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Auch der zweite Band der »Neschan«-Triologie von Ralf Isau spielt in der Welt Neschan, eine fantastische Welt, in die der Junge Jonathan wandert und dort magische Abenteuer besteht. Im zweiten Band besteht Jonathan weitere phantastische Abenteuer in Neschan, denn mit Neschan hat Jonathan Jabbok eine wunderbare Welt entdeckt: Sein dortiges Ich Yonathan ist auserwählt, den verschollenen Stab Haschevet in den Garten der Weisheit zu bringen. Doch durch diese Abenteuer gerät Jonathan in einen gefährlichen Strudel: Er wird schwächer und schwächer und entfernt sich immer weiter von der Realität, je mehr sein Traumbruder Yonathan in Neschan erlebt. Wird es Yonathan gelingen, den Stab Haschevet rechtzeitig an den siebten Richter zu übergeben und damit die Welt Neschan den Klauen des schrecklichen Herrschers Bar-Hazzats zu entreißen? Die »Neschan«-Triologie von Ralf Isau findet in diesem zweiten Band eine Fortsetzung der Abenteuerreise von Jonathan.
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Seitenzahl: 768
Ralf Isau
Fantastischer Roman – Teil 2 der Neschan-Trilogie
Roman
Heute Nacht träumte ich, ich sei ein Schmetterling. Jetzt weiß ich nicht: Bin ich nun ein Mensch, der träumte, er sei ein Schmetterling, oder bin ich ein Schmetterling, der träumte, er sei ein Mensch?(frei nach einem chinesischen Denker) Für Mirjam Bithja
„Aber du darfst mich nicht auslachen, Großvater!“
Der alte Lord gab sich entrüstet. „Habe ich dich je ausgelacht, Jonathan?“
„Ja.“
„Das stimmt nicht. Du verwechselst das. Ich habe mit dir gelacht. Vielleicht auch mal über dich. Aber das ist etwas ganz anderes. Niemals würde ich meinen eigenen Enkel auslachen. Ausgeschlossen!“
Jonathan bedachte seinen Großvater mit einem abschätzenden Blick. „Dann versprichst du es also? Bei allem, was dir heilig ist?“
„Ja doch! Nun fang endlich an. So albern wird es schon nicht sein.“
„Na gut.“ Jonathans Augen versprühten noch eine letzte Warnung, bevor er sie in dem ledergebundenen Buch versenkte. Er räusperte sich. Dann begann er zu lesen.
„Donnerstag, den 8. November 1923
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal anfangen würde zu schreiben. Hausaufgaben ja. Natürlich auch die Briefe an Großvater. Aber ein Tagebuch? Nun ja, ich habe mich anders entschieden und jetzt höre ich das Kratzen der Feder auf dem Papier, das meinen Gedanken Widerstand leistet, so als wolle es sie zwingen, sich ruhiger zu bewegen und nicht in solch einem Durcheinander wie in den vergangenen zwei Monaten.“
Jonathans Augen schielten zum Großvater hinüber, auf dessen Lippen ein breites Grinsen lag. „Siehst du, jetzt lachst du doch“, beschwerte er sich.
„Das ist kein Lachen“, verteidigte sich der Angeklagte. „Ich schmunzle nur, weil mir dein Schreibstil gefällt. Und jetzt lies schon weiter.“
Nur langsam, als koste es ihn große Überwindung, ließ Jonathan den Blick wieder in das Tagebuch sinken.
„Eigentlich hätte ich schon am 12. September mit diesen Aufzeichnungen beginnen sollen (aber da nahm ich das alles noch nicht so ernst) oder sogar schon damals, als ich acht war und ich ... Ja, ich glaube, dieses Tagebuch wäre unvollständig, wenn ich ihm nicht anvertrauen würde, wie alles begann.
Wie gesagt: Ich war acht Jahre alt. Zwei Jahre zuvor war Vater Mutter ins Grab gefolgt und Großvater hatte es für das Beste gehalten, mich auf das Knabeninternat von Loanhead zu schicken. Das erste Jahr auf der Schule war schrecklich und ich gewöhnte mich nur schwer ein. Dann, ein weiteres Jahr später, kam diese Erkältung, die keine war. Innerhalb einer Woche war ich gelähmt und bis heute bin ich an den Rollstuhl gefesselt.
Genau zu jener Zeit begann ich, von Yonathan zu träumen. Er ist äußerlich das, was ich niemals sein werde: gesund und stark. Und er kann laufen! Seitdem habe ich mich oft gefragt, ob mein Traumbruder nicht von den Kräften zehrt, die mir immer mehr abhandenkommen; vor allem in den letzten Wochen, da ich öfter denn je das Bett hüten musste – was mich letztendlich auf diese alberne Idee brachte ein Tagebuch zu schreiben.
Ich kann mich noch genau erinnern: Vor acht Wochen, genauer gesagt am 12. September, machte Yonathan, mein Traumbruder (oder ich?), einen Streifzug durch die Wälder von Kitvar, seinem Heimatort. Ehe er sich versah, fiel er in ein Loch, den Eingang zu einem weitläufigen Höhlensystem, das sich bald als die Behausung eines Erdfressers entpuppte. Diese unangenehm gefräßige Bestie versuchte mich (oder ihn?) als Frühstück zu verspeisen, aber es gelang ihr nicht. Was mich rettete, war ein Stab, den ich kurz zuvor in der Höhle gefunden hatte. Er bestand aus rötlichem, gewundenem Holz, hatte einen goldenen Knauf mit vier verschiedenartigen Gesichtern darauf und eine goldene Spitze an seinem Ende. Aber was viel wichtiger war: Der Stab besaß übernatürliche Kräfte und verwandelte meinen Jäger, den Erdfresser, zu Asche.
In meinen Träumen wohne ich (das heißt, Yonathan) nicht in einem solchen Herrenhaus wie diesem hier, sondern in einer einfachen Fischerkate, die Navran Yaschmon gehört; er sorgt dort für mich. Navran erzählte mir nach meiner Heimkehr, dass der Stab Haschevet heiße, er sei der Amtsstab der Richter von Neschan. Diese Richter sorgen dafür, dass der böse Gott Neschans, Melech-Arez, und seine Diener, allen voran Bar-Hazzat, nicht die Oberhand über die Länder des Lichts gewinnen können. Weiterhin eröffnete mir Navran, dass der Stab dringend in die Hände des sechsten Richters, Goel, gelegt werden müsse und dass niemand anderer als ich selbst, der Yonathan meiner Träume, diese Aufgabe erfüllen könne. Der Grund war einfach: Jeder, der den Stab berührte, würde unweigerlich von seinem Feuer verzehrt werden. Ich sei von Yehwoh auserwählt und deshalb noch nicht zu Asche geworden.
In der gleichen Nacht wurde ich, Yonathan, von Benel, einem Boten Yehwohs des Allmächtigen, besucht und Navrans Worte wurden mir zu einem göttlichen Auftrag: Der siebte Richter, von dem verheißen sei, dass er den verheerenden Einfluss des Melech-Arez ein für alle Mal beseitigen würde, könne nur sein Amt antreten, wenn der Stab Haschevet in seine Hände überginge und mir obliege es, das Amtssymbol nach Gan Mischpad, in den Garten der Weisheit, zu tragen.
Es begann eine abenteuerliche Reise. Noch am nächsten Tag schiffte ich mich auf der Weltwind ein und segelte gen Süden. Auf dem Dreimaster lernte ich einen neuen Freund kennen, Yomi, der mir ein treuer Begleiter wurde. Vor den Klippen des Ewigen Wehrs kam es dann zu einer folgenschweren Begegnung. Wir trafen auf die Narga, das Schiff Sethurs, des Heerobersten von Bar-Hazzat. Ohne Frage war Sethur auf der Suche nach dem Stab. In der darauf folgenden Jagd gingen Yomi und ich über Bord.
Wie durch ein Wunder wurden wir vor dem Ertrinken gerettet. Wir strandeten in einer Grotte, die durch Gänge und Höhlen mit dem Verborgenen Land verbunden war, das wir wenig später betraten. Es gibt Legenden, die behaupten, kein Mensch könne dieses Land betreten, aber Yomi und ich lernten den Fluch Yehwohs richtig verstehen: Es wurde uns gestattet, das Verborgene Land zu durchwandern, um beim Südkammgebirge wieder in bekannte und besiedelte Gebiete zu gelangen.
Leider gelang es auch Sethur, den Wall des Ewigen Wehrs zu überwinden. Er stellte uns nach und konnte uns schließlich sogar gefangen nehmen. Bei dieser Gelegenheit wurde mir die Macht des Stabes Haschevet auf erschreckende Weise bewusst. Er verbrannte Gavroq, einen Hauptmann Sethurs, wodurch Yomi und mir die Flucht gelang. Dabei gerieten wir in den Grünen Nebel, der jeden mit Wahnsinn schlägt, wenn er nur lange genug in ihm herumirrt. Zum Glück erschien ein unverhoffter Retter. Din-Mikkith war sein Name, ein seltsames grünes Wesen, halb Mensch, halb Eidechse, das uns in sein Baumhaus brachte und mich wieder gesund pflegte.
Bis dahin hatte der Yonathan meiner Träume seltsame Dinge mit mir angestellt. Teilweise hatte ich tagelang geträumt, ohne dass es mir bewusst wurde. Wenn ich dann wieder erwachte, schien nur ich allein den Verlust dieser Tage zu beklagen; alle anderen um mich herum behaupteten, die Zeit, die mir verloren schien, sei ohne erwähnenswerte Ereignisse verflossen.
