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"Alles ist Zahl", begrüsste Kire Mylonas seinen Meister. "Alles ist Zahl", erwiderte der alte Weise seinem Jünger. Alle anderen Mitglieder waren schon anwesend. "Alles ist Zahl", hallte es im Chor. Längst war der endlose Streit zwischen den Akusmatikern und den Mathematikern bei den Neupythagoräern beigelegt. Der Versammlungsraum der verschworenen Gemeinschaft trat im Stadtbild Medilihhas nicht in Erscheinung; in ihrer verborgenen, unterirdischen Basilika waren sie diesmal wegen eines äusserst wichtigen Unterfangens zusammengekommen. Die Sternenkonstellationen kündigten das Grosse Jahr an. In der gewölbeähnlichen Halle, geschmückt an Wänden und Decke mit antiken Fresken mythologischer Szenen, geometrischen Formen und Symbolen spekulativer, kosmologischer Zahlenmystik, fanden nicht nur Mysterienkulte, erkenntnistheoretische Diskurse sowie philosophische und politische Streitgespräche statt, es wurden auch Entscheidungen gefällt. Der Bund esoterischer Lehren und geheim gehaltenen Wissens besass in seinen Anhängern eine kleine, aber entschlossene und gehorsame Armee für operative taktische Einsätze aller Art. Diesmal sollte einer von ihnen, Kire Mylonas, ein Weltenbummler, der bereits bei seinen Aufenthalten in Ägypten, Persien und dem Fernen Osten Erfahrungen sammeln konnte, eine besondere Aufgabe übernehmen.
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Seitenzahl: 320
Werner Hermann
Das Geheimnis der Pythagoräer
Scratch Verlag
klassik
e-book
Erscheinungstermin: 01.06.2022
© Scratch Verlag
Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
www.scratch-verlag.de
Titelbild: Igor Shaganov
Vertrieb: neobooks
Werner Hermann
Das Geheimnis der Pythagoräer
Für Ronin Erik aus Medilihha,
Weltenbummler und Esoteriker
Buch 1: Das Geheimnis der Pythagoräer
Buch 2: Apotheosis
Buch 3: Der Ursprung des Anfangs
Das Geheimnis der Pythagoräer
Inhaltsverzeichnis
Der Schlüssel des Pythagoras
Akusmata – Die Reise in die Gegenwelt
Der Kaffeeautomat
Wie das Leben so spielt
Pythagoras‘ unfreiwillige Erben
Ein unerklärlicher Zwischenfall
Der Schlüssel des Pythagoras
Medilihha, irgendwann im Frühling
„Alles ist Zahl“, begrüsste Kire Mylonas seinen Meister. „Alles ist Zahl“, erwiderte der alte Weise seinem Jünger. Alle anderen Mitglieder waren schon anwesend. „Alles ist Zahl“, hallte es im Chor. Längst war der endlose Streit zwischen den Akusmatikern und den Mathematikern bei den Neupythagoräern beigelegt. Der Versammlungsraum der verschworenen Gemeinschaft trat im Stadtbild Medilihhas nicht in Erscheinung; in ihrer verborgenen, unterirdischen Basilika waren sie diesmal wegen eines äusserst wichtigen Unterfangens zusammengekommen. Die Sternenkonstellationen kündigten das Grosse Jahr an. In der gewölbeähnlichen Halle, geschmückt an Wänden und Decke mit antiken Fresken mythologischer Szenen, geometrischen Formen und Symbolen spekulativer, kosmologischer Zahlenmystik, fanden nicht nur Mysterienkulte, erkenntnistheoretische Diskurse sowie philosophische und politische Streitgespräche statt, es wurden auch Entscheidungen gefällt. Der Bund esoterischer Lehren und geheim gehaltenen Wissens besass in seinen Anhängern eine kleine, aber entschlossene und gehorsame Armee für operative taktische Einsätze aller Art. Diesmal sollte einer von ihnen, Kire Mylonas, ein Weltenbummler, der bereits bei seinen Aufenthalten in Ägypten, Persien und dem Fernen Osten Erfahrungen sammeln konnte, eine besondere Aufgabe übernehmen.
Als Reisender und Kenner von Orient und Okzident war er mit fremden Bräuchen, Riten, Kulten und Kulturen vertraut, was für seine Mission von Vorteil sein konnte. Im Praktisch- Hierarchischen hielt es der blonde Hüne wie die Musketiere: „Einer für alle und alle für einen“, lautete die Devise des Pythagoräers. Der Meister hielt eine kurze Ansprache, der die Anhänger ehrfurchtsvoll lauschten, schritt dann zu einem Vorhang, der eine der Wände bedeckte, und schob diesen beiseite. Hinter ihm verbarg sich eine Aushöhlung in der Mauer, in welcher eine einfache Holztruhe stand. Er öffnete diese und entnahm ihr eine schwere Goldkette. Dann wandte er sich an Kire und hängte sie ihm um den Hals. Das Schmuckstück setzte sich aus fünf gleichen Segmenten mit je acht verschiedenen Symbolen zusammen und bestand aus massivem Gold. Der Verschluss umfasste zwei Quadrate, eines mit Linien, das andere mit ineinander verschlungenen Sternen verziert, beide verbunden durch eine Stange, die offensichtlich einem anderen, noch fehlenden Teil Platz bot. Jene acht Symbole, welche sich fünf Mal in der Kette wiederholten, stellten geometrische Formen dar: Zwei Variationen des Davidsterns, Parallelogramme mit Quer- und Längsbalken sowie verschieden angeordnete Linien waren nur einige davon. Der alte Meister instruierte seinen Jünger über seinen ehrenhaften Auftrag. Er sollte sich auf den Weg zu einem Stützpunkt in einer fremden Stadt begeben, wo er weitere Instruktionen erhalten würde. Die Kette war Teil eines Ganzen, dass es zusammenzuführen galt. Möglicherweise nichts Geringeres als das Schicksal der Menschheit, vorbestimmt und zyklisch wie das der Himmelskörper, hing vom Gelingen seiner Mission ab. Die irdischen Gegebenheiten als Teil eines kosmischen Ganzen beeinflussten die vorgegebenen Gestirnbewegungen und resultierten aus ihnen. Diese Wechselwirkung durfte nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Die himmlische Harmonie musste aufrechterhalten bleiben, sonst drohte eine Katastrophe apokalyptischen Ausmasses. All das war nur zu Beginn des Grossen Jahres möglich. „Alles ist Zahl“, verabschiedete der weise Alte seinen Jünger. „Alles ist Zahl“, erwiderte Kire Mylonas gehorsamst. „Alles ist Zahl“, gaben alle anderen Mitglieder ihrem Bundesbruder mit auf den Weg, der ihn in die alpenländische Donaumetropole führen sollte.
