Insel hinter dem Regenbogen - Emilie Richards - E-Book

Insel hinter dem Regenbogen E-Book

Emilie Richards

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Beschreibung

Happiness Key wird für die verwöhnte Tracy ein Ort der Entscheidung. Geld - oder Liebe? Die Ehe kaputt, das Vermögen weg, der Exmann im Gefängnis - die verwöhnte Tracy Deloche muss sich von ihrem Luxusleben verabschieden. Nur etwas Land auf Happiness Key ist ihr geblieben, einer Insel vor Florida mit ein paar Strandhäusern. Dort wohnen drei Frauen, mit denen Tracy nichts zu tun hat. Am besten wäre es, alles an einen Bauspekulanten zu verkaufen, glaubt sie. Aber die Zeiten sind schlecht, die Inselbewohnerinnen werden unerwartet zu Freundinnen … und dann ist da noch Marsh Egan. Der attraktive Rechtsanwalt setzt sich leidenschaftlich für den Umweltschutz ein und will Happiness Key unbedingt retten. Tracy muss sich entscheiden: Für oder gegen Marsh, für oder gegen Freundschaft - für oder gegen das Glück.

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Seitenzahl: 850

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Emilie Richards

Insel hinter dem Regenbogen

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Christiane Meyer

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Valentinskamp 24, 20350 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2011 by MIRA Taschenbuch

in der CORA Verlag GmbH & Co. KG

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Happiness Key

Copyright © 2009 by Emilie Richards McGee

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Stefanie Kruschandl

Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz /

Galen McGee Peak-Definition Productions

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-049-5 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-048-8

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Der alte Mann meldete sich noch immer nicht.

Tracy Deloche ballte die Hand zur Faust und klopfte an den Rahmen von Herb Krauses Fliegengittertür. Sie zuckte zusammen, als sie sich einen Splitter einfing.

Ungeduldig drehte sie die Hand um und zog mit Fingernägeln, die dringend der Hilfe ihrer Lieblingsnagelpflegerin bedurften, den ärgerlichen Holzsplitter heraus. Leider war die herzensgute Hong Hanh mehr als dreitausend Kilometer von ihr entfernt und feilte und polierte gegen eine stattliche Vergütung Fingernägel im Beverly Wilshire Hotel. Tracy hingegen klopfte und schrie und versuchte, Herbert Krauses mickrige Miete einzutreiben, damit sie ihren Kühlschrank und ihren Tank füllen konnte.

„Mr. Krause, sind Sie zu Hause?“, rief sie. „Was ist bloß los?“, murmelte sie, als niemand antwortete. Hinter dem Haus sah sie seinen alten Dodge stehen. Sie war sich sicher gewesen, den richtigen Zeitpunkt erwischt zu haben. Doch offensichtlich hatte sie heutzutage fürs Geldeintreiben ein ebenso gutes Händchen wie für alles andere.

Tracy ließ sich auf eine Holzbank neben drei sorgfältig angeordneten Orchideen in Tontöpfen fallen. Etwas Grünes, Schleimiges flitzte hinter ihr entlang und verschwand in der Streu aus Louisianamoos, die die Beete bedeckte. Das war typisch für Florida – es wimmelte nur so von Lebewesen, die an einem vorbeihuschten und von denen einige mehr dürre Beinchen hatten als ein Eimer voller Hähnchenschenkel.

Happiness Key. Was übersetzt auch so viel hieß wie „Der Schlüssel zum Glück“. Sie musste sich ein Lachen verbeißen.

Ihr Ex-Ehemann C J war verantwortlich für den Namen des „Bauprojekts“, das aus Herbs sowie vier weiteren Häuschen bestand. In einem seltenen Versuch, poetisch zu sein, hatte C J dieses Loch das Yin und Yang von Florida genannt. Auf der einen Seite weiße Sandstrände mit hohen Palmen, die sich in der sanften tropischen Brise wiegten. Auf der anderen Seite die Schönheit der unverfälschten Natur Floridas. Mangroven und Alligatoren, exotische Zugvögel und Sümpfe, in denen die süße Melodie von Mutter Natur niemals verstummte. Wer könnte an einem Ort wie diesem nicht glücklich werden? Vor allem C J, der sich ausgemalt hatte, sein beachtliches Vermögen noch auszubauen, indem er das Land erschloss und einen Großteil dieser Natur dafür opferte – sein Traum waren ein Jachthafen und exklusive Eigentumswohnungen für wohlhabende Leute gewesen, die den Winter in Florida verbrachten.

Von der Seite von Herbs Häuschen her drang das Summen einer Klimaanlage an Tracys Ohr. Bei dem Geräusch bekam sie Zahnschmerzen. Ein Besuch bei Herb war so, als verbrachte man den Sommer in der Antarktis. Wie lange würde es noch dauern, bis das Gerät seinen Geist aufgeben, auf der Mülldeponie des Sonnenstaates landen und sie Hunderte von Dollar für ein neues würde ausgeben müssen? Herb war vermutlich älter als die Mangrovenbäume, die den Zugang zur Bucht blockierten, und älter als die Grabhügel am anderen Ende des Palmetto Grove Key, wo die ersten Siedler Floridas ihre Toten bestattet hatten. Kein Wunder, dass sein innerer Thermostat aus dem Tritt geraten war. Tracy war nur froh, dass der alte Mann selbst für seinen Strom bezahlte. Die Wohnung eines älteren Bürgers zwangsräumen zu lassen, um ein paar Dollar zu sparen, würde ihr die öffentliche Aufmerksamkeit bescheren, die sie im Moment wirklich nicht gebrauchen konnte.

Davon hatte sie in Kalifornien schon genug gehabt.

Sie lehnte sich an die Hauswand aus Betonsteinen, verschränkte die Arme und schloss die Augen. Seit sie an diesem Morgen aus dem Bett gestiegen war, hatte sie nicht auf die Uhr geschaut, doch sie nahm an, dass es ungefähr neun Uhr war.

Die Luft begann allmählich zu flirren. Im Mai herrschten an der Golfküste Floridas bereits hochsommerliche Temperaturen. Natürlich hatte sie hier noch keinen Hochsommer miterlebt, also war der Juni vermutlich noch schlimmer. Wahrscheinlich war es im Juni unerträglich. Doch was machten schon ein paar Grad Lufttemperatur, wenn man bedachte, wie unerträglich ihr ganzes Leben seit der Scheidung von C J geworden war? Sollte die Luftfeuchtigkeit ruhig so hoch sein, dass man die Luft schneiden konnte. Was kümmerte es sie? Sie würde damit fertig werden und etwas daraus machen.

Das war ihr neues Mantra. Und sie hatte nicht einmal irgendeinem selbst ernannten Guru von der Westküste oder seinen ergebenen Anhängern ein Vermögen bezahlt, um das herauszufinden. Sie hatte es ganz allein herausgefunden. Gratis.

In der Nähe quietschte eine Tür. Einen Moment lang glaubte sie, dass Herb Krause sich durch die eisige Tundra in seinem Wohnzimmer geschlagen hätte. Doch dann hörte sie etwas, das sich wie ein Besen auf dem Betonfußboden anhörte. Sie schlug die Augen auf und beugte sich leicht vor, um Herbs Nachbarin Alice Brooks zu erblicken. Die alte Dame war in einen wallenden rot-weißen Hausmantel gehüllt und fegte ihre Veranda. Das war nicht das erste Mal. Tracy schenkte ihren Mietern zwar nur so viel Aufmerksamkeit, wie unbedingt notwendig war, aber selbst ihr war aufgefallen, dass Alice morgens, mittags und abends mit ihrem Besen draußen war.

Falls ihr Lebensinhalt jemals aus züchtig zugezogenen Hausmänteln und einer Veranda bestehen sollte, die sauber genug war, um jederzeit eine Operation darauf durchführen zu können, würde sie freiwillig ins Wasser gehen, bis die Wellen über ihrem Kopf zusammenschlugen. Dann würde sie es sich dort bequem machen und einfach langsam verrotten.

Alice blickte von ihrer Veranda auf. Ihr Blick traf Tracy. Sie schien überrascht zu sein, ihre Vermieterin auf der Bank vor Herbs Häuschen sitzen zu sehen. Einen Moment lang sah sie sich verwirrt um.

Tracy erhob sich und schlenderte über die große Rasenfläche, die die Häuser voneinander trennte. Alice stand sowieso als Nächste auf ihrer Liste. Und da Herb sie entweder ignorierte oder nicht da war, konnte sie ebenso gut weitermachen. Irgendjemand musste heute seine Miete bezahlen – ansonsten wäre Tracy ebenso blank wie Paris Hilton in einem ihrer zahlreichen Privatvideos.

„Guten Morgen, Alice“, sagte sie, als sie vor ihr stand. Sie lächelte, obwohl die Anstrengung, den Mund zu verziehen, ihr den Schweiß auf die Stirn trieb. „Sie machen wohl nie Pause, oder?“

„Der Sand. Und die Bäume.“ Alice schüttelte den Kopf.

