Irische Ballade - Emilie Richards - E-Book

Irische Ballade E-Book

Emilie Richards

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Beschreibung

Nur zu gern nimmt die 23jährige Peggy die Einladung ihrer Tante an, einige Wochen auf dem ehemaligen Familiencottage in Irland zu verbringen. Sie hofft, dort ein wenig Ruhe für sich und ihren an Autismus leidenden Sohn Kieran zu finden. Doch schon bald schlägt nicht nur das Land ihrer Vorfahren Peggy in ihren Bann, sondern auch der unzugängliche Finn O'Malley. Der ehemalige Arzt kommt nicht über den tragischen Tod seiner Frau hinweg, an dem er sich die Schuld gibt ... Peggy bemüht sich vergeblich um den attraktiven Mann - bis es ihre eigene, fast hundert Jahre zurückliegende Geschichte ist, die die beiden einander unvermutet näher bringt. Ein zärtlicher Roman um die schicksalhafte Begegnung zweier Menschen, die über Kontinente hinweg füreinander bestimmt sind.

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Seitenzahl: 851

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen

Emilie Richards

Irische Ballade

Roman

Aus dem Amerikanischen von Sindy Ganas

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Parting Glass

Copyright © 2003 by Emilie Richards McGee

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V, Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Claudia Wuttke

Titelabbildung: Getty Images, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-299-4 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-298-7

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

PROLOG

1923

Castlebar, County Mayo

Mein lieber Patrick,

so viele Jahre schon sind wir durch so viele Meilen getrennt, teurer Bruder. Dabei waren die McSweeneys doch über die Jahrhunderte immer eine traute Familie, in der jeder den anderen gut kannte und niemand sich einsam fühlen musste. Denn was sonst war von Bedeutung? Was kann wichtiger sein als die Familie, das Land und die Kirche? Alles andere ist wie die Butter auf dem Brot, lediglich eine zusätzliche Freude, doch nicht die eigentliche Nahrung des Lebens.

Nun sind die Unseren wie Schiffsballast an weit voneinander entfernten Küsten verstreut. Du in Ohio, unsere geliebten Schwestern in Australien, in Nova Scotia und im Grabe. Wir sind alt, die letzten Verbliebenen und durch weit mehr als nur Meilen getrennt. Jetzt kennen wir uns kaum noch. Die neue Fotografie, die man in St.Brigid’s für dich hat anfertigen lassen, habe ich erhalten, und ich danke dir dafür. Aber was ist mit dem jungen Mann geschehen, den ich kannte, dieser hoch gewachsene Bursche, der sich so aufrecht hielt? Wo ist der Priester geblieben, dessen Augen Feuer sprühten und der voller Lebenskraft voranschritt? Hat er den Weg eingeschlagen, auf dem ich mich selbst auch befinde? Diesen Pfad, der nur zu einem Ziel führt?

Ich kann mir dich einfach nicht als alten Mann vorstellen, mein lieber Patrick. Du zelebrierst die Messe lediglich an Feiertagen, nimmst nur noch selten die Beichte ab, liest jeden Tag stundenlang und denkst nach?

Woran genau denkst du nun in deiner freien Zeit, mein Bruder? An die Jahre, die du hinter dir hast? An die grüne Insel deiner Geburt? An unsere so sehr geliebte Heimaterde, auf der die McSweeneys nie wieder etwas anbauen werden?

Vielleicht, wenn ich geheiratet hätte, könnte ich Besseres mit meiner Zeit anfangen. Ich hätte Enkelkinder und Urenkel, die ich stolz auf meinen Knien schaukeln würde. Stattdessen, ohne jegliche Nachfolger, denke ich nun an die Familie, aus der ich komme, an dich und Ciara und Selma, an die liebe Una, die nur so kurze Zeit unter uns weilte. Nicht einer davon mit einem eigenen Spross, doch einer stolzen Reihe von verblichenen Vorfahren.

Noch immer erinnere ich alles, auch wenn ich mich bereits in der letzten Phase meines Lebens befinde. Ich höre die Lieder und das Lachen, rieche das duftende Brot im Steinofen, vernehme das Blöken der Schafe auf unseren Weiden. Auch diesen kleinen Kerl sehe ich vor mir, der an meinen Röcken zupfte und mit seiner lispelnden Kinderstimme die Gebete aufsagte. Der sich aus Angst vor dem Butzemann hinter verschlossenen Türen versteckte, wenn über den Sümpfen von Mayo der kalte Nebel aufstieg.

Wie glücklich kann ich mich schätzen, dass ich diese Erinnerungen besitze, die mir Trost spenden. Welch ein Segen für uns alle, aus einer so wunderbaren Familie zu kommen. Das, mein lieber Patrick, kann uns niemand mehr nehmen. Egal wie viele Jahre uns nun schon trennen, Du und all unsere Lieben werden immer in meinem Herzen sein.

Deine Schwester,

1. KAPITEL

Peggy Donaghue vermied es nach Möglichkeit, den Parkplatz des Whiskey Island Saloon zu benutzen. Was nicht gerade einfach war, weil der direkt vor ihrem Haus lag. An Tagen, wo sie keine Lücke auf der Straße fand, nutzte sie notgedrungen die reservierte Stelle in der Nähe des Hintereingangs und hastete von dort zur Küchentür. Sie war nicht abergläubisch. Doch man musste das Schicksal auch nicht herausfordern.

Es sei denn, die Umstände verlangten es.

Der junge Mann direkt hinter ihr räusperte sich. „Ganz schön stürmisch, Miss D. Sie brauchen nicht hier draußen zu bleiben. Es wird schon nichts passieren, ich versprecht Ihnen.“

Peggy strich sich das lange kastanienbraune Haar zurück und drehte es zu einem Pferdeschwanz, damit ihr die Strähnen nicht ins Gesicht wehten. Über die Schulter blickte sie zu dem großen, schlaksigen Jungen, der sich offensichtlich unwohl in seiner Haut fühlte und ihr nicht in die Augen sah. Das konnte sie verstehen. Josh hatte zum ersten Mal ein Auto gestohlen. Und er hoffte, genauso wie Peggy, dass der Besitzer das Verschwinden seines brandneuen Honda Civic nicht bemerkte.

„Ich vertraue dir, Josh. Und sogar denen da.“ Peggy deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung einer Gruppe von vier Jugendlichen, die gerade an dem Auto klebte wie die heiße Butter am Pierogi Spezial vom Freitagsmenu des Saloons. „Aber ich bleibe hier, für den Fall, dass sie mich brauchen.“

„Nick hat sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Wenn er so drauf ist, kriegt er nichts mit. Er wird’s nicht erfahren.“ Joshs Tonfall verriet, dass er sich nicht ganz so sicher war, wie er behauptete.

„Er hat wahrscheinlich jede Menge zu tun, bevor er wegfährt.“

Peggy entdeckte eine wohlbekannte Gestalt, die zwischen den Reihen von geparkten Wagen auf sie zukam. Die schlanke Rotblonde war unverwechselbar – und gehörte zur Familie. „Oh, oh, man hat uns erwischt“, sagte sie In Ihrer besten Jimmy-Cagney-Imltatlon. „Jetzt droht uns der Galgen, Scarface.“

Joshs bleiche Wangen röteten sich. „Ich muss abhauen. Winston wird dafür sorgen, dass alles funktioniert. Falls Nick doch was merkt, verschwinde ich lieber ...“

Peggy winkte ihn weg. „Geh schon. Ich höre mir den Vortrag allein an.“

Josh war die Erleichterung anzusehen, und er machte sich davon. Dabei vermied er, Peggys älterer Schwester zu begegnen, indem er an der hinteren Autoreihe vorbeischlich und sich seinen Weg über verstreute Plastikbeutel und Zeitungspapier aus einem umgekippten Abfallcontainer bahnte.

Casey Donaghue Kovats stellte sich neben Peggy und beobachtete einen Moment die Gruppe von Jugendlichen, die eine Reihe von Feuerwerkskörpern an der hinteren Stoßstange von Niccolo Andreanis Wagen befestigte. Der silberfarbene Civic war in der Nähe des Hintereingangs zum Saloon geparkt, sodass man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte.