Wien, einige Zeit später
Der blonde Pythagoräer begab sich zu der Adresse, die ihm von seinem Meister mitgeteilt worden war. Dort sollte er einen weiteren Teil des Ensembles ausgehändigt bekommen. Es handelte sich bei dem Ort um eine befreundete Forschungsstätte einer nicht weiter definierten Kategorie. Die österreichische Bundeshauptstadt strotzte nur so von geschichtsträchtigen Bauten, die allesamt an die einst blühende Vergangenheit des ehemaligen Imperiums erinnerten. Besonders die innere Stadt, der erste Bezirk, wo sich auch Kires Destination befand, war mit alten Palais und geheimen Kellergewölben übersät. Unweit vom Stephansdom, in einer der älteren, engeren, mit Pflastersteinen belegten Gasse, stand das barocke Gebäude, nur mit einer Hausnummer über der Tür versehen. Nichts deutete auf ein Labor in seinem Untergrund hin. Kire griff zur massiven Klinke aus Eisen und stiess das schwere Holztor auf. Es war nicht versperrt. Er ging einige Schritte und stand in einem Innenhof, der in einen Durchgang mündete. Auch die nächste Tür war nicht versperrt. Er trat in einen Gang mit mehreren verschlossenen, nicht beschilderten Wohnungstüren ein. Ein Stiegenhaus bildete den Abschluss des Flurs. Er entschied sich instinktiv, die Treppe nach unten zu nehmen, und gelangte vor ein schwarzes, gusseisernes Tor. Die Deckenbeleuchtung war fahl, doch er konnte ein kleines Messingschild neben dem Eingang entziffern. „B.M.E.I.A“ stand mit schwarzen Buchstaben darauf. Knapp darunter war in klein gehaltener Schrift „Bestiaire de la Magie, de l’Étude de l’Irrationnel et de l’Alchimie“ zu lesen. Auch dieses Tor war unversperrt. Wurde er bereits erwartet? Er drang weiter in das Hausinnere vor, marschierte durch spärlich beleuchtete Gänge, allesamt links und rechts mit verriegelten Kellertüren bestückt. Schliesslich gelangte er in einen grösseren Raum, mit antiken Holzmöbeln ausgestattet; Boden, Wände und Plafond waren aus Stein. Eine nackte Glühbirne tauchte den Ort in schwaches Licht. Mitten im Raum regten sich … Kire fröstelte. Menschen? Er wurde von den Betreibern der Forschungsstätte nicht wirklich freundlich empfangen. Doch das meiste Befremden löste bei ihm das Erscheinungsbild der beiden Gestalten aus. Seine Gastgeber erweckten absolut keinen alltäglichen Eindruck.
Die siamesischen Zwillinge Professor Grauslik und Professor Gruslik konnten nur in entgegengesetzte Richtungen stehen. Sie waren an den Hinterteilen zusammengewachsen und besassen nur einen gemeinsamen Anus. Sie drehten sich, wenn man mit einem reden wollte, um die eigene Achse, so dass der andere in die entgegengesetzte Richtung schaute. Beide hatten dieselbe Physiognomie: eher kleinwüchsig; schütteres, weisses Haar auf ihren alten, blassen Köpfen; Schnurr- und Kinnbart; stechender, abwertender, böser Blick. Auch ihre Stimmen klangen gleich: krächzend, durchdringend, koboldhaft. Zwei unsympathische Gestalten, deren Anwesenheit einen in Unbehagen versetzen konnte. Da sie gezwungenermassen Rücken an Rücken an zwei gegenüberliegenden Schreibtischen sassen, glich jede Bewegung, wenn sie sich zur Seite drehten, einem gekünstelten, unbeholfenen Tänzeln, und es sah aus, als ob sie jeden Moment aus dem Gleichgewicht kämen und hinfallen würden, was jedoch nie geschah. Was Kire noch mehr erschrak, waren die seltsamen und abscheulichen Kreaturen, mit denen die Wissenschaftler hantierten. Auf Professor Grausliks Tisch lag eine grosse, braune, schleimige Schnecke mit menschenähnlichem Gesicht, aus dem sich acht Fühler emporstreckten. Dadurch entstand der Eindruck, sie sei mit einem kronenähnlichen Kopfschmuck bestückt. Doch damit nicht genug. Statt eines Schneckenhauses zierte ein schwarzer Zylinderhut den Rücken des Gastropoden. Auch Professor Gruslik hantierte auf der anderen Seite eifrig mit einem Lebewesen, doch dieses konnte der Mann aus Medilihha nicht sehen, sondern nur vermuten. Blöken und Flügelflattern waren deutlich zu vernehmen. Angeekelt und mit grossem Unbehagen stellte sich der blonde Hüne dem kuriosen Duo vor. Selbst als er auf deren Aufforderung, sich auszuweisen, seine Jacke öffnete und darunter die massive, goldene Kette, die er um den Hals trug, zum Vorschein kam, verspürte Kire immer noch die gleiche Feindseligkeit, die ihm schon von Anfang an entgegengebracht worden war. Doch das Artefakt auf seinem schwarzen Pullover schrie telepathisch nach seinem Pendant, ein weiteres Teil des Puzzles auf dem Weg zu seiner Vervollständigung. Professor Grauslik klärte ihn nicht wirklich auf. Er faselte etwas von einem Stein und machte nur vage Andeutungen über einen guten Weg. Auf Kires Frage nach den bizarren Lebensformen standen die Wissenschaftler auf und tauschten tollpatschig rotierend die Plätze. Professor Gruslik übernahm die Erklärungen in ebenso schnippischer wie knapper Form. Sie experimentierten mit Desoxyribonukleinsäure, der DNA. Der uns bekannten, irdischen und jener von drüben, der anderen Ebene. Es handle sich um simple, biologische Kreuzungen verschiedener Arten. Die erstaunlichen Ergebnisse nannte er Mutationen der Inkommensurabilität. Eine neue, erfolgversprechende Spezies der Evolution. Der Mann aus Medilihha bohrte nicht weiter nach. Er musste sich auf seine Mission konzentrieren. Er deutete durch ein dezentes Kopfnicken auf seine Brust, wo die Kette funkelte und blitzte. Wieder tauschten die Professoren taumelnd die Plätze. Professor Grauslik musterte sein Gegenüber mit scharfem, überheblichem Blick und öffnete zögernd seine Schreibtischlade. Das Holz knarrte dabei beinahe genauso wie seine Stimme. Er griff nach einem Gegenstand, hielt mit geballter Faust inne, streckte den Arm