„Tja.“ Tracy war sich nicht sicher, was mit Alice los war. Die alte Dame wirkte immer ein wenig so, als würde sie neben sich stehen. „Nun ja, ich habe mir überlegt, dass ich von allen Mietern den monatlichen Scheck einsammle, bevor es zu heiß wird.“

Alice nickte und legte verwirrt ihre Stirn in Falten. „Heute?“

„Genau. Heute ist der fünfzehnte Mai. Die Miete ist fällig. Erinnern Sie sich? Ich sagte, es wäre unkomplizierter, wenn jeder gleich am selben Tag bezahlen würde?“

Alice nickte wieder, sah aber noch immer verstört aus. Sie trug eine Brille mit Metallrand, der den gleichen silbergrauen Farbton wie ihr Haar hatte. Dazu hatte sie Ohrstecker mit Perlen angelegt, die mit einer altmodischen Halterung befestigt waren. Tiefe Falten zogen sich von ihrer Nase zu ihren Mundwinkeln, die immer etwas nach unten zeigten. Heute wirkte sie noch trauriger als sonst. Tracy hatte das Gefühl, dass die letzten Jahre nicht viele glückliche Momente für Alice bereitgehalten hatten.

Willkommen im Klub.

Im Haus erklang eine helle Kinderstimme, vermutlich von einem Mädchen. Tracy war bereits der neue Saab aufgefallen, der auf der Einfahrt neben Alices zehn Jahre altem Hyundai stand.

„Es tut mir leid“, sagte Tracy. „Klingt, als hätten Sie Besuch. Ich kann auch später wiederkommen, wenn es Ihnen besser passt.“

„Besuch?“

„Jemand ist in Ihrem Haus.“ Tracy wies auf Alices Fliegengittertür. Das Häuschen war, so wie alle anderen in der Siedlung, eine Schuhschachtel aus Betonsteinen mit einem schäbigen Schindeldach. Die Außenfassade von Alices Haus war in einem sanften Gelb gestrichen, die Fensterläden und die Türen in einem strahlenden Korallenrot, die Fenstersprossen und die Gitter vor den Fenstern in einem dunklen Seegrün. Als Verzierung prangten drei türkise Seepferdchen in einer absteigenden Reihe an der Wand. Für Tracy wirkten sie fast so, als versuchten sie zu fliehen.

Alice warf einen Blick hinter sich. „Enkelin. Mein Schwiegersohn. Sind gekommen, um hier zu wohnen.“

Tracy war überrascht. „Hier? Bei Ihnen?“

Ein Mädchen mit langen Haaren – höchstwahrscheinlich die zuvor erwähnte Enkelin – kam an die Tür und drückte sein Gesicht fest gegen das Fliegengitter. „Hi. Haben Sie Kinder?“, fragte sie hoffnungsvoll, die Lippen ans Fliegengitter gepresst.

Tracy versuchte, sich an die Klauseln in Alices Mietvertrag zu erinnern. Konnte ein Mieter ohne ihre Erlaubnis wirklich irgendjemanden einladen, hierherzukommen und auch in dem Häuschen zu wohnen? Mit den gewaltigen Ideen und Plänen für den Grundbesitz war der Papierkram eher dürftig ausgefallen, als C J die Häuschen vermietet hatte. Mit einer Kündigungsfrist von nur dreißig Tagen konnte der Vertrag von beiden Parteien gelöst werden, und alle Reparaturen lagen im Ermessen des Besitzers. Und Besitzer war nun Tracy, da C J augenblicklich mit seinen eigenen Problemen mehr als ausgelastet war.

Das Gesicht des kleinen Mädchens wirkte hinter dem Fliegengitter – einem altmodischen Ding, das vor sich hin rostete – ganz verschwommen. Durch das Fliegengitter hindurch war es schwer zu sagen, wie alt die Kleine sein mochte oder wie sie sonst aussah, doch Tracy nahm an, dass sie noch keine Jugendliche war. Ehe Tracy auf ihre Frage antworten konnte, erklang aus dem hinteren Teil des Hauses die Stimme eines Mannes.

„Olivia …“

„Haben Sie?“, wiederholte das Mädchen etwas leiser. „Jemanden, mit dem ich spielen kann?“

Tracy stellte sich vor, wie ihr Leben aussehen würde, wenn sie und C J zu ihrer persönlichen Gleichung noch ein Kind hinzugefügt hätten.

„Nein, niemanden“, erwiderte sie mit echter Dankbarkeit. „Tut mir leid. Ich habe nicht einmal einen Sittich.“

„Olivia …“ Die Stimme des Mannes klang freundlich, aber die Wiederholung erfüllte ihren Zweck. Olivia drehte sich um und wurde zu einem schemenhaften Umriss. Dann verschwand sie im Innern des Hauses.

„Lee stellt sie aus“, sagte Alice.

Tracy wandte sich wieder der alten Dame zu. „Entschuldigen Sie. Was meinten Sie?“

„Schecks. Lee stellt sie aus.“

„Ihr Schwiegersohn?“

Alice wirkte zufrieden, weil Tracy sie offenbar verstand. „Er wird ihn ausstellen.“

„Großartig. Würden Sie ihn bitten, dass er es jetzt sofort macht? Währenddessen kann ich es ja noch mal bei Herb versuchen. Sein Auto ist da, aber als ich vorhin geklopft habe, hat er nicht aufgemacht.“

„Habe ihn nicht gesehen.“

Tracy nahm das zur Kenntnis. War Herb weg? Oder war er etwa umgezogen? Ohne zu zahlen.

„Lee kümmert sich um … alles“, fuhr Alice fort.

Tracy interessierte sich eigentlich nicht für Alices Lebensumstände – solange sie nur ihre Miete pünktlich bezahlte und ohne zu murren das Häuschen räumte, wenn sie darum gebeten wurde. Aber im Moment musste Tracy sie noch bei Laune halten, deshalb zwang sie sich wieder zu einem Lächeln.

„Ich bin froh, dass Sie eine Familie haben, die Ihnen hilft. Das ist so wichtig.“

Alice wirkte zwar nicht wie ein Mensch, der schlurfte, aber nun zog sie ihre Füße, die in Slippern steckten, doch hinter sich her. Sie trat ins Haus. Ehe sie die Tür hinter sich schloss, bemerkte Tracy den sehnsüchtigen Blick auf den Besen.

Während sie zurück zu Herb Krauses Haus lief, musste Tracy zugeben, dass es im Notfall tatsächlich wichtig war, eine Familie zu haben. Sie sprach da aus eigener Erfahrung, denn sie selbst hatte niemanden. Sie war frisch geschieden, ihre Eltern hatten sie verlassen und der Großteil ihrer Freunde ebenso. Um die ganze Sache noch schlimmer zu machen, war sie in dieses moskitoverseuchte Sumpfgebiet gebracht worden und nun gezwungen, um Geld zu betteln, damit sie sich Lebensmittel kaufen konnte.

C J, der sich vermutlich auf einem Gefängnishof in Victorville sonnte, wusste wenigstens, woher seine nächste Mahlzeit kam. Dass sein Frühstück aus Rühreiern aus Eipulver, altbackenem Toast und wässrigem Kaffee bestand – und wenn schon? Egal, in welche Schwierigkeiten er in den kommenden zwanzig Jahren geraten würde: Die Vollzugsbeamten würden trotzdem immer sicherstellen, dass er keinen Hunger leiden musste.

Das war immerhin etwas. Sie hoffte, dass C J dieses Glück zu schätzen wusste. Denn in den vor ihm liegenden Jahrzehnten würde er sich mit solchen Kleinigkeiten zufriedengeben müssen.

„Da kommt sie.“

Wanda Gray legte Die Piratenbraut neben ihre bequeme Polsterliege unter dem Jacarandabaum und beobachtete, wie ihre neue Vermieterin den Schotterweg zu ihrem Haus heraufkam.

„Kenny …“, rief sie in Richtung der Fliegengittertür und ihres Mannes. „Es ist diese Deloche. Sie kommt, um den Scheck für die Miete zu holen. Misch dich jetzt nicht ein. Ich kümmere mich darum.“

Sie dachte, ein Grunzen gehört zu haben, doch sicher war sie sich nicht. Ein Grunzen war so ziemlich das Einzige, was sie dieser Tage noch von Ken zu hören bekam. Sie bedauerte, sich den Tag, an dem sie zum letzten Mal miteinander gesprochen hatten, nicht rot im Kalender markiert zu haben. Egal. Ein so alter Kalender wäre vermutlich schon längst zu billigen Papierservietten verarbeitet worden oder zu hässlichen Büroutensilien, die kein normaler Mensch für seinen Schriftverkehr benutzte.

„Bitte, bemühe dich nicht“, murmelte sie leise. „Warum solltest du ausgerechnet jetzt damit beginnen, wenn man bedenkt, dass du dich das letzte Mal um das Haus gekümmert hast, als Pluto noch ein Welpe war?“ Das Datum hätte sie sich übrigens auch im Kalender anstreichen sollen.