„Du lässt zu, dass die Kids Feuerwerkskörper ans Auto hängen? Hast du nicht beim Notfalldienst gearbeitet, um zu wissen, wie gefährlich die Dinger sind?“

„Kein ,Hallo, wie geht’s, ist es nicht ziemlich windig heute’?“

„Peggy, bist du verrückt geworden?“

„Feuerwerkskörper sind gefährlich, ja. Das sind aber nur Knallfrösche, und die können nicht mehr Schaden anrichten als Blechbüchsen oder alte Schuhe.“

„Megan wird einen Anfall kriegen.“

„Das hoffe ich doch. Wir haben uns ganz schön viel Mühe gegeben.“ Peggy winkte einem der Jugendlichen zu, ein hübscher Afro-Amerikaner mit sorgfältig frisierten Rastalocken, der eine Rolle Klebeband über das Handgelenk geschoben hatte. „Winston, kannst du bitte mal Casey davon überzeugen, dass Nicks Auto nicht in die Luft geht?“

Der Junge verließ seinen Posten, von dem aus er die Aktionüberwacht hatte, und kam zu den beiden Schwestern herüber. „Echt, Miss K. Da passiert nichts, wird nur ein bisschen krachen.“

Casey sah immer noch nicht überzeugt aus. „Ich vertraue ja deinen Fähigkeiten, Winston, wirklich, aber was ist, wenn – ich weiß, die Chancen sind gering –, was ist, wenn was schief geht?“

„Kann nicht. Wir haben’s gestern ausprobiert.“

„Gestern?“ fragte Peggy erstaunt. Davon hatte sie nichts gewusst.

„Ja, bei einer Hochzeit. Da unten in der Baptistenkirche.“

„Bekannte von dir?“

Winston zuckte mit den Schultern. „Hab dabei jedenfalls ‘ne Menge gelernt. Zum Beispiel sollte man die Knallfrösche nicht an dieselbe Stoßstange binden wie die Luftballons, wenn man nicht unbedingt eine riesen Sauerei veranstalten will.“

Peggy unterdrückte ein Grinsen. „Siehst du? Ich hab dir doch gesagt, dass ein Meister am Werk ist.“

Winston verschwand schnell wieder, um seinen Job zu Ende zu führen, als er Caseys genervten Blick sah. „Ich begreife sowieso nicht, warum Nick seinen Wagen ausgerechnet vor dem Saloon stehen lässt.“

„Macht er auch nicht. Josh hat das Auto vor einer halben Stunde hergebracht. Nick weiß noch nichts davon.“

„Und wie kommt er dann in die Kirche?“

„Ich dachte, er könnte laufen. Ist doch nur ein paar Häuserblocks entfernt.“

Ein heftiger Windstoß warf Peggy fast um, sodass sie gegen Casey prallte und im gleichen Moment Zweifel an ihrem Vorschlag bekam. Der Himmel wurde immer dunkler, und Sturm kam auf. Bei der Wettervorhersage für den heutigen Frühlingstag war am Morgen noch von leichtem Wind und eventuell aufkommendem Regen die Rede gewesen. Aber schließlich lebten sie in Cleveland. Sicher war nur, dass es Wetter gab. Wie genau es sich nun entwickelte, wusste nur Gott allein.

„Ich würde ihm ja meinen Wagen leihen, aber ich hab keinen mehr“, sagte Peggy.

„Musst du mich daran erinnern, dass du morgen ans andere Ende der Welt fährst? Als wenn ich nicht schon so ständig daran denken würde.“

Peggy ging nicht auf diese Bemerkung ein. „Jon könnte Nick ja zur Kirche fahren. Rufst du ihn an und fragst?“

Jon war seit knapp einem Jahr mit Casey verheiratet und bot seine Hilfe an, wann immer er konnte. „Es macht ihm bestimmt nichts aus. Wenigstens wird er bei diesem Sturm nicht von der Straße geweht. Jon kann selbst auf sich aufpassen.“ Casey lächelte. Peggy fiel auf, dass Casey das in letzter Zeit ziemlich oft tat. Grinste zu jeder passenden Gelegenheit und lächelte geheimnisvoll, auch wenn es keinen offensichtlichen Grund gab. Die Ehe tat ihr gut.

Peggy und Casey waren vor über zwei Jahren in ihre Heimat zurückgekommen, zwei verlorene Seelen auf der Suche nach einem Platz zum Unterkriechen. Jetzt war Peggy Mutter eines Jungen, Casey hatte ihren besten Freund geheiratet, und Megan, die den Familien-Saloon führte, würde nun ebenfalls bald Ehefrau.

Das, was zunächst wie ein dreifaches Happy End klang, war es natürlich nicht. Nicht ganz. Jede der drei Schwestern hatte noch immer mit handfesten Problemen zu kämpfen, doch Peggy wollte nicht darüber nachdenken. Jedenfalls im Moment nicht. Heute gehörte der Tag allein Megan.

„Erinnerst du dich daran, wie wir das letzte Mal so auf dem Parkplatz gestanden haben?“ fragte Casey, als hätte sie erraten, was in Peggys Kopf vorging. Die beiden Schwestern hatten schon immer Peggys Gedanken lesen können.

„Ja, wir wurden mit Waffen bedroht. Und Niccolo hat uns gerettet. Jetzt heiratet er unsere Schwester. Schon merkwürdig, wie sich die Dinge entwickeln, was?“

„Ich hab schon mal reingesehen. Unglaublich, was sie da drinnen gemacht haben.“

Mit „sie“ war die Donaghue-Familie gemeint – und alle in Cleveland, die dazugehörten oder – gehören wollten. Eine beachtliche Ansammlung von Freunden und Familienangehörigen war heute Morgen erschienen, um den Saloon zu putzen und auszuschmücken, in dem nach der Trauungszeremonie in St.Brigid’s der Empfang stattfinden sollte.

Peggy sah auf die Uhr. „Ich muss noch tausend Sachen erledigen, bevor Kieran aufwacht.“ In seinem alltäglichen Lebensrhythmus war Peggys kleiner Sohn pünktlicher als eine Atomuhr.

„Du hast immer noch vor, ihn mit einem Babysitter oben in der Wohnung zu lassen?“

„Er wird sich da wohler fühlen. Es ist für alle am besten so.“

„Der alte Saal sieht großartig aus. So wie früher in unserer Kindheit, wenn Mom Empfänge für die Hochzeiten in der Familie organisiert hat. Megan wird es bestimmt gefallen.“

Peggy dachte da anders. Irgendwann würde ihre älteste Schwester Megan bestimmt dankbar, ja womöglich auch sehnsüchtig an diesen Tag zurückdenken. Aber heute bemerkte sie wahrscheinlich gar nichts. Allen Anzeichen nach zu urteilen, absolvierte Megan die ganze Trauungszeremonie und den Empfang anschließend wie eine Verurteilte, die gerade dazu verdonnert worden war, den Rest ihres Lebens als Barkeeperin zu verbringen.

Casey grinste. „Na gut, vielleicht ist sie nachher ein bisschen nervös, und es könnte sein, dass ihr dieses und jenes Detail entgeht ...“

„Komm schon, wir dürfen uns glücklich schätzen, wenn sie nur wie im Wachkoma durch die Gegend läuft. Ich wunder mich, warum die beiden nicht durchgebrannt sind.“

„Sie wollte kein schlechtes Vorbild sein.“

„Für wen?“ Im gleichen Moment, wo Peggy es ausgesprochen hatte, war ihr bereits klar, für wen. „Für mich? Hat sie Angst, wenn sie durchbrennt, dass ich es ihr irgendwann nachmache?“

„Zum Teil schon.“

„Unglaublich.“

„Und ich denke, Nick wollte eine richtige Hochzeit haben“, fügte Casey dazu, bevor Peggy sich weiter darüber auslassen konnte. „Und dass seine Kids dabei sind. Denen gefällt so was, auch wenn sie es niemals zugeben würden.“

Bei den besagten Kids handelte es sich um eine Gruppe Jugendlicher, von denen einige gerade ohne Rücksicht auf Verluste Niccolos Auto dekorierten. Zusammen waren es über ein Dutzend gefährdete, aber im Grunde liebenswürdige Heranwachsende, die zu einer Organisation mit dem Namen „Stein auf Stein“ gehörten. Niccolo Andreani, der den Laden schmiss, war Leiter, Gründer und Mädchen für alles.