Dann, als mein Traumbruder sich in Din-Mikkiths Baumhaus von den Folgen des Grünen Nebels erholte, geschah etwas Merkwürdiges. Ich erwachte eines Nachts – und konnte mich aus meinem Rollstuhl erheben! Ich stieg durch das Fenster meines Zimmers und landete bei Yonathan im Baumhaus. Dort sprach ich sogar mit ihm (mit mir selbst?). Später kehrte ich in mein Zimmer zurück und legte mich schlafen. Beim Erwachen am nächsten Morgen dachte ich, auch diese sonderbare Begegnung sei nur wieder ein Traum gewesen. Aber dann sah ich meinen Rollstuhl beim Fenster stehen – und ich lag im Bett. Nie hätten mich meine Beine diesen Weg tragen können – es sei denn, es hatte sich alles genauso zugetragen, wie ich es nur zu träumen glaubte.
Seit jener Nacht habe ich mich häufiger denn je gefragt, ob mein Traumbruder und ich nicht Spiegelbilder ein und derselben Wirklichkeit sind. Ich kann es schwer ausdrücken, aber irgendwie glaube ich, es gibt nur einen Jonathan. Und immer häufiger frage ich mich, wer von uns beiden der wahre, der echte ist.
Din-Mikkith begleitete uns durch das Verborgene Land hindurch. Wir überlebten den Ausbruch des Glühenden Berges, eines Vulkans, der mich (jetzt wieder Yonathan) auf unerklärliche Weise beunruhigte. Schließlich gelangten wir zum Tor im Süden, einem geheimen Ausgang aus dem Verborgenen Land, hoch oben im ewigen Eis.
Und dort trafen wir erneut auf Sethur. Es kam zu einem letzten Kampf. Beinahe hätte Sethur uns mit dem Trugbild eines Drachen überrumpelt, aber erneut half mir die Macht des Stabes Haschevet, unseren Feind zu besiegen. Sethur wurde von einem Strom plötzlich geschmolzenen Eises hinweggeschwemmt. Für Yomi und mich aber kam die Stunde des Abschieds von Din-Mikkith, einem Freund, den man sich seltsamer und zugleich treuer kaum vorstellen konnte.
Nun sitze ich hier, über das widerspenstige Papier gebeugt, und frage mich, wie meine Träume weitergehen werden. Seit einem guten Monat wohne ich wieder auf Jabbok House, unserem Familiensitz, aber an die letzten zwanzig Tage kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Yonathan oder meine Träume, wie immer man will, haben sie mir geraubt. Natürlich war ich beunruhigt darüber und habe Großvater aus irgendeinem Grunde versichert, dass ich ihn niemals verlassen würde, ohne ihm eine Nachricht oder zumindest ein Zeichen zu hinterlassen. Aber er hat nur gelächelt – so, wie es wahrscheinlich alle Großväter tun – und versucht mich zu trösten. „Bald wird es dir wieder besser gehen“, versprach er mir. Oh, wenn er mich doch nur verstehen könnte!
Immerhin hat Großvater mir inzwischen die erfreuliche Nachricht eröffnet, dass ich nicht mehr ins Knabeninternat zurückmuss. Wegen meiner Krankheit will er mir einen Privatlehrer suchen. Gerade heute stellte sich ein gewisser Mr. Dodger vor, ein Mann wie eine Bulldogge, der noch immer in der Vorstellung lebt, dass die Stärke Großbritanniens, die die Armeen einst mit ihrem Blut erkauft hatten, irgendwann wieder zurückkehren wird. Ich habe ihm einige unangenehme Fragen zu dem Blutvergießen des Großen Krieges gestellt und seine Antworten waren wohl selbst für Großvater zu heroisch, als dass er seinen Enkel einem solchen Mann anvertrauen mochte. Mr. Dodger ist noch heute Abend wieder abgereist.
Nachdem dieses Problem gelöst ist, kann ich jetzt wohl getrost zu Bett gehen. Ich muss unbedingt wissen, was Yonathan auf der anderen Seite vom Tor im Süden erleben wird.“
Jonathan schlug das Tagebuch zu und blickte seinen Großvater erwartungsvoll an.
Die dunklen Augen des Lords funkelten im Widerschein des Kaminfeuers. „Hast du wirklich das Gefühl, von mir nicht richtig verstanden zu werden?“
„Ich weiß ja, dass meine Träume alles andere als normal sind“, antwortete Jonathan. „Aber sie sind nun mal ein wichtiger Teil von mir selbst – vielleicht wichtiger als bei sonst irgendjemand.“
Der alte Lord nickte ernst. „Wenn sie für dich so wichtig sind, dann sind sie es auch für mich, mein Sohn. Sobald du mehr von deinem Traumbruder erfährst, musst du es mir unbedingt erzählen. Ich verspreche dir auch feierlich, dass ich dich nicht auslachen werde.“
„Warum grinst du eigentlich so unverschämt?“ Yonathan schlug die Augen auf, gähnte lange und streckte sich. Dann zuckte er die Achseln und meinte: „Weiß nicht, muss wohl irgendwas Lustiges geträumt haben.“
„Ich verstehe das nicht“, klagte Yomi. „Ich habe die ganze Nacht vor Kälte kein Auge zugetan und du schläfst wie ein Murmeltier – und lächelst auch noch dabei!“
„Vielleicht war ich in einer anderen Welt. Irgendwo, wo es wärmer ist als hier.“
Yomi musterte seinen jüngeren Gefährten, als sei er betrunken oder habe den Verstand verloren.
„Ach, nichts. Vergiss es einfach“, sagte Yonathan.
Nach dem kurzen, herzbewegenden Abschied von Din-Mikkith und Girith waren Yonathan, sein Masch-Masch und Yomi noch ein gutes Stück talwärts geklettert. Sie hatten sich vorgenommen, die Schneegrenze noch vor Einbruch der Dunkelheit hinter sich zu lassen, um nicht während der Nacht im ewigen Eis zu erfrieren. Womit sie allerdings nicht gerechnet hatten, waren die Schwierigkeiten des Abstiegs.
Zunächst tasteten sie sich vorsichtig über eine Gletscherzunge aus grünlich schimmerndem Eis. Einem kurzen Anstieg folgte ein gefährlich abschüssiges Stück und dann schlitterten sie blind in die Wolkendecke hinein, die den Berg wie ein feuchter Schal umfing. Die Welt um sie herum war mit einem Mal unwirklich geworden. Auf wackeligen Beinen – die Anstrengungen der letzten Tage machten sich jetzt doch bemerkbar – stolperten sie an tiefen Spalten vorbei. Weil ihnen ihr Seil während der Auseinandersetzung mit Sethur abhandengekommen war, hielten sie sich an den Händen; so würden sie sich wenigstens nicht verlieren. Selbst Gurgi, der Masch-Masch, spürte die Gefahr und kauerte bewegungslos in der Hemdfalte an Yonathans Brust.
Endlich, nach einem quälend langen Marsch, spürten sie wieder Steine und Geröll unter ihren Füßen. Der Bann des ewigen Eises war gebrochen. Wenig später blieb auch der Wolkenschleier hinter ihnen zurück. Aber die Sonne war inzwischen untergegangen. Der ersehnte Blick auf den glitzernden Golf von Cedan fiel somit vorerst aus. Dafür krochen Schatten aus der Dunkelheit wie riesenhafte Kröten. Nichts als Felsen oder Erdmulden, machte Yonathan sich Mut.
Seine Aufmerksamkeit war so von diesen drohenden Schemen gefesselt, dass er erst spät das laute Donnern des Gebirgsbaches bemerkte, der unter dem Eis hervorbrach. Dabei hob sich der von hellem Geröll gesäumte Wasserlauf deutlich von dem dunkleren Gras- und Moosbewuchs ab. Ganz in der Nähe brach er unter dem Eis hervor und nur etwa einen Bogenschuss weiter verlor er sich wieder in der Dunkelheit.
„Ich glaube, viel weiter werden wir heute nicht kommen“, brummte Yomi. „Bei dieser Dunkelheit ist es unheimlich schwer, zu sehen, wohin man tritt.“
„Na wenigstens sind wir vom Eis. Hier ist es nicht mehr ganz so kalt wie da oben“, murmelte Yonathan, ohne das Bachbett aus den Augen zu lassen. „Mir scheint, da vorne geht’s sowieso sehr steil bergab. Es hört sich jedenfalls so an, als würde der Bach dort ziemlich weit in die Tiefe stürzen.“ Er deutete nach vorn, wo der Wasserlauf ihren Blicken entschwand. „Wir sollten Yehwoh danken, dass wir heil bis hierhergekommen sind. Die Kletterei, die da vor uns liegt, nehmen wir uns lieber für morgen früh vor, wenn es wieder hell ist.“
Yomi nickte.
Vorsichtigen Schrittes überquerten die beiden Freunde Geröll, Grasflecken und glitschige Felsplatten, bis schließlich eine steile Wand dicht vor ihnen aufragte. Irgendwo in der Nähe fing sich heulend der Wind wie in einem Kamin. Das kraftvoll vorwärts drängende Wildwasser stürzte knapp außerhalb ihrer Sichtweite in eine dunkle Klamm. Dort traf es auf einen Luftstrom, der es wütend packte und wie ein Fischernetz über die beiden einsamen Wanderer schleuderte.
„Ein ziemlich ungemütliches Plätzchen hier“, meinte Yomi und zog seinen Umhang enger. „Und der Bach gefällt mir auch nicht. Er ist so unheimlich ... Irgendetwas stimmt nicht mit ihm.“
Yonathan deutete auf einen schwarzen Spalt, der sich von den weniger dunklen Felswänden abhob. „Schau, da! Das könnte etwas für unser Nachtlager sein.“ Ohne zu zögern, machte er sich auf den Weg.
„Ich weiß nicht ...“ Yomi folgte nur widerwillig.
„Hast du eine bessere Idee?“
„Nein.“
Der Lagerplatz war gar nicht so übel, wenn auch nicht so bequem wie jene Höhlen, die Din-Mikkith immer wieder mit findigem Blick entdeckt hatte. Zumindest ließ dieser Felsspalt kaum Wind eindringen und der moosige Untergrund war sogar einigermaßen trocken.
