und geschubst.“

„Ich habe sie nicht angerührt.“ Pause. „In letzter Zeit nicht.“

Alex war zumindest aufrichtig, das musste sie ihm zugestehen. Sie schaute kurz über die Schulter und betrachtete das rote Wuschelhaar und das breite Gesicht ihres Enkelsohns, der momentan recht missmutig dreinblickte. „Willst du nach Hause laufen? Du bist auf dem besten Wege.“

Er erwiderte nichts. Für den Augenblick zumindest hatte sie gewonnen.

Lydia hielt neben ihrer Tochter an und entriegelte die Tür. Faith’ dunkelblondes Haar schimmerte in der Sommersonne und reichte ihr fast bis auf die Schultern. Sie war blass, hielt sich aber – wie man es ihr als Mädchen beigebracht hatte – gerade wie ein Fahnenmast, und als sie einstieg, brachte sie ihren Kindern zuliebe ein Lächeln zu Stande.

Sie war wohl erzogen, eben ganz Lydias Tochter.

„Hi, ihr beiden. Hattet ihr einen guten Tag?“ Faith drehte sich zu ihnen um.

„Als ob das möglich wäre“, antwortete Remy.

Lydias vierzehnjährige Enkeltochter sah Faith – und damit auch Lydia – ziemlich ähnlich. Remy war zierlich und blond, hatte eine makellose Haut und gerade Zähne, womit sie sich von einigen ihrer Freundinnen deutlich abhob. Lydia hoffte, dass Remy mit diesem gottgegebenen Vorsprung klug umging.

„Und du, Alex?“ fragte Faith.

„Ich darf nichts sagen!“

Faith warf ihrer Mutter einen raschen Blick zu. „Und der Grund dafür wäre ...?“

„Weil er nichts mitzuteilen hat, was wir hören wollen.“

„Wie lange ist er schon im Wagen eingepfercht?“

Lydia schaute ihre Tochter warnend an. „In einem Mercedes auf Einkaufsfahrt zu gehen kann man nun nicht gerade als ,eingesperrt sein‘ bezeichnen.“

„Alex, halt durch“, wies Faith ihren Sohn an. „Wir sind bald zu Hause.“

„Du verwöhnst ihn“, meinte Lydia.

„Wer würde das nicht? Er ist unwiderstehlich.“ Faith zwinkerte ihm zu.

Lydia nahm den Fuß von der Bremse, und das Auto rollte an. Sie fädelte sich in den Verkehr ein. „Übrigens fahren wir nicht nach Hause. Es sei denn, du hast einen zwingenden Grund.“

Faith lehnte sich im Ledersitz zurück. „Wohin geht’s?“

Lydia presste die Antwort heraus, wobei sie die „r“s besonders betonte. „Prospect Street.“

Faith war angemessen überrascht. „Jetzt? Wozu?“

„Das Haus steht leer.“

„Leer? Hast du es nicht an Studenten der Georgetown-Uni vermietet? Das Studienjahr fängt bald an.“

„Sie haben sich aus dem Staub gemacht. Offenbar letzte Woche. Die Verwalterin war dort, um sich um die Reparatur eines Dachfensters zu kümmern – was sie schon vor Monaten erledigen sollte –, und hat das Haus verlassen vorgefunden.“

Lydia wechselte die Spur und beschleunigte, um einen Unfall zu vermeiden. „Ich habe den ganzen Morgen am Telefon verbracht, um die Studenten ausfindig zu machen. Offenbar hat einer von ihnen einen Praktikumsplatz irgendwo außerhalb der Stadt erhalten. Ein anderer ist zu seiner Freundin gezogen. Der dritte im Bunde hat keine neuen Mitbewohner gefunden und pendelt jetzt von Maryland.“

„Und niemand hat es für nötig gehalten, dich zu verständigen?“

„Nach dem ersten Jahr hat die Maklerin den Mietvertrag nicht verlängert. Sie scheint nicht geglaubt zu haben, dass sie sich eine andere Bleibe suchen könnten, weil es ziemlich schwer ist, so nahe an der Universität eine Unterkunft zu finden. Also hat sie sich um den Vertrag keine Gedanken gemacht.“

