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Nach den Wirrungen des Zweiten Weltkriegs findet sich David Camden in Indien wieder, wo er nur wenig später den Mord an Mahatma Ghandi mitansehen muss. Auf der Suche nach den Drahtziehern stößt er erneut auf den Kreis der Dämmerung. Mittlerweile sind Camdens besondere Fähigkeiten nahezu ausgereift, sodass er der Loge um den finsteren Lord Belial immer gefährlicher wird ...Band 3 von Ralf Isaus mitreißender Fantasy-Reihe "Der Kreis der Dämmerung".-
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Seitenzahl: 521
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Ralf Isau
Saga
Der Kreis der Dämmerung – Teil 3: Der weiße Wanderer
Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany
(www.ava-international.de)
Die Originalausgabe ist 2001 im Thienemann Verlag erschienen
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 2001, 2022 Ralf Isau und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728390382
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Die Verzweiflung schickt uns Gott nicht, um uns zu töten, er schickt sie uns, um ein neues Leben in uns zu wecken.
Hermann Hesse
Jahre der Einsamkeit
Der Einsame ist nur ein Schatten eines Menschen.
George Sand
Der Situation haftete etwas Unwirkliches an. Kein Romancier, dem etwas an seiner Glaubwürdigkeit lag, hätte die Szene in dieser Weise zu Papier gebracht. Und trotzdem trug sich alles genau so zu.
Der kleine braune Mann, der nur mit einem selbst gewebten Tuch bekleidet war und die Arme gerade zum traditionellen Segensgruß erhoben hatte, reagierte erstaunlich gefasst. Die Augen hinter den runden Brillengläsern Bapus, des »kleinen Vaters«, verrieten keine Furcht, ja nicht einmal Erstaunen. Da war nur Bedauern wie über eine verpasste Chance, vielleicht sogar Mitleid mit dem jungen Mann, der sich ihm in den Weg gestellt hatte.
Aber auch dessen Verhalten entsprach nicht unbedingt den in der Literatur vorgegebenen Klischees. Anstatt Hass zeigte er Respekt. Er wünschte dem fast Achtzigjährigen alles Gute und verbeugte sich ehrfürchtig. An der ganzen Szene störte eigentlich nur der Revolver zwischen dem kleinen Mann und dem höflichen Attentäter.
Das Haus in Faridabad bot einen erbärmlichen Anblick. Der Verputz war großflächig abgefallen. Braungelbe Lehmziegel stachen hervor, die sich ebenfalls in einem fortgeschrittenen Stadium der Auflösung befanden. Das Gebäude mit den leeren Fensterhöhlen und dem Flachdach schien verlassen zu sein. Vielleicht hatte Gandhi sich geirrt. Zwar wogen dessen Vertraute jedes seiner Worte mit Gold auf, aber unfehlbar war der Mahatma – »Er, dessen Seele groß ist« – auch nicht.
Ja, bis zu diesem 30. Januar 1948 hatten die Menschen ihm viele Ehrennamen verliehen. Seine engsten Freunde, für die Mohandas Karamchand Gandhi einfach Bapu war, würden ihren »kleinen Vater« natürlich nie absichtlich täuschen, aber glühende Bewunderung und Scharfblick gleichen oft Feuer und Wasser: Das eine schließt das andere aus. Und wo es an Besonnenheit mangelt, kann man leicht etwas Wichtiges übersehen. Die einzige Konstante in diesen bewegten Zeiten schien ohnehin der stete Wechsel zu sein.
Während David unter der brütenden Sonne zu dem schäbigen Haus hinüberspähte, wanderten seine Gedanken zurück. Bewegte Tage und Wochen lagen hinter ihm. Vor erst vierundzwanzig Monaten, im Januar 1946, hatte er Japan verlassen. Nach einer kurzen Stippvisite in New York war er im Auftrag seines Freundes Henry Luce als Prozessbeobachter nach Nürnberg gereist. Das internationale Militärtribunal hatte mit einstigen Nazigrößen abgerechnet. Auch mit Franz von Papen, ein für David allerdings noch nicht abgeschlossenes Kapitel. Dem war eine wochenlange Odyssee quer durch Europa gefolgt, die ihn schließlich hierher, nach Indien, geführt hatte. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hatte er nur zwei Mitglieder aus dem Kreis der Dämmerung ausschalten können. Damit blieben, neben Lord Belial, noch neun! Und Davids einhundertjähriges Lebensmaß war beinahe zur Hälfte ausgeschöpft. Nein, er hatte dieser – zugegeben – vagen Hoffnung einfach nachgehen müssen. Gandhi kannte die Höhen und Tiefen des Daseins und die Abgründe der menschlichen Seele. Als Verfechter der Idee der Gewaltlosigkeit musste er Lord Belial und seinem Geheimbund ein Dorn im Auge sein. Vielleicht, so hatte David sich gedacht, konnte ihn der Mahatma in seinem Kampf gegen den Kreis der Dämmerung unterstützen. Im Augenblick kam ihm dieser Gedanke allerdings ungemein selbstsüchtig vor.
Gandhi war nicht gerade darauf erpicht gewesen, sich noch weitere Sorgen aufzuladen. Er hatte in den vergangenen zwölf Monaten selbst einen zermürbenden Kampf geführt und war schließlich gescheitert. Moslems, Sikhs und Hindus wollten sich lieber gegenseitig zerfleischen, als seine Vision von einem geeinten Indien wahr werden zu lassen. Zweimal war er in Hungerstreik getreten und hatte damit die zerstrittenen Parteien wieder zum Frieden gezwungen. Wer wollte es dem Mahatma verübeln, wenn ihm der Wohnort eines kleinen Wadenbeißers wie Raja Mehta nicht gewärtig war?
»Sieht ziemlich verlassen aus, oder was meinst du?«
Die Frage galt Balu Dreibein an Davids Seite. Der kleine Inder trug Pumphosen und ein langes Hemd aus feinem weißem Leinen, eine graubraune Weste sowie einen hellgelben Turban. Unzufrieden stieß der alte Mann seinen Stock in den Boden und eine kleine Staubwolke stob auf. »Wenn wir nicht nachschauen, werden wir’s nie herausfinden, Sahib.«
»Ich hätte eher erwartet, dass du mich warnst.« David ahmte die Redeweise des alten Freundes nach: »›Zu gefährlich, Sahib.‹ Früher hörte sich so jeder dritte Satz aus deinem Mund an. Du hast dich ziemlich verändert, seit du nicht mehr mein Leibwächter bist, Balu.«
Baluswami Bhavabhuti grinste schief. »Das liegt an der Erfahrung, die man im Laufe des Lebens gewinnt. Nur noch ein paar Jahre und ich werde achtzig.«
»Was sind schon achtzig Jahre im Verhältnis zu den vielen Leben, die der stolze Tiger von Meghalaya bereits hinter sich gebracht hat?«
Der drahtige Hindu mit dem Holzbein gab sich beleidigt. »Willst du etwa meinen Glauben an die Reinkarnation infrage stellen? Ich hätte besser bei Bapu bleiben und ihn beschützen sollen.«
»Ehrlich gesagt, wäre mir das sogar lieber gewesen. Immerhin haben wir es hier vielleicht mit einem brutalen Handlanger Belials zu tun und du bist nun wirklich nicht mehr det Jüngste, mein Guter. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustieße.«
»Ich werde mindestens einhundertdreiunddreißig Jahre, bin demnach also jetzt gerade im besten Alter und kann ganz gut auf mich aufpassen.«
»Soweit ich mich erinnere, war es der Mahatma, der sich diese Lebensspanne vorgenommen hatte.«
»Wenn du Bapu nicht verraten hättest, dass ich drei Jahre jünger bin als er, wäre er weiter bei seinen hundertfünfundzwanzig Jahren geblieben. Aber so ...«
David seufzte. Balu Dreibein war auf seine alten Tage ein wenig schrullig geworden. »Lass es gut sein, mein Freund. Du kannst mir ja helfen, nur musst du mir versprechen, vorsichtig zu sein.«
Balu grinste von einem Ohr zum anderen. »Das war ich doch schon immer, Sahib. Und nun lass uns endlich diesen Schakal aus seinem Versteck locken und ihm das Fell über die Ohren ziehen. Für Fanatiker habe ich noch nie viel übrig gehabt, egal ob sie vorgeben, Allah, Wischnu oder meinetwegen sogar den Teufel anzubeten.«
David sah seinen Freund verwundert an. Für einen Vertrauten Gandhis, jenes Propheten der Gewaltlosigkeit, gebärdete sich der graue Tiger von Meghalaya erstaunlich angriffslustig. Vielleicht stimmte ja, dass die zerstrittenen Parteien des Landes das Herz der Großen Seele gebrochen hatten. Balu schien jedenfalls fest entschlossen, es jedem heimzuzahlen, der an dieser Tragödie eine Mitschuld trug.
Missmutig wandte David seinen Blick von dem energischen Alten ab und widmete sich der näheren Umgebung. Die Straße war kaum mehr als ein in der Sonne glühender Trampelpfad. Auf der anderen Seite, fünf oder sechs Häuser weiter, saßen im Schatten eines Balkons zwei vielleicht zehn- oder elfjährige Jungen und äugten neugierig herüber.
»Also gut«, brummte David. »Du gehst am besten um das Haus herum und zeigst dort Flagge. Dann kann sich Mehta nicht einfach nach hintenraus verdrücken. Ich zähle langsam bis dreißig und werde dann hier vorne in Aktion treten. Alles klar?«
Baluswami Bhavabhuti nickte, fasste den Gehstock fester, als hätte er es mit einer tödlichen Waffe zu tun, und machte sich von dannen.
