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Aus dem lichtlosen Herzen der »Scherbenwelt« Berith steigt eine dunkle Wolke empor, die Saat der Finsternis. Jede Insel, die von ihr eingehüllt wird, ist zum Untergang verdammt. Menschen und Tiere verfallen scheinbar dem Wahnsinn, dann kehrt wieder Stille ein. Die Ruhe vor einem verheerenden Sturm. Gleichzeitig kommt es auf den verstreuten Inseln Beriths immer häufiger zu rätselhaften Todesfällen. Jemand greift die Lebensbäume im »Garten der Seelen« an. Taramis erfährt von den mysteriösen Vorfällen und seine schlimmsten Ahnungen bestätigen sich: Gaal, der König von Dagonis, lebt noch und ist fest entschlossen jedes Tabu zu brechen, um die Herrschaft über die Welt zu erlangen. Mit dem Reif der Erkenntnis, den er Taramis abgejagt hatte, kann er den Seelenbaum jedes Menschen finden und vernichten. Um seine Familie und Berith vor der dagonisischen Plage zu retten, zieht Taramis ein letztes Mal mit dem Kirrie Jagur und anderen treuen Gefährten in den Kampf. Er ahnt noch nicht, dass Gaal einen übermächtigen Verbündeten hat: einen leibhaftigen Gott. Die Weltendämmerung ist angebrochen. Ralf Isau hat in seiner meisterhaft erzählten Fantasy-Trilogie ein faszinierendes neues Weltenkonzept erschaffen: Berith war der Legende nach ursprünglich ein gewöhnlicher, kugelförmiger Planet. Durch den »Großen Weltenbruch« wurde daraus die »Scherbenwelt«: Tausende von Inseln, umschlossen von einer gigantischen Sphäre, der »Aura«. Die Inseln bewegen sich auf festen Bahnen durch das »Ätherische Meer«, einen luftarmen Bereich. Voller Überraschungen ist auch die Flora und Fauna von Berith: eine Vielfalt von vernunftbegabten Bewohnern, die sich von den fischköpfigen Antischen über die zwergenhaften Kirries bis zu den amphibischen Zeridianern erstreckt. Die stärkste Kraft der Berither ist ihr Geist, ihre Willenskraft. Sie ist meistens auf bestimmte Gaben beschränkt, wie etwa das Erschaffen von Trugbildern, die Veränderung des eigenen Äußeren, das Umwandeln negativer Gefühle in Blindheit oder die Verwandlung von Angst in Energie. Auch intelligente Pflanzen sind in der »Scherbenwelt« zu finden. Für jedes vernunftbegabte Lebewesen gibt es auf der Heiligen Insel Jâr’en einen Seelenbaum. Stirbt der Mensch, geht auch sein Baum ein und umgekehrt. Da niemand den eigenen Seelenbaum kennt, wagte bisher auch keiner eine Axt an die heiligen Bäume zu legen – er könnte ja sich selbst oder seine Gefährten töten. Die Zerbrochene-Welt-Trilogie berichtet von einer Zeit, als dieses uralte Tabu ins Wanken geriet. Die Roman-Trilogie Die Annalen von Berith besteht aus 3 Bänden: Die zerbrochene Welt Die zerbrochene Welt – Feueropfer Die zerbrochene Welt – Weltendämmerung
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Seitenzahl: 583
Ralf Isau
Die Annalen von Berith Band 3
Roman
Die Annalen von Berith, 7. Buch
Seit Menschengedenken war der Mittelpunkt von Berith dunkel und geheimnisvoll. Irgendetwas verschlang dort alles Licht. Dieses Etwas, so glaubten einige Gelehrte, sei ein Überbleibsel jener Kugel, die vor dem Großen Weltenbruch Barah hieß. Bis zu Taramis war aber nie jemand dazu bereit gewesen, solch kühnen Gedankenpalästen mit eigenen Erkundungen Stütze und Halt zu geben. Selbst die Schollen, die auf ihren Bahnen durch das Ätherische Meer zogen, schienen geflissentlich einen weiten Bogen um das finstere Herz der Scherbenwelt zu machen.
Daher gab es jahrhundertelang kaum verlässliche Erkenntnisse über das dunkle Zentrum der Welt. Man wusste, dass es bewohnt war. Gefräßige Seeungetüme wie Ätherschlangen lebten dort. Und ein Volk, das diese Bestien zu bändigen verstand: die Feuermenschen.
Obwohl die Antische, wie sie sich selbst nannten, zur bunten Völkerfamilie von Berith gehörten, hatte man sie lange nicht für menschlich gehalten. Ein folgenschwerer Irrtum, wie noch zu erzählen sein wird. Sie atmeten durch Kiemen, ihre Haut war gestreift wie bei einem Tiger und ihre Gesichter glichen denen von Feuerfischen. Nach ihrer Heimatinsel Dagonis bezeichnete man sie auch als Dagonisier.
Bis zu dem Tag, als die Scherbenwelt am Abgrund stand, gab es über all diese Dinge kaum verlässliche Berichte. Lediglich die Annalen, einige alte Lieder und das heilige Buch Jaschar erwähnten die Schlafende Insel, die unbeweglich im Zentrum von allem ruhte. So verwundert es nicht, dass nur wenige von den unheilvollen Plänen ahnten, die das Volk der Antische im undurchdringlichen Dunkel von Dagonis schmiedete.
Bereits in seinen Anfangsworten warnte das Buch Jaschar vor einer Plage, die Berith in ein dunkles Zeitalter zu reißen drohe. Ob es dazu komme, ließ der Schreiber uns wissen, werde davon abhängen, ob die Kinder des Lichts – die Anbeter Gaos – mutig und entschlossen gegen die Gefahr ankämpften. Diese Prophezeiung führte zur Gründung der Nebelwächter, einem lange im Verborgenen wirkenden Orden, der sich seit Äonen auf den Tag des Scheidewegs vorbereitete. Beim ersten dagonisischen Überfall auf Jâr’en waren aber selbst diese Wachsamen überrascht.
Die Feuermenschen eroberten die Heilige Insel im Handstreich. Ihre Verbündeten, die zwergenwüchsigen Kirries, entführten den Hohepriester Eli und seine Tochter Shúria. Die düstere Prophezeiung schien sich über Nacht erfüllt zu haben.
Wie wir bereits an früherer Stelle berichtet haben, erweckte Gao den Kindern des Lichts in jener prüfungsreichen Stunde einen Hoffnungsträger mit Namen Taramis. Nur zögernd hatte dieser sich in seine Rolle gefügt. Anfangs suchte er nur Vergeltung für den Mord an seiner Braut und der eigenen Mutter. Im Laufe seines Kampfes gegen die dagonisische Plage wandelte er sich dann vom Rächer zum Befreier. Er besiegte den Kirriekönig Dov im Zweikampf, wodurch der Hohepriester und seine Tochter die Freiheit zurückerlangten. Schließlich eroberte er mithilfe treuer Gefährten und des uralten Geschöpfes Har-Abbirím – dem »Berg der Engel« – die Insel Jâr’en zurück und tötete Gaal, den Herrscher von Dagonis.