Kein Wunder also, dass die beiden am nächsten Morgen erst erwachten, als die Sonne schon mehr als zwei Handspannen über dem Horizont stand. Und sie hätten vermutlich noch länger geschlafen, wenn da nicht diese auffallende Stille gewesen wäre.
Yomi setzte sich auf und lauschte. Tatsächlich, irgendetwas fehlte! Diese Ruhe war so unangenehm, so fremdartig, dass er misstrauisch wurde. Er sprang auf die Beine und eilte zur Mündung der Felsspalte, um nachzuschauen, was da nicht stimmte.
Mit hängendem Kopf kehrte er zum Schlafplatz zurück und ließ sich kraftlos niedersinken. Er fühlte sich schlecht. Jeder Knochen im Leibe tat ihm weh. Seine Nase lief – er hatte sich eine Erkältung eingefangen. Das Nachtlager war zwar windgeschützt und einigermaßen trocken, aber die Kälte hatte es wohl doch nicht gänzlich fern halten können. Yomis Stimmung sank. Er warf einen Blick auf den schlafenden Freund: Yonathan schlummerte – lächelnd! – wie ein sattes Baby.
„Fällt dir nichts auf?“, fragte Yomi, nachdem er Yonathan geweckt hatte. „Hör doch mal!“
„Nein. Was soll ich denn hören?“, erwiderte Yonathan, der aus den Augenwinkeln eine leise Bewegung wahrnahm.
Gurgi blinzelte aus dem leeren Köcher, der Yonathan eigentlich als Transportbehältnis für den Stab Haschevet diente. Der Masch-Masch hatte den Wert des röhrenförmigen Futterals für seine eigenen Zwecke entdeckt: als Schlafhöhle. Gurgi plumpste rücklings vom Köcher, kugelte über die moosbedeckte Erde, hockte sich schließlich auf die Hinterbeine und schloss sich dem angestrengten Lauschen der beiden Freunde an.
Yomi versuchte unterdessen, Yonathan seine Beobachtungen mitzuteilen. „Hörst du nicht dieses Geräusch ... oder besser, das Nicht-Geräusch? Es ist einfach unheimlich still!“
Yonathan lauschte. „Der Wasserfall!“, rief er plötzlich.
„Genau. Er ist weg!“
„Er ist weg? Aber wie ...?“
„Keine Ahnung. Vielleicht hat ihn jemand in der Nacht geklaut, als wir schliefen. Mir hat dieser Bach von Anfang an nicht gefallen.“
Yonathan runzelte die Stirn, rappelte sich auf und ging zum Eingang des Felseinschnitts. Die Hände auf den Stab Haschevet gestützt, nahm er die Hochebene in Augenschein – und staunte. Der gestern noch reißende Wildbach war zu einem leise murmelnden Bächlein geworden.
„Was sagst du jetzt, mein kleiner, kluger Freund?“, fragte Yomi aus dem Hintergrund.
„Ich weiß nicht“, murmelte Yonathan. „Ich muss darüber nachdenken.“ Zielstrebig schritt er auf die Stelle zu, an der das Flussbett im Nichts endete. Yomi folgte.
Dann standen sie an einer Felskante, die den Blick in eine schmale, aber Schwindel erregend tiefe Klamm freigab. Noch immer heulte der Wind in der Kluft. Doch jetzt tröpfelten nur kleine Wassermengen hinunter, die den Grund des bleigrauen Schlundes wohl kaum erreichten.
Yonathan hatte eine Idee.
„Ich glaube, ich weiß jetzt, wer das Wasser des Baches gestohlen hat“, verkündete er.
„So? Na, da bin ich aber unheimlich gespannt.“
„Komm mit!“
Als die beiden Freunde sich wieder ein Stück von der ungemütlich feuchten Stelle zurückgezogen hatten, erklärte Yonathan: „Überleg doch mal, Yo. Wodurch wird das Tor im Süden bewacht?“
„Durch die Sonne“, erwiderte Yomi achselzuckend. „Sie wird von den Felswänden zurückgeworfen und verwandelt das herauslaufende Wasser in Dampf. Niemand kommt durch, ohne wie ein Aal gekocht zu werden.“
„Und in der Nacht?“
„Sobald die Sonne weg ist, friert das Loch in der Felswand zu. Kein Wasser – aber auch kein Mensch! – kommt mehr durch ... Du meinst ...?“
„Genau. Das Wasser fließt zur anderen Seite, nämlich hier den Berg hinab und wahrscheinlich irgendwo da unten in den Golf von Cedan.“
„Jetzt wird mir einiges klar. Deshalb kam mir das plötzliche Anschwellen des Baches gestern Nacht so seltsam vor. Tagsüber plätschert er ziemlich unauffällig dahin, aber des Nachts wird aus ihm ein unheimlich reißendes Gewässer.“
„Ich denke, so muss es sein! Genau dort hinunter führt uns unser Weg.“ Yonathan deutete mit dem Daumen über die Schulter, dorthin, wo sich das Bächlein in immer neuen Anläufen in die Klamm hinabstürzte, ohne je den Grund zu erreichen.
„Wir müssen also wieder mal klettern“, stellte Yomi erfreut fest.
Yonathan lächelte säuerlich, während Bilder von glitschigen Felsvorsprüngen und unberechenbaren Windböen an ihm vorbeizogen. „Ich freue mich, dass du es so leichtnimmst.“
Der Abstieg war beinahe ebenso schwierig wie der Gang über das Gletschereis tags zuvor. Über einen schmalen Grat, den Yomi nach einigem Suchen entdeckt hatte, gelangten die beiden Gefährten in die Klamm. Graue, feuchte Gesteinsbrocken, von denen man nie wusste, ob sie nachgeben würden, bildeten die Stiege, an der Yonathan und Yomi talwärts kletterten. Hier und da schmiegten sich dicke Mooskissen in Furchen und Mulden. Nach ungefähr einer Stunde zeigten sich erste kleine, krumme Bäumchen, die sich an fast senkrechten Wänden festkrallten und ihre Blätter und Nadeln von dem stetigen Sprühwasser des herabstürzenden Baches benetzen ließen.
Was den Pflanzen das Leben ermöglichte, war für die Kletterer eine Qual. Bald waren sie durchnässt bis auf die Haut. Zum Glück hatte der Morgen die schneidende Kälte der Nacht vertrieben und mit jedem Schritt abwärts stiegen die Temperaturen.
Endlich wurde das Gelände flacher. Bald konnten die Freunde beim Hinabsteigen auf die Hilfe der Hände verzichten. Yonathan zog Haschevet wieder aus dem Walhautfutteral, in dem er ihn während der Klettertour verwahrt hatte. Er konnte nichts Verkehrtes dabei finden, das geachtete Amtszeichen der Richter Neschans als Wanderstab zu benutzen. Die hakenförmige Adlernase an Haschevets goldenem Knauf diente ihm als praktische Kletterhilfe, die sich wunderbar in Ritzen und Spalten festhaken ließ. Wundersamerweise litt weder das Holz noch das blank polierte Edelmetall unter all diesen Beanspruchungen.
„Ich glaube, jetzt haben wir das Schlimmste überstanden“, meinte Yomi, die Arme in die Hüften gestemmt und den Blick zurück gerichtet.
„Ja, kaum zu glauben, dass wir da heruntergekommen sind.“
„Ich bin gespannt, was uns als Nächstes erwartet. Willst du eine Pause einlegen?“
Yonathan schaute nach Süden, wo die Wände der Klamm weit zurücktraten. „Nein, lass uns noch ein Stück gehen.“
Während die beiden sich ihren Weg über ein mit riesigen Trümmern übersätes Geröllfeld suchten, gesellte sich ihnen ein kleiner Wasserlauf zu. Anfangs war es nur ein Rinnsal, aber allmählich wuchs das schmale Wasserband wieder zu jenem kräftigen Wildwasser an, dessen Verschwinden ihnen oben auf der Hochebene so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte.
Es dauerte nicht lange, da wurde der Pfad flacher. Der Gebirgsbach schlängelte sich jetzt durch hohe Wiesen, die im warmen Südwestwind wogten wie die Dünung des Meeres nach einem heftigen Sturm. Überall summten Insekten und in sicherem Abstand zeigte sich eine Herde wilder Bergziegen. Yonathan und Yomi kamen gut voran. Die würzig duftende Luft streichelte sie wie ein warmer, weicher Umhang und ein Gefühl der Hochstimmung verlieh ihnen Flügel.
Und dann waren sie doch überrascht, als sich ihnen hinter einer Wegbiegung plötzlich der lang ersehnte Ausblick öffnete: Der Golf von Cedan lag ihnen zu Füßen. Seine Fluten glitzerten tief unten wie ein Meer von Diamanten. Ein wahrhaft schöner Herbsttag, der die beiden Wanderer aus dem Verborgenen Land mit diesem atemberaubenden Anblick willkommen hieß!
Yonathan musste an seinen Pflegevater, Navran, und an das Städtchen Kitvar denken. Und an den Schnee, der zu dieser Zeit, mitten im Monat Bul, längst die Klippen, Wiesen und Wälder mit einer dichten, weißen Decke überzog. „Es ist wunderschön!“, sagte er nach einer Weile seligen Staunens.
„Wir haben unheimlich Glück mit dem Wetter“, gab Yomi ihm recht. Seine Stimme klang nüchterner. Er wurde von Kopfschmerzen und einer verstopften Nase geplagt.
