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Nebelverhangen liegt der See vor ihm. Wie immer, wenn Andrew MacDougall Vergessen sucht, tritt er ans Ufer des Loch Cee. Hier verspürt er den Trost und die Sicherheit seiner schottischen Heimat, in der Mythen und Legenden noch lebendig zu sein scheinen. Fiona Sinclair glaubt nicht an Märchen. Und doch ist das immer wiederkehrende Motiv in den Zeichnungen der erfolgreichen Kinderbuchillustratorin das sagenumwobene Seeungeheuer von Loch Cee. Seit Fiona nach einem tragischen Unfall ihren Geburtsort Druidheachd verlassen musste, hat es sie nicht losgelassen. Nun bringt das Schicksal Andrew und Fiona erneut zusammen. Eine alte Liebe erwacht zu neuem Leben. Die aber kann nur eine Zukunft haben, wenn sich beide ihrer Vergangenheit stellen.
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Seitenzahl: 445
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Emilie Richards
Wie Gespenster in der Nacht
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Sonja Sajlo-Lucich
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
MacDougall’s Darling
Copyright © 1995 by Emilie Richards McGee
erschienen bei: Silhouette Books, Richmond
Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Claudia Wuttke
Titelabbildung: Getty Images, München
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz /
Galen McGee Peak-Definition Productions
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-217-8 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-216-1
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
E s waren nur wenige Sterne zu sehen. Die aber schossen wie Blitze über das tiefschwarze Himmelszelt, jedes Mal, wenn Terence MacDougall die Augen zusammenkniff und den Kopf in den Nacken legte.
„Sie fallen alle runter! Die verdammten Sterne fallen alle von dem verdammten Himmel, und es gibt nichts, was man dagegen tun kann!“
Beim letzten Wort stolperte er über einen Stein und fiel vornüber aufs Gesicht. Er versank ein Stückchen in der torfigen Erde, bevor ihm so recht bewusst wurde, was eigentlich passiert war. Umständlich und nur mit beträchtlicher Anstrengung rollte er sich auf den Rücken und sah wieder zum Himmel hinauf. Als er seinen Kopf jedoch endlich bequem gebettet hatte, war der Sternschnuppenschauer vorbei. Stattdessen tanzten die Sterne jetzt kokett über die Highlands, zwinkerten ihm mit ihren strahlenden Augen zu und wackelten mit ihren winzigen Hinterteilen. Und Terence stimmte ein fröhliches Liedchen an.
„Oh, die süßen Mädels aus den Highlands poussieren lustig und werden willig die Deine. Doch die Mädchen aus den Lowlands, die sind so ernst und legen dich erst einmal an die Leine …“
Terence mochte einen gerammelt vollen Pub mit seiner klaren Tenorstimme und seinen deftigen Texten unterhalten, doch flach auf dem Rücken, keine fünfzehn Meter vom Ufer des Loch Ceo entfernt und ohne Publikum lief er nicht unbedingt zu seiner Höchstform auf. Er räusperte sich, um erneut anzusetzen, aber ihm fiel einfach kein Lied ein. Er starrte zum Himmel hoch. Vor seinen Augen verschoben sich die Sterne und fügten sich zu einer Bekanntmachung zusammen, wie auf den Leuchtreklametafeln der piekfeinen Theater im weit entfernten Edinburgh.
Er zeichnete die Worte mit dem Zeigefinger nach und las laut vor: „Der hochwohlgeborene Terence MacDougall gibt sich die Ehre, Sie zum Tauffest seines erstgeborenen Sohnes zu bitten …“
Seine Stimme erstarb. Ihm fiel nicht mehr ein, welchen Namen Jane für den kleinen Wurm ausgesucht hatte. Er hatte natürlich nichts zu sagen gehabt. Seine Jane war eine starke Frau mit viel Durchsetzungsvermögen. Und sie besaß das typische Temperament eines Rotschopfs.
War es etwa seine Schuld, dass die Wehen eine Woche früher als geplant eingesetzt hatten? Wie hätte er das wissen sollen? Und konnte er etwa was dafür, dass Janes Granny, die versprochen hatte, das Kind zu holen, wie ein Stein geschlafen hatte?
Nein, nichts davon war seine Schuld. Außer natürlich, dass er den Winzling in Janes Leib gepflanzt hatte. Und es war doch auch alles glattgegangen! Jane hatte sich auf den Weg in die kleine Dorfklinik gemacht und ihren Sohn in einem schönen sauberen Zimmer zur Welt gebracht. Allein war sie auch nicht gewesen.
Sie hatte sogar reichlich Gesellschaft gehabt.
Terence stimmte ein neues Lied an. „Oh, der Lord unddie Lady kamen zur Stadt, gekleidet in Samt und Seide, Old MacDougall kam auch, doch nur bedeckt mit Farn und Heide …“
Aye, sein Sohn war zur gleichen Zeit zur Welt gekommen wie der Sohn des Lords. Man stelle sich vor: der Sohn von Terence MacDougall direkt neben dem Sohn des Gutsherrn! Nun, fast. Der alte Doc Sutherland hatte den Erben des Lords geholt, während Jane das im Nebenzimmer selbst besorgt hatte.