hoch und murmelte beschwörend einige Sätze. Kire konnte nur die Worte „Ring von Side“ und „Stein des guten Weges“ verstehen. Dann öffnete der Professor seine Hand und hielt ihm einen grossen, goldenen Ring vor die Nase. Langsam und vorsichtig griff der Mann aus Medilihha danach und betrachtete ehrfürchtig das Artefakt. Es passte genau zu dem seinen. beide Stücke ergänzten sich. Sie hatten zueinander gefunden, und er konnte sie endlich vereinen. Der Ring trug die gleichen acht Symbole, die auch auf der Kette vorhanden waren. Sogar zwei mehr – die Zahl zehn war de facto grundlegend für die Weltordnung. Ausserdem zierte ein grosser, quadratischer, siebenkarätiger Smaragd das Juwel: die Tetraktys. Mit seinem geschulten Auge konnte Kire zusätzlich feststellen, dass der Ring genauso wie seine Kette aus massivem Gold bestand. Er öffnete den Verschluss seiner Kette, der aus einer dünnen Stange bestand, fädelte den Ring hindurch und verschloss ihn wieder. Lautes Blöken und Flügelgeflatter begleiteten diese Handlung. Da die Artefakte seine volle Aufmerksamkeit genossen, entging dem Hünen, was am hinteren Schreibtisch passierte. Er sah aus dem Augenwinkel nur einen Schatten davonfliegen und in der Dunkelheit des hinteren Ganges, in den das Ende des Raumes mündete, verschwinden. Beide Wissenschaftler drehten sich wieder um sich selbst, und Professor Gruslik schimpfte verärgert und verlegen zugleich: „Entwischt, aber nicht entkommen!“ Er übernahm wieder das Gespräch. Er erklärte dem Pythagoräer widerwillig die weitere Vorgehensweise seiner Mission und machte dauernd abweisende Handbewegungen dabei. Dann fixierte er mit seinem überheblichen Blick die Schnecke auf dem Schreibtisch seines Kollegen, die ihn mit traurig flehenden, fast menschlichen Augen ansah. Der Hüne sollte beide Schmuckstücke einem Mann namens Hippasos übergeben. Dieser würde zu gegebener Zeit, nach Ablauf der kosmischen Periode, zu Beginn des Grossen Jahres, am oberen Brunnen der Strudlhofstiege auf ihn warten, um die Artefakte in Empfang zu nehmen. Auf Kires Frage, woran er den Fremden erkennen könne, antwortete der Professor, dies sei äusserlich eigentlich unmöglich, da dieser ein durchschnittlicher Jedermann sei. Ein Mann ohne besondere Merkmale eben, wenn auch kein Mann ohne Namen. Wieder rotierten die Wissenschaftler um ihre eigene Achse. Professor Grauslik fuhr mit den Erläuterungen fort. Die Schnecke schaute ihn noch mitleidheischender an. Als Beweis, dass der Genannte wirklich der sein würde, als der er sich ausgab, würde er einen Gegenstand als Erkennungszeichen vorweisen. Dann erst dürfe ihm der Mann aus Medilihha die kostbaren Requisiten übergeben. Auf seinen fragenden Blick erntete Kire ein feierliches „die Goldene Perle“ von dem Professor. Erst dann sei der Auftrag des Pythagoräers ausgeführt, und der Genannte könne wieder nach drüben zurückkehren. Kire grübelte, wagte aber nicht nachzufragen, was mit „drüben“ gemeint war. Er bedankte sich diplomatisch mit gespielter Höflichkeit bei den beiden Wissenschaftlern für die Ausführungen. Seiner nicht gerade aufrichtig gemeinten Verneigung vor dem Duo fügte er noch eine letzte Frage hinzu. Da der Smaragd des Ringes, den er nun besass, der Stein des guten Weges war, welchen Weg würde er ihm und wie weisen? Der letzte böse Blick des Professors, der ihn traf, bevor er die Örtlichkeit erleichtert wieder verliess, verriet die Impertinenz seiner Frage. Sogar dir braune Schnecke sah ihn entgeistert an. Trotzdem fügte Grauslik zornig „Der Stein, der Stein! Von wegen! Der gute Weg ist die Inkommensurabilität! Unlogisch logisch!“, hinzu und schüttelte dabei den Kopf.
Nachdem er das Gruselkabinett, das eher einer Geisterbahn im Wiener Prater glich als einer Forschungsstätte, weit hinter sich wusste, schmiedete der Mann aus Medilihha bereits seine nächsten Pläne. Er würde keineswegs auf den Beginn des Grossen Jahres warten, um Hippasos Kette und Ring zu übergeben. Vorsicht war geboten. Er war weder von der Aufrichtigkeit der beiden Professoren noch jener des mysteriösen Kontaktmannes überzeugt. Deshalb suchte er zielstrebig ein Internet-Café in einem der Bezirke innerhalb des Gürtels auf und tippte „Hippasos“ auf der Tastatur. Tatsächlich zeigte die Suchmaschine einige Treffer an. Neben zwei Firmen auf dem Bundesgebiet, einer längst verstorbenen Persönlichkeit der Weltgeschichte und einem Computerprogramm gab es noch einen Eintrag im elektronischen österreichischen Telefonbuch. Der Gesuchte wohnte in Wien. Sofort war die Teilnehmernummer auf einem Zettel notiert. Da Kire kein Mobiltelefon besass, suchte er eine der wenigen in der Bundeshauptstadt noch verbliebenen Telefonzellen auf. Wenige Augenblicke später war auch schon die Verbindung hergestellt, und eine männliche Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung. Kire stellte sich nicht namentlich vor, aber deutete kryptisch an, etwas zu besitzen, was abzuliefern war, sollte der Betreffende einen Beweis vorzeigen können, der in Relation zu den „Geschäftsbedingungen“ stand. Prompt verabredete man ein Treffen noch am selben Abend an einem öffentlichen Ort, in einer Bar im 16. Bezirk, unweit der grossen Brauerei. Sekunden später legte der verdutzte Gesprächspartner auf. Wegen der kurzen Anberaumung des Termins blieb beiden Protagonisten kaum Zeit für Vorbereitungen, was für beide von Vorteil gewertet werden konnte, da sich das gegenseitige Vertrauen per se in engen Grenzen hielt. Der blonde Hüne verliess die Telefonzelle und begab sich zur nächsten Strassenbahnhaltestelle. Er wollte den Mittelsmann auf keinen Fall warten lassen, ja sogar etwas früher am vereinbarten Ort eintreffen.