„Ich habe gehört, dass es in den Ländern rund um den Golf so gut wie nie Schnee gibt.“
„Das stimmt. Dafür ist die See jetzt im Herbst meist ziemlich stürmisch. Die Kapitäne überwintern mit ihren Schiffen in sicheren Häfen und warten den Frühling ab. Kaldek war schon spät dran, als er in Kitvar einlief. Aber er hatte sich in den Kopf gesetzt, unbedingt noch Cedanor anzulaufen, bevor die großen Stürme beginnen.“
„Vielleicht hat er es ja noch irgendwie geschafft, Sethur zu entkommen.“
„Bestimmt. Mein Vater ist ein unheimlich zäher Bursche. So schnell gibt der nicht auf.“
Ob Yomi so ganz an das glaubte, was er sagte? Als er und Yonathan in schwerer See über Bord gegangen waren, hatte die Verfolgungsjagd zwischen der Weltwind Kaldeks, seines Adoptivvaters, und Sethurs Schiff, der Narga, gerade ein dramatisches Stadium erreicht. Zwar schien die Gefahr vorübergehend gebannt, nachdem der Großmast des schwarzen Schiffes geborsten war, doch der wütende Sturm hatte auch der Weltwind empfindlich zugesetzt. Konnte man für sie und ihre Besatzung wirklich das gleiche Glück erhoffen, das ihn und Yonathan gerettet hatte? War es nicht ein Wunder, dass sie in einer Grotte im Ewigen Wehr gestrandet waren, einen Weg mitten durch das Felsmassiv gefunden und noch dazu einen Eingang in das Verborgene Land entdeckt hatten?
„Komm, lass uns eine Rast machen“, unterbrach Yonathan die sorgenvollen Gedanken seines Freundes. „Wir müssen zu Kräften kommen, wenn wir bald das Meer erreichen wollen.“
Nach einer kurzen Erholungspause setzten die beiden ihren Marsch fort. Sie folgten dem Bachlauf und hatten immer die endlose Ausdehnung des Golfs von Cedan vor Augen. Bald erreichten sie ein Gehölz aus Bergkiefern, krummes, niedergebücktes Knieholz nur. Doch je tiefer sie kamen, desto mehr richteten sich die Bäume auf und bildeten nach und nach einen ansehnlichen Wald.
Als die blutrote Sonne am westlichen Horizont in den Fluten des Golfs versank, wählten Yonathan und Yomi eine kleine Waldlichtung zu ihrem nächtlichen Lagerplatz. Zwischen den kräftigen Stämmen hindurch schimmerte das Wasser. Nur ein leichtes Kräuseln warf feurig rote Funken nach Osten, von wo die Nacht heraufzog. Während sie Beeren kauten, die sie unterwegs aufgelesen hatten, beobachteten die beiden Freunde, wie sich der Himmel zunächst violett, dann tiefblau und schließlich silbern färbte.
„Heute ist Vollmond“, bemerkte Yonathan.
„Vielleicht ein gutes Zeichen“, entgegnete Yomi, während er ein Lagerfeuer in Gang brachte.
„Wie kommst du da rauf?“
„Die Seeleute glauben, dass bei Vollmond die Kräfte des Guten diejenigen des Bösen besiegen. Und wir können ein wenig Glück gebrauchen.“
„Mond und Glück sind zwei recht launische Helfer.“ Yonathan beobachtete eine Weile, wie Gurgi sich an einem Kiefernzapfen zu schaffen machte. Sie kullerte den Zapfen hin und her, knabberte ein wenig daran, ließ ihn liegen, um sich sogleich wieder auf ihn zu stürzen. „Hast du eine Idee, wie wir von hier nach Cedanor kommen sollen?“
Yomi zuckte die Achseln. „Ich zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf darüber. Wenn wir nicht wandern wollen, dann wird es wohl nur eine Möglichkeit geben. Es heißt, hier am Südkamm gäbe es etliche Piratennester.“
„Piraten? Stimmt. Ich habe davon gehört.“ Yonathan gefiel dieser Gedanke nicht. „Glaubst du denn, es ist eine gute Idee, sich Dieben und Strolchen anzuvertrauen?“
„Eine ‚gute Idee‘? Nein, bestimmt nicht! Aber weißt du eine bessere? Wir haben den Monat Bul. In einer selbst gebauten Nussschale werden wir zu dieser Jahreszeit kaum bis nach Cedanor kommen.“
Yonathan grübelte schweigend. Ihm gefiel keine der genannten Möglichkeiten.
Das Wetter am nächsten Morgen war nicht mehr so klar. Ein böiger Wind trieb die Wasser des cedanischen Golfes vor sich her wie ein Rudel hungriger Wölfe eine Herde Schafe. Das Blau des Himmels war mit grauweißen Wolken gespickt.
Yonathan hatte nicht besonders gut geschlafen. Immer wieder war das Bild Sethurs vor seinem geistigen Auge aufgetaucht: wie er in der wabernden Masse aus schmelzendem Eis versank, wie er zornig seinen Fluch herausschrie und wie seine Augen trotzdem das Entsetzen vor dem nahen Tod nicht verbergen konnten. Wie auch immer, Sethur war ein Knecht des Bösen gewesen. Aber war er nicht auch ein Mensch? Hatte die Liebe zum Guten nicht versagt, wenn sie zu solchen Mitteln greifen musste?
Die frische Brise vom Meer besaß eine reinigende Kraft. Mit jeder Meile, die unter Yonathans Füßen dahinschmolz, wehte sie die düsteren Gedanken aus seinem Kopf und seine Stimmung stieg. Im Laufe des Vormittags erreichten sie den schmalen Küstenstreifen. Der Bach, dem sie die ganze Zeit über gefolgt waren, setzte seinen Lauf jedoch zunächst in östlicher Richtung fort; die beiden Wanderer beschlossen, dem launischen Weggefährten noch eine Weile Gesellschaft zu leisten.
Die Landschaft hier, an der nördlichen Küste des Golfs, unterschied sich in vielerlei Hinsicht von derjenigen Kitvars. Dort fielen schroffe Felsklippen steil ins Wasser des Nordmeeres, hier gab es einen schmalen Küstenstreifen mit Stränden, die sanft ins Meer glitten. Zu Hause sorgte der beständige Westwind für einen immerwährenden Wechsel aus Regen und Sonne; das Land war grün, die Böden schwarz und schwer. Hier dagegen mussten die Sommer lang und heiß sein: Überall sah man braune, verdorrte Pflanzen. Pinien gruben ihre Wurzeln in den hellen, sandigen Boden. Mit ihren hohen, kahlen Stämmen und den schirmförmigen Kronen prägten sie das Bild einer Landschaft, die so gut wie unbewohnt war.
Die Menschen scheuten die Nähe des Verborgenen Landes, dessen Bewohner einst durch Yehwohs Fluch vertrieben worden waren. Jahrhunderte hatten das ihrige getan; gleich einer Spinne hatten sie das Gebiet jenseits des Südkamms in ein dichtes Netz aus Legenden eingesponnen. Einige glaubten, fliegende Ungeheuer würden den Südkamm nachts überqueren, auf der Suche nach Beute: Vieh oder gar Menschen. Andere, die etwas zu verbergen hatten, überwanden ihre Ängste und suchten gerade dort Unterschlupf, wo sie glaubten, vor ihren Verfolgern sicher zu sein.
„Vor zwei Jahren sind wir mal von einem Piratenschiff aufgebracht worden“, bemerkte Yomi beiläufig. Die beiden Freunde waren eine ganze Zeit schweigend nebeneinanderher gegangen.
Yonathan schaute zu seinem größeren Gefährten hinauf und erwiderte: „Ich denke, Piraten bringen alle um, die sie auf ihren Raubzügen in die Hände kriegen.
„Nicht alle sind so“, schränkte Yomi ein. „Aber es war trotzdem ziemlich schlimm. Eigentlich hätten sie sehen müssen, dass bei uns nichts zu holen war – die Piraten meine ich. Die Weltwind hatte keinen Tiefgang. Unsere ganze Ladung war in Meresin gelöscht worden. Kaldeks Geschäftspartner hatte ihn im Stich gelassen. Deshalb mussten wir leer wieder nach Cedanor zurücksegeln.“
„Und dann seid ihr überfallen worden? Ich dachte immer, die Piraten halten sich aus diesen Gewässern fern, weil dort die Kaiserliche Marine patrouilliert.“
„Das dachte Kaldek auch. Aber der vorangegangene Winter war ziemlich stürmisch gewesen, schlecht, um Beute zu machen. Ihr Hunger war größer als ihre Vorsicht und so wagten sie sich im Schutze des Nebels bis in die Gewässer vor Meresin. Jedenfalls tauchten sie ziemlich unerwartet vor uns auf.“
„Hast du nicht Angst um dein Leben gehabt?“
„Und ob! Aber irgendwie war ich auch ... gefesselt von diesen merkwürdigen Männern. Ja, das waren sie: ungeheuer merkwürdig. Als sie unseren Laderaum untersucht und außer einigen Rationen Trockenfisch nichts gefunden hatten, führten sie sich auf wie toll. Sie brüllten die schlimmsten Flüche, tobten herum, zerschlugen ein paar Deckaufbauten und steckten nebenbei einige wertlose Gegenstände ein. Ich fürchtete schon, als Nächstes würden sie uns allen die Hälse durchschneiden, aber daran dachten sie gar nicht. Wie es aussah, wollten sie nur randalieren. Nur ein Einziger – etwa so alt wie ich – war auf ihrem Schiff zurückgeblieben. Er stand an der Reling und schaute zu uns herüber. Es sah so aus, als täte ihm leid, was seine Leute da auf unserer Weltwind anstellten. Aber das war natürlich Unsinn. Wahrscheinlich wurmte es ihn nur, sich nicht an dem Entergang beteiligen zu dürfen. Auf alle Fälle verschwanden die Piraten kurz darauf wieder im Nebel, genauso plötzlich, wie sie gekommen waren.“
„Da warst du sicher froh, nicht wahr?“
„Nein. Unter den vielen ‚wertlosen‘ Dingen, die sie mitgenommen hatten, befand sich etwas, das für mich – für mich ganz allein! – ungeheuer kostbar war.“
„Ich verstehe, was du meinst. Es hatte für dich einen hohen ideellen Wert.“ Yonathan konnte mit Yomi mitfühlen. Unbewusst wanderte seine Hand zur Flöte an seiner Brust. Nach einiger Zeit konnte er seine Neugierde nicht mehr zurückhalten. „Was haben sie dir denn gestohlen?“
Yomi lächelte, fast entschuldigend. „Den Milchkrug.“
„Welcher ...? Etwa der Krug, den dir deine Mutter gab, als sie dich in dem Loch in eurem Stall versteckte?“
„Genau der. Für diese verrückten Piraten war er sicher nichts wert. Aber mir bedeutete er sehr viel! Er war das letzte Erinnerungsstück an meine Eltern.“
Yonathan schaute auf den Stab in seiner Rechten. Er musste an die Erinnerung denken, Haschevets Gabe des vollkommenen Gedächtnisses. „Ich kann mir vorstellen, was das für dich bedeutet hat“, sagte er und wünschte, mehr für seinen Freund tun zu können.