Und da war ja auch noch das andere Baby, der dritte Junge, der genau zur gleichen Zeit auf die Welt gekommen war! Um die Geburt des Sohns von Donald Sinclair, des Dorfwirts, hatte sich die Krankenschwester gekümmert.
Drei kleine Jungs, alle geboren um Punkt Mitternacht an Halloween. Und keiner konnte sagen, wer von den Babys zuerst das Licht der Welt erblickt hatte.
Schwankend setzte Terence sich auf. So langsam ließ sich die Wirkung des Whiskys nicht mehr leugnen. Dabei hatte er Jane versprochen, dass er mit dem Trinken aufhören und sich eine feste Arbeit suchen würde, wenn sie ihm einen Sohn schenkte. Er hatte auch ehrlich vor, sein Wort zu halten. Aber selbst Jane konnte nicht von ihm verlangen, nüchtern zu bleiben, solange sie nicht mit dem Jungen aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Schließlich war er Vater geworden! So vieles musste jetzt genau überlegt, durchdacht und geplant werden.
Er rappelte sich mühsam auf und sah mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. Direkt vor ihm lockte die silberne Oberfläche des Sees. Er lebte gleich um die Ecke, doch diesen Platz hier hatte er sich ausgesucht, weil er einen freien Blick bot und so abgeschieden lag. Hier war keine Menschenseele.
Er stolperte vorwärts, ohne den anderen Steinen, die sich verschworen hatten, ihn erneut zu Fall zu bringen, auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Der Loch Ceo gehörte ihm. Das Wasser des Sees rann durch seine Adern, die Wellen schlugen im gleichen Rhythmus gegen das Ufer wie sein Herz in seiner Brust. Er war untief wie der Uferrand und unergründlich wie die tiefsten Tiefen in der Mitte des Sees. Er war mit dem See verbunden, wie er es mit Jane niemals sein würde.
„Ich habe jetzt einen Sohn!“, rief er über das Wasser, das an seinen Socken leckte. Seine Schuhe hatte er irgendwo auf dem Weg vom Dorf hierher verloren. Es war ja auch nicht das erste Paar. Er watete tiefer ins Wasser, achtete nicht auf die Kälte. „Ich habe einen Sohn, Darling! Einen Winzling mit Haaren so rot wie die seiner Mum und Augen wie die Heide im Herbst. Hast du gehört, Darling?“
Die Wellen schwappten stärker heran, als wollten sie antworten. Doch Terence redete nicht mit dem Wasser.
„Ich weiß nicht, wie wir ihn nennen werden. Vielleicht Fergus. Oder Geddes. Geddes MacDougall. Gefällt dir das, Darling? Wärst du damit einverstanden?“
Seine Worte hallten übers Wasser und kehrten als Echo zu ihm zurück. Er wusste sofort, dass beide Namen nicht passten. Angestrengt versuchte er, sich daran zu erinnern, welchen Namen Jane ausgesucht hatte. Den Bruchteil einer Sekunde bereute er, dass er nicht besser zugehört hatte. Jane war eine gute Frau. Sie hatte viel mehr verdient, als er ihr gab. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass seine Treue und seine wirklich tiefen Gefühle einer anderen gehörten.
„Andrew!“ Schlagartig fiel ihm der Name wieder ein. Aye, Jane und er hatten eines Abends über Namen für das Baby geredet, bevor er zu seiner allabendlichen Runde in den Pub aufgebrochen war. „Andrew MacDougall. Wie hört sich das für dich an, Darling? Gefällt dir das besser?“
Nichts auf dem See rührte sich, doch er wusste, dass der Name Andrew passte. Gut passte. „Es sind auch noch zwei andere Jungs geboren worden, aber unser Junge ist der Kräftigste von den dreien, Darling. Man munkelt schon, es sei ein Omen. Weil sie zur gleichen Zeit an Halloween geboren wurden und so. Dass die Schicksale der drei Jungs unzertrennlich miteinander verwoben sind. Glaubst du das auch?“
Das Bild von den drei Jungen blitzte wieder in Terence’ Kopf auf. Als er in der Klinik angekommen war, da hatten die drei Bettchen mit den winzigen Babys nebeneinander gestanden, und selbst der Lord hatte keinen Ton hervorgebracht. Sobald die Babys beieinander waren, wurden sie still, so als wüssten sie irgendwie, dass sie zusammengehörten. Alle drei waren propere stramme Jungs; kein einziger Kümmerling war dabei.
Terence merkte erst, dass er weinte, als ihm die Tränen auf den Wangen zu Eis gefroren. In diesem Augenblick wurde ihm auch bewusst, dass seine Füße taub waren und die Taubheit inzwischen bis zu seinen Knien hinaufgekrochen war.