Der Johann-Nepomuk-Berger-Platz war alles andere als eine feine Gegend. Besonders am Abend und nachts. Es war bereits finster, als der Mann aus Medilihha aus dem Strassenbahnwaggon ausstieg und sich nach der Bar umsah, wo das Treffen stattfinden sollte. Er erspähte kurz darauf die halb defekte Neonbeleuchtung mit dem Namen des Nachtcafés, welches von seinem noch unbekannten Missionspartner vorgeschlagen worden war. Bevor er die Lokalität betrat, blickte er sich nach allen Richtungen um, konnte aber nichts Verdächtiges bemerken. In der Gaststätte herrschte ein schummriges Licht, Schwaden aus Zigarettenrauch durchzogen die Atmosphäre. Nicht nur die Beleuchtung, auch das Mobiliar und die anwesenden Gäste verliehen diesem wenig einladenden Gastronomiebetrieb einen Hauch von Verruchtheit. In dem relativ grosszügig angelegten Raum gab es einige Nischen mit kleinen Tischen, an denen meist männliche Konsumenten sassen. Kire nahm auf einem Hocker an der Bar Platz. Er hatte diesen Ort gewählt, da er ihm eine Gesamtübersicht über das ganze Lokal, den Eingang und die Theke gewährte und sich links und rechts neben ihm leere Sitzmöglichkeiten für eventuelle Gesprächspartner anboten. Er bestellte sich einen Energydrink. Isotonisch und esoterisch passen gut zusammen, dachte er und schmunzelte über seinen eigenen Einfall. Lange brauchte er nicht zu warten. Ein recht unscheinbarer Typ betrat die Bar, sah sich kurz um und kam zögernd, mit fragendem Blick auf Kire zu. „Hippasos?“, sagte der Hüne. Der Mann nickte. Er nahm auf dem Hocker neben ihm Platz und orderte ein Bier beim Barkeeper. „Kire Mylonas aus dem fernen Medilihha, Weltenbummler und Esoteriker“, stellte sich der Pythagoräer vor. „Hippasos. nur Hippasos. Da, wo ich herkomme, gibt es nur einen Namen, nicht zwei wie hier“, leitete sein Kontrahent die Konversation ein und entpuppte sich als ein höflicher, kultivierter Gesprächspartner. Zu Beginn musste aber noch Klarheit über die Authentizität der jeweiligen, vorgegebenen Identitäten beider Männer herrschen. Kire machte den Anfang und öffnete seine Jacke, so dass sein Gegenüber einen Teil der Kette sehen konnte. Dann knöpfte der andere sein Hemd auf, griff in einen Brustbeutel, den er verdeckt trug, und fischte einen von Zeitungspapier umhüllten Gegenstand heraus. Er schälte förmlich eine goldfarbene Kugel heraus, hielt sie vor die Augen des Pythagoräers und wickelte sie dann erneut in das Papier ein. Schliesslich verschwand sie wieder in der Tasche unter seinem Hemd. Beide wussten, dass es sich um die Goldene Perle handelte. Und der Mann aus Medilihha erfuhr Unglaubliches auf seine Nachfragen.
Hippasos war kein Mann ohne besondere Eigenschaften, nicht in seiner Welt. Hier durfte er sich nicht festlegen, blieb farblos und verschwand im Hintergrund, verschmolz mit seiner Umgebung. In seiner Heimat, der Gegenerde, genoss er hohes Ansehen. Auf Kires Einwand, die Existenz der Gegenerde sei seit Jahrhunderten logisch-rational widerlegt, antwortete er lapidar, dass sein Zuhause der Planet des Irrationalen sei und eben deshalb von unserer Wissenschaft nicht vernunftmässig erfasst werden konnte. Dort herrschte die Inkommensurabilität. Nichts liess sich ausrechnen, logisch bedeutete unlogisch. Kakanien, so nannte sich dieser Ort, würde jedem Menschen verrückt, disharmonisch, verkehrt erscheinen. Zufall und Unsinn stellten die höchsten Tugenden dar. Er selbst sei von der Nudeltopfriege, der Gesellschaft der Unordnung und des universellen Chaos, hierher entsandt worden, um die Kette, den Ring und die Goldene Perle wieder zurück in seine Heimat zu bringen, wo sie geschmiedet worden waren. Die Gefahr, Menschen könnten mit diesen Requisiten die Reise zur Gegenwelt antreten und diese bedrohen, erobern, gar vernichten, sei gegeben. Doch mit dem Verschwinden der Gegenerde geriete das ganze kosmische, dynamische Gebilde, die zyklischen Bewegungen der Himmelskörper, aus dem Gleichgewicht, was unwiderruflich eine Apokalypse herbeiführen würde. Vor Tausenden von Jahren habe ein Vorgänger, ebenfalls im Auftrag der Nudeltopfriege, den Weg zur Erde beschritten, die drei Schmuckstücke mitgebracht, Pythagoras getroffen und ihn von den Gegebenheiten unterrichtet, welche in die Lehre des Mathematikers einflossen. Das Grosse Jahr nahte jetzt wieder unaufhaltsam, und Hippasos war zur Rückkehr bereit. Die fehlenden Utensilien trug der Pythagoräer am Körper. Die Übergabe konnte im Prinzip sofort stattfinden. Doch die Odyssee selbst musste diesmal von der Mitte der Strudlhofstiege ihren Ausgangspunkt nehmen, genauer gesagt, ihrem Metapoint, einem Konstellations-Horizont, der für dieses Ereignis „drüben“ festgelegt worden war. Die Goldene Perle, die keineswegs einer Muschel entstammte und wesentlich grösser war als eine echte, bestand aus massivem Gold. In ihrem Inneren befand sich ein Hohlraum in der Form einer geometrischen Figur. Die Goldene Perle war die Konstruktion des einer Kugel einbeschriebenen Dodekaeders, einer geometrischen Grösse, welche nicht durch ganzzahlige Zahlenverhältnisse definiert werden konnte. Die perfekte Darstellung der Inkommensurabilität. Das praktische Werkzeug der Irrationalität. Legte man die Kugel auf den Ring, der an der Kette hing, und drehte daran, ertönten sphärische, akusmatische, kosmische Klänge und die für uns sonst unhörbare Musik, die durch die gleichförmigen Bewegungen der Gestirne auf ihren Umlaufbahnen verursacht wurde. Diese Harmonie ermöglichte die Öffnung des Tores zur Gegenerde am besagten Ort, denn der Gegensatz zwischen Klang und Stille war Disharmonie, die Essenz der Gegenwelt. Die Anwendung dieser magischen Technik unterbrach die geordnete, himmlische Daseinsweise durch ihr Gegenteil, und der Verursacher konnte dem Diesseits entrinnen und nach Kakanien, dort, wo nichts Zahl war, überwechseln. Hippasos schwieg. Sein Gegenüber, der Mann aus Medilihha, zeigte sich von dieser Offenbarung überwältigt.