Sie hatte nicht vor aufzustehen, um die Deloche zu begrüßen. Sie nahm ihre Brille ab und legte sie neben ihr Buch, bevor sie das Sommerkleid über ihren pummeligen Knien glatt strich. Eine Hand ging unwillkürlich zu ihren mit Haarlack fixierten kupferroten Locken. Der Ansatz war erst vor Kurzem mit ihrer Lieblingsfarbe nachgefärbt worden. Doch das war auch schon alles an Vorbereitungen, die sie für die Begegnung mit dieser Deloche treffen würde. Und wenn Tracy Deloche so mager war wie eines von diesen Mädchen in Sex and the City? Was sollte es? Wanda Gray stand in niemandes Schatten – nicht einmal mit ihren sechsundfünfzig Jahren.

Worauf bildete diese junge Frau sich überhaupt etwas ein? Sicher, sie war die Besitzerin dieser zehn Hektar Land auf Palmetto Grove Key, auf der anderen Seite der Bucht von Palmetto Grove gelegen, und der Besitz war vermutlich Millionen wert. Doch was genau hatte sie davon? Ms Deloche mochte dieses Land zwar besitzen, aber sie konnte keinerlei Nutzen daraus ziehen. Sie hatte es nicht anders verdient, wenn sie eine Müllkippe wie diesen Grundbesitz ausgerechnet „Happiness Key“ nannte, weil sie glaubte, dass wegen des ausgefallenen Namens Unmengen von Interessierten hierherströmen würden.

Wandas Ansicht nach würde diese Deloche ziemliche Schwierigkeiten haben, das Land loszuwerden. Die Wirtschaft in Florida lag derzeit am Boden. Und außerdem hatte Wild Florida aufgeschrien, weil das U.S. Army Corps of Engineers Ms Deloches Exmann die Erlaubnis für die Erschließung des Landes gegeben hatte, und war dann vor Gericht gezogen. Hinzu kamen die Leute, die jeden Zentimeter der Mangrovenwälder schützen wollten, und diejenigen, die der Auffassung waren, dass mehr Verkehr und breitere Straßen einen alten indianischen Zeremonien- oder Begräbnishügel stören würden. Ms Deloche befand sich in einer wahrhaft schwierigen Situation. Und Wanda hatte vor, es ihr jetzt noch ein bisschen schwerer zu machen.

Mit Begeisterung.

Heute trug die Vermieterin eine lässige Caprihose in Schwarz und ein passendes Bikinioberteil dazu. Darüber hatte sie ein durchscheinendes weißes Hemdchen gezogen, durch das man bis auf die Schultern und Arme alles sehen konnte. Ihre Taille, ihre Brust und der Hals waren straff und sonnengebräunt. Ihr dunkelbraunes Haar fiel ihr schnurgerade bis zu den Schultern. Sie hatte ein Lächeln, das man sich mit Geld offensichtlich doch kaufen konnte, und faltenfreie Haut, die man am besten mit einer dicken Schicht Sunblocker vor schädlichen Strahlungen und der unvermeidlichen Hautalterung schützte. Wanda hoffte, dass sie nicht so weit dachte. Die eine oder andere Falte würde ihr nur recht geschehen.

Als Tracy endlich zu ihr trat, saß Wanda wartend auf ihrer Liege, die Fingerspitzen aneinandergelegt, und wirkte, als hätte sie alle Zeit der Welt.

„Hi, Wanda“, sagte Tracy und ließ ihre Zehntausend-Dollar-Zähne aufblitzen. „Sie sehen aus, als hätten Sie es schön kühl und gemütlich.“

Wanda ließ sich nicht täuschen. Tracy Deloche würde es nicht mal auffallen, wenn Wanda nach einem tödlichen Biss der Korallenschlange in den letzten Zügen liegen und sich auf dem Boden winden würde.

„Sie sehen auch aus, als hätten Sie es schön kühl und gemütlich.“ Wanda hob eine Augenbraue. „Wegen Ihres Bikinioberteils und so.“

„Glauben Sie mir, dieses Top hat noch nie einen Tropfen Wasser gesehen. Es würde sich in seine Bestandteile auflösen.“

„Na, wenn das nichts ist. Ein Badeanzug, den man nicht nass machen darf. Was lassen Sie sich als Nächstes einfallen?“

Tracy lächelte, als wollte sie sagen, dass die Zeit für belangloses Geplauder hiermit abgelaufen sei. „Ich will Sie nicht lange von Ihrem Buch abhalten.“ Ihr Blick fiel auf das Cover von Wandas Lieblingstaschenbuch und wanderte dann wieder zu Wanda. Doch sie konnte sich ein abschätziges Lächeln nicht verkneifen. „Ich bin nur kurz gekommen, um den Scheck für die Miete abzuholen.“

„Das habe ich mir schon gedacht“, entgegnete Wanda, ohne sich vom Fleck zu rühren.

„Dann ist der Scheck fertig?“

„Nein. Ganz und gar nicht, wenn ich an die Liste von Dingen denke, die Sie reparieren lassen müssen, ehe Sie auch nur einen Penny bekommen.“ Mit Genugtuung bemerkte Wanda, wie Tracys Lächeln allmählich erstarb. Als es ganz verschwunden war, versetzte Wanda ihrer Vermieterin den Todesstoß.

„Und bevor Sie mich an unseren Mietvertrag erinnern – falls Sie den Fetzen Papier, den Kenny unterschrieben hat, so nennen wollen – und mir sagen, dass Sie nicht verpflichtet sind, irgendetwas in dem Haus zu machen: Lassen Sie mich Ihnen sagen, dass ich mit einigen Leuten bei Gericht gesprochen und ihnen von den Dingen erzählt habe, die hier schieflaufen.“

Wanda machte eine kurze Pause, um diese Information sacken zu lassen. „Natürlich habe ich den Leuten nicht meine genaue Adresse genannt. Noch nicht. Aber sie sagten, dass sie diese Bude für abrissreif erklären lassen würden, wenn auch nur die Hälfte der Dinge stimmt, die ich ihnen erzählt habe. Also nehme ich an, dass Sie als eine kluge und gebildete Frau … Sie stimmen sicherlich zu, dass es weitaus besser ist, ein paar Reparaturen zu veranlassen und die jetzigen Mieter zu halten, als sich den ganzen Zirkus anzutun, neue Mieter zu finden.“

Tracy schwieg. Wanda fragte sich, ob sie sich gerade sehr beherrschte, um nicht zu explodieren.

„Möchten Sie die Mängelliste haben?“, fragte Wanda schließlich.

„Haben Sie nie in Betracht gezogen, einfach mit mir über die Probleme zu reden, damit wir eine gemeinsame Lösung finden können?“

„Schätzchen, Leute wie Sie bitten Leute wie mich nicht, einen solch miesen alten Vertrag zu unterschreiben, wenn Sie nicht vorhaben, damit etwas gegen uns in der Hand zu haben.“

„Schätzchen …“ Tracy verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, und das Wort quoll hervor wie kochender Sirup. „Leute wie ich wissen, dass Leute wie Sie mit einem Polizisten verheiratet sind. Selbst wenn ich also ein skrupelloser Besitzer von abbruchreifen Häusern wäre – was als Kind übrigens nie mein Berufswunsch für die Zukunft gewesen ist –, hätte ich es mir doch wohl zweimal überlegt, mögliche Probleme zu ignorieren.“

Wanda starrte auf ihre knallpinken Fingernägel und stellte fest, dass an einem Nagel ein winziges Stück Lack abgeplatzt war. Vermutlich war es passiert, als sie am Tag zuvor die Platte mit Zackenbarsch an Tisch sechs getragen hatte. Sie hätte es besser wissen müssen und nicht versuchen sollen, die gesamte Bestellung auf einmal zu bringen, ohne eine Hand für Notfälle frei zu haben – wie zum Beispiel die Schwingtür, an der sie sich den Kratzer im Nagellack geholt hatte.