„Zeig dich, Darling!“, lockte er. „Lass mich sehen, dass du auch glücklich bist!“
Den größten Teil seines Lebens hatte Terence damit zugebracht, auf den See hinauszustarren. Hätte er die gleiche Ausdauer und Konzentration auf das Studieren verwand, besäße er einen Universitätsabschluss. Hätte er mit der gleichen Energie und Entschlossenheit nach einer Anstellung gesucht, würde er wohl in einer hochherrschaftlichen Villa irgendwo auf der Princes Street in Edinburgh wohnen.
„Lass dich sehen und zeig mir, dass du dich für mich freust!“
Regungslos stand er da und wartete. Er spürte seine Beine kaum noch. Eine Wolke schob sich über die silberne Sichel des Mondes, der See wurde zu einem dunklen Spiegel. Dann verzog sich die Wolke, und die Wasseroberfläche hellte sich wieder auf, streckte sich glatt und endlos weit bis zum Horizont. Nur in der Mitte, da tauchten plötzlich Ringe auf, dehnten sich weiter und weiter und kamen auf das Ufer zugerollt.
„Darling!“, entfuhr es Terence leise. „Mein Darling!“
Er hielt die Hand über die Augen, obwohl nichts ihn blendete. Er wünschte, er hätte ein Fernglas dabei. Oder noch die gleichen scharfen Augen wie in seiner Jugend. Und vor allem einen klaren Kopf, der nicht vom besten Whisky des Pubs vernebelt war. Ein Schatten erschien, eine Silhouette so anmutig und stolz wie eine wunderschöne Frau.
„Erbarmen“, flüsterte er. Doch er brauchte weder Erbarmen noch Hilfe und erst recht keine Erklärung. „Darling, endlich! Und was für eine Nacht du dir ausgesucht hast!“
Eine ganze Ewigkeit tat er nichts anderes als Starren, bis der See wieder spiegelglatt und ruhig dalag wie kurz vor dem Morgengrauen. Seine Beine waren bis zu den Hüften taub, als er sich endlich umdrehte. Er strauchelte, aber diesmal war er vorbereitet; er hatte es nicht anders erwartet. Er fing den Sturz ab. Das eiskalte Wasser des Sees schwappte über seine Brust, ließ ihm das Mark gefrieren. Doch das Feuer in ihm brannte und wärmte ihn.
Er war Terence MacDougall, Janes Mann und jetzt Andrews Vater. Wollte er sich an dem messen, was der Rest der Welt als Erfolg definierte, war er ein Verlierer. Er war ein Trunkenbold, ein einfacher Fischer und ein Bootsführer für Touristen, ein ganz annehmbarer Geschichtenerzähler und ein Komponist von kernigen Trinkliedern.
Und er war der Mann, der soeben Zeuge eines Wunders geworden war.
Auf allen vieren kroch er an Land zurück. Massierte und schlug gegen seine Beine, bis das Gefühl in sie zurückkehrte. Dann rappelte er sich wankend auf und steuerte auf die Biegung zu, hinter der das kleine Cottage lag, das schon seit dem ersten Tag seines Lebens sein Zuhause war. Kurz vor der Stelle, wo Bäume die Sicht auf den See versperrten, drehte er sich noch einmal um. Seine Stimme bebte.
„Leb wohl, Darling!“
Er bekam keine Antwort, aber Terence hatte auch nicht damit gerechnet. Wunder sprachen nicht, sie erschienen auch kein zweites Mal. Den Rest seines Lebens würde er von der Kraft dieses einen Wunders zehren. Und er würde seinem Sohn alles über Wunder beibringen.
„Leb wohl, Darling! Und vergiss nicht: Der Name des Jungen ist Andrew! Nur, damit du es weißt, wenn ihr euch begegnet. Unser Andrew wird ein guter Junge werden, das verspreche ich. Ein wirklich guter Junge.“
Nicht einmal ein Wasserring folgte als Antwort, doch Terence wusste, dass sein Darling ihn gehört hatte. Seinen Hut hatte er ebenfalls irgendwo auf dem Weg verloren, wahrscheinlich zusammen mit den Schuhen. Dennoch tippte er sich an den nicht mehr vorhandenen Hutrand, bevor er hinter den Bäumen verschwand.
In einem Land, gar nicht so weit weg, in einem See, dessen Wasser so tief sind, dass sie an den Kern der Erde schwappen, lebte einst ein junges Drachenmädchen namens Stardust. Das mag ein seltsamer Name für einen Drachen sein, doch wenn die Sterne ganz besonders hell und strahlend über den Serenity Lake funkeln, dann glitzern sie so, weil sie ihren feinen Sternenstaub an die Wesen abgeben, die im See leben. In einer solchen Nacht wurde Stardust geboren.
Fiona Sinclair blickte durch die Luke hinunter auf den kleinen grünen Fleck, der durch die bauschigen weißen Wolken sichtbar wurde. Für jemanden, der jetzt dort unten stand und zum Himmel aufschaute, war das große Flugzeug, in dem sie saß, nicht mehr als ein winziger Punkt in der Luft, ein silberner Stern mitten am Tag. In den fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie oft Gelegenheit gehabt, in den Himmel zu blicken. Sie hatte mit offenen Augen geträumt und sich mit jedem vorbeifliegenden Flugzeug gewünscht, sie könnte selbst darin sitzen.