Taramis ahnte nicht, dass der König zuvor schon den Weg der Unsterblichkeit beschritten hatte: Um wiedergeboren zu werden, pflanzen Antische bisweilen eine ihrer Larven in einen anderen Menschen. Wer immer diese Brut in sich trägt, ist dem Tode geweiht. Mit seiner Lebenskraft gehen auch alle Erinnerungen und Fähigkeiten an den heranwachsenden Feuermenschen über. So war es mit Eglon geschehen, dem Oberpriester von Komana. Er hauchte unbemerkt seinen Geist aus, während der Herr von Dagonis seinen Platz einnahm.
Nachdem Gaal sich so erneuert hatte, führte er im Reich des fetten Königs Og den Feuerkult ein. Zu Ehren seines Gottes Dagon trieb er in Peor den Bau des Bluttempels voran und ließ davor monströse Opferöfen errichten. Tausende Unschuldige starben in den Flammen einen grausamen Tod.
Furcht lähmte die Menschen, ein Gefühl, das in Gaal ungeheure Kräfte weckte, die er in den Dienst eines teuflischen Plans stellte. Er wollte Taramis dazu bewegen, ihm den Reif der Erkenntnis zu beschaffen. Der hölzerne Kopfreif konnte seinen Träger auf der Heiligen Insel zum Seelenbaum jeder Person führen, ganz gleich, wo sie sich in der Welt gerade befand. So gewönne Gaal Macht über das Leben aller Berither, denn der Tod eines Seelenbaumes bedeutete auch das Ende seines menschlichen Gegenstücks.
Um seinen gefährlichsten Gegner in Zugzwang zu setzen, entführte der König zunächst Shúria, die Gemahlin von Taramis, sowie dessen mittlerweile zehnjährigen Sohn Ari. Unter Anwendung dunkler Kräfte brach der Antisch ihre heimatliche Scholle von der Insel Barnea ab und schleppte sie nach Peor.
Um Frau und Kind zu retten, stellte sich Taramis schweren Prüfungen. So bezwang er den doppelköpfigen Drachen Lurkon, wodurch dessen Feuer in ihn überging – eine für ihn kaum zu bändigende Quelle der Macht. Er reiste über die Grenzen der Welt hinaus und fand seinen Vater Olam, den Äonenschläfer. Aus dessen Haus der Sterne stahl er den Reif der Erkenntnis, welcher daraufhin seinem Erzfeind in die Hände fiel. In Peor tötete Taramis zunächst Asor, den Mörder seiner einstigen Braut Xydia und seiner Mutter Lasia, der sich selbst Bochim nannte. Schließlich forderte er auf dem Dach des Bluttempels Gaal zum Kampf heraus. Der König von Dagonis unterlag dem jungen Krieger, als dieser Lurkons Drachenfeuer entfesselte. Unerkannt floh der Besiegte aus Komana – viele glaubten, er sei tot. Der Erkenntnisreif blieb verschollen.
Die Berither sehnten sich nach Frieden und Sicherheit. In der Vertreibung der Dagonisier und dem Ende der Feueropfer sahen sie die Erfüllung der Prophezeiung. Taramis indes hielt es für verfrüht, die Wachsamkeit aufzugeben. Die Gefahr sei erst gebannt, wenn der Reif der Erkenntnis zurückerobert und Gaal getötet wäre, warnte er wiederholt. Seine düsteren Ahnungen waren keine Hirngespinste. Als er auf der Insel Barnea der Geburt seines zweiten Kindes entgegenfieberte, braute sich im dunklen Zentrum der Scherbenwelt bereits neues Unheil zusammen.
Gedankenversunken setzte König Gaal einen Fuß vor den anderen, er achtete kaum auf das Keuchen seines Sohnes hinter ihm. Malakh war völlig ahnungslos. Gehorsam schleppte er die gläserne Amphore mit der leuchtenden Flüssigkeit den steilen Hang des Gedogh hinauf. Der heilige Berg der Dagonisier glich einem Vulkan, wenngleich er niemals Lava spuckte. Das Loch auf dem abgeflachten Gipfel war im Gegenteil ein gefräßiger Schlund, der nicht mehr hergab, was er einmal verschlungen hatte. Das würde sich bald ändern, hoffte Gaal.
Je näher sie dem Kraterrand kamen, desto stärker roch es nach Rost. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, wandte der König den Blick zum schmutzig roten Himmel empor. Bleigraue Wolken, die an den Rändern wie Kohlen glühten, türmten sich bis weit ins Ätherische Meer hinein. Sie gehörten zu den vielen Rätseln dieser Insel, die keine Lufthülle besaß, ganz aus Eisen bestand und mit ihrer Kugelform noch an die ursprüngliche Gestalt der zerbrochenen Welt erinnerte. Sie war gar nicht so düster, wie man allgemein meinte. Das gedämpfte Sonnenlicht erreichte sie zwar, entkam ihr aber nicht mehr, weil Dagon es verbrauchte. Der schlafende Gott atmete es wie Luft. Es sicherte sein Überleben.
»Dagon!«, rief Gaal voller Inbrunst. An diesem Tag war er nicht nur König, sondern auch oberster Priester seines Reiches. Wegmarkierungen gemahnten ihn, den Gottesnamen in der vorgeschriebenen Häufigkeit zu wiederholen. Die Entfernung zum Gipfel betrug genau sechsundsechzig »Dagon«. Gaal fieberte dem neuen Zeitalter entgegen, das man nach dem wiedererwachten Fischgott benennen würde. Die Völker von Berith ahnten nicht, wie nahe die Große Erweckung war. Bald schon sollte der alte Bann gebrochen werden und Gao würde sein Tun bereuen.
Gaal glaubte an die Legende vom Herrn der Himmlischen Lichter, wie man ihn außerhalb von Dagonis nannte, und von seinem widerspenstigen Sohn Dagon. Ihr zufolge hatte der Vater den Rebellen vor undenklichen Zeiten in einen tiefen Schlund geworfen. Den Tartaros. Ob es stimmte, dass dieser Abgrund in allen Welten existierte und überall denselben Namen hatte? Jedenfalls, so hieß es, schlafe dort in finsterster Abgeschiedenheit der fischhäuptige Gott, bis ein König käme, der ihn mit drei besonderen Opfern wiedererweckte.
Jahrtausendelang hatten die Weisen von Dagonis darüber gestritten, wie diese außergewöhnlichen Gaben beschaffen sein müssten. Nur Leben konnte neues Leben hervorbringen, darin waren sich die meisten einig. Doch was oder vielmehr wer war kostbar genug, um einen so machtvollen Geist zu beseelen? Gaal lächelte. Er meinte, die Antwort zu kennen.
Bald würde er Gewissheit haben.