Als David – mit Rücksicht auf Balus Holzbein – bis vierzig gezählt hatte, ging er festen Schrittes auf das baufällige Haus zu. Mit der Faust klopfte er drei-, viermal gegen die verwitterte Holztür, die gefährlich schief in den Angeln hing und auf die rüde Behandlung hin ächzend protestierte. »Ist da jemand?«
Die beiden Jungen auf der anderen Straßenseite reckten die Hälse. Im Haus blieb es still.
David klopfte erneut, wieder ohne Erfolg. Er überlegte, ob er Raja Mehtas Namen rufen sollte, aber ein vermeintlicher Freiheitskämpfer mochte sich dadurch in seiner Anonymität verletzt fühlen. Und wenn er wirklich mit dem Kreis der Dämmerung in Verbindung stand ...
Ganz auf seine Sekundenprophetie konzentriert, klopfte David weiter. Niemand sollte ihn überraschend angreifen können. Im Augenblick allerdings bestand nur die Gefahr, dass das Gebäude über ihm zusammenbrach. Einmal mehr rief David, in Ermangelung besserer Alternativen, in der Sprache der ehemaligen Kolonialherren: »Hallo, ist denn niemand zu Hause?«
Plötzlich drang ein dumpfes Krachen durch die windschiefe Tür, gefolgt von lauten Stimmen. David erkannte mit Schrecken, aus welcher Richtung das Getöse kam. Nicht er wurde angegriffen, sondern sein Freund! Er unterdrückte ein Fluchen und rannte zur Südseite des Gebäudes.
Der hagere Inder steckte in einer dicken Staubwolke und war in ein lebhaftes Handgemenge verwickelt. Balus Gegner zappelte, biss und fluchte, um sich aus den Fängen des Tigers von Meghalaya zu befreien. Da ein baldiges Ende des Zweikampfes nicht abzusehen war, schaltete sich David vorsorglich in das staubige Geschehen ein.
Mit einer für sein Alter ungewöhnlichen Behändigkeit warf er sich zwischen die beiden Kontrahenten. Seit den Kindheitstagen, als er in die Geheimnisse der japanischen Kampfkünste eingeweiht worden war, hatte er sich eine katzenhafte Geschmeidigkeit bewahrt. Im Grunde verabscheute David jede Art der Gewaltanwendung, doch hin und wieder hatten ihm seine Gegner keine andere Wahl gelassen – und es bitter bereut. Dementsprechend gewandt packte er die beißende und kratzende junge Frau am Kragen und löste sie von dem holzbeinigen Tiger.
»Seit wann verprügelst du Mädchen?«, fragte David seinen am Boden sitzenden Freund.
Balu klopfte sich den Schmutz von den Kleidern und linste zu dem zappelnden Wesen an Davids Arm hoch. »Bist du sicher, dass das ein Weib ist, Sahib?«
David warf einen Blick auf das schmutzige Häuflein Mensch. Seine Gefangene war nur wenig größer als Balu, aber ebenso dünn. Dennoch ließen sich neben den langen schwarzen Haaren noch andere weibliche Attribute ausmachen. »Etwas zu rundliche Formen für einen Knaben«, erwiderte er knapp und schüttelte seine Beute kräftig durch. »Wirst du endlich still halten! Dann gebe ich dich auch frei und muss dir nicht wehtun.«
Der Widerstand der jungen Frau erlahmte. Als David sie daraufhin losließ, warf sie ihm einige unverständliche Worte an den Kopf, spuckte ihm ins Gesicht und rannte davon. Sie kam nicht weit. Balu hatte seinen Stock über dem Kopf geschwungen und ihn wie eine Streitkeule der Fliehenden hinterhergeschleudert. Der elfenbeinerne Knauf traf sie am Hinterkopf. Die Frau sackte mit verdrehten Augen zu Boden.
»Sie spricht ein sehr rohes Hindi«, bemerkte Balu seelenruhig.
David sah den alten Mann verblüfft an, während er sich mit einem Taschentuch den Speichel von der Wange wischte. »Wie hast du das nur gemacht?«
»In einem meiner früheren Leben musste ich für einen Maharadscha ...«
»Schon gut«, unterbrach David den Freund. »Und was hat sie gesagt?«
Balu Dreibein wirkte mit einem Mal etwas verlegen. »Nichts, das ein Mädchen in den Mund nehmen sollte.«
»Du übertreibst.«
»Dann findest du es also angemessen, wenn sie dich einen ›englischen Bastard‹ schimpft, der ohne Zweifel einem Kuhfladen entstiegen sei, in dem er besser geblieben wäre, weil er nur der Sohn einer dreckigen …«
»Es reicht! Ich kann mir in etwa vorstellen, wie es weitergeht. Sieh doch mal, ob wir im Auto noch einen Rest Wasser übrig haben.«
»Eine gute Idee, Sahib. So ein kleiner Kampf kann ganz schön durstig machen.«
»Das Wasser ist für sie gedacht.« David deutete mit dem Kopf auf die am Boden Liegende.
»Seit wann gibt man einer Schlange etwas zu trinken, Sahib?«
Davids Miene war ernst geworden. »Ich habe auf dem Markt in Delhi gut aufgepasst, mein Guter. Die Schlangenbeschwörer behandeln ihre schlanken Tierchen aufmerksamer als manch anderer die Angebetete. Warum tun sie das wohl? Etwa aus Liebe?«
»Wohl eher, weil ihre Kobras ihnen nützlich sind, Sahib.«
»Siehst du.« David zeigte auf die junge Frau im Staub. »Und diese da wird uns womöglich auch noch von Nutzen sein. Also, bitte, geh und hol Wasser.«
»Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt, ein geachteter Mann und kein Fan-wallah, Sahib!«
»Kein was?«
»Kein Lakai, kein Ventilatordreher, der den feinen Herrschaften frische Luft zubläst.«
»Es geht hier um Wasser, Balu, nicht um Luft. Und ich bitte dich als Freund, nicht als dein Herr.«
Balu schnaubte etwas, das gut eine Verwünschung auf Hindi oder Urdu hätte sein können, und machte sich verdrießlich daran, Davids Wunsch zu erfüllen. Der seufzte nur und blickte dem alten Kämpen kopfschüttelnd hinterher – das Selbstbewusstsein seines einstigen Leibwächters war in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen.
Dann wandte sich David wieder dem Mädchen zu. Sie lag reglos im Staub. Ein seltsamer Gedanke kam ihm in den Sinn. Sie könnte gut meine Tochter sein!Und: Hoffentlich hat Balus Keule sie nicht umgebracht.
Von plötzlicher Sorge getrieben, machte er sich an die Untersuchung des bewusstlosen Mädchens. Er richtete sie in eine sitzende Position auf und seine Finger durchforsteten den Dschungel ihres zerzausten Haarschopfes. Es fand sich zwar eine schnell anschwellende Beule, aber die Haut war nicht aufgeplatzt, aus der Nase der Patientin trat keine helle Flüssigkeit und ihre Augen waren nicht blutunterlaufen – also kein Schädelbruch. David erlaubte sich ein erstes Aufatmen. Eine ansehnliche Beule sowie dröhnende Kopfschmerzen würden die Kleine noch eine Weile an diesen Tag erinnern, doch weitere Blessuren schien sie nicht davongetragen zu haben.
Langsam ließ er den Kopf des Mädchens gegen seine Brust sinken und strich sanft die staubigen Haare aus dem jungen Gesicht. Wenn man sich die dicke Schmutzschicht darauf wegdachte, konnte sie höchstens achtzehn sein – wahrscheinlich sogar erst sechzehn.
Plötzlich öffnete die Kleine die Augen.
»Wie schön! Du bist wieder wach«, sagte David leise.
Seine Stimme – vielleicht auch die Berührung seiner Finger – zeigte Wirkung. Das Mädchen runzelte die Stirn und musterte ihn prüfend. Aber sie spuckte nicht mehr.
»Mein Name ist David Pratt«, sagte er freundlich und legte sich die flache Hand auf die Brust. Dann deutete er auf die Wiedererwachte. »Und wer bist du?«
Das Mädchen bewegte die aufgesprungenen Lippen, aber es dauerte eine Weile, bis endlich ein einzelnes Wort hervorkam. »Abhitha.«
David lächelte, doch bevor er noch etwas sagen konnte, verdunkelte ein Schatten die am Boden Kauernden.
»Die Schlange ist wieder aus ihrem Korb gekrochen«, sagte eine abschätzig klingende Stimme. »Dann können wir sie ja jetzt ertränken.«
Davids Blick glitt an den drei Beinen nach oben, bis die Sonne ihm die Sicht nahm und ihn blinzeln ließ. »Ich glaube, sie ist gar nicht so giftig, wie du glaubst, Balu. Bitte frage Abhitha, ob sie allein in dem Haus wohnt.«
Der kleine Inder tat ihm den Gefallen, wenn auch auf eine etwas ruppige Art. Das Mädchen gab eine kurze Antwort in Hindi.
»Sie sagt, sie wohne gar nicht hier.«
»Und was hat sie dann in dem Haus zu suchen gehabt?«
»Ich bin ein Straßenkind‹«, übersetzte Balu die Antwort Abhithas.