Man sollte immer vorsichtig sein mit seinen Wünschen. Zugegeben, das war ein Klischee, aber in ihrem Falle war es wahr geworden.
„Hast du eine kleine Tochter?“
Fiona wandte den Kopf zu dem dunkelhaarigen Mädchen, das in dem Sitz auf der anderen Seite des Ganges neben ihr saß. Sie hatte die Kleine vorher gar nicht richtig wahrgenommen. Eigentlich hatte sie kaum etwas wahrgenommen, seit sie an Bord gegangen war, außer der stetig wachsenden Angst in ihr. Jetzt zwang sie sich zu einem Lächeln. „Nein.“
„Für wen ist das dann?“ Das Mädchen, in einem roten Rock, roter Strumpfhose und rotem T-Shirt mit aufgedruckten silbernen und goldenen Kreiseln, deutete auf das Buch auf Fionas Schoß.
„Für meine Nichte. Sie heißt April und ist acht Jahre alt. Wie alt bist du denn?“
„Oh, viel älter.“ Das Mädchen seufzte wie jemand, dem das Leid der Welt auf den Schultern lag. „Ich bin schon fast zehn.“
Fiona nickte ernst. „Dann bist du wohl viel zu alt für Märchenbücher, oder?“
„Oh ja! Aber ich habe alle Stardust-Bücher gelesen, als ich noch klein war.“
Also gestern, dachte Fiona sich. „Und? Wie haben sie dir gefallen? Meinst du, ich habe eine gute Wahl für April getroffen?“
„Ich glaube, sie wird es ganz okay finden. Ist das da ein neues?“
So so, ganz okay.Ein Riesenlob, das höchste überhaupt. Fiona überraschte sich selbst damit, dass sie jetzt ehrlich lächelte. Dabei dachte sie, sie hätte jedes echte Lächeln auf dem sicheren Erdboden zurückgelassen. „Ja, das ist das neueste Buch.“ Um genau zu sein, es war so neu, dass es noch nicht im Handel erhältlich war. Fiona war die Autorin der Bücher. Vorhin erst, gerade, als sie aus dem Haus gehen wollte, um zum Flughafen zu fahren, waren ihr die ersten Exemplare frisch aus der Druckerei geliefert worden.
Das Mädchen lehnte sich weit herüber und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf den Buchdeckel. „Sieht aus, als hätte Stardust einen Freund gefunden.“
„Ich vermute, sie hat sich endlich entschieden, auf die andere Seite des Sees zu schwimmen und nachzusehen, ob dort nicht noch eine andere Familie von Wasserdrachen lebt.“
„Aber sie hatte doch immer solche Angst, ihre Höhle zu verlassen! Sie hatte Angst davor, irgendwo anders hinzuschwimmen.“
Wortlos reichte Fiona dem Mädchen das Buch, und die Kleine nahm es aufgeregt entgegen. Erst nachdem es die erste Seite verschlungen hatte, hob es wieder den Kopf, angestrengt bemüht, ganz schrecklich gelangweilt zu wirken. „Ich lese es schnell und sage dir dann, ob es gut ist oder nicht.“
„Einverstanden. Ich weiß, du wirst mir deine ehrliche Meinung sagen.“ Fiona lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Es gab viele Wege für die Drachen, ans gegenüberliegende Ende des großen Wassers zu gelangen. Und so viele verschiedene Arten. Schwimmen war nur eine davon.
Neben sich, auf der anderen Seite des Ganges, hörte Fiona ein Kichern und das Rascheln einer umgeschlagenen Buchseite. Und sie fragte sich das, was sie sich in jeder Minute gefragt hatte – seit dem Tag, an dem sie mit der Planung für ihre Flucht begonnen hatte: nämlich wie sie mit der Welt jenseits ihrer Höhle fertig werden würde.
Es war nicht Andrews Schuld, dass seine Kleider nach Rauch rochen. Unter seinen Fingernägeln saß ein schwarzer Ascherand, seine Hände zitterten. Mehrmals hatte er sie in dem Haus neben der Unfallstelle geschrubbt, trotz der wunden Haut. Hatte sie mit der Reinigungspaste abgerieben, die angeblich alles entfernte, wahrscheinlich einschließlich der obersten Hautschicht. Doch die Asche und die Brandblasen würden sich mit Sicherheit noch eine ganze Weile halten.
Genau wie die Bilder in seinem Kopf.