»Sagtet Ihr etwas, Vater?«, keuchte es hinter ihm.
Er wandte sich zu dem Jungen um. Malakhs kindlich weiche Kinnbarteln zitterten in der Ätherströmung – die einzige Art von Wind, die es auf Dagonis gab. »Halt durch, Sohn. Es ist nicht mehr weit bis zum Gipfel.«
»Könntet Ihr mir die Amphore nicht eine Weile abnehmen?«
»Nein. Du musst sie selbst tragen. Sonst wäre alles umsonst.«
Das Henkelgefäß bestand aus zu Glas geschmolzenem Sternenstaub. Der Knabe hatte sichtlich Mühe, es die Bergflanke hinaufzuschleppen. Sein vor Anstrengung verzerrtes Gesicht schimmerte im rötlichen Licht des Trankopfers. Das Leuchten rührte von einer der beiden Hauptzutaten her: geläuterter Angst.
Genau genommen handelte es sich um die konzentrierte Energie der Furcht. Tausende Menschen waren in den Feueröfen zu Peor gestorben, um das Elixier zu gewinnen. Und viele Hundert Frauen hatten um ihre neugeborenen Kinder gebangt, damit es zu einem besonderen Lebenssaft für Dagon würde. Gaal hatte nämlich in den Göttertrank eine zweite, kaum weniger machtvolle Ingredienz gemischt. Es war wohl angemessen, sie als den eigentlichen Rohstoff des Lebens zu bezeichnen.
Malakh ächzte. Für einen sechsjährigen Antisch besaß er zwar eine erstaunliche Kraft, aber die bis zum Rand gefüllte Amphore war schwer wie ein Schmelztiegel voll flüssigen Eisens. Die kurze, ärmellose, aus schneeweißer Wolle gewebte Tunika des Prinzen leuchtete blutrot im Widerschein des Trankopfers. Wie sehr der Junge mit seiner blass getigerten Haut doch Reghosch glich!
Beim Gedanken an den Sohn, den ihm die komanaische Regentin Lebesi geboren hatte, ging Gaal ein Stich durchs Herz. Er schnaubte unwillig. Solche Empfindungen machten ihn reizbar. Sie waren wie ein verrostetes Schwert, auf das man sich nicht verlassen konnte. Der König von Dagonis musste stark sein und durfte sich nicht von väterlichen Gefühlen schwächen lassen. Reghosch hätte der Stammvater eines neuen Antischgeschlechts werden sollen. Aber Taramis hatte ihn getötet. Bald würde der elende Mörder dafür bezahlen.
Vor dem inneren Auge des Königs erschien ein lichtes Band, das ihm die Richtung zu diesem verfluchten Lurch wies. Unwirsch riss er sich den hölzernen Ring vom Kopf, dem er die Sinnestäuschung verdankte. Manchmal war der Reif der Erkenntnis weniger Segen als Fluch. Er las die Gedanken seines Trägers und zeigte ihm den Weg zu demjenigen, den er am sehnlichsten zu finden begehrte. Auch wenn es der meist gehasste Feind war. »Eins nach dem anderen«, murmelte Gaal und setzte sich die Krone des Wissens erneut aufs Haupt.
Endlich erreichten sie den Kraterrand.
»Du darfst das Gefäß abstellen. Aber sei vorsichtig!«, sagte der Vater zum Sohn.
Malakh ließ die Amphore behutsam zu Boden sinken. Weil sie nach unten spitz zulief, musste er sie weiter festhalten, damit sie nicht umkippte und ihren kostbaren Inhalt zu früh entleerte.
Der König blickte in den finsteren Schlund des Gedogh. Die Weisen behaupteten, er sei bodenlos, doch gebe es Zugänge in allen Welten, die Melech-Arez einst erschaffen habe. Der Götterfürst hatte seinen Knecht Dagon zum Herrscher über Berith eingesetzt. Er wäre es immer noch, wenn Gao ihre Rebellion nicht mit dem Großen Weltenbruch beendet hätte. Vorübergehend.
»Beginnen wir das Ritual der Erneuerung«, sagte Gaal und deutete auf das leuchtende Gefäß.
»Was muss ich damit tun, Vater?«, fragte Malakh.
»Es ist ein Trankopfer. Leere es vorsichtig in den Götterschlund. Aber gib acht, dass kein Tropfen zu Boden fällt!«
Der junge Antisch hievte den Behälter wieder hoch.
»Geh dicht an den Rand des Kraters heran.«
Malakh trat einen Schritt vor und neigte die Amphore. Wie Öl floss die Opfergabe heraus und ergoss sich ins Dunkel des Schlunds. Das Elixier glich einem leuchtenden Faden, der die Welt der Lebenden mit dem Ruheort des schlafenden Gottes verband. Als oben der letzte Tropfen aus der Opfervase rann, hatte unten der erste immer noch keinen Boden erreicht. Das Leuchten verging einfach in der unergründlichen Finsternis.
Mit einem Mal spürte der König, dass sich in dem Loch etwas rührte. Er hörte ein Grollen wie von fernem Donner. Gaals Herz begann heftig zu schlagen. Es fiel ihm schwer, an sich zu halten und nicht vor Begeisterung zu schreien – die Würde des Augenblicks verbot derlei Unbeherrschtheit. Endlich zahlten sich seine jahrelangen Studien aus! Er hatte das Rätsel der drei Opfer gelöst. Oder zumindest das des ersten, denn der schlafende Gott erwachte.
»Wer bist du?«, drang eine dunkle Stimme aus dem Schlund. Sie klang müde und doch so gewaltig wie Donnerschall.
Malakh ließ vor Schreck das Henkelgefäß in den Krater fallen.
Sein Vater fiel zur Erde nieder und presste die Stirn auf den Boden. »Mein Name ist Gaal, Herr der unendlichen Tiefen. Ich bin der König von Dagonis.«
»Ihr habt ein Land nach mir benannt?«, staunte der Gott.
»Es ist eher eine Insel«, erwiderte der Gefragte mit gequälter Miene. »Allerdings ist sie einzigartig und gefürchtet in der ganzen Welt …« Aus den Augenwinkeln sah er, wie sein Sohn bäuchlings vom Kraterrand wegkroch. Gaal zischte ihn an und schüttelte energisch den Kopf, was Malakh innehalten ließ.
»Das hört sich an, als wäre dein Königreich ziemlich klein«, tönte es aus der Dunkelheit.