„Wie steht’s mit der Kaution?“

„Die Studenten hatten ohnehin keine Chance, das Geld zurückzubekommen, also haben sie es gar nicht erst versucht.“

Faith warf Alex, der schon wieder an Remy herumzupfte, einen Blick zu. Lydia hoffte, ihre Tochter würde den Jungen endlich einmal zur Ordnung rufen. Er war rüpelhaft und unhöflich, so gar nicht das Kind, das man bei ruhigen, gesitteten Eltern wie Faith und David erwarten würde. Die Aussicht, dass er und seine Schwester bald bei ihr wohnen würden, vermochte ihr großmütterliches Herz nicht gerade zu weiten.

Faith wandte sich Lydia zu. „Ich nehme an, das Haus ist in einem üblen Zustand?“

„Das ist zwar eine recht drastische Formulierung, aber ich vermute, sie trifft die Sache ziemlich genau.“ Trotz allem, was im Haus an der Prospect Street geschehen war, betrübte dieser Gedanke Lydia. „Ich habe so viel wie möglich aus der Verwalterin herausgequetscht, bevor ich sie gefeuert habe. Aber ich dachte, am besten schaue ich es mir selbst an.“

„Ich verstehe nicht, warum wir mitkommen müssen.“ Remy beugte sich vor. Im Rückspiegel konnte Lydia gerade eben den Kopf ihrer Enkelin sehen. „Ich wollte mit Megan ins Kino.“

„Weil ich keine Zeit habe, euch erst nach Hause zu bringen“, erwiderte Lydia. „Um Himmels willen, Remy. Bei all dem, was ich für dich getan habe, wirst du doch sicher auch mir mal einen Gefallen tun können.“

Remys Kopf verschwand aus dem Spiegel.

Faith dämpfte ihre Stimme. „Mutter, das ist für uns alle eine schwere Zeit. Lass uns bei Remy und Alex im Zweifel für die Angeklagten entscheiden, okay?“

„Ich tue den ganzen Tag lang kaum etwas anderes, im Grunde schon fast den ganzen Sommer über.“ Lydia hörte ihren eigenen scharfen Tonfall und fragte sich einen Moment lang, wer da sprach. Wann hatte sie in ihrem Inneren Platz für diese Stimme geschaffen? Wann hatte sich die sanfte, leise junge Frau in die zänkische, gefühllose Matrone verwandelt?

Die Antwort war einfach. Die Transformation hatte in der Prospect Street begonnen.

„Wir sind alle dankbar für deine Hilfe“, sagte Faith, aber irgendwie klang es nicht aufrichtig. Sie wirkte verwundet und verwundbar, wie wohl jeder Mensch in einer solchen Situation. Das Leben, das sie sich aufgebaut hatte, war vorüber, und ihre Zukunft konnte ungewisser nicht sein.

Lydia suchte tief in ihrem Inneren nach einem Überrest jener sanfteren Person. „Nach Georgetown zu kommen ist mir nie leicht gefallen. Ich wollte ...“ Sie wusste nicht weiter.

„Es tut mir Leid. Wir sind froh, dass wir dich begleiten und unterstützen können.“ Faith berührte ihre Mutter am Arm. „Ich zumindest. Die Kinder sind dann eben unsere Gefangenen.“

Lydia erinnerte sich, wie Faith ihr als ganz kleines Mädchen die Finger auf den Arm gelegt hatte. Wie sie ihre Mutter aus riesengroßen Augen angesehen hatte, als hielte Lydia die Antworten auf alle Fragen des Lebens parat. Lydia erinnerte sich, wie sie die winzige Hand abgeschüttelt hatte, aus Furcht, aus der übermächtigen Furcht, dass die Antworten, die sie in ihrem kurzen Leben gefunden hatte, ihre Tochter zerstören könnten.