»Und was will sie damit sagen?«
Balu zuckte die Schultern. »In Indien haben die Familien viele Köpfe. Der Schopf eines Jungen wird allerdings wesentlich lieber gesehen als der eines Mädchens. Ein neugeborenes Mädchen wird oft einfach ertränkt oder lebendig begraben – je nach Religion der Eltern. Manchmal verstümmelt man die überflüssigen Kinder auch und schickt sie zum Betteln auf die Straße. Die Kleine da scheint noch Glück gehabt zu haben. Ihr fehlt nur ein Dach über dem Kopf.«
David nickte. »Und deshalb hat sie sich ein leer stehendes Haus gesucht. Frage sie bitte, ob es so gewesen ist.«
Abhitha bestätigte die Vermutung. Auf Davids weitere Fragen hin erklärte sie, dass sie nicht wisse, wer vorher in dem halb verfallenen Gebäude gewohnt habe. Sie lebe erst seit einigen Wochen in dieser Gegend und während dieser Zeit habe sich außer ihr niemand in dem Haus aufgehalten.
Die nächste Bemerkung des Mädchens ließ Balu erschrocken zurückfahren. Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet. »Schnell, lass von ihr ab, Sahib!«, keuchte er.
David wurde aus der seltsamen Reaktion seines Freundes nicht recht schlau. »Weshalb? Was hat sie denn gesagt?«
Balu wich weiter zurück, die Hände wie zur Abwehr des Bösen erhoben. »Aussatz!«, hauchte er. »Man erzählt sich im Viertel, das Gesicht eines der früheren Hausbewohner habe sich in das einer Raubkatze verwandelt. Andere sagen, der Aussatz habe alle Menschen aus dem Gebäude vertrieben.«
Faridabad lag ungefähr fünfzehn Meilen südöstlich von Neu-Delhi. Eine für indische Verhältnisse gut ausgebaute Straße ließ die schwere englische Limousine zügig vorankommen. Am Steuer saß David, daneben Baluswami Bhavabhuti, den Wurfstock zwischen den Beinen und seinem Fahrer alle drei Meilen wegen der dritten Person im Fond Vorhaltungen machend.
Der Austin stammte übrigens aus dem Fuhrpark des britischen Generalgouverneurs. Diese nicht unbedingt alltägliche Leihgabe hatte David Lady Edwina Mountbatten zu verdanken, einer glühenden Verehrerin Gandhis. Lord Louis Mountbatten – der vormalige Vizekönig von Indien und seit der Unabhängigkeit des Landes im letzten August dessen Generalgouverneur – und seine Gemahlin pflegten gute Kontakte zu Mahatma Gandhi und hatten bei einem ihrer Besuche auch den freien Mitarbeiter des Time-Magazins David Pratt kennen und schätzen gelernt. Vor allem die beharrliche Fürsprache von Lady Edwina hatte David während seines Aufenthaltes in Delhi manche Annehmlichkeit verschafft.
Dabei befand er sich erst seit wenigen Tagen in der nordindischen Stadt. Er erinnerte sich noch genau an jenen Abend des 17. Januar, kurz nach seiner Ankunft in Delhi, als er Gandhi zum ersten Mal begegnet war. Der zerbrechlich wirkende Mann hatte gerade wieder einmal ein mehrtägiges »Todesfasten« hinter sich. So nannte der Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung seine persönlichen Protestaktionen gegen die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus, Moslems und Sikhs. Diese Rücksichtslosigkeit gegen den eigenen Körper war die einzige Form von »Gewaltanwendung«, die er tolerierte. Schon oft hatte er sein Leben riskiert und damit mehr erreicht als durch den Einsatz ganzer Armeen. Diese Art der Auseinandersetzung schien allerdings nur für ein Land wie Indien geeignet zu sein, in dem Politik und Religion so eng miteinander verwoben waren, dass selbst die unerbittlichsten Moslemführer einen von allen geliebten Hinduprediger nicht einfach sterben lassen konnten.
Aber nach dem letzten Fasten war Gandhi nur noch ein Schatten seiner selbst. Auf sechsundneunzig Pfund abgemagert, konnte er sich ohne fremde Hilfe nicht mehr aufrichten, als Balu ihm seinen »englischen Sahib« vorstellte. Drei Tage später versuchte ein fanatischer junger Hindu dem »kleinen Vater« die Idee auszureden, mit Moslems sei gut auszukommen. Für seine Überzeugungsarbeit bediente sich der Besucher einer Bombe. Glüeklicherweise hatte David das Unglück vorausgesehen und damit ernsthaften Schaden vom Birla House und seinem verehrten Bewohner abgewendet.
Seit diesem Tag durfte David fast täglich – meist in Gegenwart von Balu Dreibein – mit dem weisen alten Mann sprechen. Gandhi erholte sich nur langsam von Hungerstreik und Bombenschreck. Sogar jetzt, nach einer Woche, musste er seine Arme immer noch auf die Schultern seiner beiden Nichten Manu und Abha stützen, wollte er zum Abendgebet vor die alte Villa treten. Dort erwarteten ihn Hindus, Moslems, Sikhs, alle friedlich vereint. Er mochte seine Kinder nicht enttäuschen. Selbst einem Christen wie David begegnete er mit erfrischender Unbefangenheit.
»Der Kreis der Dämmerung steht für alle Übel dieser Welt, Mr Gandhi. Es ist meine Bestimmung, ihn zu bekämpfen, und ehrlich gesagt, sind Sie mir von Balu als ein Mann beschrieben worden, der dafür das größte Verständnis haben müsste.« David hatte dem Mahatma reinen Wein eingeschenkt und wartete nun gespannt auf dessen Reaktion.
»Balu.« Gandhi wiederholte diesen Namen wie den eines geliebten Enkelkindes, während er Baluswami Bhavabhuti einen unergründlichen Blick widmete. Dann wandte er sich wieder David zu und erwiderte mit seiner leisen Stimme: »Er ist ein alter Mann. Sie dürfen nicht jedes seiner Worte auf die Goldwaage legen.«
»Aber immerhin drei Jahre jünger als Sie, Mr Gandhi, und ich meine beobachtet zu haben, dass jedes Ihrer Worte von Ihren Schülern mit Gold aufgewogen wird.«
Der Kopf des kleinen braunen Mannes schnellte nach links und ein Anflug von Unwillen huschte über sein Gesicht. »Drei Jahre jünger? Das hast du mir nie verraten, Baluji.«
Baluswami Bhavabhutis Augen funkelten erbost in Davids Richtung, bevor er dem Mahatma mit sanfter Stimme antwortete: »Du hast mich nie danach gefragt, Bapuji.«
Gandhi schürzte die Lippen und sein grauer Schnurrbart sträubte sich wie bei einem Walross. Er lachte. »Da hast du Recht.« Sich wieder seinem englischen Besucher zuwendend, erklärte er dann würdevoll: »An Ihrer Ehrlichkeit habe ich seit unserem ersten Gespräch übrigens keinen Moment gezweifelt, Mr Pratt. Ich glaube zu wissen, wann jemand die Wahrheit spricht, und ich muss gestehen, noch nie war ich mehr von der Aufrichtigkeit eines Menschen überzeugt.«
Mit einem Nicken bedankte sich der Wahrheitsfinder für das Kompliment, blieb in der Sache selbst jedoch hartnäckig. »Wenn Sie nicht an meinen Worten zweifeln, kann ich dann auf Ihre Unterstützung hoffen?«
Der alte Mann lächelte schwach. »Lassen Sie es mich einmal so sagen, mein Freund. Nach einer Woche des Herumdrucksens haben Sie mir heute die Geschichte von diesem Lord Belial und seinen elf Logenbrüdern aufgetischt, der Verkörperung ›aller Übel dieser Welt‹, wie Sie es ausdrückten. Ihre christliche Erziehung zwingt Sie regelrecht zu dieser Einschätzung. Sie glauben ja auch an einen persönlichen Gott, der in sich alle guten Eigenschaften vereint. Dank meiner Mutter bin dagegen ich mit einem hinduistischen Weltbild aufgewachsen. Wir haben so ungefähr dreihundertdreißig Millionen Götter – sehen Sie es mir bitte nach, aber die aktuelle Zahl ist mir gerade nicht präsent. Die Buddhisten, daran dürften Sie sich noch aus Japan erinnern, glauben überhaupt nicht an einen persönlichen Gott, sondern an die Erleuchtung, die aus einem Weg der vollkommenen Rechtschaffenheit und Weisheit erwächst. Wenn damit also das göttliche Gute aus dem Menschen selbst entspringt, dann wohl auch das teuflische Böse.«
Ghandi nahm einen Schluck heißes Wasser und wickelte sich fester in seinen großen weißen Schal. Der Monolog hatte ihn sehr angestrengt, aber der Mahatma schien an dem Thema Gefallen zu finden, denn fröhlich fügte er hinzu: »Ich hoffe, Sie halten mich nicht für eitel, mein Sohn, wenn ich Ihnen verrate, dass ich lange über die größten Plagen dieser Welt nachgedacht und schließlich sogar eine Liste der ›Sieben Weltübel‹ erstellt habe. Das sind meiner Meinung nach Wohlstand ohne Arbeit, Vergnügen ohne Gewissen, Wissen ohne Charakter, Handel ohne Moral, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Gottesdienst ohne Opfer und Politik ohne Grundsätze. All das, was Sie mir über Ihren so genannten Kreis der Dämmerung und dessen Wirken erzählt haben, spiegelt sich in diesen sieben Übeln wider.«
»Ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen über Religion zu diskutieren, Mr Gandhi. So Leid es mir tut«, antwortete David, langsam ungeduldig werdend. »Aber eines kann ich Ihnen versichern: Seit über dreißig Jahren jage ich nun schon die Mitglieder dieses Zirkels und der Geheimbund jagt mich. Bei all dem geht es nicht um ein universelles Prinzip wie das allgemeine Böse, dem wir alle unterworfen wären. Zugegeben, in den meisten Fällen hört einfach die Lebensuhr auf zu schlagen, manchmal fordern auch Zeit und Umstände ihren Tribut, aber viel zu oft ist es ein konkreter boshafter Geist, der zum buchstäblichen Täter wird. Der vielleicht schlimmste Mörder überhaupt hat mit seinen Schergen meine Eltern, meinen Großonkel, meine besten Freunde und zuletzt auch noch meine geliebte Frau umgebracht ...« David geriet ins Stocken. Bei dem Gedanken an Rebekka musste er schlucken. Schließlich sagte er ruhiger, aber mit aller Eindringlichkeit, die ihm zu Gebote stand: »Es gibt diese Verschwörergruppe, Mr Gandhi, und es gibt den Jahrhundertplan. Viel zu viel von dem, was mein Vater in seinem Vermächtnis niedergeschrieben hat, ist schon Wirklichkeit geworden. Wenn Sie bedenken, mit welcher unsagbaren Grausamkeit allein in Ihrem Land Männer, Frauen, selbst kleine Kinder niedergemetzelt wurden und werden, sogar jetzt noch, nach einem halben Jahr der Unabhängigkeit, dann können Sie Ihre Augen doch vor dieser Wahrheit nicht verschließen.«
Der Mahatma sah David durch seine runde Nickelbrille lange nachdenklich an, bevor er leise sagte: »Ich höre da viel Bitterkeit aus Ihren Worten sprechen, junger Freund.«
David schlug die Augen nieder. »Das will ich nicht abstreiten. Könnten Sie an meiner Seele lecken, Sie würden sich zweifellos vergiften.«
»Bitte, glauben Sie mir, ich fühle mit Ihnen. Auch ich liebe meine Angehörigen. Mit Kasturba wurde ich schon im zarten Alter von dreizehn verheiratet, aber bis sie mir vor vier Jahren vorausging, war unser Verhältnis gewiss inniger als manche der leidenschaftlichen, aber doch so kurzen Beziehungen, die neuerdings in Europa und Amerika in Mode zu kommen scheinen.«
»Ich habe Rebekka leidenschaftlich und innig geliebt. Nein, ich tue es immer noch.«
»Dessen bin ich mir sicher«, erwiderte Gandhi und legte David, der wie der Mahatma auf einer Matte am Boden saß, die Hand auf den Arm. »Woran, glauben Sie denn, könnte man ein Mitglied dieses ominösen Geheimbundes erkennen?«
David versteifte sich. Hatte er sich verhört? Beim Gedanken an Rebekka war sein Blick betrübt zu Boden geglitten, aber jetzt sah er überrascht auf. »Der Mann, den ich suche, spielt höchstwahrscheinlich eine bedeutende Rolle in dem Konflikt, der Ihr Land in den letzten Monaten erschüttert hat. Trotz seiner Schlüsselstellung schaltet und waltet er eher aus dem Hintergrund heraus. Nur in einem Fall hat bisher ein Mitglied des Kreises der Dämmerung eine exponierte Position in der Politik eingenommen. Ein anderer Vertreter der Gruppe war der Kopf einer Geheimgesellschaft, zu deren Spezialitäten Attentate auf bedeutende Persönlichkeiten gehörten. Das entspricht auch mehr der Strategie von Belials Bruderschaft: destabilisieren, Unruhe schaffen ...«
»Die Folgen dieser Taktik sehe ich überall in meinem Land«, murmelte Gandhi vor sich hin, um dann an David gewandt fortzufahren: »Vielleicht kann ich Ihnen doch helfen, mein Sohn. Geben Sie mir nur ein paar Tage Zeit.«
Und die Große Seele hatte wie ein geduldiger Fischer ihr Netz ausgeworfen. Fünf Tage später, am vorhergehenden Abend also, war schließlich ein viel versprechender Fang eingeholt worden. In dem spartanisch eingerichteten Raum im Birla House hatten sich David, Balu sowie zwei weitere Personen um den noch immer sehr schwachen »kleinen Vater« geschart.
Zunächst gab es da Manu, die Nichte des Mahatma. Sie wachte wie eine Glucke über das Wohlbefinden ihres Onkels und achtete streng darauf, dass nichts und niemand ihren Bapuji überanstrengte. Das für David neue Gesicht in der abendlichen Runde war Jawaharlal Nehru, besser bekannt unter dem Namen Pandit. Nicht nur ein enger Freund und langjähriger Weggefährte des Mahatma, sondern auch dessen Nachfolger auf dem Präsidentenstuhl des Indian National Congress. Außerdem bekleidete der Politiker seit knapp sechs Monaten das Amt des indischen Premierministers.
In Gandhis Nähe spielten Förmlichkeiten oder Standesunterschiede jedoch bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Seine Besucher vergaßen – von seltenen Ausnahmen abgesehen – für kurze Zeit ihre gesellschaftliche Stellung und waren nur noch Freund oder Bewunderer dieses bescheidenen Mannes.
»Ich entsinne mich da eines gewissen Raja Mehta«, berichtete der Mahatma vergnügt, und als Balu ihm einen strengen Blick zuwarf, präzisierte er: »Mein Erinnerungsvermögen ist durch einen guten Freund aufgefrischt worden. Raja ist ein verirrter Sohn Mohammeds.«
David runzelte fragend die Stirn.
»Ihr Engländer würdet ihn einen fanatischen Moslem nennen«, setzte Pandit hinzu.
An Nehru und den Mahatma gleichermaßen gewandt, fragte David: »Dann glauben Sie also, dieser Raja Mehta sei kein Einzelgänger, sondern ein Erfüllungsgehilfe einer grauen Eminenz?«
Die Frage wirkte auf die indischen Anwesenden augenscheinlich erheiternd. Gandhi antwortete fröhlich: »Sie befinden sich hier im Land der Gurus, der Sikh-Meister und vieler anderer Heiliger. Mehta ist noch jung und begeisterungsfähig, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. Glauben Sie mir, er ist ein Mitläufer. Und ich bin mir sicher, er dient nicht dem Quaid-I-Azam in Karachi, dem ›großen Führer‹, wie Sie ihn nennen würden. Nein, Mohammed Ali Jinnaah hat die blutigen Unruhen im Fünfstromland immer verurteilt. Mehta gehorcht einem anderen Herrn, jemandem, der ganz eigene Ziele verfolgt, dessen Interessen vielleicht nur zufällig und für eine gewisse Zeit mit denen der Lenker Pakistans übereinstimmen.«
»Gerade solch einen Mann suche ich. Ich würde mich gerne einmal mit Raja Mehta über seinen Guru unterhalten.«
David blickte verdrießlich durch die schmutzige Windschutzscheibe auf die Straße hinaus. Mehr als ein staubiges Straßenkind auf dem Rücksitz schien die Suche bisher nicht eingebracht zu haben. Entweder war Mehta gewarnt worden oder ...
»Ich spreche kein Hindi, Balu. Was bedeutet eigentlich Kushtha?«
Der Inder spielte mit dem Stock zwischen seinen Knien. Er warf einen kurzen, unwirschen Blick über die Schulter, den Abhitha schweigend und durchaus feindselig erwiderte, dann antwortete er: »Das ist der Name für Aussatz in Sanskrit. Wörtlich übersetzt bedeutet es ›zerfressen‹! Ich könnte es dir kaum verzeihen, würden meine Glieder vom Aussatz zerfressen, Sahib.«
»Deine Glieder werden höchstens von Holzwürmern angenagt«, antwortete David knapp. Bei dem Gedanken an die Lepra schauderte ihn. Mit dem Heer Alexanders des Großen war die Krankheit aus Indien nach Europa gekommen und dort als Aussatz bekannt geworden.
Balu schwieg für eine Weile. Bei Meile zwölf murrte er: »Bapu hat wirklich genug Probleme am Hals. Du solltest ihm nicht auch noch die Verantwortung für dieses Straßenkind aufbürden, Sahib.«
»Er muss ja Abhitha nicht gleich adoptieren. Aber ich weiß, wie viel Gutes er schon für die Menschen getan hat. Er braucht nur ein Wort in das richtige Ohr zu sagen und das Mädchen wird wenigstens eine Chance bekommen. Es ist sowieso schon ein Wunder, dass sie auf der Straße so lange überleben konnte.«
Für einige Minuten kehrte wieder Schweigen ein.
Es war kurz nach fünf Uhr nachmittags und Birla House, der derzeitige Wohnsitz Mahatma Gandhis, würde bald in Sicht kommen, als sich Balus mahnende Stimme erneut meldete. »Die Straßen werden immer belebter, Sahib! Warum fährst du wie ein Wahnsinniger?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber dann geh doch vom Gas!«
David schüttelte den Kopf. »Da ist so eine Unruhe in mir. Ich kann es selbst nicht recht beschreiben. Aber das Gefühl ist mir nicht unbekannt.«
»Und was sagt dein Gefühl?«
»Gefahr.« David wich einer Rikscha aus und drehte sich kurz zu Balu. »Lebensgefahr.«
»Doch nicht ...?«
»Wenn ich das wüsste, mein Guter, wäre mir wohler. Bisher habe ich Ähnliches nur empfunden, wenn meine Angehörigen oder gute Freunde betroffen waren. Aber ich bin ja auch selten zuvor einem Menschen wie der Großen Seele begegnet.«
Balu klammerte sich am Haltegriff des Armaturenbretts fest und fragte: »Geht denn das nicht schneller?«
Birla House war im Vergleich zu dem früheren Domizil Gandhis in den Slums von Bombay geradezu idyllisch gelegen. Da gab es Bäume, Rosenbüsche und einen großen grünen Platz, auf dem sich die Menschen jeden Abend zur gleichen Uhrzeit versammelten, um mit dem »kleinen Vater« zu beten. So auch an diesem Tag.