»Nach der Großen Erweckung wird das Eure, mein Herr Dagon, von einem Ende der Aura bis zum anderen reichen, das verspreche ich Euch.« Gaal erhob sich, und während er weitersprach, bedeutete er auch dem Knaben, sich wieder hinzustellen. »Bislang leisten die Anbeter Gaos, die sich Kinder des Lichts nennen, erbitterten Widerstand. Sie vermögen die Luft der Inseln zu atmen, das Volk der Antische dagegen nur den Äther des Weltenozeans. Vor einigen Jahren fand ich jedoch einen Weg, uns beide Reiche zu erschließen. Er ist steinig gewesen, es gab schmachvolle Rückschläge und zwei schmerzliche Niederlagen, aber ich habe nie aufgegeben, wie Ihr seht.«
»Ich kann nichts sehen. Dazu bedarf es eines weiteren Opfers.«
»Auch daran habe ich gedacht, mein Herr. In dem Trankopfer, das mein Sohn Euch dargebracht hat, liegt der Schlüssel zu unbegrenzter Macht. Ich bitte Euch nur, es zu segnen und zu mehren, bis der Same Dagons über das ganze Feld der Welt ausgebracht ist.«
»Es ist wirklich ein besonderer Trank, mein kluger Gaal. Ich verstehe, was du beabsichtigst, und es findet mein Wohlgefallen. Du sollst bekommen, wonach du verlangst. Mein schwarzer Nebel wird das Leichentuch für die Kinder Gaos sein. Jedoch …« Die Stimme aus dem Berg erstarb.
»Mein Herr?«, fragte Gaal. Er fürchtete schon, Dagon sei wieder eingeschlafen.
»Meine alte Kraft ist noch nicht wiederhergestellt«, hallte es abermals müde aus dem finsteren Schlund. »Mit deinem ersten Opfer hast du mich geweckt. Das zweite wird mir die Augen öffnen und ich werde meine Macht nach deinem Wunsch lenken können. Bist du bereit, es mir aus freien Stücken zu geben?«
Gaals spürte sein Herz wie ein wild um sich schlagendes Tier, das aus seiner Brust zu entkommen versuchte. »Das bin ich, mein Herr Dagon.«
Malakhs Stachelkragen sträubte sich.
»Was hast du?«, fragt ihn der König.
»Wenn er uns ansieht, werden wir dann nicht geblendet?«, hauchte der junge Antisch.
Gaal legt ihm die Hand auf die Schulter. »Aus Dagons Augen kommt kein Licht, mein Sohn. Sie verströmen Finsternis.«
Der Knabe sah sich beklommen um. »Und woher nehmen wir das andere Opfer für die Große Erweckung, Vater?«
Ein trauriges Lächeln umspielte Gaals Mund. »Es ist bereits hier, Malakh. Hättest du die Amphore nicht verloren, könntest du sein Spiegelbild darin sehen.«
»Ich bin …?« Der Prinz riss erschrocken die Augen auf.
»Ja, du bist die zweite Gabe«, erwiderte der König, und mit diesen Worten stieß er seinen Sohn in den Schlund.
Schreiend stürzte der junge Antisch in die finstere Tiefe.
»O Dagon, ich schenke dir die Frucht meiner Lenden«, murmelte Gaal mit bebender Stimme. »Lebendig fährt der Knabe zu dir in den Tartaros hinab, um dir, mein Gott, neues Leben zu geben.«
»Und ich empfange ihn mit Wohlwollen«, antwortete es aus dem Berg. »Weil du mir dein eigen Fleisch und Blut nicht vorenthalten hast, will ich dich mehren wie die Staubkörnchen auf dem Gedogh.«
Aufgewühlt blickte der König dem brüllenden Kind nach, das in immer tiefere Schatten fiel. Ehe er es ganz aus den Augen verlor, schoss plötzlich von unten eine Fontäne reiner Schwärze empor. Sie verschlang den Knaben und Malakhs Stimme erstarb.
Gaals Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. »Nun, mein Herr Dagon, fehlt Euch nur noch das letzte und machtvollste Opfer«, murmelte er.
Der Schrei zerriss die Stille der Nacht. Er kündete von unsäglichen Schmerzen, von Qualen, wie sie kein Mann freiwillig ertrug. Weit hallte er über das Ackerland. Das furchterregende Geschrei ließ Füchse die Ohren spitzen, Wollmäuse in ihre Löcher fliehen und Flughunde ihre feinen Nasen gierig in den Wind recken. Sie witterten Blut.
Taramis sprang von der Sitzbank auf, als die heisere Stimme aus dem Haus zu neuem Klagen anhob. Der Schrei seiner Frau ging ihm durch Mark und Bein.
»Setz dich hin, Freund. Das dauert noch«, sagte Jagur. Es war ein lauer Frühlingsabend, den der Kirrie sichtlich genoss. Seelenruhig kraulte er sich den krausen Vollbart. Sein rollender Bass verströmte Gelassenheit. Rechts neben ihm lehnte seine Streitaxt an der Bank, zu seiner Linken stand ein Krug mit kühlem Bier.
»Du hast gut reden«, stöhnte Taramis. »Es ist ja nicht deine Frau, die da wie am Spieß brüllt.«
»Aber es ist meine Lehi, die danebensteht und es sich anhören muss.«
Seufzend nahm Taramis wieder unter dem Vordach an der Seite des weißhaarigen Freundes Platz und lehnte sich mit dem Rücken an die Hauswand. Sein neues Heim, ein ehemaliger Zuchthof für Wollmäuse, war aus Feldsteinen gebaut, weiß verputzt und mit Ried gedeckt. Shúria hatte es in den letzten Monaten zu einer Oase des Friedens gemacht, obgleich ihr Leib in dieser Zeit stärker angeschwollen war als bei Ari. So klaglos, wie sie die Beschwernisse der Schwangerschaft ertragen hatte, so geräuschvoll durchlitt sie jetzt die Wehen. »Ich dachte immer, beim Zweiten sei alles leichter.«
»Mach dir keine Sorgen. Lehi hat schon viele Bälger ins Leben geholt. Und Siath ist auch noch da. Niemand ist so im Einklang mit der Natur wie die Ganesen. Etwas Besseres als diese beiden Geburtshelferinnen kann deiner Shúria gar nicht passieren.«
Unweigerlich musste Taramis grinsen. »Ich hätte nie gedacht, einmal meine Frau und mein Kind einer bärtigen Hebamme anzuvertrauen.«
Jagur nahm einen tiefen Schluck aus dem Krug. »Du kommst eben langsam in das Alter, wo man klug wird.«
Die Tür öffnete sich und Siath kam mit Ari heraus. Von einem nahe stehenden Baum schwebte ein Greifvogel herbei und landete auf ihrem Arm. Es war Tosu, ihr ständiger Begleiter. Sie begrüßte den Goldmilan in einer Sprache, die nur sie verstand. So kühl das Äußere der hübschen Ganesin war, so warm und einschmeichelnd klang ihre volle Stimme. Sie trug ein leichtes, flachsfarbenes Kleid, das ihre Schultern und Arme freiließ. Ihre helle Haut glänzte von Schweiß. Bei was auch immer sie Shúria geholfen hatte, es musste sie angestrengt haben. Ihre freie Hand lag entspannt im Nacken des Jungen, während sie sich Taramis zuwandte. »Dein Sohn ist aufgewacht.«
»Jetzt erst?«, wunderte er sich.