In der Bar herrschte ein reger Wechsel an Gästen. Einige hatten das Lokal verlassen, andere waren gerade erst gekommen. Ein bärtiger Mann, der durch sein ungepflegtes Äusseres und seine schmuddelige Kleidung auffiel, setzte sich direkt auf den Barhocker neben Hippasos und bestellte ein Bier. Jetzt konnten die beiden Geheimnisträger nur noch Belanglosigkeiten austauschen, wollten sie doch kein Aufsehen erregen oder sich in Gefahr bringen. Der Barkeeper stellte das Bierglas vor dem Neuankömmling auf die Theke, zwischen die geschmacklosen Dekorationsgegenstände, welche ihren Zweck ins Gegenteil verkehrten. Lieblos abgestellte, billige Kitsch- und Ramsch-Figuren verstaubten auf ihrem Platz. Das Krügerl stand neben einem Miniatur-Stephansdom aus Polyresin und einem Aschenbecher aus Aluminium, auf dem ein kleiner Johann Strauss geigte. Kire beachtete den verwahrlosten Typen nicht sonderlich, nur aus dem Augenwinkel, aus Sicherheitsgründen. Das Einzige, was seine Aufmerksamkeit erregte, war ein Anhänger, den der Kerl an einem Lederband um den Hals trug und ein Replikat der Rosette von Pliska darstellte. Das passte nun gar nicht zu dem Aussehen dieses eher verlotterten Zeitgenossen. Hippasos erläuterte dem Pythagoräer, warum sie beide sich nicht als Feinde betrachten sollten. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft waren sie keine Rivalen. Die beiden gegensätzlichen Welten konkurrierten nicht miteinander, sie ergänzten sich. Denn die eine konnte ohne die andere nicht existieren, ja nicht einmal definiert werden. Es gab kein Klein, wenn es kein Gross gab, kein Kalt ohne Warm, kein Teil ohne Ganzes. Der Diskurs wurde plötzlich durch ein kräftiges „Prost, Oida!“ unterbrochen. Der Theken-Nachbar hielt sein Bierglas in die Richtung von Hippasos, der von seinem Bier noch fast gar nichts getrunken hatte. Höflichkeitshalber, aber vor allem, um einen eventuellen Streit zu vermeiden, griff er zu seinem Glas, hob es und prostete dem Mann neben ihm zu, trank einen kurzen Schluck und stellte es wieder vor sich hin. „Kein Durst, Oida?“ Diese Bemerkung begleitete ein abschätziger, provozierender Blick. Hippasos ignorierte die Reaktion dieses Plebejers und wandte sich wieder Kire zu. Bevor er den Faden des Gesprächs wiederaufnehmen konnte, stiess der Typ neben ihm mit seinem Glas gegen jenes von Hippasos. „Komm, Oida!“, ertönte es abermals, diesmal etwas lauter und ungeduldiger. Das Ärgernis eines jeden normalen Kneipenbesuchers nahm seinen Lauf. Obwohl beide Konversationspartner jeglichen Kontakt mit diesem offenbar minderbemittelten Proleten vermeiden wollten, schien eine unangenehme Auseinandersetzung vorprogrammiert. Hippasos machte noch einmal gute Miene zum bösen Spiel. Er setzte sein breitestes Lächeln auf und prostete dem Stänkerer zu, dann trank er in vollen Zügen die Hälfte des Bieres aus. Sichtlich zufriedener als gerade eben leerte der merkwürdige Kerl sein Glas zu Gänze und gab vor, sich für ein Fussballspiel zu interessieren, das gerade auf einem kleinen Flachbildschirm oben an der Wand neben dem Eingang in geringer Lautstärke lief. Wenigstens liess er den Mann aus der Gegenwelt in Ruhe, dachte der blonde Hüne, und bestellte sich einen weiteren Energydrink. Knappe fünf Minuten später kippte Hippasos plötzlich mit seinem Oberkörper nach vorne, schlug mit dem Kopf an der Bar auf, dann nach hinten und fiel von seinem Hocker auf den Boden, wo er regungslos liegenblieb.
Der Mann aus Medilihha zögerte keine Sekunde. Er sprang von seinem Barhocker und beugte sich über Hippasos, fühlte seinen Puls, öffnete sein Hemd, setzte mit seinen Händen zur Herzmassage an, verharrte. Eine kleine Blutlache bildete sich unter dem Kopf des Gegenweltlers. Es hatte keinen Sinn mehr. Sein Gesprächspartner war zu hart mit dem Kopf auf den Kachelboden aufgeschlagen und vermutlich an einem Schädelbasisbruch gestorben. Kire griff sich eine auf der Theke herumliegende Zeitung, riss einige Seiten davon heraus und schob sie unter das Haupt des Unglücklichen. Mit den restlichen Blättern bedeckte er das Gesicht. Zur selben Zeit telefonierte der Barkeeper bereits mit dem Notarzt oder der Polizei. So genau bekam der Pythagoräer es nicht mit. Er war von dem unerklärlichen, überraschenden Vorfall tief betroffen und tastete wie in Trance die Bar ab, bis seine Finger den Energydrink erfassten, den er auf einen Zug leerte. Dann begab er sich auf die Herrentoilette. Er hatte vor, nicht auf das Eintreffen der Einsatzkräfte zu warten, sondern sich, nachdem er sein Bedürfnis erledigt hatte, schleunigst aus dem Staub zu machen. Kaum hatte Kire den Gästeraum verlassen, inspizierte auch der Typ, der Hippasos zuvor provoziert hatte, seinen toten Sitznachbarn. Er beugte sich ebenfalls über die Leiche, schob die Zeitungsfetzen beiseite, tastete den Oberkörper ab. „Voll Arsch, Oida!“, lautete der lapidare Kommentar, der mehr für ihn selbst gedacht war als für die untätig herumstehenden anderen Lokalgäste. Dann packte er die beiden Biergläser auf der Bar, seines und das des Toten, und verschwand damit, eines in jeder Hand, auf die Toilette.