Ungefähr fünfzehn Minuten nach fünf hielt David am Rande des Areals und sprang aus dem Wagen. Auf dem Platz befand sich eine von einem weißen Baldachin beschattete Plattform aus Holz, von der aus der kleine braune Mann gewöhnlich zu seinen Anhängern sprach. Aber David sah keinen Bapu, nur eine wogende Masse. Sein Angstgefühl wurde immer stärker. Er lief zu der Plattform, rascher als Balu auf seinen drei Beinen, schneller auch als Abhitha, die noch zögerte, denselben Rasen zu betreten, über den der »kleine Vater Indiens« zu wandeln pflegte.
Unsanft, wie es sonst gar nicht seine Art war, schob David die Menschen zur Seite. Vor sich glaubte er Abha zu entdecken. Gandhis Nichte bat gerade mit besänftigendem Lächeln aufgeregte Besucher zur Seite. Und da! Aus der Menge erhoben sich zwei dürre Arme. David hatte den Segensgruß der Großen Seele nun schon so oft gesehen. Gerade wollte er aufatmen, als durch seinen Geist plötzlich ein Schuss gellte, gefolgt von einem zweiten und dritten – die Vorahnung des Kommenden.
Verzweiflung wollte Davids Herz zersprengen. Unter Aufbietung all seiner Kraft bahnte er sich den Weg. Die Plattform lag nun ganz dicht vor ihm. Der Schütze stand irgendwo in der Menge, war für ihn immer noch unsichtbar und damit unerreichbar. Da zerrissen drei Schüsse die fröhliche Atmosphäre und David brach zu dem Attentäter und seinem Opfer durch.
»He Ram!«, murmelte Gandhi, »Oh Gott!«, und keine Silbe mehr. David war es, als schwebten die letzten Worte der Großen Seele wie der besänftigende Klang einer Glocke über dem Platz. Entsetzen versiegelte für einen Augenblick die Lippen der Gläubigen und schuf eine fast gespenstische Stille. Dann waren die zwei Worte verklungen wie der Nachhall des Schusses.
Der kleine braune Mann lebte nicht mehr.
Auf dem Platz vor Birla House brach Chaos aus. Als den Anhängern Gandhis klar wurde, was da eben geschehen war, erhoben sich die ersten Rufe nach Vergeltung. Vergessen das Credo der Gewaltlosigkeit, das ihr Führer immer gepredigt hatte. David hatte in den letzten beiden Wochen genug von der explosiven Stimmung in Indien mitbekommen, um sich die blutigen Folgen dieses Attentats ausmalen zu können. Sollte der Mörder ein Moslem sein, würden die Hindus wieder Dörfer überfallen und die Bäuche von Frauen und Kindern aufschlitzen, Totenzüge würden durch den Punjab rollen, voller Passagiere mit durchschnittenen Kehlen oder abgeschlagenen Köpfen. Alles würde sich wiederholen.
»Der Attentäter ist ein Hindu«, raunte David in Manus Ohr, während er den leblosen Körper Gandhis untersuchte. Der Mahatma atmete nicht mehr. Drei Löcher klafften in seiner Brust. Wenigstens hast du nicht leiden müssen, kleiner Vater. Inzwischen war auch Balu Dreibein herangekommen und blickte erschüttert auf den blutverschmierten Schal seines Bapu. »Nun geht schon!«, verlangte David von den beiden. »Sagt den Leuten, der Mörder sei kein Moslem. Und schickt jemanden nach Pandit. Am besten auch gleich nach dem Generalgouverneur. Es wird ein großes Unglück geben, wenn wir nicht schnell handeln und die Lunte vom Pulverfass reißen.«
»Das große Unglück ist bereits geschehen«, antwortete die Nichte des Toten, ging dann aber doch, um Davids Anweisungen nachzukommen. Balu folgte ihr, aber ehe er sich abwandte, glaubte David ihm durch die Augen direkt auf den Grund seiner Seele blicken zu können. Warum bin ich heute nicht hier geblieben?, stand da in dicken Lettern geschrieben.
Kräftige Hände hatten den Attentäter festgehalten, und als David sicher war, dass er für Gandhi nichts mehr tun konnte, überließ er ihn seinen Nichten, Jüngern und Verehrern. Er brauchte einige Sekunden, um sich zu sammeln. Früher wäre er angesichts einer ähnlichen Tragödie vielleicht zusammengebrochen. Früher ...
»Wie heißt du?«, fragte er barsch den schlanken jungen Mann, dessen schwarze Augen ihn gefährlich anfunkelten.
Der Mörder antwortete nicht.
»Hat man dir die Zunge ...?«
»Godse!« Die Antwort kam von unerwarteter Seite, von irgendwoher hinter David. Verwundert drehte er sich um und erblickte das Mädchen aus Faridabad.
»Abhitha?«, fragte David ungläubig. »Kennst du diesen Schurken ...? Ach, du kannst mich ja nicht verstehen.«
Besagter Godse machte Anstalten, sich auf das Mädchen zu stürzen, aber dem Klammergriff seiner Bewacher konnte er sich nicht entwinden. Dafür schleuderte er giftige Blicke in Abhithas Richtung.
Plötzlich sagte das Mädchen mit versteinerter Miene und in durchaus verständlichem Englisch: »Er war in dem Haus, Sahib.«
David riss die Augen auf. »Aber ich dachte, du sprichst nur Hindi.«
»Ich habe zwei Jahre als Stubenmädchen bei einem englischen ...«
»Später, Abhitha«, unterbrach sie David. »Zuerst müssen wir uns um den Revolverschützen hier kümmern. Hast du vielleicht diesen Schurken zusammen mit Raja Mehta in dem Schuppen gesehen, in dem wir dich gefunden haben?«
»In dem Aussätzigenhaus, ja. Nathuram hat sich dort oft mit Raja getroffen.«
»Nathuram Godse – ist das sein vollständiger Name?«
Abhitha nickte. Die feindseligen Blicke des Mörders erwiderte sie mit Blitzen aus ihren feurigen Augen.
»Du hast mich vorhin belogen, nicht wahr? Woher kennst du ihn?«
»Ich hatte Angst, Ihr würdet mich aus dem Haus vertreiben, Sahib. Das Viertel ist schon lange mein Zuhause. Nathuram konnte ich allerdings noch nie leiden. Er hat sich vor mir aufgeplustert wie ein Pfau. Dann hat er mir Geld geboten – er wollte mich in die Geheimnisse des Kamasutra einführen.«
David schluckte. Abhitha war ja noch ein Kind. »Du hast doch nicht ...?«
»Ich habe ihn angespuckt.«
»Braves Mädchen.« David nickte. Irgendwie erleichterte ihn Abhithas Antwort. Daraufhin wandte er sich den Bewachern des liebeshungrigen Todesschützen zu und sagte streng: »Bringt ihn ins Haus.«
Die Worte des großen Engländers, der Gandhi vor der Bombe gerettet und ihm damit zehn weitere Lebenstage geschenkt hatte, stießen auf keine Widerrede: Man führte den Mörder ab.
Zu den Hintergründen der Tat waren aus Nathuram Godse nicht viel mehr als fanatische Parolen herauszubekommen. Gandhi habe die Sache der Hindus verraten, was immer diese Sache auch sein mochte. Seinetwegen sei Indien zerrissen worden – ein Witz, wenn man bedachte, wie sehr der Mahatma versucht hatte die Teilung zu verhindern. Und er sei ein Freund der Moslems – wenigstens das stimmte, war Gandhi doch niemandes Feind gewesen.
Als David – in Gegenwart von zwei stämmigen Polizisten niederen Dienstgrades – auf Raja Mehta zu sprechen kam, wurde Nathuram mit einem Mal sehr schweigsam. An den beiden Beamten konnte es nicht liegen, sie verstanden, wie David schnell festgestellt hatte, kein Wort Englisch. Er versuchte es zunächst mit mahnenden Worten, dann mit Appellen an das Gewissen des Attentäters und schließlich mit Drohungen: alles vergebens. Nathuram gewann seine Sprache nicht zurück.
»Es heißt, der Aussatz soll von Rajas Haus Besitz ergriffen haben«, erklärte David am Ende.
Nathurams Augen verrieten Furcht, aber seine Lippen blieben verschlossen.
»Du weißt doch sicher, dass diese Krankheit ansteckend ist!«
Die dunkel umschatteten Augen wurden größer.
»Bei manchen wird die Haut weiß wie Schnee. In anderen Fällen wird den Infizierten die Nase zerfressen und dann verfaulen ihnen die Glieder am lebendigen Leib. Es wäre doch bedauerlich, wenn gerade dir so etwas zustoßen sollte. Du bist noch so jung. Im Gegensatz zu mir weißhaarigem Zausel hast du noch ein ganzes Leben vor dir.«
Nathuram begann zu zittern.
»Ich bin ...« David zögerte, dachte nach. »Sagen wir, so etwas wie ein Guru. Kein richtiger natürlich, aber ich kann erkennen, was in dir steckt. Möchtest du gerne erfahren, ob deine Haut weiß wie Schnee werden wird?«
Über das Gesicht des Attentäters liefen Schweißtropfen. Seinen Blick interpretierte David als ein entschiedennes Ja.
»Sieh her«, sagte er und legte seine Hände auf diejenigen Nathurams. Dann hob er die Arme und trat rasch zwei Schritte zurück.
Der Mörder konnte sich nur schwer von Davids bohrendem Blick losreißen, aber als er schließlich auf seine gefesselten Handgelenke hinabsah, packte ihn das nackte Grauen. Die Unterarme waren weiß wie das Salz, das sein Opfer einst am Strand von Jalalpur aufgelesen hatte.