Er war niemand, der sich leicht aus der Ruhe bringen ließ. Seit seinem Universitätsexamen arbeitete er auf Ölplattformen in der Nordsee, und er hatte mehr als genug Katastrophen miterlebt. In seiner Zeit als Taucher hatte er den Leichnam eines Kollegen gefunden, eingequetscht zwischen zwei Ölleitungen, für immer eingegangen ins Reich des Klabautermanns. Als Ingenieur auf der Bohrinsel hatte er hilflos mit ansehen müssen, wie ein Norweger, ein Bär von einem Mann, von einem Neunzig-Knoten-Orkan von der Plattform direkt nach Walhalla geweht worden war. Er hatte sich als Freiwilliger zu Rettungsmissionen an Land und zu Wasser gemeldet und sich niemals gedrückt, wenn er zum Einsatz gerufen worden war.
Doch die Tragödie, die er heute Nachmittag miterlebt hatte, ließ ihn sich wünschen, er könnte am Straßenrand anhalten und einfach die Tränen laufen lassen.
Nun, er konnte den Wagen nicht an den Straßenrand lenken. Er war schon viel zu spät dran. Er hatte Duncan Sinclair versprochen, Fiona, seine Schwester, nicht am Prestwick Airport warten zu lassen. Ihm war die Verantwortung für Fionas Sicherheit übertragen worden. Die zarte, scheue Fiona, die nur selten ihr Heim in New York verließ. Fiona, die mit fünfundzwanzig eine Reise antrat, die sie gleich wieder nach Hause führen könnte, wenn Andrew nicht bald am Flughafen auftauchte.
Für jemanden, der in Eile war, fuhr er geradezu lächerlich langsam. In der letzten Stunde hatte die Tachonadel nicht einmal die erlaubte Geschwindigkeit angezeigt. Jedes Mal, wenn Andrew das Gaspedal tiefer durchdrückte, blitzten sofort Bilder von zerfetztem Metall und schwarzen qualmenden Rauchwolken vor seinem geistigen Auge auf.
Und er hörte das Weinen eines Kindes.
Immerhin passte der restliche Verkehr sich seinem Schleichtempo an, als er sich Prestwick näherte. Jetzt konnte er nichts anderes mehr tun, als sich für die Ausfahrt einzuordnen und der Schlange bis zum Flughafenparkplatz zu folgen. Als er die Wagentür abschloss und auf das Ankunftsterminal zurannte, stand Fionas Maschine schon seit über einer Stunde auf dem Boden.
Prestwick war ein Irrgarten aus Schaltern und Wartezonen. Er überflog die großen Anzeigetafeln. Er war so spät, dass der Flug nicht einmal mehr aufgelistet war. In einer endlosen Schlange wartete er am Informationsschalter, um herauszufinden, zu welchem Gate er musste, dann joggte er im Zickzack durch Menschenmengen in Saris und mit Turbanen, in korrekten Anzügen und dürftiger Urlaubsgarderobe. Einen Teenager mit grünem Haar, das sich grässlich mit dem karierten Muster des Kilts und den kniehohen Cowboystiefeln biss, fragte er nach dem Weg. Der junge Mann zeigte in die Richtung, und im gleichen Augenblick sah Andrew auch schon die Frau, die allein in der entferntesten Ecke des Gates saß.
Andrew blieb reglos stehen und schaute sie an. Das letzte Mal hatten sie sich gesehen, da war Fiona drei und er acht gewesen. Sie war die kleine Schwester, die er nie gehabt hatte, die Schwester, die ihm durch eine Tragödie und gleichgültige Erwachsene entrissen worden war. Über die Jahre hatte er immer wieder einmal versucht sich vorzustellen, wie sie aufwuchs. Durch Duncan hatte er ihre Entwicklung mitverfolgen können, hatte auch ab und zu ein Foto zu sehen bekommen. Doch nichts davon hatte ihn wirklich vorbereiten können.
Nichts.
Fiona sah auf, und ihre Blicke trafen sich. Von Poesie hielt er nicht unbedingt viel. Gold war Gold, und Braun war Braun. Doch während er auf sie zuging, erkannte er, dass sich in Fionas Augen diese beiden Farben auf einzigartige Weise vereinigten – strahlender Sonnenschein und bernsteinfarbenes Mondlicht. Sie blickte ihm entgegen. Blanke Nervosität stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Andrew?“
„Aye.“ Er verlangsamte seine Schritte, näherte sich ihr vorsichtig, wie man sich einem scheuen wilden Tier nähern würde. „Aye, ich bin Andrew. Und unendlich froh, dass du noch hier bist, Fiona.“
Ihre Lippen verzogen sich zu einem gezwungenen Lächeln. Sie sprach die Worte stockend aus, so als müsse sie jede einzelne Silbe hinauspressen. „Wo hätte ich denn hingehen sollen?“
Bedachtsam setzte er sich neben sie. Sie waren allein am Gate; eine Anzeigentafel informierte darüber, dass die nächste Maschine hier erst in zwei Stunden abfliegen würde. „Ich habe fast befürchtet, dass du auf dem Absatz kehrtmachen und dich in die nächste Maschine setzen würdest, die zurückfliegt.“
Sie wandte das Gesicht ab, bot ihm den Blick auf ein Profil mit Stupsnase und einer Lockenmähne rötlich-goldenen Haars. „Ich habe mit dem Gedanken gespielt. Aber es ist eine weite Reise.“
„Ich bin rechtzeitig losgefahren, mit viel Spielraum. Ehrlich. Aber dann war da dieser Unfall …“ Er wollte nicht darüber reden.