»Kinder haben einen festen Schlaf. Aber nun sorgt er sich um seine Mutter. Lenkt ihn etwas ab.«
Jagur zwinkerte dem Elfjährigen zu. »Habe ich dir schon mal erzählt, wie meine Lehi drei Schurken auf einmal enthauptet hat?«
Ari machte große Augen. »Tante Lehi hat Männern den Kopf abgeschlagen?«
»Ich rede von meiner Axt, Junge.« Der Kirrie hob seine doppelschneidige Waffe hoch.
»Stell sie sofort wieder weg«, verlangte Taramis. »Du willst wohl, dass er Albträume kriegt.«
»Wie denn? Er kann ja nicht schlafen.«
Taramis breitete die Arme aus. »Komm mal her, kleiner Löwe.«
Ari löste sich von Siath. Seiner zarten Statur sah man nicht an, dass er der Sohn des größten Kriegers war, den Berith je gesehen hatte. Sowohl äußerlich wie auch von seinem Wesen her schlug er mehr nach der Mutter. Nichts beunruhigte den empfindsamen Jungen so sehr wie die Leiden anderer Lebewesen, ganz gleich ob Mensch oder Tier. Er ließ sich an die Brust des Vaters sinken. »Wird Mama sterben?«
Unwillkürlich wechselte Taramis einen Blick mit der Ganesin.
Sie schüttelte den Kopf. Kein Grund zur Sorge. Ihr Gesicht blieb jedoch ernst.
»Deiner Mutter passiert nichts«, sagte Taramis und verwuschelte Aris schwarzen Haarschopf. »Sie schenkt deinem Bruder oder deiner Schwester das Leben. Eine Geburt ist ziemlich anstrengend.«
»Ich schreie nie, wenn ich etwas Anstrengendes mache, Papa.«
»Solltest du aber«, mischte Jagur sich erneut ein. »Bei mir wirkt ein ordentliches Gebrüll wahre Wunder. Einmal wollten mir sieben Seeleute gleichzeitig die Falten aus dem Gesicht bügeln. Da habe ich meine Lehi beim Stiel gepackt und …«
»Trink noch einen Schluck Bier«, unterbrach ihn Taramis schnell.
Jagur klappte den Mund zu, brummte wie ein Bär und schnappte sich den Krug.
»Ich gehe dann mal wieder rein«, erklärte Siath, schickte ihren gefiederten Freund in die Nacht zurück und verschwand im Haus.
Nach einer Weile verstummten Shúrias Schreie und die Ganesin erschien abermals in der Tür.
Taramis sprang von der Bank auf. »Ist es …? Hat sie …? Ich habe gar kein Kindergeschrei gehört.«
Siath lächelte. Sie wirkte erschöpft. »Shúria geht es den Umständen entsprechend gut. Die Wehen haben nachgelassen. Sie möchte dich sprechen, ehe es wieder losgeht.«
Wortlos lief er an ihr vorbei. Shúria und Ari verdankten der ehemaligen Hetäre, die sich selbst als Feuermädchen bezeichnete, gleich mehrfach ihr Leben. Vor nicht einmal neun Monaten hatte sie mit ihrem Körper in einem Opferofen die Flammen von den beiden ferngehalten.
Taramis stürzte ins Schlafzimmer. Durch das Fenster auf der Meerseite schimmerten die Lichter ferner Inseln und Sterne. Davor stand das große Bett, in dem Shúria unter einem schneeweißen Laken auf sauber ausgekochten Tüchern lag. Ihre Augen waren geschlossen. Lehi tupfte ihr gerade den Schweiß von der Stirn. Als sie den nervösen Vater bemerkte, lächelte sie ihm aufmunternd zu. Sie war noch kleiner als ihr Ehemann, ansonsten überwogen bei ihnen jedoch die Gemeinsamkeiten. Ihre Gesichter waren ungefähr gleich faltig, Jagurs Frau hatte ihr buttergelbes Haar zu einem ganz ähnlichen Zopf geflochten wie er und ihr Vollbart war mindestens so dicht wie der seine. Nur hatte sie ihn auf eine Länge gestutzt, die ihr bei der Geburtshilfe nicht hinderlich war.
»Wie geht es ihr?«, fragte Taramis.
»Sie ist eine Kämpferin«, antwortete Lehi. »Aber das wusstest du ja schon vorher.«
Er nickte. Wie Shúria sich in Komana gegen lüsterne Freier gewehrt und ihren Sohn vor tödlichen Gefahren beschützt hatte, war unglaublich. Ihre Standhaftigkeit hatte das Band der Liebe zwischen Taramis und ihr noch fester geschmiedet.
Sie öffnete die Augen und lächelte erschöpft. »Warum fragst du sie und nicht mich?«
Er ließ sich neben ihr auf der Bettkante nieder und nahm ihre Hand. »Es sah aus, als schliefest du.«
»Schwindler.«
»Du bist so tapfer, Schatz. Ich bin unglaublich stolz auf dich.«
Ihre Miene wurde ernst.
»Was beschäftigt dich, Shúria?«
»Ich muss dir noch etwas sagen, Taramis.«
Noch? Warum hatte sie noch gesagt? »Hat das nicht Zeit bis später? Bis …?«
»Nein!«, unterbrach sie ihn barsch. »Ich möchte, dass du es jetzt weißt.«
Er schluckte. »Wie du willst, Liebes.«
Sie schloss die Augen, holte tief Luft und sah ihn wieder an. »Ich hatte einen Traum.«
»War es einer von der Sorte, die du früher …?«
»Ja«, fiel sie ihm abermals ins Wort. »Ich habe die Zukunft gesehen. Leider nur sehr undeutlich …« Ihr Blick wurde gläsern.
Er streichelte mit dem Daumen ihren Handrücken. »Es scheint dich beunruhigt zu haben.«
Sie sah ihn wieder an. »Unser Kind ist in großer Gefahr, Taramis.«
»Ari?«
»Nein, Aïschah.«
Er räusperte sich. »Aïschah?«
»Deine Tochter. Ich finde es passend, dass wir sie nach deiner Großmutter nennen. Du nicht?«
»Ich bekomme ein Mädchen?«
»Nein, ich bekomme es. Aber du bist der Vater.«
Sie wirkte aufgelöst und reizbar, was Taramis nach all den Schmerzen der Wehen für allzu verständlich hielt. Übertrieben geduldig fragte er: »Schatz, was genau hast du gesehen?«
»Jemand will uns etwas antun.«
Er zuckte zusammen. »Wer?«
»Ich weiß es nicht.«
»Gaal?«
»Gao hat mir nicht ohne Grund verraten, dass uns jemand nach dem Leben trachtet. Wir dürfen seine Warnung nicht auf die leichte Schulter nehmen, Taramis.«
Er schloss die Augen und rang mit malenden Kiefern um Fassung. Du glaubst, mich besiegt zu haben, aber du bist ein Narr, hatte Gaal ihn vor dreizehn Jahren im Garten der Seelen verhöhnt, eine Drohung, die wie ein böses Omen klang. Ich komme wieder, Taramis, und es wird schrecklicher sein als zuvor. Wenige Augenblicke danach war der König von Dagonis ins Haus der Toten eingegangen.