„Also veranstaltet Megan diese Hochzeit hauptsächlich für die anderen?“

„Sie will nicht darüber reden, es ist also nur meine Vermutung. Aber du weißt, dass sie völlig fertig ist, seit sie Nicks Heiratsantrag angenommen hat. Sie betet ihn an, deshalb wird sie es wohl kaum bereuen. Ich glaube einfach, dass sie nicht so gern im Mittelpunkt steht. Am zufriedensten ist sie ja, wenn sie bei allen anderen aus dem Hintergrund die Fäden ziehen kann.“

„Na, es wird Zeit, dass sie mal drankommt, ob es ihr gefällt oder nicht.“ Peggy sah auf ihre Uhr. Es war zehn, um eins fand die Trauung statt. „Was steht denn bei dir noch auf dem Programm heute Morgen?“

„Ungefähr tausend Sachen, bevor ich Megan beim Ankleiden helfe, inklusive Friseurtermin.“

„Also ich hab ungefähr ein Dutzend mehr. Dann muss ich mich umziehen, Kieran fertig machen ...“

„Und packen.“

„Ich hab alles so weit fertig. Tante Dee kam heute Morgen und hat unsere Koffer mitgenommen. Ich kann also heute Abend nach dem Empfang alles saubermachen, ohne dass sie mir im Weg stehen. Megan hat wegen des Apartments schon eine Anzeige aufgegeben.“ Peggy versuchte eine Diskussion über ihre bevorstehende Abreise zu vermeiden. Es hatte bereits Dutzende derartiger Auseinandersetzungen gegeben, alle vergeblich, seit sie angekündigt hatte, für ein Jahr nach Irland zu gehen. „Ich werde mich besser gleich in Bewegung setzen. Kieran muss wirklich jeden Moment aufwachen ...“

Ein heftiger Windstoß riss sie fast von den Füßen, und diesmal prallte sie mit voller Wucht gegen Casey. Peggys Aufschrei wurde von einem ohrenbetäubenden Krachen begleitet. Zuerst hatte sie gar nicht mitbekommen, was passiert war. Dann drehte sie sich ängstlich zum Wagen um und sah das Desaster.

„Alles weg vom Auto! Sofort!“ Wie auf Kommando rannten die beiden Schwestern los. „Der Baum ...!“

Winston und seine Crew waren nicht gerade zimperlich, aber sie wussten, wann man sich besser in Sicherheit brachte. Instinktiv stoben sie auseinander, als es von dem riesigen Ahornbaum, unter dem Niccolos neuer Civic parkte, Blätter regnete. Ein lautes Kratzen ertönte, als würde ein Riese seine Fingernägel über eine überdimensionale Tafel ziehen. Dann beobachtete Peggy entsetzt, wie der mächtige Baum in zwei Teile zerfiel.

Mit einem donnernden Krachen, gefolgt von einem metallischen Quietschen, fiel die eine Hälfte auf Niccolos Wagen und zerdrückte Dach und Motorhaube. Die andere Hälfte des Baumes verharrte noch bedrohlich schwankend in der Luft. Nicks Auto sah aus wie ein zerquetschtes Sandwich, das man aus der Schultasche eines Teenagers gefischt hatte.

Peggy überprüfte hektisch die Anzahl der Jugendlichen. Der Baum war gerade noch langsam genug gestürzt, um den Kids die Flucht zu ermöglichen. Sie waren mit dem Schrecken davongekommen.

„Keiner ist verletzt“, bemerkte sie. Dann wiederholte sie den Satz noch mal als Frage und bekam von allen die Bestätigung, dass ihnen nichts passiert war. Winston scheuchte die Gruppe ans andere Ende des Parkplatzes, wo sie aufgeregt durcheinander schrien und auf den Wagen zeigten.

„Er hat den Saloon nicht getroffen“, stellte Casey mit zittriger Stimme fest. „Aber die Küchentür können wir ohne Hilfe nicht mehr öffnen. Die Tür geht nach außen auf und ist vom Baumstamm blockiert.“

„Wen interessiert denn jetzt die Tür?“ rief Peggy gegen den immer stärker tobenden Sturm. „Was ist mit Nicks Wagen? Wie bringen wir’s ihm bei? Und womit sollen die beiden in die Flitterwochen fahren?“

„Na ja ... sie können sich mein Auto für die Reise ausleihen. Jon und ich kommen solange mit einem aus, bis sie wieder zurück sind.“

„Bleibt immer noch, es ihm beizubringen.“

„Ja? Und wann genau?“

Peggy überlegte. Sie handelte von den Schwestern sonst immer am rationalsten, aber im Moment war sie nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. „Würdest du denn so was kurz vor deiner Hochzeit erfahren wollen?“

„Besser nicht.“

„Können wir die Kids dazu bringen, den Mund zu halten?“

Casey blickte über die Schulter zurück, und ein Windstoß fegte ihr die Haare ins Gesicht. „Winston wird dafür sorgen. Außerdem war es sicher seine Idee, den Wagen hierher zu bringen. Ich wette, er möchte sein Geständnis so lange wie möglich rausschieben.“

Die Familienmitglieder und Freunde kamen aufgeregt durch den Vordereingang aus dem Saloon gestürzt.

„Beim Heiligen Patrick! Wir sollten besser den Baumdienst rufen!“ schrie jemand.

„Holt einen Abschleppwagen!“

„Jeder vernünftige Mensch würde den Empfang abblasen“, bemerkte Casey.

Peggy begann zu zittern, als ihr klar wurde, wie viel Glück alle gehabt hatten. „Du hast es ja schon festgestellt. Der Hintereingang ist blockiert. Von Rechts wegen müssten wir den Laden schließen.“

Casey legte Peggy den Arm um die Schulter. „Das ist das Gute an den Donaghues. Keiner von den Gästen wird uns anzeigen.“

„Meinst du, wir könnten den Parkplatz der Stadt überschreiben und die Familie ein für alle Mal davon befreien?“

Zwei Stunden später starrte Megan Donaghue in den hohen Standspiegel des Kleiderschranks in Caseys Schlafzimmer. Eine schlecht gelaunte Frau in einem schlichten elfenbeinfarbenen Seidenkleid blickte ihr entgegen. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich dazu hab überreden lassen können. Ich sehe ja aus wie ein Lampenschirm.“

„Du siehst fantastisch aus“, sagte Casey, die auf dem Fußboden hockte. „Und an diesem Kleid gibt es kein bisschen Flitter. Wenn es noch einfacher wäre, könnte man ja glatt Slip dazu sagen.“

„Ich sollte ein Kostüm tragen. Das Problem ist nur, dass ich im Kostüm wie ein Pinguin aussehe. Wieso hast du nur diese Beine und Peggy so herrliches glattes Haar und ich...“ Sie brach ab. „Gar nichts. Aber auch nicht das Geringste.“

„Offensichtlich ist Nick der Meinung, dass du das ausgleichende Element bist. Und wenn du jetzt nicht ruhig stehen bleibst, landet meine Nähnadel aus Versehen irgendwo, wo sie nicht hingehört.“

Megan kannte ihre Schwester, deshalb hielt sie still. Außerdem schien Casey heute Morgen ungewöhnlich gereizt. Sie wollte das Schicksal lieber nicht herausfordern. „Vielleicht ist das ja nur so ein Moment. Du weißt schon, vielleicht sind wir da einfach reingerutscht und immer tiefer hineingeraten, bis er irgendwann nicht mehr wusste, wie er sich wieder rausmanövrieren soll. Womöglich hat er versucht, mir zu sagen, dass er mich nicht heiraten will, und ich hab nicht hingehört.“

„Megan, Niccolo hat dich zwei Jahre klang bekniet, ihn zu heiraten. Du wolltest nie was davon wissen. Dann hast du irgendwann keine Ausreden mehr gehabt, und hier bist du.“ Casey stach die Nadel in den Teil des Saums, der noch nicht umgenäht war.

Megan starrte ihr Spiegelbild an. Sie hatte gehofft, dass wenigstens an ihrem Hochzeitstag eine sinnliche Rothaarige mit einladendem Gesichtsausdruck und vollen Brüsten dort zu sehen sein würde. Mit richtigen Brüsten, die ihren Ausschnitt ausfüllten, verführerisch und vielversprechend. Stattdessen stand dort eine ziemlich kleine, schmale Figur mit einem ovalen Gesicht. Zugegeben, an diesem Gesicht war eigentlich nichts auszusetzen: Die bernsteinfarbenen Augen waren groß, ihr Ausdruck offen. Und die hellroten Locken hatte Caseys Friseur mehr oder weniger in Form gebracht.