Die Lockenpracht wirbelte durch die Luft. „Oh, das tut mir leid! Ist alles in Ordnung mit dir? Bist du verletzt?“
„Nein. Ich kam hin, als es schon passiert war.“
„Also war die Straße blockiert?“
Das war das Wenigste gewesen. „Aye.“
„Weißt du, ob …? Ist jemand …?“
„Es war ein schlimmer Unfall.“ Er sah auf seine Hände hinunter, rot vom Schrubben, übersät mit Brandblasen und Aschepartikeln. Er verschränkte sie hinter dem Rücken, damit er sie nicht länger ansehen und sich an die Bilder erinnern musste. „Also, erzähl … Wie war der Flug? Alles glattgegangen? Haben sie dich auf der langen Reise anständig versorgt?“
„Ich habe nichts gegessen.“
„Warum nicht?“
„Weil mir das Herz im Hals feststeckte und keinen Platz für irgendetwas anderes übrig gelassen hat.“
Er überraschte sich selbst damit, dass er lachte. Hätte er vorher darüber nachgedacht, hätte er es nicht gewagt. Dabei wusste er, dass Fiona es todernst meinte. Der Flug hatte sie wahrscheinlich jedes Fünkchen Mut gekostet, das sie zusammenklauben konnte. Sein Lachen entlockte ihr ein Lächeln. Dieses Mal ein echtes Lächeln, eines, das ihn an die Mona Lisa denken ließ.
„Ich weiß, es klingt lustig.“ Sie verzog das Gesicht, Sommersprossen tanzten über ihre Nase und Wangen. „Ich fürchte, du wirst feststellen, dass ich ein unerschöpflicher Quell an Belustigung bin.“
„Bestimmt nicht.“ Er ernüchterte schnell. „Habe ich dir schon gesagt, wie froh ich bin, dich zu sehen?“
„Tatsächlich?“
„Du hast dich verändert, bist ein gutes Stück gewachsen. Aber du bist immer noch unsere Fiona.“
„Bin ich das?“ Sie zuckte mit den Schultern. Die Bewegung ließ den Kragen ihrer hochgeschlossenen, langärmeligen Bluse an ihrem Hals hinaufrutschen, bevor er wieder hinunterglitt. Erst in diesem Moment fielen Andrew die Narben auf, die der Kragen und ihr Haar bisher verborgen hatten.
Sein Blick wanderte bewusst lässig zurück zu ihrem Gesicht. „Aye. Willkommen zu Hause, Darling! Es ist lange her.“
Farbe zog in ihre Wangen, ein helles Apricot, das ihrem zarten Teint einen wunderbaren Ton verlieh. „Vielleicht nicht lange genug.“
Er fasste nach ihrer Hand. Wie sein Vater war auch er ein Mann, der keine Angst vor Körperkontakt hatte. Welche Fehler Terence MacDougall auch immer gehabt haben mochte, er hatte seinem Sohn beigebracht, dass in herzlichen und warmen Berührungen nichts Falsches lag. Andrew verschränkte seine kräftigen ascheschwarzen Finger mit Fionas schlanken und ignorierte es, dass sie ihm ihre Hand entziehen wollte. Ihre Haut war genauso weich, wie er es sich vorgestellt hatte. Ihre Finger zitterten.
„Viel zu lange“, bekräftigte er. „Du gehörst hierher, Fiona! Das wird immer so sein. Du hast hier mehr Familie als nur Duncan, Mara und April. Da sind auch noch Iain und ich, und Iains Frau Billie. Es gibt nichts, was wir nicht für dich tun würden.“
„Das ist wirklich sehr nett, aber …“
Er drückte ihre Finger, bevor er sie freigab. „Jetzt werden wir erst einmal etwas zu essen für dich besorgen, bevor wir uns auf den Weg zurück nach Druidheachd machen. Hast du Duncan schon Bescheid gegeben, dass du angekommen bist?“
„Ich habe ihn angerufen. Er hat mir erzählt, dass er heute nicht aus dem Hotel weg kann und du dich bereit erklärt hast, mich abzuholen. Und dass du ein Mann bist, der immer Wort hält.“ Unter Wimpern mit goldenen Spitzen hervor schaute sie ihn an. „Auch wenn es manchmal etwas länger dauern kann.“
Wieder lachte er. „Da hat er recht. Komm, gehen wir irgendwo essen. Ich werde ihn anrufen und ihm alles erklären.“ Er stand auf.