Und trotzdem war er zurückgekehrt – auf dem Weg der Unsterblichkeit.
»Denkst du an Gulloths Fluch?«, fragte Shúria. Sie verzog das Gesicht. Offenbar setzten die Wehen wieder ein.
»In meinem Kopf schwirrt so vieles herum«, antwortete er ausweichend und küsste sie auf die Stirn.
Sie schrie unter Schmerzen auf.
»Entschuldige bitte, Schatz, ich wollte nicht …«
»Das warst nicht du«, keuchte sie kurzatmig, »sondern deine Tochter. Sag ihr gefälligst, dass sie endlich damit aufhören und herauskommen soll.«
Die Wehen peinigten Shúria noch viele Stunden. Taramis, Jagur und Ari harrten vor dem Haus aus. Eine Tranlampe spendete ihnen Licht. Der Kirrie hielt sich mit Bier wach, eine Fertigkeit, die Piraten in höchster Vollendung beherrschten. Der Gerstensaft hatte seine Zunge gelöst. Zum Glück war der Junge an der Brust seines Vaters eingeschlafen und entging so den wenig kindgerechten Schilderungen des ehemaligen Freibeuters. Taramis täuschte durch gelegentliches Nicken Aufmerksamkeit vor, obwohl er seinen eigenen Gedanken nachhing. Shúrias Traum beunruhigte ihn so sehr, dass er seinem Freund nicht einmal von Aïschah erzählt hatte.
»Also ein Glühwürmchen ist das nicht«, sagte der kleine Recke unvermittelt.
»Was?« Taramis blinzelte. Etwas in der Stimme des Kirries hatte ihn aufmerken lassen.
Jagur deutete aufs Feld hinaus. In der Finsternis schaukelte ein Licht hin und her. »Vielleicht ein Riesenglühwürmchen. Ich habe bisher allerdings nur ein einziges kennengelernt und das sitzt gerade neben mir.« Er spielte auf Lurkons Feuer an, das die Haut des Drachentöters zum Leuchten brachte. Inzwischen sah man es aber nur noch im Dunkeln.
Vorsichtig löste sich Taramis aus der Umklammerung seines Sohnes. Ari stöhnte, rollte sich auf der Bank zusammen und schlief weiter.
»Gehst du auf die Jagd?«, erkundigte sich Jagur mit schwerer Zunge. Seine rosafarbenen Augen blitzten unternehmungslustig.
»Bleib bei dem Jungen«, flüsterte Taramis und stemmte sich auf die Beine. Er nahm den Stab Ez zur Hand, der neben ihm an der Hauswand gelehnt hatte, und lief ein Stück auf das Irrlicht zu.
Die Funzel am Haus leuchtete nicht weit. Bereits nach wenigen Schritten sah er die beunruhigende Erscheinung vor dem tiefschwarzen Saum des nahen Waldes deutlicher. Was war das für ein Licht? Hatte es mit Shúrias Traum zu tun? Irgendwann, das wusste er nicht erst seit seiner Rückkehr nach Barnea, würde ihn seine Vergangenheit einholen. Für diesen Tag hatte er sich gewappnet und sein neues Heim mit einigen wirksamen Verteidigungsmaßnahmen umgeben. Das so harmlos aussehende Leuchten auf dem Feld könnte ein Ablenkungsmanöver sein.
Es war ein Reiter. Gerade überquerte er die Brücke des Baches, der am Gehöft vorbeiführte. Dem Rhythmus des schaukelnden Lichts nach zu urteilen saß er auf einem Esel. Von Adma aus brauchte man einen halben Tag zum Gut hinaus. Taramis hatte den am Meer liegenden Hof vor sechs Monaten seiner alten Weggefährtin Ischáh – Siaths Schwester – abgekauft. War der Unbekannte nur ahnungslos und wusste nichts von Borstenwürgern, Bären und den anderen Gefahren der Nacht? Warum sonst sollte jemand ein solches Risiko auf sich nehmen?
Aus dem Haus hallten Shúrias Schreie. Taramis umklammerte mit beiden Händen den Feuerstab. Er widerstand der Versuchung, dem Fremden entgegenzulaufen und damit womöglich in eine Falle zu tappen.
Als er ihn endlich deutlich erkennen konnte, traute er seinen Augen nicht.
»Veridas?« War das tatsächlich der Seher, der Weise aus Luxania, der Shúria in die Geheimnisse des Prophezeiens eingeführt und sie, Ari und Siath in Peor aus dem Feuerofen befreit hatte? Taramis blieb misstrauisch. Seine Feinde hatten ihm schon oft genug Trugbilder vorgegaukelt, sodass er sich dem Reiter nur mit großer Vorsicht näherte. Den Feuerstab hielt er dabei wie einen Speer vor sich.
»Falls du Heißhunger auf Spießbraten hast, nimm lieber den Esel. Der ist nicht so zäh wie ich«, sagte der Alte vergnügt, als sein Tier nur noch wenige Schritte von dem Stabträger entfernt war.
»Mögen deine Tage ohne Nebel sein«, antwortete Taramis mit dem geheimen Gruß der Nebelwächter. Verstohlen legte er Zeige- und Ringfinger der linken Hand aneinander und spreizte den Daumen im rechten Winkel ab.
»Und die deinen voller Sonnenschein«, gab der Seher zurück und formte ebenfalls das Erkennungszeichen des Bruderbundes.
»Bist du es wirklich, Veridas?«
»Also, ich bin kein Seelenfresser, falls du das denkst.« Der Zeridianer brachte sein Tier zum Stehen und rutschte umständlich von dessen Rücken. Ohne sich von Ez beeindrucken zu lassen, reichte er seinem alten Gefährten die Hand.
Taramis zögerte. Welcher Mensch würde es wagen, dem schwarzen Holz so nahe zu kommen? Seine Feinde jedenfalls kannten die Tücken des Stabes, für den jede Bosheit wie Zunder war, der sich bei der kleinsten Berührung entzündete. Nur ein argloser Mann brauchte nicht zu fürchten, innerlich zu verbrennen.
Die Anspannung fiel von Taramis ab. Er ließ Ez sinken und schüttelte freudestrahlend die Hand des Weisen, ohne den er womöglich immer noch auf der Sklaveninsel Zin gefangen wäre. »Herzlich willkommen auf meiner Scholle.«
»Gibt es einen Grund für deinen Argwohn?«, fragte Veridas.