„Was findet er denn bloß an mir, Casey? Ich meine, Nick ist ein gut aussehender Mann. Schließlich bin ich ja nicht blind. Einige würden ihn sogar als unwiderstehlich bezeichnen. Ich hab einen Push-up-BH angezogen, die Wimpern getuscht, und trotzdem ist meine erotische Ausstrahlung gleich null.“

„Megan, bitte frag ihn nicht während der Flitterwochen, was er an dir findet, okay? Das tötet nur die Leidenschaft, womöglich lacht er sich noch halb tot deshalb.“

„Warum tu ich das denn?“ Megan zupfte eine widerspenstige Locke zurecht. Man hatte sie regelrecht in diese Hochzeitsboutique zerren müssen, bevor sie sich dann für das einfachste Kleid, das dort zu finden gewesen war, entschieden hatte. Allerdings hatte sie niemand dazu überreden können, einen Schleier zu tragen. Dafür zierte nun ein Zweig mit orangefarbenen Seidenblüten ihr kurzes Haar und drohte an einen unbekannten Ort zu verschwinden, wenn sie weiterhin so den Kopf schüttelte.

„Lass mal sehen.“ Casey schnitt den Faden ab und lehnte sich zurück, um ihre Schwester zu betrachten. „Warum du das machst? Vielleicht weil du ihn liebst, obwohl du selbst absolut keine Liebe verdient hast?“

„Sehr komisch, Case.“

„Wenn es keine Liebe ist, womöglich ja einfach guter Sex? Oder brauchst du etwa jemand, der die Leitung repariert, wenn das Wasser tropft?“

„Ich weiß, wie man einen Wasserhahn dicht macht.“

„Dann also doch Sex.“

„Dafür muss man nicht heiraten.“

„Dann sag du’s mir.“

„Ich mach das alles mit, weil Nick mit dem einfachen Zusammenleben nicht glücklich war. Er glaubt an Liebe und Heirat.“ Megan blickte verärgert auf die falsch sitzende Haarlocke und zupfte sie noch einmal energisch zurecht.

„Also ein Romantiker?“

„Er war Priester.“ Megan holte einmal tief Luft und atmete langsam aus. „Er ist immer noch tief religiös. Es hat ihm nie besonders gepasst, dass wir einfach so zusammen wohnen. Er braucht Gelübde und den Segen der Kirche.“

„Du machst es demnach nur ihm zuliebe.“ Casey stand vom Boden auf und ging zum Schrank, um ihr eigenes Kleid herauszuholen. „Gratuliere. Du bist ja die reinste Märtyrerin. Die Kirche reserviert für Leute wie dich einen extra Platz im Himmel.“

Megan wartete schweigend, bis ihre Schwester Shorts und T-Shirt abgelegt und Slip und Strumpfhose angezogen hatte. Casey schlüpfte in ihr Brautjungfernkleid und drehte ihr den Rücken zu. „Kannst du mal den Reißverschluss zumachen?“

Megan tat ihr den Gefallen. Die feurigrote Seide hatte fast die Farbe von Caseys Haar, das ihr normalerweise in fülligen Locken auf die Schulter fiel, heute jedoch in einem französischen Zopf mit eingeflochtenem zarten Seidenband gebändigt war.

Alle drei Donaghue-Schwestern hatten rotes Haar, doch ansonsten sahen sie sich nicht besonders ähnlich. Peggy, mit ihrem ovalen Gesicht und den großen bernsteinfarbenen Augen, konnte man als makellose Schönheit bezeichnen. Ihre Gesichtszüge waren feiner geschnitten als die ihrer Schwestern, und sie besaß einen sehr weiblichen Körper, besonders seit ihrer Schwangerschaft.

Casey sah eher interessant aus als schön, doch sie brachte ihre unregelmäßigen Züge, das helle Haar und ihre schmale Modelfigur durch aufregende, ausgefallene Kleidung und raffiniertes Make-up gut zur Geltung. Casey erregte immer großes Aufsehen.

Und dann Megan. Die sensible, zurückhaltende Megan, die sich in ihren Khakihosen und einem grünen Polohemd am wohlsten fühlte, wenn sie im Saloon der Familie arbeitete. Heute kam sie sich vor wie ein kleines Mädchen, das Verkleiden spielte. Ein besonders unbeholfenes kleines Mädchen.

„Das ist das Problem“, sagte Megan schließlich. „Ich tu’s nicht nur für Nick. Ich glaube auch an die Ehe. Zumindest theoretisch.“

„Als wir noch Kinder waren, hast du nicht gerade viele glückliche Paare um uns herum als Beispiel gehabt. Und du hattest zu viel mit uns zu tun, um irgendwas anderes mitzubekommen.“

„Mom und Rooney waren zeitweise glücklich.“

„Ja, sicher, wenn er nicht gerade unter Halluzinationen litt. Dann ist Mutter gestorben, und er drehte vollkommen durch und verschwand in unbekannte Sphären. Alles blieb an dir hängen.“

„Es gibt eine Menge glücklicher Ehen in der Familie. Sieh dir doch Tante Deirdre und Onkel Frank an.“

Casey ging zum Spiegel, um ihr Make-up zu überprüfen. „Du warst so sehr damit beschäftigt, dein Revier zu verteidigen, dass du nicht darauf achten konntest.“

Casey hatte wohl Recht. Rooney, ihr Vater, hatte die Familie verlassen, als Megan erst vierzehn gewesen war. In den folgenden Jahren hatte sie ihre ganze Kraft aufgebracht, um den Familien-Saloon am Laufen und ihre Geschwister zusammenzuhalten. Dass sie von ihrem Vater verlassen worden war, hatte tiefe Narben bei ihr hinterlassen. In der ersten Zeit war Niccolo derjenige gewesen, der es zu spüren bekam.

„Ich hab ziemlich darunter gelitten, ich weiß“, sagte Megan. „Aber das Schlimmste ist überwunden. Ich bin jetzt ein großes Mädchen. Mir ist auch klar, warum Rooney abgehauen ist. Und ich bin froh, dass wir ihn wiederhaben – mehr oder weniger jedenfalls. Er konnte eben nicht anders.“

Casey sah sich zu ihr um. „Wenn sich jeder Gesunde solche Mühe gäbe wie Rooney, würde die Welt sicher anders aussehen.“

„Es geht nicht darum, ob ich genug glückliche Ehen als Beispiel habe oder nicht“, platzte Megan schließlich heraus, „es ist die eine, die ich sehe. Deine. Das macht mir in letzter Zeit Sorgen.“

„Wie meinst du das?“

„Du und Jon. Ich weiß nicht, wie ihr das schafft. Ihr beide seid so glücklich wie noch nie. Bei euch sieht es so aus, als brauchtet ihr euch nicht mal dafür anzustrengen.“

„Jon und ich waren schon in der Highschool befreundet.“ Casey zog Megans Kleid vorn am Ausschnitt ein wenig nach unten und gab ihrer Schwester einen Klaps auf die Hand, als die es wieder hochziehen wollte. „Aber was hat das denn mit euch zu tun? Du liebst Nick. Du magst ihn. Wo ist das Problem? Du hast doch, was du brauchst, oder?“

„So wie du es sagst, klingt es einfach, aber das ist es nicht. Ich nehme die Ehe nicht so leicht wie du und Jon. Das geht mir bei allem so, ich hab diese Gelassenheit nicht. Ich glaube, Nick geht es genauso.“

„Jeder muss was dafür tun, dass eine Ehe gut läuft. Vielleicht sieht es bei mir und Jon einfach aus, aber ich kann dir sagen, dass wir auch ein paar ziemlich harte Auseinandersetzungen hatten.“ Caseys Augen begannen zu leuchten. „Und so manchen fantastischen Versöhnungssex.“

„Was ist, wenn ich alles gebe, was ich kann, und es am Ende trotzdem nicht reicht? Du machst doch manchmal Eheberatung, oder?“

Casey, seit Kurzem Leiterin einer Wohltätigkeitsorganisation, die im West Side Sozialarbeit leistete, zuckte die Schultern. „Das ist nicht mein Spezialgebiet.“

„Ist denn diese Angst normal?“ Megan biss sich auf die Lippe,

dann fiel ihr ein, dass sie Lippenstift trug. „Ein Wort genügt, und ich mache einen Satz zur Tür und haue ab.“

„Und was wäre dann? Was wartet denn da draußen auf dich so Aufregendes?“

„Ich möchte nicht versagen.“

„Und was ist, wenn doch?“

Megan dachte kurz nach. „Dann würde ich sterben. Ich darf es nicht versauen. Wenn ich heirate, dann für immer. Aber woher soll ich denn wissen, wie ich es richtig mache?“

Casey legte ihrer Schwester die Hände auf die Schultern. „Megan, du trägst nicht allein die ganze Verantwortung. Ihr seid zwei, schon vergessen? Und ich kenne kein Paar, das vielversprechender ist als ihr. Ihr werdet es ganz bestimmt schaffen. Eines Tages wirst du dir einen Tritt dafür verpassen, dass du mir das hier alles erzählt hast.“

Auf dem Flur ertönten Schritte, und die Tür flog auf.