Sie blickte wieder auf. „Möchten Sie die Liste haben? Ich habe sie hier. Denn Sie müssen sich ja nur mal umsehen. Ich hätte gedacht, dass Sie das schon erledigt haben, da Ken doch – wie Sie erwähnt haben – Polizist ist.“

„Jetzt machen Sie mal halblang, okay? Ich bin erst seit zwei Wochen hier. Und ich habe den Großteil der Zeit damit verbracht, die Bruchbude auszumisten, in der ich wohne. Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, mir die anderen Häuser genauer anzusehen.“

„Nein, Sie haben gehofft, wir würden diesen Mietvertrag einfach kritiklos annehmen. Und behaupten Sie nicht, es wäre nicht so.“

Wanda zog einen Umschlag unter ihrem Buch hervor und streckte ihn Tracy entgegen. „Aus dem Herd strömt so viel Gas aus, dass die beiden Sträucher vor meinem Küchenfenster umgekippt sind. Im Bad ist ein Leck im Dach. Die Toilette ist verrosteter als ein Kriegsschiff. Und wenn ich Haustiere hätte haben wollen, hätte ich mir eine Katze zugelegt und keine Horde amerikanischer Schaben. Ich habe schon einen Kammerjäger bezahlt und jemanden, der die größten Löcher abdichtet, durch die sie kommen. Sie können die Kosten von meiner Miete abziehen.“

„Donnerwetter. Keine Kalksteinfliesen? Keine Granitarbeitsflächen?“

Wanda legte den Umschlag auf ihr Buch, als Tracy keine Anstalten machte, ihn entgegenzunehmen. „Machen Sie nur so weiter, und machen Sie sich lustig. Aber denken Sie darüber nach. Wir können warten. Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie schwierig es ist, heutzutage eine Zwangsräumung durchzusetzen? Vor allem wenn der Sheriff mit einem bestimmten Mitglied der Palmetto Grove Polizei befreundet ist?“

Tracy bückte sich und schnappte sich den Umschlag. „Ich werde tun, was ich kann. Aber erwarten Sie keine Wunder.“

Wanda sah zu, wie Tracy den Weg zu dem Häuschen entlangging, in dem die Inder sich eingerichtet hatten. Wanda hielt sie nicht davon ab, obwohl sie wusste, dass die beiden nicht zu Hause waren. Vor einer Stunde hatte sie beobachtet, wie sie das Haus verlassen hatten. Wenigstens sprach das junge dunkelhäutige Paar am Ende der Straße ihre Sprache, falls Tracy sie jemals antreffen sollte. Das musste Wanda ihnen zugutehalten. Eine gute Sache an Indern war, dass sie die Landessprache beherrschten und immer gute Manieren hatten. Dass sie jedoch keine fünfzig Meter von ihnen entfernt wohnten, war nur ein weiteres Zeichen, dass dieser Ort, an den Ken sie gebracht hatte, eine vollkommen fremde Welt war. Es würde niemals ihr Zuhause werden.

„Happiness Key, so ein Quatsch.“

Mürrisch betrachtete sie, wie Tracy Deloches fester kleiner Po entschlossen hin und her wackelte, bis die junge Frau schließlich aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Sie musste nicht einmal ins Haus rufen, um Ken Bescheid zu geben, dass sie sich um das Problem gekümmert hatte. Wanda wusste, dass es vergebene Liebesmüh war.

2. KAPITEL

Zum Frühstück aß Rishi am liebsten Cornflakes. Die Marke war ihm egal. Meist nahm Janya im Laden die Sorte, die gerade im Angebot war. Ihr Ehemann mochte Cornflakes, die möglichst süß und leicht wie eine Wolke waren. Dann tränkte er sie mit viel Milch, bis alles zu einer dickflüssigen Masse wurde. Doch vielleicht war das – wie so vieles andere – ihre Schuld. Vielleicht würde Rishi ein nahrhafteres Frühstück zu sich nehmen, wenn sie sich die Mühe machen würde, einige der Speisen zuzubereiten, die schon ihre Mutter morgens serviert hatte.

Janya träumte von den Morgen, als sie noch ein Kind gewesen war. Dampfende, mit masala gewürzte Milch und poha, ein Gericht aus geschlagenem Reis, serviert mit Kokosnussraspeln. Sie sehnte sich nach idli, den leckeren Reisküchlein, die man in sambar, eine feurige Soße, tauchte. Und sie wünschte sich die würzigen Omelettes ihres Kochs, zu denen eine Auswahl von Broten gereicht wurde, die entweder gegrillt oder gebacken waren. Manchmal stellte sie sich vor, morgens eine Platte mit verschiedenen Obstsorten zu genießen. Mangos und Papayas, Granatäpfel und besonders chikku mit dem süßen Fruchtfleisch, das nach Karamell schmeckte. Leider hatte sie diese Früchte in Florida noch nie gesehen.

Doch Rishi war solche Speisen nicht gewohnt, also vermisste er sie auch nicht. Die Tante in Massachusetts, bei der er aufgewachsen war, hatte solche Köstlichkeiten für ihre eigene Familie nur selten zubereitet – und noch seltener für Rishi. Rishi war der verwaiste Neffe ihres Ehemannes gewesen, und seine Tante war verpflichtet gewesen, ihm ein Heim zu bieten. Doch sie war nicht verpflichtet gewesen, ihn zu lieben wie ihre eigenen Söhne.

Jetzt war Janya für Rishi verantwortlich, und auch sie musste ihm ein Heim bieten. Aber sie musste ihn nicht lieben, wie sie den Mann geliebt hatte, den sie einst verloren hatte. Janya erfüllte lediglich das, was laut ihres Ehevertrages absolut notwendig war. Sie teilte die Wohnung mit Rishi, hielt sie sauber und sorgte für warme Mahlzeiten. Sie teilte sogar das Bett mit Rishi, doch sie konnte ihr Herz nicht mit ihm teilen. Und sie konnte auch sein Herz nicht annehmen, obwohl sie wusste, dass er sich das wünschte.

An diesem Morgen war Rishi früh zur Arbeit gegangen, ohne sich die Zeit zu nehmen, seine Cornflakes zu essen oder sich eine Tasse Kaffee zu kochen. Als sie von ihrem frühmorgendlichen Spaziergang in das ruhige kleine Haus zurückkehrte, das ein wenig nach Weihrauch und verrottendem Holz roch, war er bereits aufgestanden und weggefahren. Erleichtert, dass sie keine nichtssagende Konversation betreiben musste, duschte sie. Dann zog sie sich einen gemütlichen salwar kamiz an, eine bestickte lange Baumwollbluse mit einer Hose, die an den Knöcheln eng geschnitten war. Und bevor sie es sich noch einmal anders überlegte, warf sie einen Blick auf den Busfahrplan, schloss dann die Tür ab und ging die Straße entlang, die die Halbinsel teilte, auf der ihre Häuser standen.

Janya war froh, dass sie an keinem der Nachbarhäuser vorbeigehen musste, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass einer ihrer Nachbarn sie auf einen Plausch anhielt – bis auf Mr. Krause vielleicht. Der Weg zur Bushaltestelle war lang und anstrengend, und wenn sie später nach Hause kommen würde, würde die Sonne jeden Schritt zu einer Qual machen. Wenigstens stand die Bank an der Haltestelle im Schatten unter einem großen Banyanbaum.

Sie wartete allein und beobachtete die Autos, die mit offenem Verdeck und aufgedrehten Radios vorbeisausten. Nur wenige Menschen nutzten in Palmetto Grove den Bus, und deshalb fuhr er auch nur selten. Die Leute hingen nicht halb aus den offenen Türen oder bedrängten und schubsten ihre Mitfahrer wie zu Hause in Indien. Janya bekam immer einen Sitzplatz. Nie lehnte sich jemand an sie, und auch Kleinkinder zupften nicht an ihren Kleidern herum.

Wenn der Bus sie schon nicht an ihre Heimat erinnerte, so tat es der Banyanbaum. Der Banyanbaum war Indiens Nationalbaum, und das Wort stammte aus der Sprache Gujarati. Sie erinnerte sich noch gut an einen vedischen Text, den sie in der Schule gelernt hatte, auch wenn sie ihn inzwischen nicht mehr in Sanskrit wiedergeben konnte.

An der Wurzel wie Brahma, in der Mitte wie Vishnu und oben wie Shiva geformt, grüßen wir dich, König aller Bäume.

Im Juni gab es einen Tag, an dem die Frauen fasten, zum Banyanbaum beten und ihn bitten konnten, bei jeder Wiedergeburt denselben Ehemann geschenkt zu bekommen. Bis zum Juni war es nicht mehr lange hin. Doch das war ein Ritual, an dem Janya sicherlich nicht teilnehmen würde. Weder jetzt noch in Zukunft.

Der Banyanbaum war vor fast einem Jahrhundert vom Erfinder Thomas Edison nach Florida gebracht worden. Das hatte Rishi Janya erst gestern erzählt. Sie hatten einen Ausflug nach Fort Myers gemacht, der Janya ihre neue Heimat näherbringen sollte. Ihr Ehemann liebte solch sonderbare Details, liebte Fakten und Informationen, die er einteilen und in seinem Hirn, das wie ein Computer arbeitete, abspeichern konnte. Seine Begeisterung für diese Nichtigkeiten bereitete ihr Kopfschmerzen.

Sie ermahnte sich, nicht über Rishi oder ihre Ehe nachzudenken. Diese kurzen Momente der Freiheit waren selten genug, und sie wollte sie genießen. Sie wollte zumindest so tun, als wäre sie wie alle anderen und so gut wie glücklich mit ihrem Schicksal.

Der Bus kam pünktlich, und wie immer erschien es ihr beinahe wie ein Wunder. Schnell kletterte sie in den Bus, in der Angst, dass er wegfahren könnte, während sie noch verdutzt den Kopf schüttelte.