Statt einer Antwort warf sich Yomi plötzlich und ohne vorherige Ankündigung zu Boden. „Pst!“, zischte er. „Duck dich! Schnell!“
Yonathan, dem das Ganze ein wenig befremdlich erschien, kam der Aufforderung nur zögernd nach. „Was ist denn los?“, fragte er, während seine Augen die Gegend absuchten.
„Da drüben, dicht beim Strand.“
In Gedanken verlängerte Yonathan die Linie von Yomis ausgestrecktem Arm. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich sehe nur das Wrack eines gestrandeten Seglers.“
„Eben“, entgegnete Yomi. „Fällt dir an dem Schiff nichts auf?“
Yonathan gab sich alle Mühe: Ein gestrandetes Schiff ist nichts Besonderes in einer Gegend, in der Freibeuter ihr Unwesen treiben. Er hatte schon oft davon gehört, dass es an dieser Küste Piratendörfer gab, die ausschließlich vom ‚Schifffang‘ lebten. Ihre Beutezüge folgten alle dem gleichen Muster: In stürmischen Nächten entzündeten sie Irrlichter und lockten damit die ahnungslosen Segler auf Sandbänke oder Felsenriffe. War eine Beute erst einmal gesichert, wurden zunächst die Zeugen beseitigt und gleich darauf die Ladung. Die Schiffe überließ man den Naturgewalten, bis nur noch bleiche Gerippe übrig blieben oder nicht einmal das.
Das war’s! Jetzt bemerkte Yonathan, was Yomi meinte. Das Schiff ragte halb hinter einem Hügel hervor. Nur sein Bug bis hin zu dem schräg nach vorn verlaufenden Spriet war zu sehen. Es lag im Sand, als schwämme es im Wasser. Für ein gestrandetes, sich selbst überlassenes, verrottendes Schiff sah es jedoch bemerkenswert intakt, ja beinahe seetüchtig aus.
„Es scheint noch sehr gut erhalten zu sein“, sagte Yonathan.
„So wie es daliegt, könnte man glauben, jemand hätte es dorthin gezogen und schön gerade in den Sand eingegraben, damit es auch ja nicht umkippen kann.“
„Und warum könnte jemand so etwas tun?“
Yonathans Augen leuchteten und gleichzeitig spürte er das bekannte Kribbeln auf der Kopfhaut. „Glaubst du etwa, dass das ein Unterschlupf ist, eine Hütte ... ein Piratennest?“
„Genau das denke ich.“
„Und was sollen wir jetzt tun? Einfach hingehen und allen Frieden wünschen oder uns so schnell wie möglich davonschleichen?“
„Ich bin mir selbst nicht ganz sicher. Es könnten Strandpiraten sein und die sehen es ziemlich ungern, wenn ein Fremder von ihrem Versteck erfährt.“
„Also versuchen wir, unbemerkt um das Schiff herumzuschleichen.“
„Das wäre aber sehr unhöflich, wo die netten Piraten doch so gastfreundlich sind!“, ließ sich eine raue Stimme in ihrem Rücken vernehmen.
Yonathan und Yomi fuhren gleichzeitig herum. Hinter ihnen, nur etwa sechs Schritte weit entfernt, stand ein untersetzter Mann mit schwarzem, verfilztem Bart, schütterem Haupthaar und breit grinsender Visage. Wo Yomi den Vorteil eigener Erfahrungen genoss, konnte Yonathan nur auf Jahrmarktsgeschichten zurückgreifen. Dennoch kamen beide zu demselben Schluss: ein Pirat!
Hinter dem Anführer mit der rauen Stimme drückten sich noch drei weitere Gestalten herum. Ihr Auftreten war zwar schweigsamer, aber nicht beruhigender. Jeder von ihnen hielt einen krummen, schartigen, aber bedrohlich aussehenden Säbel in der Hand.
Selbst Gurgi spürte die angespannte Stimmung und vergrub sich tief in Yonathans Hemdfalten. Yonathan und Yomi durchblitzte derselbe Gedanke. Gleichzeitig wirbelten sie herum – und erstarrten sogleich wieder. Von überall her tauchten plötzlich neue Säbelträger auf. Sie schossen aus Erdsenken hervor, wuchsen aus Büschen und Bäumen oder entfalteten sich sonst woher. Und keiner von ihnen sah vertrauenerweckender aus als der Anführer mit dem Haarwuchsproblem.
Der hatte inzwischen aufgehört zu grinsen und musterte Yomi mit einem misstrauisch-forschenden Blick. „Was ist mit deinem Gesicht los? Hast du dich angemalt, um damit deine Feinde zu erschrecken, oder bist du krank? Sprich!“
Yonathan hielt den Atem an. Der bärtige Pirat hatte auf Anhieb Yomis wundesten Punkt gefunden. Die Verfärbung, die noch von ihrer Begegnung mit dem Baum Zephon stammte, wollte nur sehr zögerlich abnehmen. Yomi reagierte in letzter Zeit immer gereizter, wenn man ihn darauf ansprach.
Mit Sorge beobachtete Yonathan seinen Freund. Yomis Kiefer mahlten und seine Augen funkelten bedrohlich. Jetzt ein unüberlegtes Wort und der ganze Piratenhaufen würde mit seinen schartigen Säbeln über sie herfallen!
„Eher Letzteres“, brach Yonathan deshalb das gefährliche Schweigen. „Es ist so eine Art Krankheit.“
In den Mienen der Piraten zeigten sich Ekel und Furcht. „Ist es etwa ansteckend?“, fragte der Anführer besorgt und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück.
„Wer kann das wissen?“, orakelte Yonathan.
Inzwischen hatte sich Yomi wieder im Griff. Er wandte sich dem gestrandeten Schiff zu, beschirmte die Augen mit der Hand und meinte nach einer Weile: „Ziemlich erstaunlich, dass die alle in einem Schiff zusammenwohnen, ohne sich ständig zu streiten.“ Es gelang ihm jedoch nicht, durch seine zwanglose Art die Atmosphäre zu entspannen. Yonathans Andeutungen hatten für eine feindselige Distanz gesorgt; niemand verspürte Lust, sich eine entstellende Krankheit zuzuziehen.
„Los, da lang!“, grunzte der Schwarzbart.
Yomi zuckte die Achseln. „Tun wir lieber, was er sagt“, wandte er sich an Yonathan. „Vielleicht ist es ja ein gutes Zeichen, dass sie uns nicht gleich hier umbringen.“
Yonathan konnte wenig Trost in diesen Worten finden. Er ärgerte sich vielmehr über seine eigene Dummheit. Schließlich war da doch dieses wohlbekannte Prickeln gewesen, als Yomi ihn auf das gestrandete Schiff aufmerksam machte. Der Stab Haschevet hatte ihn doch nicht zum ersten Mal auf diese Weise gewarnt, wenn Gefahr in Verzug war.
Ein harter Stoß in den Rücken trieb ihn vorwärts; fast nahm ihn Yonathan mit Dankbarkeit auf, als gerechte Strafe für seine Unachtsamkeit.
Inzwischen waren sie so lückenlos umringt, dass allein der Gedanke an Flucht lächerlich erschien. Trotzdem ließen die Piraten genügend Spielraum, um einen direkten Kontakt mit dem Träger der seltsamen Hautkrankheit zu vermeiden. Tatsächlich glaubte Yonathan, hinter den entschlossenen Mienen auch so etwas wie Furcht, Misstrauen und Neugier auszumachen. Nicht wenige Blicke ruhten gierig auf dem goldenen Knauf Haschevets – ein Umstand, der Yonathan wenig gefiel.
Während sich die Schar aus etwa dreißig Piraten und zwei Gefangenen dem Fuß des Hügels näherte, hinter dem das Schiff im Sand lag, nutzte Yonathan die Zeit, seine Gastgeber etwas eingehender zu mustern.
Dieser Haufen unterschied sich gründlich von demjenigen Sethurs, dem er und Yomi vor über einem Monat in die Hände gefallen waren. Der Heeroberste Bar-Hazzats besaß eine Truppe, die diszipliniert, gut ausgerüstet und erst zuletzt wild und blutrünstig war. Bei diesen Männern hier schienen die „Qualitäten“ eher umgekehrt verteilt zu sein. Sie waren einfach eine wilde Bande von Halsabschneidern. Sie trugen weite Woll- oder Leinenhosen und Riemensandalen, manche (vermutlich die im Stehlen etwas erfolgreicheren) sogar Lederstiefel, schmutzige Hemden oder lederne Wämser. Viele stellten ihre entblößten Oberarme zur Schau, wohl aus Eitelkeit, denn viele Narben bedeckten die nackte Haut – Narben, die nicht etwa vom Kampfe herrührten, sondern solche, die absichtlich und in fantasievollen Mustern in die Haut geritzt worden waren. Die meisten trugen breite Ledergürtel; keine Frage, dass sie hierauf besonders stolz waren, wie Sethurs Männer auf ihre kostbaren témánahischen Säbel.