»Ja. Shúria hatte einen Traum. Sie glaubt, dass wir in Gefahr sind.«
»Also hat sie doch etwas bei mir gelernt. Das freut mich …« Der Alte hielt inne, als abermals ein Schrei aus dem Haus drang. »Ist sie das?«
»Ja. Sie bringt gerade unserer Tochter zur Welt.«
»Woher weißt du, dass es ein Mädchen wird?«
»Das hat sie auch gesehen.«
»In dem Traum? Erstaunlich …« Veridas strich sich über den schütteren Vollbart. »Ich habe mich nämlich aus ähnlichem Grund auf den Weg nach Barnea gemacht.«
»Wegen meiner Tochter?«
»Unsinn! Weil die Bedrohung, von der das Buch Jaschar spricht, noch nicht abgewendet ist. Aber erst einmal sollte ich etwas trinken. Hast du einen kühlen Schluck für mich?«
Taramis deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Wenn Jagur dir was übrig gelassen hat.«
Veridas lachte auf. »Der Zwerg ist bei dir? Na, dann muss ich wohl verdursten.«
Entsetzt starrte Taramis den alten Seher an. »Sie tun was?«
»Sie sterben. Ohne erkennbaren Grund. Wie ein blühender Baum, der plötzlich umgehauen wird.«
Jagur grunzte. »Klingt übel.« Seine Zunge tat sich schwer mit den Silben, obwohl es nur wenige waren.
»Diese Männer und Frauen – sind das alles Rebellen gewesen?«
»Ich kann nur für Komana sprechen«, antwortete Veridas. »Sämtliche Opfer gehörten dem Widerstand an, der sich gegen die dagonisische Besatzung verschworen hatte. Die meisten bekleideten im neuen Staat wichtige Ämter.«
»Könnte es Mord gewesen sein? Vielleicht Gift?«
»Das ist unwahrscheinlich. Manche trifft es auf Reisen oder an schwer zugänglichen Orten. Nachdem es begonnen hatte, hielten sich einige versteckt, doch auch das nützte ihnen nichts. Inzwischen sind fast hundert ehemalige Rebellen von einem Augenblick auf den anderen tot umgefallen.«
»Und außerhalb von Komana? Wie sieht es da aus?«
»Von den übrigen Inseln habe ich nur wenige Berichte. Sie passen in dasselbe Muster. Man könnte meinen, ein Todesengel habe die Feinde von Dagonis niedergestreckt.«
Die Schreie aus dem Haus setzten wieder ein. Taramis zuckte unwillkürlich zusammen. Finster blickte er zum Horizont, wo es bereits dämmerte. »Gibt es Nachricht aus Jâr’en?«
»Ich habe einen Boten zur Heiligen Insel geschickt. Rate mal, was er herausgefunden hat.«
»Jemand tötet die Seelenbäume.«
Veridas nickte. »Die Gärtner entdecken immer mehr Bäume, die durch äußere Einwirkung eingegangen sind. Manchmal stecken Pfeile darin. Einige wurden offenbar mit einer Lanze traktiert.«
»Das kommt mir bekannt vor. Wird Gan Nephaschôth nicht bewacht?«
»Natürlich. Doch der Frevler kennt sich im Garten wohl sehr gut aus.«
Taramis spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg. Sein Magen fühlte sich an, als habe jemand einen Knoten hineingemacht. »Nicht unbedingt. Es genügt, sich vom Reif der Erkenntnis leiten zu lassen.«
Unwirsch starrte Veridas in seinen halb geleerten Bierkrug. »Ich hatte befürchtet, dass du so etwas sagen würdest. Es ist ungeheuerlich! Seit Anbeginn der Zeit haben die Menschen die Seelenbäume geachtet.«
»Weil niemand wusste, welcher Baum zu wem gehört. Das hat sich nun geändert. Und ich bin schuld daran.«
»Mit Verlaub, Herr Taramis«, mischte sich Jagur in gespielt förmlichem Ton ein, »aber Ihr redet wie ein Narr. Nicht Ihr seid der Mörder. Es ist Gaal, der seine Gegner umbringt.«
»Warum nur tröstet mich das nicht?«
»Du hast eben ein zu gutes Herz«, antwortete der Kirrie in deutlich milderem Ton und rülpste. »Ich übrigens auch. Deshalb habe ich deinen Feuerstab unbeschadet anfassen können.«
Taramis lief es eiskalt den Rücken hinab, als ihm die Konsequenzen des Gehörten bewusst wurden. »Gaal hasst niemanden so sehr wie mich. Er könnte mich jeden Augenblick töten. Oder Shúria oder Ari oder Aïschah.«
»Wer ist Aïschah?«, wunderte sich Jagur.
»Meine Tochter.«
»Habe ich irgendwas verpasst?«
Aus dem Haus tönte ein neuerlicher Schmerzensschrei.
Ari wälzte sich auf der Bank unruhig herum.
Taramis war schwindelig vor Sorge.
»Möglicherweise hat Gaal mit dir und deinen Lieben noch etwas Besonderes vor«, gab Veridas zu bedenken.
»Soll mich das etwa beruhigen?«
»Es verschafft dir Zeit, um zu beenden, was du vor vielen Jahren begonnen hast.«
»Unmöglich. Dazu müsse ich meine Familie alleinlassen.«
»Du könntest sie in ein sicheres Versteck bringen«, sagte Jagur beschwingt.
»Vor dem Träger des Erkenntnisreifs ist man nirgendwo sicher. Das Seelenband ist für ihn wie ein flammender Wegweiser, der ihn überall hinführen kann.«
»Aber nicht nach Malon.«
»Was soll das heißen?«
»Wir Kirries verbergen uns seit undenklichen Zeiten vor der Welt. Sogar die größten Geistwirker haben uns nicht gefunden. Hältst du das für einen Zufall?«
Taramis knabberte auf seiner Unterlippe.
»Euch schützt der Quallenschwarm, der Eure Heimat umgibt«, sagte Veridas.
»Als wir durch die Qicks geschwallt sind«, grübelte Taramis, »spürte ich, wie sich unsichtbare Fühler nach meinem Bewusstsein ausstreckten. Es kam mir vor, als wolle sich mir ein gigantischer kindlicher Geist mitteilen.«
Jagur nickte mit glasigem Blick. »Wenn du mich fragst, ist Carma ein riesiger Knoten aus Seelenbändern. Den entwirrt so schnell keiner. Und in unsere Höhlen einzudringen hat sowieso noch niemand gewagt.«
»Abgesehen von Taramis«, versetzte der Seher.
»Der zählt nicht. Er hatte meinen Diener als Führer – oder vielmehr das, was dieser verfluchte Seelenfresser Asor von meinem guten Tagor übrig gelassen hat.« Jagur wandte sich wieder seinem Freund zu. »Schicke deine Familie nach Malon. Da sind sie sicher. Dann bist du deine Sorgen los und wir Männer können in aller Ruhe Fischköpfe jagen.«
»Vergiss es«, widersprach Taramis. »Ich würde Shúria und die Kinder nicht mal im Sternenhaus meines Vaters allein lassen.«
»Es ist auch fraglich, ob ihr da vor der Wolke sicher wärt«, bemerkte Veridas. »Die Quallen jedoch könnten sie vielleicht zurückhalten. Ich an deiner Stelle würde auf den Zwerg hören.«
»Ich bin Kirrie, kein Zwerg«, knurrte Jagur.