Es war eine kurze Fahrt. Palmetto Grove war eine friedliche, ruhige Stadt, klein, mit sehr viel Smaragdgrün und einigen für die Karibik typischen bunten Farbklecksen. Die Autofahrer benutzten nur selten die Hupe, und die Fußgänger waren sicher, wenn sie die Straßen überquerten. In dem kleinen Stadtzentrum, das nur einige Blocks vom Golf entfernt war, befanden sich Läden, Videotheken, Restaurants mit hübschen Sonnenterrassen und Geschäfte mit Eisenwaren, Autoteilen oder Hochzeitstorten. Die Bürgersteige glitzerten im Sonnenlicht. Frauen aller Altersstufen, mit kurzen Hosen oder Sommerkleidern, spazierten Arm in Arm mit braun gebrannten Männern mit Sonnenbrillen durch die Stadt.

In die Stadt zu fahren weckte in Janya jedes Mal ein solches Heimweh, dass sie es kaum aushalten konnte. Nicht weil Palmetto Grove wie Mulund ausgesehen hätte, der kleine Vorort von Mumbai, in dem sie aufgewachsen war. Sondern weil es hier eben nicht so aussah. Hier war alles so leicht, so vernünftig, so höflich, so ganz anders. Sie hatte Indien nie verlassen wollen. Anders als viele Angehörige der Oberschicht, die ihre Zukunft an anderen Orten dieser Welt gesehen hatten, hatte sie ihre immer dort gesehen, wo sie geboren worden war. Jetzt fragte sie sich, ob sie jemals wieder nach Hause zurückkehren würde.

In der vergangenen Nacht hatte sie, um ihr Heimweh zu lindern, eine Liste mit Dingen gemacht, die sie erledigen wollte, wenn sie aus dem Bus stieg. Zuerst wollte sie ihre Adressdaten der kleinen Bücherei in der Innenstadt geben, damit sie sich Bücher ausleihen konnte. Dann wollte sie den kleinen Spezialitätenhändler aufsuchen, in dessen Laden unterschiedliche Linsen, Gewürze, Hummus und frisches Pitabrot für die Zugezogenen aus dem Nahen Osten, Jerk-Gewürz für die Jamaikaner und Bananenchips und tropische Säfte für die Kubaner angeboten wurden. Und schließlich wollte sie sich das Freizeitzentrum anschauen.

Als Teil seiner Aktion, sie glücklich zu machen, hatte Rishi ihr von dem Zentrum erzählt. Es gäbe dort Kurse, hatte er gesagt, und für jeden, der in Palmetto Grove lebe, wäre etwas dabei. Die Kursgebühren seien gering, und sie hätte die Möglichkeit, andere junge Frauen zu treffen, junge Frauen, die auch viel Zeit und wenig Geld hätten. Er hatte darauf bestanden, dass es gut sei, das Haus zu verlassen und die Amerikaner besser kennenzulernen. Eines Tages wäre sie selbst eine von ihnen.

Das war etwas, auf das sie sich nicht unbedingt freute. In Janyas Augen wirkten alle Amerikaner einsam. So viel Platz um sie herum. So wenig Familie. Alte Menschen wie Herbert Krause und Alice Brooks lebten allein und mussten sich ohne Hilfe um ihre Angelegenheiten kümmern. Wo waren denn ihre Kinder, ihre Enkel, die Nichten und Neffen, die sie versorgten?

Natürlich gab es Fälle, in denen die Familie schlimmer war, als niemanden zu haben. Sie wusste das.

Eine Stunde später war Janya im Besitz eines Büchereiausweises und hatte zwei Bücher ausgeliehen. Außerdem hatte sie rote und gelbe Linsen gekauft, Asant, Bockshornkleesamen und sechs Dosen mit kubanischem Fruchtnektar. Nachdem sie überlegt hatte, ob es nicht an der Zeit war, nach Hause zu fahren, machte sie sich auf den Weg zum Freizeitzentrum, ihrem letzten Stopp an diesem Morgen.

Das Henrietta-Claiborne-Freizeitzentrum war ein Geschenk an die Stadt Palmetto Grove gewesen. Die exzentrische Erbin eines Fleischerei-Imperiums, deren Auto vor vier Jahren kurz vor der Stadt den Geist aufgegeben hatte, war die edle Spenderin gewesen. Sie war allein und inkognito auf einer Reise kreuz und quer durch den Staat gewesen – von ihrem Anwesen in Palm Beach zu dem Gegenstück in Newport, Rhode Island. Also hatte sie in einem örtlichen Café gesessen und darauf gewartet, dass jemand nach Tampa fuhr, um ein Ersatzteil für ihren Jaguar zu besorgen – so inkognito war sie nun auch wieder nicht gewesen. Und währenddessen hatte Henrietta eine Unterhaltung darüber mitbekommen, wie dringend die Stadt ein Freizeitzentrum brauchte, damit die ständigen Bewohner einen Ort hatten, um soziale Kontakte zu knüpfen, und damit die Kinder und Teenager ihren Hobbys nachgehen konnten.

Henrietta war von der Höflichkeit und Hilfsbereitschaft der Einwohner von Palmetto Grove so beeindruckt gewesen, dass sie stehenden Fußes einen Scheck ausgestellt hatte. Sie hatte dem Bürgermeister die Spende in die Hand gedrückt und war kurz darauf mit ihrem reparierten Jaguar wieder davongefahren. Der Schatzmeister hatte über eine Woche gewartet, um den Scheck zur Bank zu bringen, weil er geglaubt hatte, dass die seltsame alte Dame im Wahn gehandelt hatte. Er und der Bürgermeister hatten ihr einen Vorsprung geben wollen, damit niemand sie finden konnte, wenn die Bank sie anzeigte.

Wenn Rishi ihr diese Geschichte nicht en detail erzählt hätte, hätte sie sie nun auf einer Tafel neben der Eingangstür des Zentrums nachlesen können.

Im Innern roch das Gebäude noch immer neu. Die Wände waren in zarten Pastelltönen gestrichen. Ein gedecktes Rosa für einen Flur, der vom Empfangsbereich abging, Blau für den Korridor auf der gegenüberliegenden Seite. Der Empfangsbereich wurde von bodentiefen Fenstern eingerahmt, und die Wände, die die Fenster umgaben, waren in Buttergelb gestrichen. Wenn Ferien waren, wimmelte es hier nur so von Kindern und Teenagern, aber heute waren nur ein paar Leute zu sehen. Eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm las Nachrichten am Schwarzen Brett. Ein Mann stand auf der einen Seite des langen Empfangstresens und trug sich in eine Liste ein. Die Frau, die auf der anderen Seite saß und genauso schlicht und steif wirkte wie die Nonnen, die Janya als Kind unterrichtet hatten, lächelte ihr zur Begrüßung zu.

„Wenn Sie wissen, wohin Sie wollen, beachten Sie mich einfach gar nicht“, sagte sie zu Janya. „Aber wenn ich helfen kann, sagen Sie Bescheid.“

Janya fühlte sich ermutigt. „Ich bin hier, um mal zu schauen, welche Kurse Sie hier anbieten.“

Wieder lächelte die Frau. „Wo liegen denn Ihre Interessen? Es gibt noch einige Kurse, die Plätze frei haben. Sportkurse, Computerkurse, spanische Konversation, die Auswahl geeigneter Kinderbücher …“

„Sportkurse?“ Wenn Janya sich entschloss, hierherzukommen, wollte sie etwas Spannenderes als einen Sprachkurs – sie beherrschte bereits drei Sprachen fließend und konnte in zwei weiteren lesen und sich verständlich machen. Und sie brauchte keinen Kurs, in dem man ihr beibrachte, welche Bücher man seinen Kindern zu lesen gab.

„Wir haben einen Volleyballverein, der noch Mitglieder sucht.“

Janya schüttelte den Kopf.

„Yoga.“

Wieder schüttelte sie den Kopf.

„Bauchtanz?“

„Nein, eher nicht.“

„Tanzaerobic.“

Janya legte fragend den Kopf schräg. „Was ist das genau?“

„Man tanzt zu einem bestimmten Programm, das Sie in Form bringt. Unsere Kursleiterin ist toll. Ich kann Ihnen versprechen, dass es Ihnen gefallen wird. Ich halte übrigens den Abendkurs.“

Ganz gegen ihren Willen war Janyas Interesse geweckt. Sie tanzte gern und war ein großer Fan von Bollywood-Filmen. Als Kind hatte sie oft zu Liedern getanzt und gesungen, die sie und ihre Cousine Padmini erfunden hatten. Manchmal hatten sie sich sogar mit Padminis Videokamera dabei gefilmt.

Die unglückliche Erinnerung an zu Hause hatte sie schlagartig wieder ernüchtert. Doch der Dame am Empfang fiel das gar nicht auf. Seit Janya gelächelt hatte, schien die Frau überhaupt nichts anderes mehr wahrzunehmen.