Aufgebracht und sichtlich wütend leerte der Prolet das halbvolle Bierglas im Waschbecken aus und schleuderte beide Gläser mit grosser Wucht in den Abfalleimer unter dem Händetrockner. Beim Aufprall barsten sie sofort mit lautem Klirren. Jetzt erst widmete er sich dem Pythagoräer, der gerade an der Pissoirwand stand und den Reissverschluss seiner Hose schloss. Aus dem Stand zog der Plebejer mit einer schnellen Bewegung eine Glock 18 unter seiner Jacke hervor und brachte sie unverzüglich in Anschlag. Der Lauf der Waffe deutete auf Kires Kopf. „Du hast es! Wusst ich‘s doch!“, brüllte er den Mann aus Medilihha an. „Rühr dich nicht vom Fleck. Nimm‘s ganz langsam heraus, leg‘s auf den Boden und mach fünf Schritte zurück!“, fuhr er den Hünen an. Der Pythagoräer wusste, dass Vorsicht keine Feigheit ist und Leichtsinn kein Mut. Wie es ihm befohlen wurde, fasste er langsam in seine rechte Jackentasche und fischte ein kugelförmiges Objekt heraus, das zur Gänze mit Zeitungspapier bedeckt war, legte es sanft auf den Boden und wich drei Schritte zurück, bis er an der hinteren Wand mit dem Rücken anstand. Er verharrte. Der widerliche Kerl ging auf das eingehüllte Ding zu, packte es, ohne den Lauf seiner Waffe von seinem Ziel abzuwenden, und liess es unter seiner Jacke verschwinden. Als er mit seiner frei gewordenen Hand die Tür in den Gästeraum aufstiess, verbarg er die Glock und verschwand spurlos. Der Pythagoräer tat es ihm gleich. In nur sehr kurzem Abstand voneinander gelang es beiden Männern, die Bar zu verlassen, bevor die Polizeistreife eintraf.
Nichts deutete mehr auf einen Plebejer hin. In seiner Uniform eines Offiziers des Heeresnachrichtenamtes vermittelte der bärtige Mann mit sorgfältig nach hinten gekämmten Haaren einen seriösen und Vertrauen erweckenden Eindruck. Die Rosette von Pliska trug er ganz unkonventionell am Kragen, wie einst die deutschen Wehrmachtsangehörigen das eiserne Kreuz. Flotten Schrittes marschierte er die langen, unterirdischen Gänge in dem Kommandogebäude in der Hütteldorfer Strasse im 14. Bezirk entlang. Vor einer Tür blieb er stehen, öffnete sie, trat ein und salutierte. In dem kleinen Konferenzraum wurde er von einer Handvoll Mitarbeiter erwartet. Durch seine Anwesenheit war die Abteilung für Strategische Geschichtsforschung vollzählig. Seine Kollegen nickten nur schweigend zu seiner Begrüssung, da sie bereits an dem runden Eichentisch, in dessen Mitte ein römischer Pentagondodekaeder stand, Platz genommen hatten. An der Wand gegenüber prangte eine österreichische K.u.K.-Fahne mit dem Doppeladler. Gespannt erwarteten die Männer die Berichterstattung ihres Kameraden und vor allem seine Beute. Schweigend und feierlich näherte sich der Offizier dem Tisch, nahm ein in Zeitungspapier verpacktes, kugelförmiges Objekt aus seiner Uniformjacke und platzierte es auf dem Dodekaeder. „Meine Herren, sehen und staunen Sie!“, legte er los und begann vorsichtig und ehrfurchtsvoll das Papier von dem Gegenstand zu entfernen. Zum Vorschein kam eine Schneekugel mit einem Riesenrad aus Plastik in ihrem Inneren, wie man sie in fast jedem Souvenirshop in der Wiener Innenstadt kaufen kann ...
Kire Mylonas stand am oberen Brunnen der Strudlhofstiege und betrachtete nachdenklich das aus dem bronzenen Fischmaul heraussprudelnde Wasser. Es war auf den Tag genau der Beginn des Grossen Jahres. Er trug die Kette mit dem in ihr verkeilten Ring unter seiner Jacke. Im Laufe seines Lebens hatte er viele Erfahrungen gesammelt und sich verschiedenste Eigenschaften angeeignet, unter anderem die Fähigkeit, mehrere Schachzüge des Gegners vorauszudenken. Er spürte in seiner linken Jackentasche das Gewicht eines in Zeitungspapier eingewickelten, kugelrunden Gegenstandes, der Goldenen Perle. Zusammen ergaben die drei Artefakte den Schlüssel des Pythagoras. Und er hatte das Glück, ihn besitzen zu dürfen, oder besser gesagt, sein alleiniger Verwahrer zu sein. Ein Gefühl der Beruhigung und zugleich der Beunruhigung überkam ihn. Sollte er nach Medilihha zurückkehren und die Schmuckstücke seinem Meister übergeben oder gar selbst hier und jetzt die Reise in die Gegenwelt antreten? Es kam ihm vor, als ob er trotz seiner bewegten Vergangenheit erst am Anfang all seiner Prüfungen stand. Noch zögerte und überlegte er. Er hatte sich noch nicht entschieden.
Akusmata
Die Reise in die Gegenwelt
Das Letzte aus seiner Welt, an das sich Kire Mylonas erinnern konnte, war das aus dem bronzenen Fischmaul am oberen Brunnen der Strudlhofstiege heraussprudelnde Wasser. Es war auf den Tag genau der Beginn des Grossen Jahres, und mit der Hilfe des Schlüssels des Pythagoras hatte der Mann aus Medilihha seine Reise in die Gegenwelt angetreten. Er trug die goldene Kette mit dem in ihr verkeilten Ring um seinen Hals. Mit seiner linken Hand hielt er den grossen, quadratischen Smaragd des Ringes fest, mit seiner rechten drehte er die Goldene Perle im inneren Kreis des Juwels. Sphärische, kosmische Klänge ertönten, und die für uns sonst unhörbare Musik, die durch die gleichförmigen Bewegungen der Gestirne auf ihren Umlaufbahnen verursacht werden, erklang. Diese melodiös anmutende, akusmatische Symphonie ermöglichte die Öffnung des Tores zur Gegenerde. Der Gegensatz zwischen Klang und Stille, das Spiel zwischen himmlischer Harmonie und Disharmonie, die Essenz der Gegenwelt, ermöglichte es, dem uns bekanntem Diesseits zu entrinnen und nach Kakanien, so lautete der Name der anderen Seite, überzuwechseln. Den blonden Hünen durchströmten auditive Wellen. Sie badeten seinen Körper, tauchten seinen Geist in die Tiefen des universellen Chaos, zogen ihn in den Strudel der Inkommensurabilität, um ihn in Fleisch und Blut am festgelegten Metapoint, dem Konstellations-Horizont der Gegenerde, wieder auszuspeien. Dank dieser magischen Technik erfolgte die Landung sanft und schmerzfrei.