»Aussatz!«, hauchte Nathuram entsetzt. »Ich werde sterben.«
Ja, das wirstdu. »Für die heutige Tat musst du auf jeden Fall büßen, aber ich kann vielleicht dafür Sorge tragen, dass dein Körper in einem Stück aus diesem Leben scheiden wird.«
Nathuram blickte David flehend an, brachte aber die erlösenden Worte nicht über die Lippen.
»Ich will dir helfen«, bot David dem Verängstigten freundlich an. Er deutete auf Nathurams weiße Arme und sagte: »Verrate mir, wo ich Raja Mehta finde, und ich werde diesen Aussatz von dir nehmen.«
Nathuram Godse zögerte.
»Ich glaube, er breitet sich aus«, bemerkte David.
Der Mörder stierte auf seine Arme. Jetzt waren sie bereits bis unter die Hemdsärmel weiß geworden. »Er ist in Amritsar«, rief er voller Entsetzen. »Oder in der Nähe. Mehr kann ich dir nicht sagen.«
»Doch, das kannst du. Wer hat dich beauftragt, Bapu zu töten?«
Wieder blieb Nathuram stumm, aber allein das Heben von Davids Händen ließ seinen Widerstand zusammenbrechen. »Halt!«, wimmerte er. »Bitte nicht! Ich möchte nicht zerfressen werden.«
»Dann sprich endlich die Wahrheit.«
»Er ... Er hat mich dazu angestiftet. Ich bin nur die Hand, die den Abzug des Revolvers betätigt hat, aber der Kopf …«
»Ja? Ich höre. Wer ist der eigentliche Befehlsgeber?«
»Ich habe keine Ahnung. Und wenn mein ganzer Körper hier und jetzt verfault, ich kann es Ihnen nicht verraten, weil ich es nicht weiß!«
Der völlig verängstigte Mann sagte die Wahrheit. David nickte knapp, strich mit großer Geste über die zitternden Arme des Todesschützen und murmelte: »Sei rein.« Und nimm die Sühne auf dich für das, was du Bapuji angetan hast.
Dann trat er, ohne Nathuram Godse noch eines einzigen Blickes zu würdigen, ins Freie und überließ den Mörder seiner Erleichterung über die angeblich wiederhergestellte Gesundheit.
David schätzte sie auf eine Million. Er hatte noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen. Der kleine Vater Indiens war gestorben und Indien kam nach Neu-Delhi, um ihn zu betrauern. Wie in Ländern mit heißem Klima üblich, fanden die Bestattungsfeierlichkeiten bereits einen Tag nach dem Dahinscheiden statt.
Der Leichenzug folgte der Yamuna, jenem Fluss, der seiner Vereinigung mit Ganga Ma, der »Mutter Ganges«, entgegenstrebte. Gemessen wälzte sie sich dahin, als trüge auch sie schwer an dem großen Verlust. Ihre Ufer waren grün, jetzt im Winter ein beinahe schon fröhlich wirkender Trauerschmuck.
Bevor Gandhis sterbliche Überreste der Mutter Ganges übergeben werden konnten, mussten sie eingeäschert werden. Dieser Brauch war David nicht ganz unbekannt. Unwillkürlich musste er an seinen Freund Yoshi denken, als er hinter dem knarrenden und knarzenden Wagen herschritt, der den Leichnam des Mahatma nach Raj Ghat trug. Ganz vorn gingen Gandhis engste Angehörige, allen voran sein jüngster Sohn Devadas. Dann folgten Pandit Nehru, Lord Louis und dessen Gemahlin Edwina sowie einige andere hohe Würdenträger. David und Baluswami Bhavabhuti befanden sich im hinteren Drittel, durften aber immerhin die Einfriedung betreten, die den Verbrennungsplatz umgab.
»Wie lange wird die Einäscherung dauern?«, raunte David in Balus Ohr.
Der hob verwundert und ein wenig unwillig den Blick. »Vielleicht zwei Stunden, möglicherweise auch drei. Das hängt von Ram ab.«
»Von Gott? Ich denke, wohl eher vom Wind.«
»Das auch.« Balu blickte wieder nach vorn, nicht gewillt, sich noch einmal in seiner Trauer stören zu lassen.
David konnte ihn gut verstehen. Auch er verlor mit dem kleinen Vater einen geschätzten und geachteten Menschen. In den wenigen gemeinsamen Tagen mit Gandhi war zwischen ihnen eine besondere Art des Vertrauens gewachsen, eine Harmonie entstanden, wie er sie zuletzt während des Zusammenseins mit Lorenzo Di Marco gespürt hatte, seinem römischen »Bruder«, der seit dem Krieg verschollen war.
Einmal mehr drehte sich David um, er wollte alles, was an diesem denkwürdigen Tag geschah, in sich aufnehmen. Henry Luce sollte für das Time-Magazin einen ergreifenden Artikel bekommen, aber nicht nur darum ging es ihm. Er machte sich Sorgen wegen all der Menschen, ein möglicherweise explosives Gemisch aus unterschiedlichen Religionen. Manche Besucher brachten ihre Trauer in den Farben der Gewänder zum Ausdruck, andere durch gellende Schreie. Es könne aber auch der eine oder andere versucht sein sich einer Bombe zu bedienen, hatte Lord Louis besorgt angemerkt und empfohlen, sich im Falle etwaiger Unruhen sofort flach auf den Boden zu werfen und dem Militär die Arbeit zu überlassen. David hoffte, dass es an diesem Feiertag nicht dazu kommen würde.
Der Scheiterhaufen war ein gewaltiger Stapel aus kostbarem Sandelholz. Daneben standen Pujaris, heilige Männer in orangefarbenen Gewändern, und psalmodierten vedische Gebete. Vor ihnen verhielt der Trauerzug. Keine peinlichen Drängler störten die Zeremonie. Einige Gäste standen unentschlossen herum, andere machten es sich bald auf der Erde bequem – Stühle waren in der erforderlichen Menge nicht aufzutreiben gewesen, also hatte man gleich ganz auf sie verzichtet. In der Nähe ragten große Holztürme auf, bevölkert von einer bunten Vogelschar aus Journalisten, die ungeduldig ihre Mikrofone und Kopfhörer zurechtrückten und die Kameras entsicherten. Nichts von dem nun Folgenden durfte verpasst werden. Die Welt wollte den Mahatma brennen sehen.
»Wer wird den Scheiterhaufen entzünden?«, wagte David seinen trauernden Freund erneut zu fragen.
Balu reagierte erst beim zweiten Nachhaken. »Devadas.«
»Ist das nicht eigentlich die Pflicht des Erstgeborenen?«
»Ja, Sahib.«
»Und warum tut er’s nicht?«
»Zu gefährlich, Sahib«, knurrte Balu in verächtlichem Ton.
David runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht.«
»Haribal würde vermutlich explodieren, wenn er das brennende Holzscheit in die Hand nähme.«
»Unsinn.«
»Er ist ein Säufer, er hat Vater und Mutter entehrt. Schon bei Kasturbas Bestattung war er nicht zugegen und heute liegt er wahrscheinlich wieder in einer Ecke und schläft seinen Rausch aus. Devadas ist da ganz anders. Er ...«
Balus Stimme ging in einem ungeheuren Geschrei unter. David wandte den Kopf dem Wagen mit Gandhis Leichnam zu. Gerade konnte er noch Nehrus weiße Kappe sehen, rund um den Premierminister spielten sich tumultartige Szenen ab. Irgendwie gelang es den Weggefährten des Verstorbenen dann aber doch, die Bahre sicher herunterzuheben. Neben Jawaharlal Nehru fassten auch Patel und sogar Ghaffar Khan mit an, der als Führer der moslemischen Pathanen mit seinem beherzten Einsatz nicht nur der eigenen Trauer um den Propheten der Gewaltlosigkeit Ausdruck verlieh, sondern zugleich ein Zeichen der Versöhnung an alle Hindus und Moslems setzte.
Dank seines hohen Wuchses konnte David gut mitverfolgen, wie nun Gandhis steifer Leichnam rasch auf den Scheiterhaufen gebettet und sein von dem weißen Leichentuch befreiter Oberkörper mit Blumen bedeckt wurde. Nur noch sein kahler, in der Sonne glänzender Kopf war jetzt zu sehen, schützend umfangen von Nehrus Händen.
Nachdem der indische Premierminister von seinem engsten Gefährten Abschied genommen und sich zu den anderen hohen Trauergästen begeben hatte, begann die eigentliche Zeremonie. Devadas, Gandhis Jüngster, schritt siebenmal um den Scheiterhaufen und entbot der sterblichen Hülle des Vaters ebenso oft seinen Gruß. Nachdem er heiliges Wasser über den Körper des Mahatma gesprengt hatte, legte er zu dessen Füßen ein Stück Sandelholz ab. Darauf nahm er von einem der Priester eine brennende Fackel entgegen.
»Ram, Ram!«, drang es aus Devadas Kehle. »Ram, Ram ...«
Während Gandhis jüngerer Sohn seinen Gott anrief, wanderten die Gesichter all jener an Davids innerem Auge vorbei, die der Kreis der Dämmerung ihm schon genommen hatte – bis hin zu Rebekka. Und nun hatten sich die Verschwörer also auch jenes Mannes entledigt, dessen Lehren so ganz und gar ihren finsteren Plänen entgegenstanden. Für David gab es keinen Zweifel, wer hinter dem jüngsten Attentat steckte. Aber konnte er Nathuram Godse vertrauen? Gelogen hatte Gandhis Mörder wohl nicht, allerdings – wusste der Schwanz des Drachen immer, wo sich sein Kopf befand?