Die Frau stand auf und kam um den Tresen herum. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. „Kommen Sie mit. Die Hälfte der Stunde ist um. Sie können den Rest der Stunde kostenlos mitmachen. Dann können Sie sich entweder für den Kurs anmelden oder einfach für vier Dollar kommen, wann Sie wollen.“

„Oh nein, ich kann nicht …“

„Sicher können Sie. Sie müssen keine Sekunde länger bleiben, als Sie möchten. Sie können auch einfach zusehen und dann entscheiden, ob es Ihnen gefällt.“

Janya wollte keine Schwierigkeiten machen und ablehnen – nicht wenn die Frau so nett war. „Danke schön.“

Als sie durch den rosafarbenen Flur gingen, fasste die Dame das umfangreiche Angebot zusammen. „Und dann haben wir noch die Schwimmkurse: Wasseraerobic und Anfängerkurse bis hin zu Lebensrettungskursen.“

Janya fühlte sich unwohl. Die Frau tat so, als würde Janya dazugehören, als wäre es etwas ganz Normales, einen Kurs erst auszuprobieren, den man vielleicht belegen wollte. Sie wollte erklären, dass das hier nicht ihr Land war, dass sie weder nach Florida noch in dieses Freizeitzentrum gehörte, dass sie sich unbehaglich fühlen würde, wenn sie mit fremden Menschen tanzen sollte. Doch sie hatten bereits die Eingangstür zur Turnhalle erreicht. Und noch ehe Janya sich überlegt hatte, wie sie sich höflich zurückziehen konnte, standen sie in einem Teil der Halle, der durch einen Paravent abgetrennt war.

Zur Musik, die die Amerikaner Countrymusic nannten, warfen ungefähr zwölf Frauen ihre Arme in die Luft und glitten mit den Füßen im Takt über den Boden. Keine der Frauen blickte auf, als die Tür geöffnet wurde. Nur die Kursleiterin – eine wohlproportionierte Frau in den Dreißigern, die eine enge glänzende Hose und ein gestricktes Spaghettiträgertop trug – bemerkte, dass Janya und die Empfangsdame eingetreten waren.

„Sehen Sie ruhig zu, oder machen Sie mit“, sagte die Empfangsdame. Sie hatte die Stimme nur so weit gesenkt, dass Janya sie über die Musik hinweg noch hören konnte. „Falls Ihnen dieser Kurs doch nicht zusagt, finden wir etwas anderes für Sie. Sagen Sie Bescheid.“ Sie tätschelte Janyas Schulter und schlüpfte aus der Tür.

Janya fragte sich, ob es einen Hinterausgang gab, sodass sie sich hinausschleichen konnte, ohne jemanden zu enttäuschen.

In dem Moment blickte die Kursleiterin sie an, streckte den Arm aus und rief: „Warum stellen Sie sich nicht in die letzte Reihe? Machen Sie den Damen vor Ihnen alles nach. Bis jetzt sind wir alle noch Anfänger. Viel Vergnügen!“

Jetzt konnte sie nicht mehr verschwinden. Janya war genauso gefangen wie in so vielen anderen Dingen. Sie hatte keine andere Wahl. Also stellte sie unsicher ihre Einkäufe auf den Boden und ging in die letzte Reihe, in der drei Frauen schon Platz gemacht hatten. Sie hatte keine Ahnung, was sie hier eigentlich tat, doch sie machte einfach die Bewegungen der schlanken dunkelhaarigen Frau vor sich nach. Erst als die Schrittfolge vorsah, dass alle sich um sich selbst drehten, und Janya verdutzt stehen blieb, erkannte sie, dass die dunkelhaarige Frau ihre Vermieterin Tracy Deloche war.

Das Henrietta-Claiborne-Freizeitzentrum erinnerte Tracy an eine große öffentliche Highschool – obwohl sie selbst nie eine solche Schule besucht hatte. Die geringsten Geräusche hallten wider. Die Fußböden waren abgewetzt von zu vielen Turnschuhen, die darüber geschlurft und gequietscht waren. Dem Architekten war offensichtlich eher an Zweckmäßigkeit als an Ästhetik gelegen gewesen. Die Flure waren breit genug, um in ihnen das Kentucky Derby laufen zu lassen, und an den Wänden fehlte jeglicher Schmuck. Sie vermisste ihr Fitnessstudio zu Hause, wo jede Stunde mit einem Personal Trainer begann und mit einer Massage endete. Sie vermisste das Dampfbad und die Sauna, die Grotte mit dem lauwarmen Tauchbecken und dem beruhigenden Wasserfall, den Tisch mit der Verpflegung – von duftenden Kräutertees bis hin zu Schüsseln mit frischen Früchten.

Trotzdem – Sport war Sport, und nach ein paar wirklich frustrierenden Tagen tat es gut, die Arme zu schwingen und zu hüpfen. Sie war nur überrascht, eine ihrer Mieterinnen in der Reihe hinter sich zu sehen. Sicher, es war ein Ort der Chancengleichheit für alle. Aber diese Kapur – ihr Vorname war Tracy entfallen – war der letzte Mensch, den Tracy hier erwartet hätte. Natürlich hatte sie nie einen Gedanken daran verschwendet, wie Leute in anderen Ländern Sport zu machen pflegten. Vielleicht gab es in Indien oder Pakistan – oder woher auch immer die Kapurs stammten – an jeder Ecke Tanzkurse. Vielleicht war das Tanzen Teil ihrer Religion.

Mrs Kapur sah aus, als wäre sie jünger als Tracy. Sie hatte eine wohlgeformte Figur mit weiblichen Hüften statt der knabenhaften Form, die derzeit Mode war. Ihre Schönheit war nicht zu leugnen. Heute hatte sie ihr schwarzes Haar zu einem Zopf zusammengebunden, aber an einem Nachmittag hatte Tracy gesehen, wie sie es offen getragen hatte. Es reichte ihr bis zum Rücken. Noch nie hatte Tracy so dickes Haar gesehen. Es hatte diese natürliche Welle, wie sie durch die Luftfeuchtigkeit in Florida entstand. Die junge Frau war mit einer Hautfarbe auf die Welt gekommen, für die viele von Tracys Freundinnen Stunden unter der Höhensonne verbrachten. Sie hatte schwarze Augen, ohne eine Spur von Braun, groß und rund und mit dichten schwarzen Wimpern umrahmt. Die Augenbrauen waren perfekt geschwungen. Sie war ganz einfach wunderbar – und vermutlich musste sie sich dazu nicht einmal anstrengen.

Tracy gewöhnte sich allmählich daran, die Welt ungerecht zu finden.

Die Musik verklang, und ihre Mieterin eilte auf die Tür zu. Doch Tracy holte sie ein.

„Hi. Es tut mir leid, aber ich habe Ihren Vornamen vergessen.“

Die junge Frau wirkte eher schicksalsergeben als erfreut. „Janya.“

„John-ya.“ Tracy bemühte sich, sich diesen Namen zu merken. „Das ist hübsch.“

Janyas Lächeln gab einen Blick auf ihre weißen Zähne preis – fast perfekt, bis auf einen Eckzahn, der nicht ganz gerade stand. Tracy, deren Vater sich selbst als Kieferorthopäde der Stars anpries, erkannte ein Lächeln, das ohne menschliches Zutun genauso war, wie der Schöpfer es erschaffen hatte.

Ohne Umschweife kam Tracy auf den Punkt. „Ich war gestern bei Ihnen zu Hause. Heute Morgen auch. Um die Miete abzuholen.“

„Die war gestern fällig, richtig? Wir waren nicht da, aber mein Mann hat den Scheck bei Ihnen zu Hause eingeworfen.“

Tracy fragte sich, ob es ein weltweiter Brauch war, die Vermieterin auf ihren Kosten sitzen zu lassen. „Das glaube ich nicht. Der Scheck war nicht im meinem Briefkasten.“

„Rishi hat gesagt, dass er den Scheck nicht in den Briefkasten hat legen wollen, wo ihn jeder rausholen kann. Also hat er ihn unter Ihrer Tür durchgeschoben.“

Tracy war an diesem Morgen aus der Hintertür gegangen und hatte nicht daran gedacht, ihre Post woanders zu suchen als in ihrem Briefkasten an der Straße. Der Scheck lag vermutlich in ihrem Wohnzimmer, und sie hatte ihn übersehen.

„Oh, tja, das erklärt natürlich einiges.“ An Janyas Gesichtsausdruck konnte sie ablesen, dass die junge Frau noch mehr erwartete. „Danke – oder vielmehr: Richten Sie Ihrem Mann meinen Dank aus. Sie sind die einzigen Mieter, die ich nicht rügen muss.“

„Rügen?“

„Ermahnen. Bitten. Sie wissen schon … Die Einzigen, die ich nicht ausdrücklich daran erinnern muss.“

„Ich weiß, was Sie sagen wollten.“ Janya drehte sich um, aber Tracy, die sich schuldig fühlte, weil sie die Frau für etwas beschuldigt hatte, das sie nicht getan hatte, legte ihr die Hand auf den Arm.