Peggy stürzte herein. „Hey, Megan, du siehst sagenhaft aus! Einfach umwerfend. O je, ich heule gleich.“

„Das lässt du besser sein. Wage es ja nicht.“

„Ich muss mich umziehen.“ Peggy ging zum Kleiderschrank. „Ich bin spät dran, weil ich dem Babysitter noch Anweisungen geben musste. Für meinen Friseur war keine Zeit mehr, aber bei dem Sturm macht das sowieso keinen Unterschied. Wenn ich die Haare nach hinten nehme und mit den Schmuckkämmen feststecke, könnte es gehen. Außerdem gucken ja eh alle nur auf Megan.“

„O Gott, ich werde heiraten.“ Megan bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. „Hört mal, eine von euch nimmt meinen Platz ein, okay?“

Peggy zog ihr Kleid aus Megans Schrank. Es war genauso einfach geschnitten wie Caseys, nur in Waldgrün. „Ich würde Nick gern heiraten. Meinst du, ihm fällt der Unterschied auf?“ Sie zog ihr T-Shirt aus und schlüpfte in das Kleid. „Ich sag ihm einfach, du hättest es dir anders überlegt. Es wird ihm schon nichts ausmachen.“

„Oder ich tu’s“, fiel Casey ein. „Dann können sich Jon und er nachts vor meinem Bett duellieren.“

Megan hatte das Gefühl, wenn sie noch einmal tief durchatmete, würde sie hyperventilieren. „Ich kann mich nicht drücken, was?“

„Wenn doch, dann hat der ,Plain Dealer‘ eine Superstory.“ Peggy stellte sich mit dem Rücken zu Casey, damit sie ihren Reißverschluss hochzog. „Irgendeine Nachricht von Rooney?“ fragte sie Megan.

Megan hatte lange gebraucht, bis sie die Krankheit ihres Vater verstehen und akzeptieren konnte. Irgendwann in den zwei Jahren, seit er wieder zur Familie zurückgekehrt war, hatte sie eingesehen, dass sie ohne eine einfache Diagnose auskommen und die Tatsache hinnehmen musste, dass Rooney nicht wie andere Männer war. Er hatte inzwischen viel für seine Gesundheit getan, doch die Jahre und seine Alkoholabhängigkeit forderten ihren Tribut.

Aber Rooney war zumindest nicht mehr heimatlos, so wie damals, als Megan noch eine Jugendliche gewesen war. Jeden Abend kam er zum Dinner und zum Schlafen in Niccolos Haus in Ohio City, der Nachbarschaft von West Side Cleveland. Er trank keinen Alkohol mehr, und er nahm Medikamente, die ihm halfen, klarer zu denken. Manchmal war er verwirrt, doch seine Töchter erkannte er meist. Er hatte einen großen Teil ihres Lebens versäumt, jetzt lernte er sie auf seine eigene Art wieder kennen.

„Ich habe ihn heute Morgen an die Hochzeit erinnert“, erwiderte Megan. „Er war früh auf.“

„Was hat er gesagt?“

„Irgendwas Unverständliches, aber er schien nicht überrascht zu sein und wusste noch, worum es ging. Kommt er, was meinst du?“

„Er weiß, wo St. Brigid’s ist“, sagte Peggy „Da findet er auch hin. Da bin ich mir sicher.“

„Megan, gib dich damit zufrieden, dass er sich daran erinnert hat, okay?“ warf Casey ein. „Er weiß, wer du bist und dass du heute heiratest. Bestimmt will er auch kommen, egal ob er’s letztendlich schafft. Vor einem Jahr, als Jon und ich geheiratet haben, wusste er nicht mal mehr meinen Namen.“

Megan war klar, wenn sie ihren Vater suchen und ihn ins Auto setzen würden, geriete er in Panik. Sie dachte stattdessen lieber an das, was sie selbst in der Hand hatte. „Ich könnte immer noch nach Botswana oder auf die Kanarischen Inseln fliehen. Welche, ist mir egal.“

Peggy stellte sich neben ihre Schwester und beugte sich hinunter, um ihr einen Kuss zu geben. Dann trat sie einen Schritt zurück und wischte den Lippenstift von Megans Wange. „Wie war’s stattdessen mit der Kirche? Du hast doch gar keinen Reisepass.“

„Doch, hab ich. Darum habe ich mich gekümmert.“

„Aber kein Ticket.“

„Es gibt zu jeder vollen Stunde einen Flug nach Botswana.“

„Von Hopkins? Wenn du Glück hast, bekommst du gerade mal einen Flieger nach New York.“

„Das würde auch reichen.“ Megan richtete sich gerade auf. „Du glaubst wohl, ich mache Scherze.“

„Ich glaube, du stirbst vor Angst“, entgegnete Casey. „Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag noch mal erlebe, an dem du’s zugibst. Also, gehen wir jetzt zur Kirche, oder soll ich allen sagen, du wärst ein bedauernswerter Angsthase?“

„Dumme Frage.“ Megan wirbelte herum und betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel. Eigentlich war der Anblick gar nicht so schlecht wie befürchtet. Sie sah aus wie ... eine Braut. „Lasst uns aufbrechen.“

Casey zuckte die Schultern. „Du bist so verdammt durchschaubar.“

2. KAPITEL

Niccolo war froh, dass Megan sich nicht für ein traditionelles Hochzeitskleid entschieden hatte. Dann hätte er nämlich einen Smoking tragen müssen, und er befürchtete sowieso schon, dass sein selten benutzter Anzug am Ende der Zeremonie von Schweiß triefte. In der St. Brigid’s war es nicht gerade besonders heiß, aber er war besonders nervös.

„Josh, komm mal kurz her.“ Er winkte dem Jungen, der sich gerade bemühte, eine Gruppe von drängelnden Teenagern zu einer Bank in der vorderen Reihe zu führen.

Josh übergab die Gruppe an Tarek, ein anderer Jugendlicher, der eine ordentlich gebügelte Hose mit Sportjackett und glänzenden Schuhen trug. Tarek hatte Niccolo erklärt, dass er noch nie in einer christlichen Kirche gewesen sei, und sich eine detaillierte Liste der erforderlichen Kleidung geben lassen, bis hin zur konservativen Krawatte.

„Wo bleibt Winston?“ erkundigte sich Niccolo bei Josh, als er zu ihm in die Vorhalle kam. „Er könnte helfen, sie zusammenzuhalten.“

Josh sah ihm nicht in die Augen. „Ach, der ist noch nicht da. Musste heute Morgen noch was erledigen.“

Winston, Josh, Tarek und alle anderen Kids auf der vordersten Bank gehörten zu den Steinen. „Stein auf Stein“ war aus einer Hand voll Jugendlichen der Nachbarschaft entstanden, die Niccolo beim Renovieren eines alten Hauses in Ohio City zugesehen hatten. Inzwischen war es eine gemeinnützige Organisation, in der Heranwachsende eine Grundausbildung für Zimmerhandwerk und Klempnerarbeit erhielten, um alte Häuser umbauen zu können. Die Reparaturarbeiten und Renovierungen waren zweitrangig neben den wirklichen Fähigkeiten, die die Mitglieder erlernten: Selbstbeherrschung, Selbstbewusstsein, eine Sache zu Ende führen zu können und etwas für die Gemeinschaft zu tun. Die Steine bewegten sich nur in kleinen Schritten, aber sie bewegten sich vorwärts.