Amritsar. Die heilige Stadt der Sikhs im Nordwesten Indiens. Was konnte Raja Mehta, einen Sohn Mohammeds, dorthin verschlagen haben? In jüngster Vergangenheit hatten die Moslems unbeschreibliche Gräueltaten an den Sikhs verübt. Letztere waren in der Kunst des Massakrierens allerdings kaum weniger erfahren, wie etliche von Allahs Kindern zu spüren bekommen hatten. Warum sollte sich Mehta ausgerechnet in die Höhle des Löwen begeben? Vielleicht war ja auch der Attentäter getäuscht worden, weil ein gewisser Unbekannter sehr genau wusste, wem sein Henkersknecht in die Hände fallen würde.
»Ram, Ram!« Die letzte Anrufung des Gottes, der über die Zeremonie wachte, verklang. Stille breitete sich aus. Wie konnten Hunderttausende sich nur so ruhig verhalten? Feierlich hielt Devadas die Fackel ans Stroh. Unglaublich schnell zog sich ein Flammengürtel rund um den Scheiterhaufen und umhüllte Gandhis sterbliche Überreste. Sengende Hitze traf die nahe stehenden Trauergäste.
Auch aus der Ferne war die Lohe gut zu sehen und mit einem Mal drängte die Menge in das umzäunte Areal. Die Einfriedung fiel schon unter dem Ansturm der ersten schreienden und jammernden Menschen. Ein mulmiges Gefühl machte sich in Davids Magengrube breit. Noch hatte sich seine Sekundenprophetie nicht alarmierend gemeldet, aber dieser Ansturm der Trauernden konnte schnell zu einer tödlichen Gefahr werden.
»Alle hinsetzen! Schnell!«, brüllte Lord Mountbatten und zeigte, wie es gemacht wird. Er nahm im Schneidersitz auf dem Boden Platz und zog den Kopf ein. Viele taten es ihm nach.
David blieb stehen und sah – halb beruhigt, halb angewidert –, wie berittene Polizisten mit ihren Lathis gegen die verkörperte Trauer Indiens vorgingen. Hagelschauern gleich prasselten ihre langen Stöcke auf die schreienden und stöhnenden Menschen nieder.
Allmählich kam die Masse zum Stillstand. Einmal mehr hatte britischer Drill für Ruhe gesorgt.
Lord Louis gab Entwarnung. »Fast wären wir geröstet worden«, sagte jemand in Davids Nähe. Die Feierlichkeiten konnten weitergehen.
Amritsar oder nicht Amritsar? Sobald die unmittelbare Gefahr gebannt schien, versank David wieder in Gedanken. Wenn er Belials Logenbruder auf dem Subkontinent fände, ließ sich vielleicht noch der Bürgerkrieg verhindern, von dem seit Gandhis Ermordung wieder vermehrt die Rede war. David verzweifelte fast an seiner Trauer um diesen wertvollen Menschen und der Wut auf die Urheber der Leiden seines Volkes. Ich wünschte, Rebekka wäre hier. Sie war mir so oft der Wegweiser ...
Plötzlich erhob sich das feine weiße Leichentuch aus dem fauchenden Flammenofen in die Luft. David beschirmte mit der Hand die Augen, um seinen Flug zu verfolgen. Ein Zeichen? Das Tuch verschwand in der Sonne. Du fängst an durchzudrehen, mein Bester.
Devadas schien mit der beißenden Glut noch nicht zufrieden zu sein. Oder gehörte das zur Zeremonie? Jedenfalls schüttete er flüssige Butter auf den brennenden Leichnam. Um die wild fauchende Feuerbestie zu übertönen, ließen die Punjaris ihren Singsang noch lauter erschallen. Die orangefarbenen Gewänder flimmerten in der aufsteigenden Hitze.
Dann blickte David gebannt auf den großen Hammer, der plötzlich in Devadas Händen erschienen war. Er schwang ihn über dem Kopf seines Vaters, ließ ihn niederfahren. Als der Schädel des Toten mit lautem Knacken zerbarst, zuckte David unwillkürlich zusammen.
»Jetzt kann seine Seele endlich aufsteigen«, raunte Balu in Davids Ohr. »Bapu hat uns immer gesagt, er werde des Namens Mahatma erst dann würdig sein, wenn sein letzter Gedanke der Gegenwart Gottes gehöre und nicht dem Tod an sich. Nachdem er nun mit Rams Namen auf den Lippen von uns gegangen ist, wird er unter seinem Ehrentitel unsterblich sein.«
David schaute Balu ernst an, bevor er sich wieder dem Geschehen um den Scheiterhaufen zuwandte. Er teilte zwar nicht Balus Ansichten, was das Leben nach dem Tod betraf, glaubte aber auf die ihm eigene Weise ebenso an Gandhis Unsterblichkeit.
Noch ganz in diesen Gedanken versunken, geschah erneut etwas Ungewöhnliches, das nicht nur ihn erschauern ließ: Gandhis Arm hob sich.
Ein Stöhnen und Raunen ging durch die Menge. Die Umstehenden blickten gebannt auf die verkohlten Finger, die für einem Moment über den Flammen zu schweben schienen.
Davids Nackenhaare stellten sich auf. Es war nicht die erste schwarze Hand, die ihm während einer Trauerfeier erschien. Wohin? Die Frage bahnte sich ungestüm ihren Weg in sein Bewusstsein. Dann sank die schwarze Hand nach Nordwesten zeigend herab.
»Hast du so etwas schon einmal gesehen?«, hauchte er.
»Du meinst genau so etwas, Sahib?«
David riss sich von dem Flammenmeer los und blickte in Balus braune Augen. »Amritsar liegt doch nordwestlich von Delhi, nicht wahr?«
»Ja, Sahib.«
»Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich als Nächstes tun werde.«
»Oh nein, Sahib.«
»Doch, Balu.«
»Zu gefährlich, Sahib!«
David blickte wieder zu dem in sich zusammenfallenden Scheiterhaufen hin. »Du hast Recht, es ist zu gefährlich.« Balu wollte schon aufatmen, aber da fügte sein Sahib hinzu: »Für einen alten Hindu wie dich. Aber ich werde morgen in die Stadt des Goldenen Tempels aufbrechen.«
Manu hatte eine Bürste genommen und den ganzen Körper von Abhitha geschrubbt. Erstere war nun zufrieden und Letztere nicht mehr wieder zu erkennen. Gerührt hatte David beobachtet, wie Gandhis Nichte ihr kummervolles. Herz dem bisher immer nur herumgestoßenen »Findelkind« aus Faridabad öffnete und sich seiner herzlich, wenn auch mit spitzen Fingern annahm. Weniger das Wissen um eine wertvolle Zeugin, die den Mörder ihres Onkels identifiziert hatte, war der Auslöser dafür gewesen, sondern jene Art von Nächstenliebe, die sie von dem Mahatma gelernt hatte und die selbst die Parias, die Unberührbaren, einschloss.
Im Nu war ein – in jeder Hinsicht brüderlicher – Streit entbrannt, wer das Straßenkind letztlich aufnehmen dürfe. Auf der Ziellinie lieferten sich Devadas und Pandit ein Kopf-an-Kopf-Rennen, aus dem schließlich Gandhis Sohn als Sieger hervorging. Allerdings konnte sich der Premierminister den Rang eines Patenonkels erobern und durfte sich damit wenigstens an den Ausbildungskosten für das Mädchen beteiligen.
»Du musst ein verzauberter Schmetterling sein«, sagte David, als ihm die verwandelte Abhitha vorgeführt wurde.
Die Kleine lächelte verschmitzt. »Ihr seid zu gütig, Sahib.«
»Oh bitte! Es genügt schon, wenn Balu darauf besteht, mich so zu nennen. Ich weiß, du hast gerade eine Menge neuer Schwestern, Brüder und Onkel hinzugewonnen, aber lass mich bitte auch zu diesem Kreis gehören. Ich heiße übrigens David.«
Abhitha senkte verschämt ihre Augen. »Vielen Dank, Davidji. Bist du mir denn nicht mehr böse?«
»Warum sollte ich das?«
»Weil ich dich angespuckt habe.«
David schmunzelte. »Nein, ich bin dir nicht böse. Du warst misstrauisch. Wenn man bedenkt, wie wir uns kennen gelernt haben, wohl nicht einmal zu Unrecht.«
Auch Abhitha lächelte nun. »Du bist sehr gütig, Davidji.«
»Leider muss ich dir heute Lebewohl sagen, Abhitha.«
Das Mädchen sah ihn erschrocken an. »Warum?«
»Ich habe noch einen langen Weg vor mir.« David seufzte. »Und ich kann dir nicht einmal versprechen, ob er sich jemals wieder mit dem deinen kreuzen wird.«
Erneut senkte Abhitha den Blick, die Augen nun voller Tränen. »Dann habe ich in zwei Tagen zwei Väter verloren.«
David spürte einen dicken Kloß im Hals. Nicht einmal achtundvierzig Stunden kannte er dieses Mädchen. Wie schaffte sie es, derart sein Herz anzurühren? Mit einem Mal hielt er sie in den Armen und seine Augen wurden ebenfalls feucht. Sie ist so dünn! »Weine nicht, kleine Abhitha. Zum ersten Mal in deinem Leben sind da jetzt Menschen, denen du etwas bedeutest. Du wirst nicht mehr hungern. Du wirst zur Schule gehen. Und – was am allerwichtigsten ist – du wirst geliebt werden. Ich verspreche hoch und heilig, dir zu schreiben. Selbst wenn wir uns nicht mehr wieder sehen, werde ich dich nie vergessen.«
»Als du mich in den Armen gehalten und mir die Strähne aus dem Gesicht gestrichen hast, da ...« Abhitha schniefte. »Noch nie hat mich jemand so gut behandelt. Ich werde immer an dich denken, Davidji.«
David schob sie auf Armeslänge von sich und betrachtete noch einmal wie ein stolzer Vater ihr ebenmäßiges Gesicht. »Das ist gut so, meine Kleine. Menschen, die man im Herzen trägt, kann einem niemand nehmen. Und nun wünsche mir Glück. Ich werde es gebrauchen können.«
Die Landschaft des Punjab zog wie ein Film an ihm vorbei. David achtete kaum auf die Dörfer, die Frauen in ihren bunten Saris, die Männer mit ihren Turbanen, die Wasserbüffel ... Seine Gedanken wanderten hin und her zwischen dem Unfassbaren, das hinter ihm lag, und dem Unwägbaren, das ihn noch erwartete.