„Wie hat Ihnen der Kurs gefallen?“

„Ich glaube, es ist schon lange her, dass ich so vieles so schnell gemacht habe.“

„Es war ziemlich anstrengend, oder?“

„Und jetzt muss ich mich beeilen, um zur Bushaltestelle zu kommen, denn sonst verpasse ich den nächsten Bus.“

Wieder wandte Janya sich ab, doch Tracy hielt sie zurück. „Sie nehmen den Bus? Wenn Sie nach Hause wollen, können Sie auch mit mir fahren. Ich kann Sie bringen. Es ist kein Umweg für mich.“

„Danke, aber das ist nicht nötig.“

„Na ja, nötig ist es nicht. Aber ich biete es Ihnen an. Ich fahre sowieso nach Hause, also juckt es mich nicht weiter.“

„Das … juckt Sie nicht?“ Janya runzelte die Stirn.

„Es ist kein Problem. Das ist nur eine andere Art, das auszudrücken.“ Tracy warf einen Blick auf ihre Uhr. „Aber ich muss jetzt los. Ich kann Herb Krause nicht erreichen, und ich hoffe, dass er zum Mittagessen zu Hause ist. Sie wissen ja, wie die Rentner heutzutage sind. Sie schwören, dass die Rente nicht mal für einen Hamburger reicht.“

Ihr wurde klar, dass Janya ihr nicht ganz folgen konnte. Janya beherrschte ihre Sprache sehr gut, obwohl sie einen Akzent und diese bestimmte Sprachmelodie hatte, die Late-Night-Comedians so gern nachahmten. Doch Tracy hatte schnell gesprochen. Vielleicht zu schnell. Sie hielt inne.

„Also, kommen Sie mit?“, fragte sie, nachdem sie Janya ihrer Meinung nach genug Zeit gelassen hatte, um die Informationen zu verarbeiten.

„Ja, danke.“

„Mein Wagen steht vor dem Gebäude.“ Tracy ging um sie herum, trat aus der Tür und in den Korridor.

Im Empfangsbereich blieb Janya stehen. Sie wirkte etwas missmutig. „Tut mir leid, aber ich habe meine Einkäufe vergessen. Ich muss noch mal zurück. Bitte warten Sie nicht auf mich.“

Tracy winkte ab. „Das ist kein Problem, so eilig habe ich es nun auch wieder nicht.“

Janya lief den Weg zurück und ließ Tracy neben dem Schwarzen Brett zurück. Versonnen tippte Tracy mit der Fußspitze auf und las die Notizen, während sie wartete. Jemand suchte für den Sommer einen Job als Babysitter. Sie schüttelte den Kopf, als sie einen Zettel mit dem Foto einer gestreiften Katze erblickte, unter dem eine Telefonnummer und in fetten Lettern das Wort „Belohnung“ stand. Unzählige Visitenkarten hingen an dem Brett. Sie holte einen Notizblock aus ihrer Tasche und schrieb sich die Telefonnummern eines Dachdeckers und eines Klempners auf. Zwar hoffte sie, dass Wanda Gray übertrieben hatte, als sie von den Problemen im Haus erzählt hatte, doch wenn sie an ihr eigenes Häuschen dachte, bezweifelte sie, dass es so war.

Die Hälfte des Schwarzen Brettes war offiziellen Mitteilungen gewidmet. Nachrichten aus dem Landkreis und der Stadt. Ein Zettel stach besonders hervor. Die Überschrift lautete „Henrietta-Clairborne-Freizeitzentrum“ und darunter stand „Jobangebote“.

Sie las den Aushang von unten nach oben. Es wurde Wartungspersonal für die Wochenenden gesucht. Dann brauchten sie einen zusätzlichen Schwimmlehrer für den Sommer. Eine Schar von kleinen Kindern daran zu hindern, zu ertrinken, war ein Albtraum. Tracy sprach aus Erfahrung, denn sie hatte im College selbst als Schwimmlehrerin gearbeitet.

Ganz oben stand der wichtigste Job. Er nahm mehr als die Hälfte des gesamten Platzes ein. „Bereits vergeben“ stand mit Filzstift darüber. Leiter des Freizeitprogramms. Der Job war befristet und endete im Herbst, wenn die eigentliche Leiterin aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkehrte. Sie sah sich die Liste mit den Aufgaben an. Zwar hatte sie erst die Hälfte gelesen, als Janya mit zwei Plastiktüten in den Händen zurückkam. Doch da ahnte sie schon, dass der bedauernswerte neue Angestellte die Aufgabe hatte, das Jugendprogramm für den kommenden Sommer zu leiten sowie eine ganze Reihe von Aktivitäten zu organisieren. Wer auch immer zu diesem späten Zeitpunkt den Job angenommen hatte, sollte mindestens das Gehalt eines Geschäftsführers bekommen.

„Alles klar?“ Tracy ging voran. Auf dem Parkplatz wies sie auf ein sportliches BMW-Cabrio, das in nicht allzu ferner Zukunft schon als „klassisch“ durchgehen würde. „Springen Sie rein.“

Janya strich beinahe ehrfürchtig über den silbernen Lack. „Es macht bestimmt Spaß, den Wagen zu fahren.“

„Ich habe in diesem Auto das Fahren gelernt.“

„Ist es schon so alt?“

Tracy zuckte bei der Frage unmerklich zusammen. „Steinalt. Genau wie ich.“

Janya lächelte. „Keiner von Ihnen beiden steht wohl schon mit einem Bein im Grab …“

Tracy machte die Beifahrertür auf. „Mein Ex dachte, dass das Auto schrottreif wäre. Als wir heirateten, wollte er, dass ich es verkaufe. Aber ich hing so an dem Wagen, dass wir ihn in unserer Garage eingelagert haben. Mein Vater hat ihn mir gekauft – oder besser: Er war anwesend, als ich ihn mir gekauft habe. Er hat mich am Tag meiner Führerscheinprüfung gleich zum Autohändler geschleppt und mir gesagt, ich dürfe mir aussuchen, was ich wolle, während er in seinem Wagen sitzen geblieben ist und mit seiner Sekretärin telefoniert hat.“

Sie straffte die Schultern, als ihr auffiel, wie das für Janya geklungen haben musste. Sie war nicht länger mit Leuten zusammen, die diesen Lebensstil nachvollziehen und verstehen konnten. Für ihre Freunde zu Hause wäre es eine lustige kleine Geschichte gewesen – vor allem für diejenigen, die den lieben alten Dad persönlich kannten und auch Summer, seine Sekretärin, mit der er inzwischen verheiratet war und eine eigene kleine Familie hatte.

„Es ist gut, dass ich an dem alten Auto festgehalten habe“, sagte sie und bemühte sich um einen etwas bescheideneren Ton. „Es ist zu alt, um noch viel wert zu sein.“

Sie kletterte auf den Fahrersitz und startete den Motor. Schweigend fuhren sie nach Hause, kamen über eine niedrige Brücke und bogen dann auf die schmale Straße, die nach Happiness Key führte. Tracy wollte Janya gerade bei ihrem Haus absetzen – dem ersten von fünf in dem „Bauprojekt“ –, als ihr plötzlich eine Idee kam.

„Ich bitte Sie nicht gern darum“, begann sie, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. „Aber könnten Sie mich zu Herb Krauses Haus begleiten? Nur für einen Moment? Wenn er noch immer nicht reagiert, würde ich gern einen Blick ins Innere werfen, um zu sehen, ob er dort noch lebt. Wenn ich die Tür aufschließe, hätte ich Sie gern dabei – als Zeugin sozusagen, dass nichts durcheinandergebracht worden ist.“

„Sie brauchen einen Zeugen?“

„Ich denke schon.“ Tracy hatte in den Tagen vor C Js Verhaftung und später vor Gericht genug Verfolgung erlebt. Sie wollte keine Wiederholung.

In den Wochen, die sie nun schon auf Happiness Key wohnte, hatte sie eines über ihre neue „Nachbarschaft“ gelernt: Jeder – bis auf Herb Krause vielleicht – wollte unbedingt seine Privatsphäre schützen. Sie wusste das zu schätzen, da sie auch kein Bedürfnis verspürte, sich mit ihren Nachbarn anzufreunden.

Janyas Wunsch, nicht in die Angelegenheit verwickelt zu werden, war mehr als verständlich. Als Janya noch immer nicht antwortete, fügte Tracy hinzu: „Sie können auf der Treppe warten. Ich erwarte nicht, dass Sie mit hineingehen. Ich will nur meinen Kopf durch die Tür stecken.“

„Das kann ich machen.“

„Sie können gehen, sobald ich weiß, was los ist.“ Tracy hielt vor Herbs Häuschen an.

„Er hat wundervolle Pflanzen, nicht wahr?“

Das war Tracy noch nicht aufgefallen. Aber jetzt bemerkte sie, dass Janya recht hatte. Herb Krause hatte einen grünen Daumen. Mindestens zwanzig Blumenkübel waren im Vorgarten des kleinen Hauses verteilt. Einige der Pflanzen waren riesig. Bananenbäume, Palmen, sogar Zitrusgewächse. Sie fragte sich, ob Herb Blumentöpfe bevorzugte, damit er seine Pflanzen immer mitnehmen konnte, wenn er umzog. Falls das so war, wohnte er noch immer hier. Die Pflanzen jedenfalls taten es.