Niccolo hatte das Gefühl, von seinem Kragen erwürgt zu werden. Er zerrte daran. „Kannst du sie so lange im Zaum halten, bis der Empfang anfängt?“

„Aber klar, sie werden schon auf mich hören“, versprach Josh. Niccolo zweifelte nicht daran.

Josh war Niccolos größter Erfolg. Obwohl die meisten Steine-Kids aus einigermaßen intakten Elternhäusern kamen, hatte Josh nicht so viel Glück. Er war vor zwei Jahren zu Niccolo gezogen, um den Wutanfällen seines betrunkenen Vaters zu entfliehen, und seitdem schnell aufgeblüht. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er gute Schulnoten, und sein Selbstbewusstsein wuchs. Inzwischen redete er schon überzeugt vom College. Niccolo war sicher, dass er es schaffte.

„Siehst du diesen großen Typen am Ende der zweiten Reihe?“ Niccolo zeigte nach vorn. „Der mit dem schwarzen Haar und der hübschen Frau in Blau neben sich?“

„Hmm.“

„Das ist mein Bruder Marco.“

„Der sieht ja aus wie du. Warum hat er dich nie besucht?“

Niccolo überlegte, wie er die hässliche Wahrheit einigermaßen nett ausdrücken könnte. „Meine Familie war nicht gerade glücklich darüber, dass ich das Priesteramt aufgegeben habe. Marco hat mir Schützenhilfe geleistet ...“ Er bemerkte, dass Josh nicht begriff. „Er hat versucht, den anderen verständlich zu machen, dass die Veränderung richtig für mich war. Besonders meinen Eltern und Großeltern, die noch leben.“

„Verstehe. Er will sich nicht mit ihnen überwerfen, indem er herkommt, während er noch dabei ist, sie zu bearbeiten.“

Niccolo gefiel es, wie Josh die Situation in Worte fasste. Er hatte ein gutes Gespür für psychologische Zusammenhänge.

„Du hast es erkannt. Aber er ist heute hier, und ich möchte gern, dass er eine Nelke für sein Revers bekommt.“ Niccolo zeigte auf Joshs. „Die gleiche wie du. Bringst du ihm eine?“

„Klar. Cool.“ Josh nahm eine Ansteckblume aus der weißen Floristen-Schachtel, die neben Niccolo stand. „Kommt sonst noch jemand? Ich meine, von deiner Familie?“

Als Niccolo daraufhin den Kopf schüttelte, sah er ihn erstaunt an. „Können sie Megan nicht leiden?“ Natürlich konnte sich Josh das überhaupt nicht vorstellen, da er Megan praktisch anbetete.

„Ihnen würde sicher keine gefallen, für die ich mich entschieden habe. Mach dir keine Gedanken darüber. Marco ist hier. Das ist ein Anfang.“

„Sogar in guten Familien benehmen sie sich verrückt, was?“ Josh schien dieser Gedanke zu gefallen. Er grinste vor sich hin, als er ins Hauptschiff zurück und den Gang entlang zu seinem Platz ging.

„Was machst du denn hier?“

Niccolo drehte sich um, als sein Trauzeuge durch die Tür kam. Jon Kovats, Caseys Mann, trug ebenfalls einen dunklen Anzug, nur sah es bei Jon vollkommen natürlich aus. Er war ein attraktiver Rechtsanwalt mit klaren Gesichtszügen, die seinen Klienten Vertrauen einflößten, und einem unerschütterlichen, festen Blick, der seinen Kontrahenten eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

„Musst du dich nicht bis zum Beginn der Zeremonie irgendwo mit Pater Brady verstecken?“ fragte Jon.

Niccolo wollte ihm nicht gestehen, dass er, nachdem Jon ihn am Nebeneingang abgeliefert hatte, in den Narthex geschlichen war, um zu beobachten, wer kam. Er hatte gehofft, dass seine Eltern sich hatten erweichen lassen und doch erschienen, auch wenn er es Josh gegenüber nicht erwähnt hatte.

„Ich musste ein bisschen frische Luft schnappen“, erwiderte er, „und nachsehen, ob hier draußen noch irgendwas gemacht werden muss.“

„Nick, du kannst ruhig eine Weile mal verschnaufen. Überlass uns die weiteren Einzelheiten. Dafür sind wir ja da.“

„Hast du irgendwas von Casey gehört?“

„Irgendwas?“

Niccolo zerrte erneut an seinem Kragen. Er hatte vor Jahren den steifen Priesterkragen gegen ein weiches Flanellhemd getauscht. Krawatten fühlten sich ungewohnt an. „In letzter Zeit, meine ich. In der vergangenen halben Stunde.“

„Kein Wort. Warum? Sie hilft Megan mit ihrem Kleid. Ich bin sicher, dass sie nicht viel Zeit hatte.“ Jon runzelte die Stirn. „Du hast Angst, dass Megan kneift, oder was?“

„Das ging mir kurz durch den Kopf. Es könnte wirklich sein, dass sie nicht kommt.“

„Megan hält ihre Versprechen. Und zwar bis zur Besessenheit. Das habt ihr gemeinsam.“

Jon kannte beide zu gut. Niccolo musste grinsen, doch dann wurde er sofort wieder ernst. „Sie hat Angst, dass sich danach alles ändert. Dass ich womöglich eines Morgens aufwache und feststelle, ich hab einen Fehler gemacht, aber ein zu guter Katholik bin, um es zuzugeben.“

„Megan? Sie mit ihrem starken Selbstbewusstsein? Das kann ich kaum glauben.“

„Starkes Selbstbewusstsein, ja. Aber sie weiß nicht, wie man eine Ehe anpacken soll. Und Megan kann es nicht leiden, wenn sie sich einer Sache nicht sicher ist.“

„Nur Megan? Oder du auch?“

Niccolo wunderte sich nicht über diese verständnisvolle Frage. In den zwei Jahren, die er Jon kannte, waren sie sehr enge Freunde geworden, und Jon war ein Meister darin, Geheimnissen auf die Spur zu kommen.

„Ich war noch nie verheiratet, aber ich bin entschlossen, mir die größte Mühe zu geben“, erwiderte Niccolo.

„Nun mal langsam. Nicht zu viel Mühe, sonst habt ihr ja gar keinen Spaß miteinander. Das ist kein Job, sondern eine Beziehung.“

„Sie hat das Beste verdient. Hundert Prozent. Zweihundert.“

„Sie verdient einen Mann, der sich wohl fühlt.“

Als Bewegung am Haupteingang entstand, blickte Niccolo hinüber. Ein vornehm wirkender Mann mit silbergrauem Haar führte seine etwas füllige, aber attraktive Begleiterin durch die Tür. Niccolo erstarrte, dann sah er Jon an und räusperte sich. „Kommst du mal bitte mit? Ich möchte dir meine Eltern vorstellen.“ Er warf noch einen Blick nach vorn. „Und meinen Großvater.“

Jon kannte Niccolo gut genug, um die Tragweite dieser Worte zu verstehen. Er klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Glaubst du an Vorzeichen?“

„Ich bin zu katholisch, um nicht daran zu glauben.“

Megan hatte keine Limousine gewollt. Dazu sah sie nicht die Notwendigkeit, denn sie verspürte wenig Lust, solchen Wirbel zu veranstalten, und weigerte sich, so viel Geld dafür auszugeben. Weder sie noch Nick würden irgendwann reich werden. Es gab bessere Verwendungsmöglichkeiten für ihre Dollars.

Mit der Familie hatte sie auch nicht mitfahren wollen und Jons Angebot, sie in dem feuerroten Kabriolett eines Freundes zu chauffieren, abgelehnt, so wie alles andere auch, bis auf die einfachste Lösung. Sie, Peggy und Casey würden zusammen in Caseys Wagen zur Kirche fahren.

Sie hatte nur nicht mit einem kaputten Reifen gerechnet.

Jetzt standen die Schwestern vor Caseys Haus und starrten auf die Bescherung.

„Auf den Straßen liegen von dem Sturm überall Schutt und Trümmerreste. Wahrscheinlich bin ich auf dem Rückweg vom Saloon irgendwo drüber gefahren“, bemerkte Casey.