Als Yonathan und Yomi den Hügel umschritten, der bis dahin den Blick auf das Heck des „Wohnschiffes“ versperrt hatte, erlebten sie eine neue Überraschung: Der halb im Sand liegende Segler war nur der erste einer ganzen Flotte von festgefahrenen Schiffen. Vor ihnen wölbte sich eine nicht allzu große Bucht landeinwärts, in der beinahe zwanzig Segelschiffe – von der einastigen Nef bis hin zu zwei großen, dreimastigen Hulks – zu ihrer letzten Ruhe gebettet lagen, ein regelrechter Schiffsfriedhof.
„Da staunt ihr, nicht wahr?“, brüllte der Pirat mit dem dünnen Haarkranz. Er hatte die erstaunten Blicke seiner beiden „Gäste“ bemerkt. „Wir haben’s doch richtig gemütlich hier. Und ihr wolltet so einfach vorbeiziehen, ohne uns wenigstens allen Frieden zu wünschen.“ Er lachte mit erschreckender Lautstärke und zeigte dabei sein lückenhaftes, gelblich schwarzes Gebiss. Seine Kumpane stimmten in das grölende Gelächter ein.
Yonathan und Yomi wechselten einen Blick und setzten ihren Weg in das Innere des ungewöhnlichen Piratendorfes fort. Die Gruppe ihrer Bewacher vermehrte sich auf wundersame Weise. Immer mehr Neugierige – vorwiegend jüngeren Alters – schlossen sich der Eskorte an.
Erst jetzt bemerkten die beiden Gefangenen, dass sich auch der Bach, dem sie seit dem Verlassen des Tores im Süden gefolgt waren, mitten durch die daliegenden Schiffsleichen schlängelte und dahinter ins Meer mündete. Nicht alle Schiffswracks lagen so gerade und so intakt im Sand, wie das zuerst erspähte. Einige waren umgekippt, von anderen zeugten nur noch die ausgebleichten, gleich abgenagten Rippen aufragenden Spanten.
Mitten in dem Piratennest gab es so etwas wie einen Dorfplatz, dessen östliche und westliche Begrenzung die zwei großen Hulks bildeten. Der Wortführer der Piraten ließ Yonathan und Yomi in der Obhut seiner Kameraden zurück, während er selbst auf einen der beiden Dreimaster zuhielt. Dort arbeitete er sich eine Strickleiter empor und verschwand hinter der Reling.
Die beiden Gefangenen sahen sich inzwischen einer interessierten Dorfgemeinschaft von beachtlicher Größe gegenüber. Ganz im Gegensatz zu dem landläufigen Bild des raubenden und mordenden Piraten gab es hier auch Frauen – und nicht wenige! Diese Wächterinnen heimischer Kombüsen waren das genaue Gegenstück zu ihren berufstätigen Gatten: Sie sahen kaum freundlicher oder sauberer aus und waren ebenso zerlumpt. Hier und da lugten kleinere Ausgaben dieses Menschenschlags zwischen mütterlichen Armen und Beinen hervor, offenmäulige Beobachter, denen nichts entging. Halbwüchsige legten mehr Sachverstand an den Tag und konzentrierten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf den Stab, den Yonathan mit festem Griff umklammert hielt.
Der Kreis der Schaulustigen zog sich immer enger. Vereinzelte Warnungen ob der so unnatürlich beschaffenen Gesichtsfarbe des größeren „Gastes“ blieben ungehört.
„Ungeheuer raffiniert“, erklärte Yomi beinahe bewundernd.
„Wovon redest du?“, zischte Yonathan nervös.
„Dieser Unterschlupf. Von der See aus würde niemand diesen Haufen von Wracks für ein Piratennest halten. Im Gegenteil. Jeder dächte, das Meer sei hier besonders tückisch und würde sich fernhalten, um nicht auf irgendwelche Klippen aufzulaufen.“
Yonathan war verwirrt. Sein großer Freund, der sonst hinter jedem Busch eine Gefahr witterte, dem jede Ungewissheit Anlass zum Unken bot, interessierte sich nun für die strategische Anlage von Piratendörfern. Genügte Yomi denn die eine Erfahrung nicht, die er mit den Räuberbanden der See gemacht hatte? Yonathan versuchte, sich von der aufkommenden Panik nichts anmerken zu lassen, als er zwischen den Zähnen hervorpresste: „Sag mir lieber, was ich tun soll, wenn einer von denen da versucht, mir den Stab wegzunehmen.“
Yomi schaute auf Yonathan herunter. „Ich schätze, wir können gar nichts tun.“ Er hob die Schultern. „Außerdem wird es bestimmt nicht mehr als einer versuchen – wenn er sich in Asche verwandelt hat, meine ich.“
„Du machst mir Spaß. Und wenn sie dann mit ihren Spießen nach uns werfen?“
„Oh, daran hatte ich nicht gedacht.“
In der Menge entstand Bewegung, dort, wo die große Hulk stand, die der Schwarzbärtige kurz zuvor erklommen hatte. Jetzt kehrte er zurück. Er verdrängte die Menschenleiber wie ein voll beladenes Handelsschiff das Bugwasser und gab damit einer anderen, noch imposanteren Erscheinung Gelegenheit, sich ungehindert den beiden Gefangenen zu nähern. Der Unbekannte baute sich breitbeinig vor Yonathan und Yomi auf, die sich beeindruckt zeigten von der perfekten Kugelform des Piraten. Aber das Interesse beruhte auf Gegenseitigkeit. Auch der Starkleibige ließ sich Zeit, seine beiden Besucher eingehend zu betrachten. Yomis Gesicht musste einer besonders gründlichen Prüfung standhalten.
Die beiden gaben sich ungerührt. Ohne Frage hatten sie einen von allen respektierten – oder zumindest gefürchteten – Mann vor sich, dessen Gehabe verriet, wie sehr er es genoss, sich in der Macht zu baden, die ihm seine Position verlieh. Aber Yonathan entdeckte Risse in dieser pompösen Fassade, durch die noch andere Gefühle hindurchschimmerten: respektvolles Abschätzen, Furcht, Erkennen? Vielleicht war es Haschevet, der ihm diese Einblicke eröffnete. Jedenfalls beschloss Yonathan, von nun an wachsamer zu sein.
„Willkommen in Kartan“, dröhnte der Dicke mit der Stimme einer Trompete, in die Sand geraten war. Er hakte beide Daumen in seinen breiten Gürtel, straffte die Schultern und drückte das Kreuz durch, dass man fürchten musste, er würde jeden Augenblick hintenüberkippen.
Das allgemeine Geplapper ringsum verstummte. Die Rückwärtsrolle blieb jedoch aus (wohl wegen des immensen Gegengewichts, über das der Kugelige in der vorderen Körperpartie verfügte).
„Ich bin der Chef dieser Kolonie.“
Allgemeines Gemurmel wogte durch die Menge.
Mühsam und mit weitschweifenden Gesten mahnte der Breitbeinige zur Ruhe.
Yomi nutzte den Moment der Ablenkung. „Was redet der da so geschwollen?“, flüsterte er Yonathan zu. „Chef! Kolonie! Ich hatte das hier eigentlich für ein Nest von Halsabschneidern gehalten und den da für den Oberhalsabschneider.“
„Vielleicht hatte er ursprünglich mal anspruchsvollere Berufspläne und konnte es bis heute nicht verwinden, nur Pirat geworden zu sein.“
„Wie dem auch sei, wir brauchen eine Idee, wie wir hier wieder rauskommen. Was sollen wir dem Dicken erzählen?“
„Die Wahrheit natürlich! Was sonst?“, antwortete Yonathan.
„Die Wahrheit?“
„Pass auf!“
Inzwischen herrschte wieder Ruhe auf dem Dorfplatz. „Jedenfalls bin ich sein Stellvertreter“, verbesserte sich der rundliche Pirat und setzte – eher an die aufmuckende Menge als an die beiden Besucher gewandt – hinzu: „Und ich habe das Kommando hier, solange der Chef nicht da ist.“ Probehalber ließ er einen prüfenden Blick in die Runde schweifen, aber nur schwaches Gemurmel erhob sich. „Wie dem auch sei“, fuhr der runde Oberpirat fort, „mein Name ist Blodok und da es äußerst selten Gästen gelingt, sich in unsere freundliche kleine Kolonie ... sagen wir mal: zu verirren, konnten wir euch einfach nicht vorüberziehen lassen, ohne euch eine Kostprobe unserer Gastfreundschaft anzubieten.“
Yomi, als der ältere der beiden Angesprochenen, trat einen Schritt vor und erwiderte: „Mein Name ist Yomi, ich bin der Sohn Kaldeks.“ Er legte die Rechte auf seine Brust und verbeugte sich knapp. Auf seinen kleineren Freund weisend, fügte er hinzu: „Und das hier ist Yonathan, der Sohn Yaschmons. Ich fühle mich ziemlich geehrt, Blodok, dass Ihr uns dieses Angebot macht. Aber wisst, dass wir sehr in Eile sind und daher Euer großzügiges Angebot kaum werden genießen können.“
Yonathan stand mit offenem Mund hinter seinem Freund und staunte über dessen plötzliche Gewandtheit in vornehmen Umgangsformen. War es die pure Angst um ihrer beider Leben, die Yomis Zunge Flügel verlieh?