Beide Frauen stiegen aus dem Sportwagen und gingen den Weg zum Haus entlang. Janya blieb kurz stehen, um zu prüfen, wie sich die Blumenerde in einem der großen Töpfe anfühlte, der einen blühenden Hibiskus in einem zarten Pfirsichton beherbergte.

„Vielleicht ist er verreist“, sagte Janya. „Diese Pflanze ist schon lange nicht mehr gegossen worden.“

„Tja, möglicherweise finden wir es heraus.“ Tracy holte den Schlüsselbund hervor. Es waren Kopien der Hauptschlüssel der Maklerin, die für C J die Immobilien vermietet hatte. Damals waren die Mieter eher benutzt worden, um Eindringlinge fernzuhalten, als Geld mit ihnen zu verdienen.

Tracy klopfte und rief Herbs Namen. Dann pochte sie mit der Faust gegen die Tür, was ihr einen weiteren Splitter einbrachte.

„Ich fürchte, mir bleibt nichts anderes übrig …“ Sie versuchte, den Splitter aus ihrer Hand zu fummeln, und warf Janya einen fragenden Blick zu. Janya zuckte die Schultern.

Tracy hielt den Schlüsselbund ins Licht und fand den Schlüssel, der mit dem Namen „Krause“ beschriftet war. Leider passte er nicht. Unter Janyas Blicken probierte sie einen anderen Schlüssel und dann noch einen anderen. Keiner von ihnen passte.

„Tja, das ist Mist. Ich denke, ich muss mich an die Maklerin wenden, um sie dazu zu bringen, die Originale herauszurücken.“

Janya machte einen Schritt nach vorne und drehte wortlos den Türknauf. Die Tür schwang auf. „Ich dachte mir schon, dass er nicht der Typ ist, der andere ausschließt“, sagte sie und trat zur Seite, damit Tracy ins Haus gehen konnte.

Tracy kam sich albern vor. „Ich bin überrascht. Für meine Tür habe ich sogar noch ein Extraschloss gekauft.“

„Ich warte hier draußen.“

Nun kam Tracy sich noch alberner vor. Mit einem Mal hatte sie ein ungutes Gefühl, allein und unerlaubterweise in Herbs Haus zu gehen. Technisch gesehen gehörte das Haus ihr, doch in den Wochen, die sie hier war, hatte sie sein Angebot, sich das Häuschen von innen anzusehen, nie angenommen. Sie war zu beschäftigt damit gewesen, sich einzuleben. Und sie hatte Angst gehabt, dass Herb sie in ein nicht enden wollendes Gespräch verwickeln würde, das in der Vorführung von Urlaubsfotos, Bildern seiner verstorbenen Haustiere und Aufnahmen seiner süßen Urenkel gipfeln würde. Als sie nun über die Schwelle trat, verspürte sie Bedauern. Es schien ihr nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, um sein warmherziges, gastfreundliches Angebot anzunehmen.

Wohl eher das kalte Angebot. Wie sie es schon vermutet hatte, war die Temperatur im Innern des Hauses kühl – sie hatte sich nur nicht vorstellen können, dass es so eisig sein würde.

„Gott, es ist eiskalt hier drin“, sagte sie zu Janya und warf ihr über die Schulter einen Blick zu.

„Dann ist es unwahrscheinlich, dass er für immer gegangen ist. Oder bezahlen Sie den Strom?“

Tracy schüttelte den Kopf. Sie hatte noch etwas anderes wahrgenommen. Einen leichten Geruch – und zwar keinen angenehmen. Plötzlich war sie hin- und hergerissen zwischen dem Drang wegzurennen und dem Bedürfnis weiterzugehen. Aber wen sollte sie sonst anrufen, um der Sache hier auf den Grund zu gehen? C J war hinter Gittern, ihre Eltern interessierten sich nicht für ihr neues Leben, und bis jetzt hatte sie in Florida noch keinen einzigen Freund.

Sie fühlte sich vollkommen allein. Aus gutem Grund. Denn es stimmte.

„Ich fürchte, das wird ziemlich unerfreulich“, sagte sie, um dem Unvermeidlichen noch ein bisschen aus dem Weg zu gehen.

„Ich denke, wir sollten sichergehen.“

Tracy sah wieder zu Janya und bemerkte auf dem Gesicht der jungen Frau, was sie selbst vermutete.

Tracy biss sich auf die Unterlippe. Dann presste sie die Lippen aufeinander, um sich die Frage zu verbeißen, die ihr auf der Zunge lag. Sie wollte einem Menschen aus einer anderen Kultur nicht verpflichtet sein, einer Frau, mit der sie überhaupt nichts gemeinsam hatte.

„Ich werde mitkommen“, schlug Janya in dem Moment von sich aus vor. „Aber wir müssen uns beeilen, bevor ich es mir anders überlege.“

Tracy war erleichtert, dankbar und beschämt. „Es tut mir leid. Ich fürchte, ich bin ein Hasenfuß.“

„Hasenfuß?“

„Ein Feigling.“

„Dann können wir doch zusammen feige sein.“ Janya kam zu Tracy in das kleine Wohnzimmer.

„Ich war noch nie hier. Ich glaube, das da ist das Schlafzimmer.“ Tracy wies mit einem Kopfnicken auf eine Tür zu ihrer Linken. „Da ist auch die Klimaanlage.“

„Er hat viel an dem Häuschen gemacht. Alles ist ordentlich und neu. Und sauber.“

„Ich fürchte, es riecht aber nicht besonders frisch.“

Janya ging auf das Schlafzimmer zu. „Ein Blick, dann gehen wir.“

„Mr Krause?“, rief Tracy, als sie das Wohnzimmer durchquerten. Ihr fielen die schlichten Möbel auf, die in einem guten Zustand waren, und ein gläserner Couchtisch, auf dem ein Stapel Zeitungen lag. Und sie bemerkte einige welke Zimmerpflanzen.

Vor der Tür blieben sie stehen. Tracy wusste, dass das nun ihre Aufgabe war. Sie holte tief Luft und hielt sie an, drehte dann den Knauf und schob die Tür auf.

Herb Krause war nicht in die Ferien gefahren. Und er war auch nicht einfach weggezogen. Er lag vollständig bekleidet in einer Stoffhose und einem Anzughemd auf dem Bett, das er vor seinem letzten Nickerchen sorgfältig gemacht hatte. Einen Arm hatte er ausgestreckt. Die Handfläche wies nach oben. Entsetzt ging Tracy etwas näher ans Bett, um zu sehen, was ihr Mieter in der Hand hielt. Ein Schlüssel lag in seiner Hand, die Finger waren locker um das Metall geschlossen. Doch der alte Mann würde mit diesem Schlüssel nie wieder eine Tür öffnen.

Herb Krause war blau, steif und sehr, sehr tot.

3. KAPITEL

Wenn eine Autopsie erforderlich wäre, könnte der Gerichtsmediziner es genauer bestimmen, aber ich würde sagen, dass er seit höchstens sechsunddreißig Stunden tot ist. Die Temperatur hier drinnen hat alles etwas verzögert, deshalb ist es schwer zu sagen.“

Der glatzköpfige Hilfssheriff sah von seinem Klemmbrett auf. Angesichts seiner offensichtlichen Emotionslosigkeit hatte er offenbar schon viele tote Menschen gesehen. „Sie können froh sein, dass er in der Zugluft der Klimaanlage verstorben ist.“

„Ja, ich bin von Dankbarkeit überwältigt“, erwiderte Tracy.

Er hob eine schüttere Augenbraue, die der Beweis war, dass seine Glatze nicht der Mode geschuldet war. „Wenn Sie schon dabei sind, können Sie sich auch gleich darüber freuen, dass das Haus praktisch luftdicht abgeriegelt war, bis Sie gekommen sind. So haben die Insekten ihn wenigstens noch nicht gefunden.“

Sie unterdrückte ein Schaudern. Neben dem Geruch des Todes hatte Tracy den Duft von Insektenvernichtungsmittel wahrgenommen. Herb Krause hatte sich offenbar im Krieg mit der Insektenwelt befunden. Wenigstens hatte er die letzte Schlacht gewonnen.

Für die Profis, die sie gerufen hatten, war Herbs Tod nur ein ganz alltägliches Geschäft. Mitarbeiter des Sheriffbüros waren gekommen, hatten sich die Sache angeschaut und dann Herbs Arzt angerufen, dessen Namen Tracy auf der Verpackung eines verschreibungspflichtigen Medikaments neben dem Bett gefunden hatte. Nach einem Gespräch hatte der Arzt zugestimmt, den Totenschein auszustellen, wie das Gesetz es verlangte. Dann hatte er in Herbs Unterlagen nachgeschaut und dem Hilfssheriff gesagt, welchen Bestattungsunternehmer er informieren musste. Der Leichnam wurde von Mitarbeitern des Bestattungsunternehmens abgeholt, die schnell gekommen waren.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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