Sie fädelte sich in die Abbiegerspur ein, um über die Chain Bridge nach Washington D. C. zu fahren. „Es wird nicht lange dauern. Heute kann ich ohnehin nichts tun. Ich muss mir nur einen Überblick verschaffen. Warum ist das alles ausgerechnet jetzt passiert? In ein paar Wochen fängt das Studienjahr an, und bis dahin können größere Reparaturen nicht mehr erledigt werden. Wahrscheinlich finde ich erst zum zweiten Semester neue Mieter.“

„Ich wünschte, du würdest das Haus einfach verkaufen“, sagte Faith. „Ich habe nie begriffen, warum du es behältst.“

„Dieses Haus gehört unserer Familie seit seiner Erbauung, und eines Tages wirst du es besitzen. Hoffentlich wird Remy es irgendwann erben.“

Faith beugte sich zu ihrer Mutter hinüber. „Es ist den Schmerz nicht wert, den es verursacht.“

Lydia bremste ab und überquerte die Brücke im Schritttempo, in einer Autoschlange, die sich bis ins Herz der Hauptstadt fortzusetzen schien. Dann zwang der Stau sie zum Halten. „Du verstehst es wirklich nicht, was?“

„Sorry, nein.“

Lydia wandte sich ihrer Tochter zu. „Die Prospect Street war der Ort, an dem ich deine Schwester zuletzt gesehen habe. Wie könnte ich dieses Haus an Fremde verkaufen, Faith? Wie könnte ich das je tun?“

3. KAPITEL

Das Reihenhaus in der Prospect Street war im modifizierten Federal-Stil aus rotem Backstein gebaut – aber diese Klassifizierung wurde ihm nicht gerecht. Es war gut ein Jahrhundert alt, hatte wechselnde politische Verhältnisse überlebt und lehnte sich behaglich an seine Nachbarn – wie eine alte Dame der besseren Gesellschaft, die sich nur unter ihresgleichen im Frauen-Club so richtig wohl fühlt.

Auf Faith übte das Haus eine dunkle Anziehungskraft aus. Sie war selten hier gewesen, aber jeder Besuch hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. In ihrer Kindheit waren ihr die Decken so hoch wie Wolken erschienen. Als Teenager war ihr dieses Denkmal der Tragödie, die ihre Familie heimgesucht und sie selbst ein für alle Mal „anders“ gemacht hatte, unangenehm gewesen. Als junge Mutter hatte sie mit ihren Kindern stets einen großen Bogen um Georgetown gemacht, da sie nicht daran erinnert werden wollte, dass man letzten Endes herzlich wenig Kontrolle über das Schicksal seiner Liebsten besaß.

„Ich bin schon sehr lange nicht mehr in der Prospect Street gewesen“, erklärte Faith ihrer Mutter, die zum Glück nur anderthalb Blocks vom Haus entfernt eine Parklücke gefunden hatte und den Wagen nun hineinmanövrierte.

„Du hattest auch keinen Grund.“

„Alex und Remy kennen es noch gar nicht von innen, oder?“ Sie sah ihren Sohn und ihre Tochter an und versuchte, vergnügt zu klingen. Remy verdrehte die Augen. Alex’ Miene hellte sich bei der Aussicht, dem Auto für eine Weile zu entkommen, allmählich auf.

„Darf ich schon aussteigen?“ wollte er wissen.

Faith überraschte die Frage ihres Sohnes, und sie verbuchte sie als eines der wenigen guten Zeichen dieses Tages. „Wenn du in unserer Nähe bleibst. Keine Expeditionen!“ Sie zuckte zusammen, als seine Autotür über den Bordstein schabte.

„Ich gehe nicht mit rein“, sagte Remy. „Ich muss Megan anrufen. Kann ich dein Handy haben?“

„Darf ich“, verbesserte Lydia sie. „Und du wirst mit hineinkommen, Remy. Ich will nicht, dass du hier alleine herumhockst. Wir sind in der Stadt, und hier sitzen hübsche Mädchen nicht allein in Autos und warten auf Gott-weiß-wen.“

Faith war eigentlich anderer Meinung. Georgetown wurde von weit weniger Verbrechen heimgesucht als die Innenstadt von Washington, und es liefen so viele Leute die Prospect Street entlang, dass ein Schwerverbrechen am helllichten Tag sehr unwahrscheinlich zu sein schien.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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