Das erste, was Kire von seiner neuen Umgebung wahrnahm, bildete die sphärisch geformte Raumabdeckung von gewaltigen Ausmassen über seinem Kopf. Er befand sich unter dem Mittelpunkt einer gigantischen Kuppel. Der harte Steinboden, auf dem er nun stand, war übersät mit bunten Papierschnipseln, und die gewölbeähnliche Halle war an Wänden und Decke geschmückt mit skurrilen Fresken seltsamer Chimären, karnevalsartigen Girlanden und bunten, schwebenden Luftballons. Dies vermittelte ihm ein beruhigendes Gefühl. Dann bemerkte er einen Menschen, einen alten, weisshaarigen Mann mit langem Bart, mit einer blauen Toga und einem spitzen Hut bekleidet, der auf ihn zukam, ihn mit offenen Armen empfing und verkündete: „Willkommen in der Basilika von Ahhilidem, Kakanien, dem Hauptsitz der Nudeltopfriege! Ich bin der Frohepriester Märlin und habe Sie bereits erwartet. Seien Sie mein Gast!“
Nachdem sich Kire Mylonas, der Mann aus Medilihha, Weltenbummler und Esoteriker, seinem neuen Gesprächspartner vorgestellt hatte, erfuhr er Erstaunliches. Sein „Landeplatz“ unter der Wonnenkuppel stellte das magische Zentrum im Versammlungsraum der verlorenen Gemeinschaft, der Nudeltopfriege, dar. Hier fanden bekenntnistheoretische Diskurse, philosophische und politische Leitgespräche statt, und es wurden auch Entscheidungen gefällt. Der Bund isotonischer Leeren und daheim behaltenen Wissens vermittelte seinen Anhängern die grundlegenden Regeln und Werte, die es unumgänglich zu befolgen galt. Wahnsinn, Irrsinn, Unsinn, Blödsinn, Schwachsinn und Stumpfsinn begründeten die Existenz Kakaniens. Die Gegenwelt definierte sich durch die Gegensätze zu unserem mathematisch-wissenschaftlichen, vernunftmässigen, blauen Planeten auf der anderen Seite des kosmischen Zentralfeuers. Hier war alles absurd, irrational, unlogisch. Es herrschten Inkommensurabilität, Zufall und Chaos. Unordnung stellte die höchste Tugend dar. Die Akusmata stellten die immerwährenden, unfehlbaren, unwiderlegbaren und vor allem einzigen Antworten auf alle möglichen und unmöglichen Fragen dar. Diese mündlich weitergegebenen Lebensregeln und Sprüche nannte man „Goldene Verse“. Es gab drei davon. Erstens: „isso“. Zweitens: „war schon immaso“. Drittens: „bleibt so“, und aus und Schluss. Märlin vermittelte den Gegenweltlern als allwissender Frohepriester den Willen und die Launen des Grossen Kleisters, dem allmächtigsten Wesen des kosmischen Daseins. Der alte Leise verkündete und interpretierte die unausweichlichen, unwiderruflichen Befehle und Wünsche des höchsten Leitgeistes, denen auf der Stelle zu gehorchen und Folge zu leisten war. Als Verwahrer des Allereiligsten, des ewigen Klebens, vermochte der leise Alte als einziger die Stimme und die Worte des Grossen Kleisters zu vernehmen. Märlin, der oberste Diener des „Liegenden Konfettimonsters“, stand an der Spitze der Hierarchie der „Zaster-Marie-Gemeinschaft“, in welcher die elitäre „Nudeltopfriege“ als nur eine von vielen Gesellschaften bestens integriert war. Für Kire hörte sich das ganze Larifari wie ein böser Spuk an, eine Gespensterwelt. Aber diese galt hier als Gesetz. Doch es kam noch viel, viel mehr auf die verstandesmässige Aufnahmefähigkeit des Mannes aus Medilihha zu. Denn zunächst sollte er die Umgebung der Gegenerde betreten. Der alte Leise führte ihn zum Ausgang des eindrucksvollen Gebäudes, einem mächtigen Eingangsbogen, der an Stelle eines Tores nur mit einem dicken, undurchsichtigen Vorhang zur Aussenwelt hin abgeschlossen war. Märlin bedeutete Kire, direkt vor der Stoffdecke stehenzubleiben. Dann schob er die schwere Abdeckung zur Seite. Sonnenlicht fiel auf beide Männer, umhüllte sie, und die ganze Andersartigkeit offenbarte sich dem blonden Hünen. „Vorhang auf, Manege frei! Willkommen auf der Gegenerde!“, verkündete der Frohepriester feierlich.
Eine rosarote Atmosphäre überzog eine hügelige, grellgrüne Landschaft mit saftiger Vegetation. Zentauren, Minotauren, geflügelte Sphingen, Satyre und Pferde, deren Aussehen jenen auf der Erde ähnelte, tummelten sich unter hohen Bäumen mit sonnenschirmartigen Kronen. Auf den von lila Bächen durchzogenen Wiesen lieferten sich allerlei Chimären spielerische Ringkämpfe und Wettläufe. In der Ferne schossen die Silhouetten der flaschenförmigen Bieramyden zum Himmel empor. Die Luft roch nach Eibisch und Zuckerwatte. Eine fantastische Szenerie, einem berauschenden Traum entsprungen, die jedem Menschen verrückt, disharmonisch, verkehrt erscheinen würde, umgarnte Kires Verstand. Es kam ihm vor, als sei er selbst geistig umnachtet, und all die irrealen Dinge, die er jetzt entdeckte, stellten die wahre Wirklichkeit dar, welche ihm bis dato unbekannt gewesen und verschwiegen worden war. Märlin führte Kire in diesem auf ihn schräg wirkenden Paradies herum und erklärte bei jedem gegenweltlichen Wesen, um wen oder was es sich handelte und welche Rolle es in diesem Garten Eden innehatte. Die dreieinhalb Elemente, aus welchen die Gegenerde bestand, „Feuerwasser, Duft und Pferde“, spiegelten sich in jedem ihrer Abbilder wider. Der Zen-Taur besass einen menschlichen Oberkörper, der Unterbau glich einem Pferd ohne Kopf. Megasus, ein riesiger, geflügelter Gaul, war in seiner Grösse in etwa dem jordanischen Pferd, der hölzernen Statue, die auf einer Hügelkuppe die Landschaft überragte, ebenbürtig. Eine andere Gestaltenart, Mini-Taurus genannt, besass einen humanoiden Körperbau mit einem Stierschädel als Kopf. Sie schien eher kleinwüchsig, jedoch sehr lebhaft in ihren Bewegungen. Den ihr ähnlich anmutenden Krampussen, welche ausgelassen grollend scheinbar ziellos zwischen normalen Pferden herumtollten, stand sie aber in nichts nach. In dieser Umgebung, die Kire wie ein surrealistisches Gemälde vorkam, fühlte sich der blonde Hüne wie Larry Dotter in der Zauberwelt, ein moderner Ali im Plunderland.