„Ja, zum Beispiel über eine Eisenbahnschiene. Der Reifen ist platt wie eine Flunder.“

„Und ich hab mein Auto verkauft“, sagte Peggy. „Onkel Den hat mich hierher gefahren.“

„Na fantastisch.“ Megan trat gegen die traurigen Reste des Reifens, was eher ihren elfenbeinfarbenen Pumps schadete. „Ich nehme an, keiner von euch beiden hat vor, den zu wechseln?“

„In diesem Kleid?“ Casey blickte an sich herunter. „Auf keinen Fall.“

„Wir rufen ein Taxi“, schlug Peggy vor.

„Wir sind nicht in Manhattan. Nick wird inzwischen jemand anders geheiratet haben, bis hier eins kommt.“ Megan tat erneut gegen den Reifen, ohne Rücksicht auf ihre Schuhe. „Vielleicht ist noch einer im Saloon. Casey, kannst du mal nachfragen?“

Casey wühlte in ihrer Handtasche nach dem Handy und rief in der Kneipe an. Die anderen beiden standen schweigend daneben und warteten, bis ihre Schwester den Kopf schüttelte und das Mobiltelefon wieder ausschaltete. „Es ist ein Wunder. Sie sind alle pünktlich zur Hochzeit. Alle außer uns. Jon ist bereits mit Nick hingefahren, und ich wette, er hat sein Handy ausgeschaltet.“ Um sicherzugehen, tippte sie noch ein paar weitere Nummern ein, aber niemand meldete sich.

„Kennst du deine Nachbarn?“ Megan blickte sich um. „Du musst doch schon mit irgendjemandem bekannt sein.“

Casey wandte den Kopf nach links. „Die sind weggefahren.“ Dann nickte sie zur rechten Seite. „Ich kümmer mich um ihre

Post.“ Sie deutete mit einerweiteren Kopfbewegung zum Haus gegenüber auf der anderen Straßenseite. „Die befinden sich leider auf der falschen Seite in einem von Jons Fällen und haben vor, in eine Gegend zu ziehen, die sicherer ist. Das Haus daneben steht leer.“

Megan dachte angestrengt nach, während sie sich umsah. Casey und Jon hatten eines von Niccolos Ohio-City-Renovierungsprojekten gekauft. Das Haus, ein Backsteingebäude im Neokolonialstil mit klassischen Verzierungen passte perfekt zu dem berufstätigen Paar. Und das Beste war, dass es nur vier Blocks von Niccolos Haus in der Hunter Street entfernt stand.

„Okay, dann lasst uns losgehen. Wir holen Charity.“

Ihre Schwestern stöhnten auf. Megans klappriger Chevy war für seine Macken bekannt und deshalb aus Spaß Wohlfahrt, Charity getauft worden. Die „Wohlfahrt“ beginnt immer erst zu Hause, hieß ein gängiger Witz unter ihnen. Doch so richtig komisch war das nie.

„Habt ihr einen besseren Vorschlag?“ wollte Megan wissen.

„Na gut, mal sehen, ob Charity sich bei Nick wie zu Hause fühlt. Wenn nicht, sind vielleicht deine Nachbarn hilfreicher als Caseys“, sagte Peggy. „Dann mal los.“

Megan lief in ziemlichem Tempo voraus. Ihre Schwestern blieben hinter ihr zurück, doch sie ging nicht langsamer, denn schließlich hatte sie jetzt etwas Wichtiges zu erledigen. Sie hatte Niccolo versprochen, ihn zu heiraten, und es war zu spät, um die Hochzeit noch auf elegante Art abzublasen.

Die Schwestern wanderten schweigend weiter, drei Frauen in langen, flatternden Seidenkleidern und mit im stürmischen Wind umherwehenden Haaren.

„Oh mein Gott, es wird regnen!“ kündigte Casey einen Block von Nicks Haus entfernt an. „Himmel, ich hoffe wirklich, wir kommen ins Auto, bevor es losgeht.“

Megan marschierte weiter. „Der Regen sollte sich besser zurückhalten!“

Sie bogen in die Hunter Street ein, und Megan konnte Charity bereits am Ende der Straße vor Niccolos – ihrem – Haus sehen. „Ich bete, dass sie fährt!“

„Das muss man sich echt im Kalender anstreichen“, bemerkte Casey. „Megan betet.“

„Ich möchte betonen, dass ich mich mit Gott gut verstehe. Muss ich ja wohl, wenn ich in der Kirche heirate.“

„Na jedenfalls manchmal. Ist Pater Brady ohnmächtig geworden, als du zu ihm in den Beichtstuhl gekommen bist?“

„Pater Brady ist netter als ihr und in Bezug auf meine Seele offensichtlich auch optimistischer.“ Megan wagte nicht, auf die Uhr zu sehen. Sie waren sehr spät dran, und es würde noch eine Menge Zeit in Anspruch nehmen, um an sich die ganzen Verwüstungen vom Sturm wieder in Ordnung zu bringen.

Gerade als sie am Auto ankamen, fielen die ersten Tropfen, aber Charity startete sofort, als sie den Schlüssel das erste Mal in der Zündung drehte.

„Glaubst du an Vorsehung?“ fragte Peggy, als sie neben Megan in den Wagen stieg.

„Das muss ich doch, als richtige Irin.“

Megan hielt mit Charity in der zweiten Reihe am Bürgersteig, aber sie stellte den Motor nicht aus. Der kleine Parkplatz war offensichtlich voll besetzt und erschien ihr auch zu weit von dem Eingang entfernt, den sie benutzen wollte. An der St. Brigid’s gab es eine Nebentür gleich hinter dem Altarraum, die zu einer Treppe führte. In der ersten Etage befand sich eine Kammer, in der sich die Bräute normalerweise umziehen konnten – und jetzt wünschte sie sehnsüchtig, sie hätte davon Gebrauch gemacht. Einmal dort oben und fertig, könnte sie über eine andere Treppe in den Narthex gelangen und dann den Gang nach vorn auf Niccolo und Pater Brady zugehen.

Wirklich Pech, dass sie ihre Wanderausrüstung nicht mithatte.

„Wir schaffend.“ Sie holte tief Luft. „Ich lasse den Schlüssel stecken. Hier wird sie dann bestimmt einer klauen. Und wenn sie dann merken, was sie ergattert haben, werden sie sie irgendwo an einem netten, sicheren Plätzchen abstellen, wo ich sie wiederfinden kann.“

„Wir sind immer noch fünfhundert Meter von der Tür entfernt“, sagte Casey vom hinteren Sitz.

„Es nieselt doch nur.“

Peggy fuhr mit den Fingerspitzen über die beschlagene Windschutzscheibe. „Weißt du was? Du lebst schon zu lange hier in dieser Gegend. Für jeden anderen ist das ein echter Regenguss. Und soweit ich weiß, wirst du nicht gern nass.“

„Megan“, ließ Casey sich von hinten hören. „Kein Mensch wird Charity stehlen, aber wenn du hier stehen bleibst, wirst du abgeschleppt.“

Charity wählte diesen Moment, um abzusaufen und zu verstummen.

„Sieht aus, als wäre die Entscheidung jetzt gefallen, und ich zahle lieber die Abschleppgebühr, als zu meiner eigenen Hochzeit zu spät zu kommen.“

„Wenigstens bist du inzwischen entschlussfreudiger, Megan“, bemerkte Casey.

Megan sagte nichts darauf. „Könnt ihr beide da auch allein reingehen?“

Peggy hatte unter dem Sitz einen Schirm gefunden. Sie hielt ihn Megan entgegen. Es war eine traurige Ausgabe dieser Spezies, aber noch immer zu gebrauchen. „Geh du schon mal vor. Das Wetter wird immer schlimmer. Ich versuche, dieses Monster wieder zu starten.“

„Ich geh nicht ohne euch durch den Kirchengang. Ihr müsst mich stützen.“ Nach langem Hin und Her, wer sie denn den Gang entlangführen sollte, hatte Megan Casey und Peggy gebeten, als ihre Begleitung vorauszugehen. Es gab ein Dutzend Männer in der Familie, die sie gern geführt hätten, aber sie wollte, dass ihre Schwestern es taten. Der Mann, der normalerweise für diese Aufgabe vorgesehen war, konnte es nicht machen.