Blodok grinste wölfisch und erklärte mit merkwürdig geändertem Tonfall: „Wir haben ein akzeptables Jahr gehabt und unsere Laderäume sind für den Winter gefüllt. Ihr beiden könnt daher sicher sein, dass es euch bei uns besser gehen wird als so manchem ungeladenen Gast zuvor. Außerdem interessiere ich mich brennend für eure Geschichte. Wir haben selten Gäste bei uns, mit denen man sich noch unterhalten kann. Erzählt uns etwas mehr darüber, wer ihr seid, woher ihr kommt, wohin ihr zu gehen gedenkt ... und warum dein Gesicht zwei Farben hat.“
Yomi zögerte mit mahlenden Kiefern und Yonathan war sich nicht sicher, ob Blodoks Interesse nur eine Bekräftigung seiner „Einladung“ war oder ob er eine Antwort erwartete. Als das Schweigen unerträglich zu werden drohte, trat Yonathan neben seinen Freund und erklärte: „Der Seemann Yomi und ich wurden durch ein furchtbares Unwetter zusammengeführt, edler Blodok. Er und ich gingen gemeinsam über Bord und konnten uns nur mit Mühe retten. Jetzt befinden wir uns auf dem Weg nach Cedanor. Vielleicht könnten wir von Euch ein Schiff erwerben ...“
„Kein Schiff, das den Golf befährt, wagt sich so weit nach Norden“, schnitt Blodok Yonathan das Wort ab. Seine Stimme troff von bittersüßem Gift. „Es fällt mir schwer, eure Geschichte zu glauben. „Beifälliges Raunen erhob sich in der Menge.
„Da habt Ihr ziemlich Recht“, stimmte Yomi eilig zu und erläuterte: „Die Stelle, wo sich das Unglück ereignete, ist ... etwas weiter weg. Um die Wahrheit zu sagen: ungeheuer viel weiter!“
„Das macht die Sache nicht glaubwürdiger“, zweifelte der stellvertretende Chef. Sein Tonfall wurde schärfer, denn er bemerkte, dass die umstehenden Gefolgsleute an dieser Art der Gesprächsführung Gefallen fanden. „Der Kleine da“, er deutete auf Yonathan, „trägt einen, wie mir scheint, kostbaren Stab bei sich. Wenn man über Bord geht, wird man sich wohl kaum die Zeit nehmen, noch seine wertvollen Habseligkeiten zusammenzuklauben. Ich glaube eher, dass ihr den Ort eurer Herkunft und eure Absichten mit Bedacht vor uns verbergen wollt. Es haben sich nämlich in letzter Zeit merkwürdige Dinge bei uns zugetragen. Unser Chef ist mit seinem Schiff noch immer nicht zurückgekehrt, obwohl das Meer jeden Tag unsicherer wird. Hinzu kommt, dass vor zwei Abenden der Mondbach viel früher zu tosen begann als sonst – etwas, das es noch nie gegeben hat, solange unsere Kolonie hier existiert.“
Er legte eine kurze Pause ein, beugte sich beängstigend weit vor, die schwarzen Augen abschätzend zusammengekniffen, und senkte die Lautstärke seiner Stimme, um ihr mehr Bedrohlichkeit zu verleihen. „Nicht wenige meiner Leute fragen sich, ob das alles möglicherweise ein schlechtes Omen sein könnte. Sie glauben, das Verborgene Land hätte Hexer ausgespuckt, die Übles über uns bringen sollen. Nicht umsonst scheuen sich die Menschen von alters her, hier am Südkamm zu siedeln. Sie glauben, dass an diesem Küstenstreifen der Fluch, der einst das Verborgene Land entvölkerte, noch immer wirksam ist. Ihr beiden werdet verstehen, dass wir vorsichtig sein müssen. Hexer muss man verbrennen und ihre Asche an einer tiefen Stelle im Meer versenken, damit sie keinen Schaden mehr anrichten können.“
„Ich verstehe Euch sehr gut“, erwiderte Yonathan, noch bevor Yomi etwas sagen konnte. „Wir kommen tatsächlich aus dem Verborgenen Land.“
In der Menge breitete sich lautes Murmeln aus und schon bald loderten an immer mehr Stellen hitzige Wortwechsel auf. Für einen Augenblick war es Yonathan unmöglich fortzufahren. Yomi wäre am liebsten im Boden versunken, hätte sich in Luft aufgelöst oder sonst wie unsichtbar gemacht. Jedenfalls glaubte der blonde Seemann, nun könne nichts mehr ihr baldiges Ende abwenden. Blodok kämpfte inzwischen verzweifelt um Ruhe. Sein Gesicht nahm eine glänzend rote Farbe an.
„Aber wir kommen nicht als übel gesinnte Boten irgendeiner dunklen Macht“, fuhr Yonathan schließlich fort. „Unser Unglück, von dem wir Euch erzählten, ereilte uns am Ewigen Wehr. Wir durchquerten das Verborgene Land und kamen so zu Euch. Das ist die Wahrheit.“
„Er lügt!“, erklang eine aufgeregte Stimme. „Das ist ein Trick, um uns abzulenken!“, rief eine andere. „Lasst uns ihre Hälse durchschneiden und sie anschließend verbrennen, gleich hier, auf der Stelle!“ Und schließlich skandierte die ganze Menge: „Verbrennt sie! Verbrennt sie!“
Blodoks inneres Gleichgewicht war sichtlich in Unordnung geraten. Die Ereignisse drohten sich zu verselbstständigen. Mit einer hastigen Geste verschaffte er sich die Aufmerksamkeit seines Adjutanten. „Schnell, führe sie ins Konferenzzentrum!“, befahl er.
Die Anweisung wurde sofort ausgeführt. Blodok trotzte der aufgebrachten Menge mit der geballten Masse seines Körpers. Yonathan bedauerte fast, dass er nicht den Ausgang dieser Ereignisse mitverfolgen konnte, war aber froh, dem Mob vorerst entkommen zu sein.
„Wir sollen ins ‚Konferenzzentrum‘?“, meinte Yomi. „Ich hätte nicht gedacht, dass es hier so was gibt.“
„Ich auch nicht“, antwortete Yonathan.
„Klappe!“, dröhnte eine Stimme hinter ihnen. „Weiter!“
Die beiden Unglücklichen wurden mit langen Spießen auf die andere große Hulk zugetrieben, das Schiff, das bisher weniger im Mittelpunkt ihres Interesses gestanden hatte.
„Hoch da!“, befahl der Mann mit dem Säbel und deutete mit der schartigen Klinge auf eine Strickleiter.
Yonathan und Yomi wurden über die Planken des Dreimasters und dann durch eine Luke unter Deck gestoßen. Hier fanden sie sich in einem großen Raum wieder, der von einer langen Holztafel in seiner Mitte beherrscht wurde. Ringsum standen dreibeinige Hocker. Der einzige komfortable und mit einer hohen Lehne ausgestattete Stuhl befand sich am Kopfende der Tafel. Es blieb nicht viel Zeit, sich eingehender umzusehen, denn schon schob man die beiden Gefangenen durch eine weitere Luke im Fußboden noch tiefer in den Bauch des Schiffes hinein. Über eine schmale Stiege erreichten sie einen dunklen, muffig riechenden Laderaum. Mattes Tageslicht sickerte durch einige Ritzen.
Das Krachen der Deckenklappe besiegelte die Gefangensetzung der beiden Gefährten und sie waren allein. Nicht ganz allein – zaghaft streckte Gurgi den Kopf aus dem Versteck an Yonathans Brust und als sie sich vergewissert hatte, dass keine unmittelbare Gefahr drohte, schob sie sich ganz ins Freie. Mechanisch begann Yonathan, den nervösen kleinen Masch-Masch zu streicheln. An Yomi gewandt bemerkte er: „So, jetzt weißt du, was ein Konferenzzentrum ist.“
„Ja“, sagte Yomi. „Ich habe schon gemerkt, dass es im Kopf dieses Blodok ungeheuer wirr zugeht. Dauernd wirft er mit komplizierten Worten um sich, die kein Mensch versteht.“
„Och, ich verstehe schon, was er meint. Ich habe mal gehört, in Cedanor gäbe es ein Konferenzzentrum, eine große Halle aus Sedin-Gestein. Wenn es etwas Wichtiges zu beraten gibt, dann lädt der Kaiser alle seine Fürsten und Vasallenkönige ein, lässt sie einen Tag lang palavern und sagt ihnen anschließend, was sie zu tun haben.“
„Ich kenne die Halle – von außen jedenfalls.“ Yomi schnaubte verächtlich. „Aber es ist ja wohl ein Witz, diese Kaschemme hier als Konferenzzentrum zu bezeichnen.“
„Jedenfalls sind wir hier zunächst mal sicher.“
„Fragt sich nur, für wie lange.“
„Ist dir an dem Dicken nichts aufgefallen?“
Yomi zuckte die Achseln. „Außer, dass er mich die ganze Zeit so blöde angestarrt und ziemlich verrücktes Zeug dahergeredet hat – und uns noch nicht hat umbringen lassen –, eigentlich nichts.“
„Genau das meine ich, Yo. Normalerweise ‚verirrt‘ sich niemand so schnell nach Kartan, wie er meinte. Warum nicht? Weil man die Besatzungen der Schiffe, die man auf die Klippen lockt, für gewöhnlich gleich umbringt.“
„Sofern sie nicht das Glück haben, vorher zu ertrinken.“
„Vielleicht haben sie einen Grund dafür, dass sie uns nichts tun – so wie damals, als die Piraten unsere Weltwind überfielen, uns aber kein Haar krümmten.“
„Genau! Und diesen Grund müssen wir herausfinden. Ich habe ein ungutes Gefühl. So ein Kribbeln auf der Kopfhaut, als könne dieser Grund uns doch noch einige Probleme bereiten.“
„Aber was könnte das sein? Vielleicht Haschevet? Sie schienen unheimlich an deinem Stab interessiert zu sein.“ Yomi schüttelte den Kopf. „Aber nein. Das glaube ich nicht. Sie hätten uns ja ohne Probleme die Hälse durchschneiden und sich dann alles nehmen können, was sie haben wollten.“
„Es sei denn ...“
Yonathan und Yomi fuhren zusammen, als sich unvermutet die Luke über ihren Köpfen öffnete. Eine schmale Gestalt zeigte sich in der Lichtöffnung und kletterte die Stiege hinab. Dichtauf folgte eine zweite, kleinere, etwas stabiler gebaute. Die erste trug eine Öllampe, die zweite bemühte sich, einen Topf zu transportieren, ohne seinen Inhalt zu verschütten.