Dann kam Märlin zur Sache. Es ging darum, die drei goldenen Schmuckstücke, den Schlüssel des Pythagoras, von Kire in Verwahrung zu nehmen. Zu gross war die Gefahr, dass Menschen von der Erde je wieder in die Gegenwelt gelangten, sie bedrohten, ja vernichteten. Der Mann aus Medilihha hatte schon vor seiner Reise nach Kakanien gewusst, dass er nie wieder seine Heimat sehen würde: Obwohl im Besitz des magischen Werkzeugs, funktionierte die Überfahrt auf seinen Planeten ausschliesslich am Anfang der kosmischen Periode, dem Grossen Jahr. Dieses hatte bereits begonnen. Niemals würde seine Lebenszeit ausreichen, um auf die nächste Gelegenheit zu warten, bis sich das Raumtor wieder öffnen sollte. Der Exkurs von dort nach hier hatte sich von Anfang an als One-Way-Ticket erwiesen. Daher überreichte er dem leisen Alten die Juwelen mit gemischten Gefühlen. Freilich waren sie für ihn unter diesen Umständen ohnehin wertlos, unbrauchbar für zukünftige Transportmöglichkeiten. Seine Neugierde wuchs dennoch, und er beschloss, die für ihn neue Welt zu entdecken und seinen Platz in ihr zu finden. Auf seine Fragen erhielt er immer sehr kompetente Antworten von dem alten Leisen, die er jedoch mit Vorsicht in sich aufnahm, wohlwissend, dass sie keinen kritischen Argumenten der reinen Vernunft standhalten konnten. Er erfuhr viel Unglaubliches über den Himmelskörper, der nun sein neues Zuhause sein sollte. Kakanien war nur ein Land, wenn auch das grösste und mächtigste, mit vielen verschiedenen Regionen. Ein Vielvölkerstaat mit seltsamen Bewohnern, Sprachen, Bräuchen, alle vereint unter dem Herrscherhaus der Schnapsburger. Es gab auch andere Nationen, allesamt konkurrierend, verfeindet, manche sogar im Kriegszustand. Ein typisches Beispiel der Gegenerde stellte das auf pataphysiche Prinzipien aufgebaute Patagonien dar. Der ganze Planet unterwarf sich den patawissenschaftlichen Grundsätzen und gedieh unter Patanaturbedingungen. Nur auf seine Frage, in welcher Werkstatt die pythagoräischen Juwelen geschmiedet worden seien, bekam er vorerst keine Antwort, sondern erntete nur verärgerte Blicke des Frohepriesters, der plötzlich gar nicht mehr fröhlich wirkte.
Es vergingen viele Tage, an welchen Kire viel Neues, Fremdes, aber auch aus seinen Erinnerungen Vertrautes erfuhr. Das Leben gestaltete sich ausserordentlich interessant und angenehm, wurde er doch unter Märlins Fittichen bestens versorgt. Auch der Frohepriester profitierte von den Informationen und Erzählungen aus der Welt des blonden Hünen, und so dauerte es nicht lange, bis er schliesslich auf die zuvor gestellte Frage des Medilihhaners antwortete. Die Gegenerde hatte ihr dunkles Geheimnis: die Seite des Planeten, welche niemals vom Zentralfeuer erhellt wurde. Eine Stein- und Staubwüste, unwirtlich für jegliches Leben. Dort herrschten totale Finsternis und extreme Kälte. Weder Wasser noch Vegetation noch sonst irgendetwas Notwendiges war vorhanden. Niemand konnte in dieser Umgebung überleben. Jedoch, so sagte man in Kakanien, wohnten auf der dunklen Seite der Gegenwelt Gespenster und Dämonen. Der Spuk regierte über das gesamte, unbekannte Territorium, vertrieb oder frass jeden potentiellen Eindringling. Dort, weit draussen, an diesem verfluchten Niemandsort, gestand Märlin flüsternd, befand sich die Schmiede, wo einst die Schmuckstücke des Pythagoras entstanden waren. Kire wurde hellhörig. Er grübelte fast jeden freien Moment über diese Aussage, verbrachte schlaflose Nächte. Sein Entdeckergeist hatte ihn fest im Griff, und es dauerte nicht lange, bis er den alten Leisen darum bat, ihn in das Gebiet der ewigen Nacht zu begleiten. Der lehnte jedoch vehement ab. Dieser Weg sei verboten, ein Tabu für jeden Bewohner der Gegenerde. Der Mann aus Medilihha beschloss daher, sich alleine auf die Reise in die dunkle Welt zu begeben, sehr zum Missfallen des Frohepriesters, der ihn allerdings auch nicht davon abhielt. Wollte er den Erdling gar loswerden? Märlin führte ihn bis zur Grenze der erhellten Seite, weit, sehr weit weg von Ahhilidem. Viel konnte Kire der anderen Seite des Planeten nicht entgegensetzen. Er war denkbar schlecht ausgerüstet, hatte keinerlei Waffen, und die kontraproduktivsten Eigenschaften für die Gegenwelt: einen hier nutzlosen, scharfen, logisch-rationalen Verstand, mathematische Fähigkeiten und ein Gespür für Vernunft. Es kam der Augenblick des Abschieds von seinem Mentor, dem leisen Alten. Der Medilihhaner beschritt entschlossen seinen ihm vorbestimmten Weg, umhüllt von fester, warmer Bekleidung, ausgestattet mit einem Rucksack voll Proviant, Wasserflaschen und Utensilien, um Feuer zu entfachen und es einige Zeit zu unterhalten. Bewaffnet mit einem langen Holzstab, um dessen oberes Ende ein ölgetränkter Fetzen gewickelt war, der als Fackel diente, marschierte Kire hinaus in die kalte, absolute Dunkelheit. Seine Expedition hatte begonnen.