Megan schätzte die Entfernung und die Stärke des Regens. „Was soll ich opfern? Meine Pumps oder die Strumpfhose?“

Peggy beugte sich nach vorn. „Ich hab noch eine als Reserve mitgebracht.“

Megan zog die Schuhe aus und öffnete die Tür. „Wir sehen uns drinnen.“ Sie spannte den Schirm auf und rannte auf Strümpfen über den Rasen auf den Seiteneingang zu. An der Tür klappte sie den Schirm zusammen und schüttelte sich mit geschlossenen Augen wie ein Spaniel, dass die Tropfen flogen. Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie ihr zukünftiger Ehemann an.

„Nick!“ Sie hielt sich die Hand aufs Herz. „Was machst du denn hier?“

„Mich vergewissern, ob du mich auch nicht am Altar sitzen lässt.“

Sie starrte ihn an. Der dunkle Anzug betonte seine breiten Schultern, das schwarze Haar und den sorgfältig gestutzten Bart. Mit der dunklen Haut und den Gesichtszügen eines römischen Kriegers, erschien er ihr wie das perfekte Ziel aller Wünsche.

„Du solltest mich nicht so sehen.“

Er lächelte. „Ich erinnere mich an unseren ersten Abend. Du auch?“

Im Moment war sie nicht mal sicher, ob ihr überhaupt noch ihr eigener Namen einfallen würde. Sie sah ihn an, diesen wundervollen, männlichen, gut aussehenden Typ, der sein Leben mit ihr verbringen wollte.

„Du hast mich nach einem Arbeitstag zu dir eingeladen“, sagte er. „Und du warst ziemlich erledigt. Deshalb hast du geduscht, während ich in der Küche saß. Dann kamst du mit nassen Haaren wieder. So ähnlich wie jetzt. Und ich war platt vor Verlangen.“

„Platt?“

„Na ja, im übertragenen Sinn. Wahrscheinlich wohl eher das Gegenteil, nehme ich an.“

Sie lachte. „Das hab ich ganz vergessen.“

„Ich steh also drauf, wenn ich dich so nass sehe. Na ja, und trocken auch. Einfach nur dich zu sehen.“

„Ach Nick.“ Am liebsten wäre sie ihm in die Arme gefallen. Stattdessen nahm sie ihren Rock und hielt ihn sich vom Körper ab wie ein kleines Mädchen im Petticoat. „Bist du sicher, dass du das durchziehen willst? Ich bin ja nicht gerade der beste Fang.“

„Eine Garantie bekommt man nie, aber ich glaube, du bist eine gute Anlage.“

„Ich befinde mich in grässlichem Zustand. Mein Kleid ist klatschnass, mein Wagen wird vermutlich abgeschleppt, und ich habe mir meine Strumpfhosen zerrissen.“ Sie fuhr sich hektisch übers Haar. „Und jetzt ist diese verdammte Orangenblüte auch noch verschwunden.“

„Gut. Du siehst für mich vollkommen aus.“ Er holte kurz Luft. „Obwohl meine Mutter und mein Vater noch mehr beeindruckt sein dürften, wenn du dir Schuhe anziehst.“

„Sie sind da?“

Er nickte.

Diesmal fiel sie ihm doch in die Arme. Casey und Peggy kamen gerade, als sie sich wieder voneinander lösten.

„Peggy hat Charity geparkt. Wir ...“ Casey verstummte, als sie Niccolo erblickte. „Aber ganz schnell raus hier“, sagte sie gespielt entrüstet. „Warte da, wo du als Bräutigam warten sollst. Das gibt sonst Unglück.“

Er grinste nur.

„Jetzt geh schon!“ Casey gab Ihm einen Schubs. „Sag der Organistin, sie soll noch mal eine Runde Jesus bleibet meine Freude‘ spielen. Gib uns zehn Minuten.“

„Fünf.“

„Sieben. Geh jetzt!“

„Bis bald ...“ Megan sah ihm hinterher. An der Tür drehte sich Nick um und warf ihr einen Luftkuss zu.

„Megan!“ Casey packte sie an den Schultern und schob sie zur Treppe.

Nach zehn Minuten waren sie fertig, Strumpfhose gewechselt, die Haare mehr oder weniger trocken. Megan betrat die Eingangshalle, flankiert von ihren Schwestern. Durch die offene Tür konnte sie sehen, dass Nick, Jon und Pater Brady das Kirchenschiff bereits durch den Haupteingang betreten hatten. Die Orangenblüten saßen wieder ordentlich an ihrem Platz – Casey hatte sie zu Beginn ihrer Wanderung in Sicherheit gebracht und gut verwahrt –, und sogar Megans Schuhe glänzten. Sie war bereit.

„Meinst du, Rooney hat’s in die Kirche geschafft? Ob er hier irgendwo ist?“ Megan stellte sich in den Türrahmen. Nach und nach drehten sich die Köpfe in ihre Richtung.

„Er hatte es vor“, erwiderte Peggy.

Die ersten Takte von Beethovens Ode an die Freude ertönten im vorderen Kirchenschiff. Megan hatte die Organistin bekniet, das Stück ein bisschen schneller zu spielen, damit die Wanderung nach vorn nicht so lange dauerte. Jetzt hörte sich die wohlbekannte Melodie für sie an wie eine Auswahl aus den anstrengendsten Sequenzen der gesammelten Aerobicübungs-Videos von Richard Simmons. Schwitzen bis zum Martyrium. Nachdem sich alles so lange verzögert hatte, wollte die arme Frau sicher so bald wie möglich Feierabend machen.

„Okay, wir gehen zusammen rein. Lauft nicht zu schnell und lasst mich nicht zurück.“ Megan holte tief Luft. „Dann mal los.“

„Ich hab dich lieb“, sagte Casey, und Peggy wiederholte ihre Worte.

Megan stiegen plötzlich die Tränen in die Augen. „Geh einfach los, okay?“

Sie liefen zum Mittelgang hinüber. Fast gleichzeitig erhoben sich die versammelten Gäste von ihren Sitzen. Aus dem Augenwinkel bemerkte Megan eine Gestalt, die auf den Mittelgang zukam. Dann, als hätte er die Geste bereits stundenlang geprobt, trat Rooney Donaghue auf sie zu, das Hemd ordentlich zugeknöpft, sauber und frisch rasiert, und bot ihr mit einem Lächeln den Arm.

3. KAPITEL

Die Donaghue-Schwestern waren nicht sentimental, aber trotzdem musste Peggy während der Zeremonie die Tränen zurückhalten. Megan strahlte, als sie auf Nick zuging, um ihm ihr Ja-Wort zu geben, und obwohl Peggy in ihrem Leben nicht oft in die Kirche gegangen war, berührten sie die bekannten Weisen der Hochzeitsmesse. Doch am meisten bewegte sie der Anblick ihres Vaters, wie er seinen rechtmäßigen Platz an der Seite der ältesten Tochter einnahm.

Dieses rührende Bild vor ihren Augen zerplatzte in dem Moment, als sie die Tür zum Whiskey Island Saloon öffnete.

„Eismaschine hat den Geist aufgegeben.“ Barry, der Barmann, schob sich an ihr vorbei zum Ausgang. „Muss Eis besorgen.“

„Ich...“

„Und die Musiker sagen, sie brauchen mehr Platz für ihr Equipment, als du für die Band vorgesehen hast“, rief er über die Schulter zurück. „Deshalb hab ich die Tische da vorn weggeräumt. Allerdings sind jetzt nicht mehr genug da ...“

„Ich...“

„Und in ganz Cleveland sind Bäume umgestürzt, es besteht also kaum Hoffnung, dass heute noch eine Firma kommt, um den Stamm vor der Tür abzusägen. Wir haben den Platz um den Kücheneingang herum mit einem Seil abgesperrt, damit keiner neben dem halben Baum parkt, der noch in der Luft hängt. Aber wir können das Auto nicht abschleppen, bevor ...“ Seine Stimme war nicht mehr zu hören, als er im Wagen verschwunden war und die Tür hinter sich zugeschlagen hatte.

Peggy fragte sich, welche Erklärung sie Niccolo und Megan bloß geben sollte, wenn der Zeitpunkt ihrer Abreise kam und Caseys Fahrzeug – wenn der Reifen bis dahin repariert war – statt des Hondas am Bürgersteig auf sie wartete.

„Peggy?“ Jemand packte sie mit kräftigen Armen und schob sie herein. Sie sah zu Charlie Ford auf, einem Ihrer treuen Stammgäste. „Die Bäckerei hat gerade angerufen. Die Torte Ist fertig, aber sie haben das Potpourri oder so ähnlich vergessen.“

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