Sie wollte protestieren, doch er ließ es nicht zu. „Was ist mit deinem Gepäck?“
„Der Mann bei der Gepäckausgabe hat versprochen, auf meine Koffer aufzupassen. Ich habe ihm mein Ticket dagelassen.“
„Fein, dann essen wir erst.“
Sie erhob sich ebenfalls. „Ich kann gut noch warten, Andrew.“
„Dann besitzt du mehr Selbstdisziplin als ich.“ Die Hand an ihrem Ellbogen, steuerte er sie durch die Menschenmenge, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan. Die Geste schien sie zu überraschen, doch sie versuchte nicht, den Arm zurückzuziehen. „Ich habe da hinten ein Café gesehen, das auch Sandwiches anbietet. Reicht dir das für den Moment?“
„Das ist mehr als genug, ja.“
Er ging langsam, achtete darauf, seine langen Schritte kleiner zu halten. Duncan hatte ihm irgendwann erzählt, dass Fiona humpelte. Jetzt bemerkte er den kleinen, höchst femininen Hüftschlenker, wenn sie den rechten Fuß vorsetzte, doch das war bei Weitem nicht das, was er erwartet hatte. Sie war dadurch nur unmerklich langsamer. Ohne große Mühe passte er sich an.
Er machte Konversation, nicht nur, damit sie sich wohler fühlte, sondern auch, um die Bilder des Unfalls aus seinem Kopf zu vertreiben. „Hast du im Flugzeug geschlafen?“
„Nicht eine einzige Minute.“
„Ich weiß, das Herz steckte dir in der Kehle, aber … was hat deine Augen davon abgehalten, sich zu schließen?“
„Ich habe sie mit den Fingern offen gehalten. Ich wollte auf keinen Fall schlafen, wenn wir abstürzen.“
Er stöhnte. „Mir ging es genauso, als ich zum ersten Mal geflogen bin.“
„Das glaube ich dir nicht.“
„Es ist wahr. Nur habe ich da in einem Helikopter gesessen, auf dem Flug zu der Ölplattform, auf der ich meinen allerersten Job antrat. Von einem Taucher erwartet man, dass er keine Angst kennt, schließlich hängt der Job davon ab. Um mich abzulenken, habe ich gepfiffen, so laut ich nur konnte. Bis der Typ neben mir gedroht hat, mir die Zähne auszuschlagen, wenn ich nicht endlich mit dem Gepfeife aufhöre.“
„Ohne Zähne lässt es sich nicht gut pfeifen.“
Er war bereits bezaubert von der ernsthaften Art, mit der sie scherzte. Viel Selbstsicherheit besaß sie nicht, aber sie war lange nicht so scheu und verschlossen, wie er es sich ausgemalt hatte. Nach allem, was er gehört hatte, war er davon ausgegangen, eine Frau anzutreffen, die ihm nicht ins Gesicht schauen konnte, sondern die Augen fest auf den Boden gerichtet hielt. Doch die Frau an seiner Seite schaute sich lebhaft interessiert alles und jeden an, während sie auf das Bistro zusteuerten. Sie hielt sich eng neben ihm, so als wäre sie froh um seine reine maskuline Präsenz, und saugte jedes Detail des Flughafens in sich ein.
„Das ist es.“ Er ließ ihren Ellbogen los und zog die Tür auf. „Hier drinnen ist es ruhig und gemütlich. Du isst einen Happen und ruhst dich ein wenig aus, bevor wir zurückfahren.“
In der Nähe der Tür stand ein freier Tisch, den Andrew wählte. So konnte Fiona durch die Glasscheibe das vorbeiziehende Geschehen mitverfolgen. Sie setzte sich mit einem inbrünstigen Seufzer, so als hätte sie auf dem Stuhl ihr festes Zuhause gefunden. Ihre Augen blickten dankbar drein, doch die Lippen hielt sie zu einer angestrengten schmalen Linie zusammengepresst. Zum ersten Mal ahnte Andrew, welche Kraft die Entscheidung, nach Schottland zurückzukehren, ihr abverlangt hatte.
„Wenn du erst etwas im Magen hast, kannst du dich der Welt stellen.“ Er winkte der grauhaarigen Frau mit der weißen Schürze zu, die vorn an den Tresen gelehnt stand. Nachdem sie sich erst Millimeter um Millimeter aufgerichtet hatte, schlurfte sie auf den Tisch mit den neuen Gästen zu. Service wurde hier offensichtlich nicht besonders großgeschrieben. Andrew fragte sich, wie viele Flüge wohl verpasst worden waren, weil jemand hier auf eine Tasse Kaffee gewartet hatte. „Weißt du schon, was du möchtest? Sieht aus, als hättest du genügend Zeit, um dich zu entscheiden.“
„Eine Suppe, wenn sie so etwas hier anbieten.“
Sie einigten sich auf Rindfleischsuppe mit Graupen und bestellten eine große Kanne Tee dazu. Andrew plante ernsthaft, mindestens sechs Stücke Zucker in Fionas Tasse zu schmuggeln. Am liebsten hätte er auch noch einen kräftigen Schuss Whisky hinzugefügt.