Seine Lebensmeile hatte er fast bis zur Hälfte abgeschritten. Seit der Nachricht von Rebekkas Tod war nichts mehr wie zuvor. In mancher Hinsicht glich er nur noch dem Schatten eines Menschen. Es fiel ihm schwer, zu lachen oder auch nur zu lächeln. Aus ihm war, wie es Balu auszudrücken pflegte, ein »weißer Wolf« geworden, der auf seiner unerbittlichen Jagd die Einsamkeit suchte und neue Bekanntschaften scheute, weil er sich nicht mehr für fähig hielt zu lieben. Unerträglich war ihm der Gedanke, ein neuer Freund könnte bald ein Toter mehr sein in der langen Liste jener, die der Kreis der Dämmerung ihm schon geraubt hatte. In Anbetracht dessen hatte Abhitha ein kleines Wunder vollbracht. David fühlte sich für sie verantwortlich.
Als Henry Luce ihn vor vielen Monaten nach Nürnberg geschickt hatte, war das alles noch anders gewesen. Nicht die Verpflichtung gegenüber einem alten Freund hatte den Ausschlag für Davids Zusage gegeben, sondern eine offene Rechnung, die es noch zu begleichen galt. In New York hatte David dem Time-Herausgeber erklärt, er werde zukünftig nur noch als freier Mitarbeiter für das Magazin tätig sein. Unter wechselnden Pseudonymen. Den Ruhm für seine Reportagen könnten getrost andere einstreichen.
Die Rückkehr nach Deutschland war dann für David eine beklemmende Erfahrung geworden. Hier hatte man ihm Rebekka entrissen, sie verschleppt, womöglich gefoltert ... Jetzt wirkte das Land auf ihn sonderbar fremd, wie eine in falschen Farben gehaltene Fotografie. Er wusste noch genau von der glühenden Verehrung für Adolf Hitler, damals klar an den leuchtenden Augen nur allzu vieler Deutscher abzulesen, erinnerte sich der Hingabe, mit der sie die Wünsche ihres »Führers« erfüllt hatten, wenn sie auch noch so unmenschlich waren. Und schlagartig sollte es nun keine Nazis mehr geben ...?
Den Anklägern in den Nürnberger Prozessen war dieser Widerspruch nicht entgangen und sie mühten sich redlich, wenigstens jene Hauptkriegsverbrecher zu verurteilen, die für die nationalsozialistischen Verbrechen federführend zeichneten. Während der Verhandlungen wurde auffällig oft der Name eines Mannes genannt, der nicht auf der Anklagebank saß, weil man seiner bisher nicht hatte habhaft werden können: Adolf Eichmann. David er innerte sich sofort. In seinem wiederhergestellten Schattenarchiv gab es ein Dossier über diesen Mann. Obersturmbannführer Eichmann hatte das Protokoll geführt, als auf einer Konferenz in der Dienststelle der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission in Berlin-Wannsee unter Leitung von Reinhard Heydrich am 20. Januar 1942 die Tötung von elf Millionen Juden geplant worden war. Mit deutscher Gründlichkeit. Als Leiter des Referats »Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten« war Eichmann für die Organisation des Abtransports der europäischen Juden in die Vernichtungslager verantwortlich. Der Technokrat des Bösen hatte seine Arbeit sehr gewissenhaft verrichtet und damit immerhin sechs Millionen Menschen in den Tod geschickt.
Als David Mitte März 1946 in Nürnberg eintraf, wurde gerade Hermann Göring verhört. In einem großen holzgetäfelten Gerichtssaal saßen die internationale Schar der Ankläger, Richter, Verteidiger sowie die deutschen Angeklagten und zeigten ernste Mienen. Alle trugen schwarze Kopfhörer zum Mitverfolgen der Simultanübersetzung. Überall standen kaum weniger ernste Militärpolizisten mit weißen Helmen herum. Göring trat für sich selbst in den Zeugenstand und rechtfertigte in beschämender Weise Hitlers Taktik der »verbrannten Erde«: Durch die moderne Kriegsführung sei die Genfer Konvention überholt. Irgendwie wollten aber die vier Richter und deren Stellvertreter den Darlegungen von Hitlers Reichsmarschall nicht recht folgen, weshalb sie ihn dennoch dem Strick anbefahlen. Der empörte Göring verlangte aber nach der Kugel. Als man ihm auch die verweigerte, nahm der Eigensinnige Gift.
Die übrigen elf Todesurteile wurden schließlich am 16. Oktober vollstreckt. David war aber nicht bereitwillig nach Deutschland zurückgekehrt, nur weil er die Verantwortlichen für Rebekkas Tod der gerechten Strafe überantwortet sehen wollte. Ein Name auf der Liste der als Hauptkriegsverbrecher Angeklagten hatte den Ausschlag gegeben: Franz von Papen.
Während der Verhandlungen, denen David als Prozessbeobachter für Time beiwohnte, hing sein Blick ständig an diesem einen Mann. Und dabei machte er eine verwirrende Entdeckung. Hitlers ehemaliger Vizekanzler trug den Siegelring nicht mehr. Das widersprach allen bisherigen Erfahrungen Davids mit den Logenbrüdern Belials. Er wusste nicht viel über das unheimliche Band, das den Schattenlord und seine elf Getreuen zusammenhielt, aber – nicht zuletzt Jasons Geschichte hatte dies eindeutig belegt – die goldenen Ringe spielten in der Verbindung eine zentrale Rolle.
Papen kam David auch irgendwie verändert vor. Sie hatten sich zwar nur ein einziges Mal Auge in Auge gegenübergestanden, eigentlich kannte er seinen Gegenspieler nur aus Reden, Wochenschauen und Zeitungsberichten, aber das vor Jahren sorgfältig aufgebaute Bild dieses Mannes stimmte nicht mehr. Papen wusste sich durchaus zu verteidigen. Er schien im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zu sein, litt aber unter merkwürdigen Gedächtnislücken. Im Verlauf des Prozesses musste sich David mehr und mehr mit der für ihn kaum erträglichen Möglichkeit anfreunden, dass der Steigbügelhalter Hitlers sogar freigesprochen werden könnte. Eigentlich hätte ihn dies bei einem Logenbruder Belials nicht verwundern dürfen – der Kreis hatte so seine Mittel –, aber David wollte sich dennoch nicht damit abfinden.
Voller Elan machte er sich wieder an die Arbeit. Mit seiner Aura der Wahrhaftigkeit wirkte er unermüdlich auf die Chefankläger der vier Siegermächte ein, die ganz und gar auf seiner Seite standen. Er sprach mit Anton Pfeiffer, dem bayerischen Minister für Entnazifizierung, der ihm Unterstützung zusicherte. Verschiedene Zeugen der Anklage und andere Prozessbeobachter ließen sich von seinen Wahrheitstropfen stärken. Als besonders empfänglich erwies sich ein begeisterungsfähiger junger Jude namens Zvi Aharoni, der dem britischen Field Security Service angehörte und in Nürnberg als Dolmetscher arbeitete. Auch die Richter »interviewte« David, mit aller gebotenen Vorsicht natürlich. Sie verwiesen auf die Anklagepunkte. Hatte Papen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder die Menschlichkeit begangen?
Einmal mehr musste David zähneknirschend die Raffinesse Papens konstatieren. Er hatte Hitler auf den Thron gehoben, ihm die Anerkennung der katholischen Kirche und damit den Respekt der Welt verschafft, ihm Österreich in die Arme getrieben und zuletzt als Botschafter in Ankara immer wieder die alte deutsch-türkische Waffenbrüderschaft des Ersten Weltkrieges beschworen, damit sich das neutrale Land am Bosporus nur nicht auf die Seite der Alliierten schlug.
In Nürnberg hatte David Sir Lloyd Ayckbourn, seinen alten Agentenführer aus Berliner Tagen, wieder getroffen. Dem Wahrheitsfinder war es nicht schwer gefallen, dem schon etwas zerstreuten »Väterchen« einige aufschlussreiche Details über Papens Aktivitäten in Ankara zu entlocken. Unter dem Mantel der Verschwiegenheit erzählte der inzwischen pensionierte Geheimdienstler von Papens Machenschaften in der Türkei. Es hieß sogar, der deutsche Botschafter habe die Spionageergebnisse eines berüchtigten deutschen Topagenten nach Berlin weitergeleitet.
Wie auch immer, David war dennoch erschüttert, als der grauhaarige Mann in der Mitte der zweiten Reihe der Anklagebank am 1. Oktober freigesprochen wurde. Franz von Papen zeigte kaum eine Regung. Hatte ihm jemand zugesichert, dass er nicht am Galgen enden würde?
Erneut fühlte sich David kaltgestellt. Während des Prozesses hatten ihm die Militärbehörden ein persönliches Gespräch mit dem schwer bewachten Angeklagten verweigert und nach dessen Freispruch wich Papen dem Time