„Ihr beiden werdet uns doch keine Schwierigkeiten machen“, sandte die erste Gestalt ihre Worte wie einen Abwehrzauber voraus. Unten angekommen wandte sie sich sogleich den beiden Gefangenen zu. Gelbes Licht ergoss sich fast widerstrebend über ein Gesicht, das Yonathan einen gehörigen Schrecken einjagte. Vor ihm stand die hässlichste Frau, die er je in seinem Leben gesehen hatte.
„Wir sind nicht hierhergekommen, um irgendjemandem Schwierigkeiten zu bereiten“, antwortete Yomi. Er hatte noch nicht zu dem höflichen Ton zurückgefunden, den er Blodok gegenüber angeschlagen hatte.
Yonathan schüttelte nur stumm den Kopf und staunte mit offenem Mund die hässliche Frau an.
Neben der Lampenhalterin erschien nun auch schwerfällig der Topfträger. Yonathan erkannte in ihm sofort den Ehemann der Frau. Im Licht der Tranfunzel war zu erkennen, warum sich der Mann so ungelenk bewegte: Sein rechtes Bein bestand vom Knie an abwärts aus Holz.
„Ich bin Gim und das ist meine Frau, Dagáh“, stellte sich der Einbeinige vor. Yonathan und Yomi erwiderten den Gruß und nannten ihre Namen.
Gim war nicht besonders groß, aber kräftig gebaut. Sein Haar glänzte tiefschwarz, wie das der meisten Menschen in den südlichen Ländern des Cedanischen Reiches. Yonathan bemerkte sofort, dass Gim keine Feindseligkeit ausstrahlte. Sein von Falten zerfurchtes Gesicht war von tiefer Melancholie geprägt. Auch seine Begleiterin wirkte nur nach außen hin hart und verbittert. Dagáh war spindeldürr, was selbst die losen Tücher, die von ihrem Körper wie von dem Gestell einer Vogelscheuche herabhingen, nicht verbergen konnten. Ihre knochigen Arme und gichtigen Finger schienen die Lampe nur mit Mühe halten zu können. Ihr Kopf hing wacklig auf einem langen, dünnen Hals. Ein kleiner Buckel lastete auf ihrem krummen Rücken. Ihr Haar musste wie das ihres Mannes vor langer Zeit einmal schwarz gewesen sein. Nun hing es in grauen, dünnen Strähnen vom Kopf und konnte doch nicht verhindern, dass hier und da die Kopfhaut hervorschimmerte. Auf der scharf gebogenen Nase prangte eine Warze.
Navran hatte Yonathan immer wieder davor gewarnt, sich vom Äußeren einer Person oder Sache täuschen zu lassen.
„Entschuldigt bitte, Gim und Dagáh“, begann er höflich. „Wisst Ihr, was man mit uns vorhat?“
„Was soll man mit euch vorhaben?“, krächzte Dagáh. „Man wird euch die Hälse durchschneiden oder euch aufknüpfen, so, wie ihr es mit uns Piraten tut, wenn wir euch in die Hände fallen.“
„Schweig still, Weib!“, fiel Gim ihr ins Wort. Freundlicher wandte er sich an die beiden Gefangenen: „Ihr müsst nicht alles glauben, was sie sagt. Sie ist eine alte, verbitterte Frau – aber im Grunde herzensgut.“
Yonathan fragte den Piraten mit dem Holzbein: „Wenn man uns nicht töten will, was hat man dann mit uns vor?“
Gim schaute sich besorgt um. „Das weiß ich nicht“, gab er zu. „Es ist wirklich ungewöhnlich, dass Blodok euch nicht die Hälse hat durchschneiden lassen. Vielleicht hat er nur Angst, weil Sargas nicht da ist und er keinen Fehler begehen möchte. Er ist nämlich ein ausgewachsener Feigling, müsst ihr wissen.“
„Ihr redet nicht besonders gut von Eurem stellvertretenden Chef“, stellte Yomi fest.
„Pah!“, brach es verächtlich aus Gim hervor. Er spuckte aus, und Dagáh schüttelte den Kopf. Gim stellte den Eisentopf zu Yomis Füßen ab und erklärte: „Blodok ist ein Schleimer. Er wird von Sargas gestützt – und das weiß er! Alle hier in Kartan achten und fürchten Sargas, unseren Anführer. Aber Blodok würden sie lieber heute als morgen ins Meer zu den Zahnfischen werfen.“
„Wie kommt es, dass Sargas – wenn er doch ein so tüchtiger Anführer ist – Blodok derart schätzt?“, fragte Yonathan.
„Sargas und Blodok kennen sich schon lange, schon bevor sie hierher kamen, erst als einfache Piraten, bald als unsere Anführer. Blodok ist der Sohn Blodoks, des Bootsmannes auf dem ehemaligen Flaggschiff der kaiserlichen Marine. Er hält sich für etwas Besseres – daher auch seine geschwollene Ausdrucksweise, von wegen Chef, Kolonie, Konferenzzentrum und so weiter, und so weiter ...“
„Ihr meint, Blodoks Vater diente auf der Weltwind?“, fragte Yomi, plötzlich hellhörig geworden. „Unter dem Admiral der kaiserlichen Marine von Cedan, Balek?“
„Ja, so ist es. Du scheinst dich in diesen Dingen auszukennen. Na ja, kein Wunder! Die kaiserliche Marine begeistert wohl jeden Jungen.“
„Warum diente Blodok nicht wie sein Vater weiter in der kaiserlichen Marine?“
Gim zuckte mit den Achseln. „Der Zahlmeister Baleks hatte Geld veruntreut und Blodok stand in dem Verdacht, mit ihm unter einer Decke zu stecken. Man konnte ihm jedoch nichts nachweisen. Während man den Zahlmeister kurzerhand am Großmast der Weltwind aufknüpfte, ließ Zirgis im Falle Blodoks Gnade vor Recht ergehen. Nachdem Zirgis seinem Vater, Kaiser Zirgon, auf den Thron gefolgt war, kam Blodok im Zuge einer allgemeinen Amnestie frei, musste jedoch aus der Marine ausscheiden. Anstatt für die Erhaltung seines Lebens dankbar zu sein, schwor Blodok Rache. Er fühlte sich ungerecht behandelt. Blodok muss sich die Einstellung seines Vaters wohl zu Eigen gemacht haben, denn schon bald war er – wie er selbst immer wieder prahlerisch behauptet – ein bedeutender Dieb, der die Karawanen und Schiffe des Kaisers beraubte, wo immer sich ihm die Gelegenheit dazu bot.“
Yomi nickte. „Und als Balek das alte Flaggschiff, die Weltwind, zum Geschenk erhielt, begann Blodok Balek zu hassen. Und Blodoks Sohn, Blodok, hasste Kaldek, den Sohn Baleks ... und jetzt wahrscheinlich auch mich.“
„Dich?“ Gims Augen leuchteten. „Dann bist du also der Sohn des Kaldeks, des Sohnes Baleks?“
„Eigentlich sein Adoptivsohn, aber für mich ist das ziemlich egal – und für Blodok wahrscheinlich auch.“
Gim pfiff durch eine Zahnlücke. „Jetzt wird mir einiges klar.“
„Der Schurke hat etwas vor mit den beiden, etwas, was ihm sogar über seine persönliche Rache geht“, krächzte Dagáh.
„Mein Weib hat Recht“, stimmte Gim zu. „Blodok kann manchmal sehr impulsiv sein – vor allem, wenn er sich überlegen fühlt. Er hätte dich, Yomi, längst in Stücke gehackt, wenn ihn nicht etwas daran hinderte. Wir müssen herausfinden, was es ist. Vielleicht können wir euch in Sicherheit bringen, bevor etwas Schlimmes passiert.“
„Warum wollt Ihr das für uns tun?“, fragte Yonathan erstaunt. „Ihr seid doch auch Piraten.“
„Ja, das sind wir. Und wir werden es wohl bleiben. Aber wir waren es nie mit ganzem Herzen.“
„Aber warum seid Ihr dann noch hier?“
„Wer einmal hier ist, der kommt nicht leicht lebend wieder fort“, erklärte Gim betrübt. Dagáh stieß einen ziemlich verächtlich klingenden Laut aus. „Und bevor du fragst, warum wir überhaupt hierhergekommen sind“, kam Gim der nächsten Frage Yonathans zuvor, „lass dir sagen, dass ihr beiden nicht die Einzigen seid, die unfreiwillig und trotzdem lebend nach Kartan gelangten.“
„Dann hat man Euch beide hier festgehalten – gegen Euren Willen?“
„Nein, man hat uns unterwegs aufgegabelt“, antwortete Dagáh anstelle ihres Mannes. „Gim war mal wieder zu gutmütig. Mein Mann reiste als Kaufmann von Cedanor aus durch den Golf und hatte mich mitgenommen. Als die Piraten unser Schiffen enterten, kam es an Deck zu einem erbitterten Kampf. Plötzlich löste sich die Rah des Fockmastes und sauste direkt auf den Anführer der Schurken zu. Anstatt sich zu freuen – bestimmt hätte sich der Überfall doch noch zu unseren Gunsten gewendet -, sprang Gim herbei, schrie dem Piratenanführer Vorsicht zu und riss ihn auch noch aus der Gefahrenzone, wobei sein eigenes Bein zerschmettert wurde.“
Yonathan blickte mitfühlend auf Gims Holzbein.
„Es war eher so eine Art Reflex“, entschuldigte sich Gim.
„Ein Reflex, der unser ganzes Leben in ein dunkles, trostloses Loch namens Kartan gestürzt hat“, versetzte Dagáh.
„Immerhin ist dieses Loch besser als das noch viel schwärzere Grab auf dem Grund des Meeres.“