Fiona sprach erst, als die Bedienung wieder davongeschlurft war. „Weißt du eigentlich, dass deine Hand blutet?“
Er sah hinunter auf seine Hände. Sie brannten, er konnte den Puls pochen fühlen, aber das war kein Wunder. Den Schmerz hatte er bisher ignoriert – ein unvergleichlich geringer Preis angesichts der menschlichen Tragödie, deren Zeuge er geworden war. Jetzt erst sah er, dass die Haut an seinem rechten Handballen komplett abgeschürft und die Hand geschwollen war. Und er sah das Blut.
„Tut mir leid. Hast du was abbekommen?“
„Keine Ahnung, aber darum geht es doch auch gar nicht, oder?“ Sie nahm ihre Serviette und tunkte sie in die Wasserkaraffe, die man auf den Tisch gestellt hatte. Dann tupfte sie damit vorsichtig über seine Hand. Sanft. Sanfter, als je jemand ihn berührt hatte.
Bis zu dieser schlichten Geste war es ihm gut gegangen. Es war ihm gut gegangen, aber jetzt plötzlich tat es das nicht mehr, alles hatte sich geändert.
Er stand auf und wusste nicht, wie er es erklären sollte. Was er erklären sollte. „Ich rufe eben Duncan an. Kommst du zurecht?“
„Ja, natürlich, geh nur.“ Sie wirkte, als wolle sie noch etwas hinzufügen, doch glücklicherweise tat sie es nicht.
Er musste ein ganzes Stück laufen, bevor er einen Münzfernsprecher fand. Das war ihm eigentlich ganz recht; Fiona brauchte nicht zu hören, was er Duncan zu sagen hatte. Mit dem Rücken zu den vorbeieilenden Passagieren wartete er auf die Verbindung, den Telefonhörer an das eine Ohr gepresst, die freie Hand auf dem anderen. Als Duncan sich meldete, verschwendete er keine Zeit.
„Fiona geht es gut, Dunc. Wir essen noch einen Happen, bevor wir uns auf den Rückweg machen. Wir sind bald zu Hause.“
Er lauschte den ärgerlichen Vorwürfen am anderen Ende der Leitung und wartete, bis Duncans Wut sich entladen hatte. Nachdem Duncan sich beruhigt hatte, setzte Andrew wieder an. „Es gab eine Karambolage auf der A82. Drei Autos haben sich ineinander verkeilt. Ich war als Erster am Unfallort. Einer der Wagen ist in Flammen aufgegangen. Es saßen noch Menschen darin, Duncan.“
Er konnte plötzlich nicht mehr weitersprechen. Bis zu dem Moment, da Fiona seine Hand versorgt hatte, war es ihm gelungen, die schrecklichsten Bilder des Unfalls irgendwie auszublenden. Jetzt, da er nicht mehr in ihrer Nähe war, liefen sie wieder vor ihm ab, das ganze Horrorszenario. Er schluckte. Einmal, zweimal. Und konnte noch immer nicht reden.
„Andrew, das tut mir ehrlich leid.“ In Duncans Stimme schwang echtes Bedauern und auch das schlechte Gewissen mit. „Warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich hätte wissen sollen, dass es einen guten Grund geben muss, wenn du dich verspätest und Fiona warten lässt.“
„Ich wäre überhaupt nicht hergekommen, wenn es nicht Fiona gewesen wäre, die hier wartet.“
„Hast du es ihr gesagt?“
„Nicht die Details. Großer Gott, nein! Da saß ein kleines Mädchen in dem Wagen, Duncan, zusammen mit ihren Eltern. Das Mädchen habe ich aus den Flammen retten können, aber nicht seine Eltern. Sie sind … sie sind nicht mehr unter uns.“
„Geht es dem Mädchen gut?“
„Nein.“ Andrew fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Man hat sie nach Glasgow gebracht, in die Klinik mit der Spezialabteilung für Brandopfer. Dieselbe Klinik, in der Fiona war …“
Auch Duncan schwieg jetzt.
„Was hätte ich Fiona sagen sollen?“, fragte Andrew aufgewühlt. „Was denn nur?“
Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter, den sanften Druck einer Frauenhand. Er drehte sich um und blickte direkt in Fionas Augen.
„Die Wahrheit hättest du ihr sagen sollen.“ Ihr Blick war ein einziger glühender Vorwurf. „Mit genau den gleichen Worten, in denen du es gerade ihrem Bruder am Telefon geschildert hast.“
Ich wollte dich nicht aufregen“, sagte Andrew, als sie schließlich Richtung Druidheachd fuhren. „Dein erster Tag zurück in Schottland sollte dich nicht sofort an deine eigene Zeit im Krankenhaus erinnern.“
„Diese Zeit werde ich nie vergessen, ganz gleich, was du sagst oder nicht sagst. Ich bin praktisch in Krankenhäusern aufgewachsen.“ Aber ob sie wirklich erwachsen geworden war … Sie war sich dessen keinesfalls sicher. „So zu tun, als wäre ich nie im Krankenhaus gewesen, hilft mir nicht. Um die Wahrheit herumzuschleichen, hilft mir auch nicht.“
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