Taramis horchte auf. »Welche Wolke?«
Der Weise griff sich in den schütteren Bart. »Hatte ich vergessen, sie zu erwähnen?« Er verdrehte die Augen. »Das Alter ist so gnadenlos …«
»Die Wolke, Veridas. Was ist damit?«
»Ich habe von ihr geträumt.«
»Du meinst so wie Shúria, in einem prophetischen Traum?«
»Ja. Ich sah die Dunkelheit, die Beriths Zentrum seit dem Weltenbruch umhüllt. Sie breitete sich aus und bedrohte die ganze Welt. Offenbar hat es bereits begonnen.«
»Wie meinst du das?«
»In Peor wollen einige Gelehrte beobachtet haben, wie sich die Finsternis aufbläht. Wenn das so weitergehe, behaupten sie, fülle sie bald die gesamte Zentralregion aus. Sie ist wohl nicht rund wie die Aura, sondern gleicht eher einer wabernden Wolke. Deswegen ist schwer vorauszusagen, welche größeren Inseln sie als Erstes erreicht. Vermutlich gehören Gan und Hakkore dazu. Ein Himmelsbeobachter meinte auch, Ausläufer entdeckt zu haben, die sich auf das Zeridia-Atoll zubewegen. Nicht mehr lang und sie könnten Luxania, die Insel der Seher, verschlingen.«
Taramis bekam eine Gänsehaut. »Und was passiert mit den Schollen, die in dieser … Wolke verschwinden?«
»Das weiß keiner. Aber mein Gefühl sagt mir, dass es nichts Gutes …« Der Alte verstummte jäh und riss die Augen auf.
»Was ist? Geht es dir nicht gut?«
Der schwere Tonkrug glitt Veridas aus der Hand und zersprang krachend auf dem Steinboden. Er fuhr von der Bank hoch und griff sich an die Brust. In hilflosem Entsetzen starrte er seine Freunde an, schüttelte den Kopf und brach zusammen.
Taramis fing ihn auf und ließ ihn vorsichtig zu Boden sinken. »Was hast du, Veridas? Sprich mit mir!«
Der Seher rang röchelnd nach Luft. »Es ist Gaal. Er hat meinen Seelenbaum gefunden.«
»Vielleicht war nur die Reise zu anstrengend …«
»Mein Herz ist gesund!«, ächzte Veridas mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Ich kann spüren, wie er meinen Baum mit seinem Schwert traktiert.«
Taramis nahm seine Hände. Tränen quollen ihm aus den Augen. »Was soll ich machen?«
»Du vermagst gar nichts …« Der Weise verstummte.
»Veridas!«, rief Taramis verzweifelt.
Die Augenlider des Alten flimmerten, dann sah er den Gefährten wieder an. »Aber ich kann etwas für dich tun, mein Bruder. Wir Seher von Luxania nennen es die Weitergabe.« Abermals rang er nach Luft. Er schien ungeheure Schmerzen zu leiden. Seine knochigen Hände klammerten sich schmerzhaft an die des Freundes. Mit erlöschender Stimme setzte er hinzu: »Wenn uns die Lebenskraft verlässt, können wir unsere Geistesgaben auf andere übertragen. Nimm nun die meinen, Taramis, und verwende sie gut.«
In den Augen des Weisen glomm kurz ein geheimnisvolles Leuchten auf, dann brachen sie und wurden starr. Der Griff seiner Hände erschlaffte.
Taramis war wie gelähmt. Fassungslos sah er erst den toten Freund und danach den Kirrie an, der kaum weniger betroffen wirkte.
Ari rekelte sich auf der Bank und schlug die Augen auf. Als er den Vater am Boden knien sah, einen alten Mann in den Armen haltend, runzelte er die Stirn. »Onkel Veridas? Ist er eingeschlafen?«
»Ja«, antwortete Taramis mit bebender Stimme. »Er schläft.« Um seine Tränen zu verbergen, wandte er sich von dem Jungen ab, der aufgehenden Sonne zu. Die letzten Worte des so grausam aus dem Leben gerissenen Freundes hallten wie ein Echo durch seinen Sinn.
Aus dem Haus ertönte ein Schrei. Es war nicht Shúria, sondern ein schwaches, heiseres Stimmchen.
Aïschah begrüßte die Welt.
Unwillkürlich blickte Taramis wieder zum Gebäude und wunderte sich. Wie hinter einem Pergamentschirm sah er durch die Hauswand hindurch ein Licht. Es glühte wie ein Stück Kohle. Da wusste er, dass sein sterbender Freund nicht im Wahn geredet, sondern seine Gabe tatsächlich weitergegeben hatte.
Es war der Sternensplitter, der schwarze Himmelsstein, der da auf Shúrias Herzen leuchtete.
»Ich finde, es ist ein selten schönes Kind«, sagte Jagur. »Schau nur dieses verschrumpelte Antlitz, Taramis! Wie ein kleiner Engel sieht sie aus.«
»Aïschah ist keine Kirrie«, brummte der Vater. Er hielt sein in Tüchern eingewickeltes Töchterchen etwas unbeholfen im Arm, hatte er dergleichen doch seit über zehn Jahren nicht mehr getan. Die im vielfarbigen Morgenlicht irisierende Inselsphäre schmeichelte nicht gerade dem zerknitterten Gesicht der Kleinen. Tatsächlich ähnelte sie eher Jagur und Lehi als ihren Eltern. Siath hatte gesagt, das gebe sich bald.
Sanft streichelte Taramis die Wange des schlafenden Kindes. Ob Aïschah einmal nach ihrer Urgroßmutter schlagen würde? Natürlich hatte er seiner Frau von dem Besuch in Olams Sternenhaus erzählt. War vielleicht deshalb der Name seiner irdischen Urahnin in Shúrias beunruhigendem Traum aufgetaucht? Er konnte sich noch lebhaft an die Schilderungen seines Vaters erinnern, wie dessen Mutter ihn zwischen Disteln und Dornen zur Welt gebracht hatte. Wenigstens solche Unannehmlichkeiten waren Shúria erspart geblieben.
Ari blickte zur Tür, als die Ganesin mit ihrem Goldmilan unter das Vordach trat. Am Fuß des Greifs war ein Pergamentröllchen befestigt.
»Hoffentlich findet Tosu deine Schwester«, sagte Taramis.
»Er würde sie überall auf dieser Insel aufspüren. Sollte Ischáh schon wieder nach Barnea zurückgekehrt sein, ist sie in spätestens zwei Stunden bei uns.« Siath warf den Vogel in die Höhe und er rauschte davon.
»Der Tod des Sehers war eine Warnung. Ich bin erst beruhigt, wenn ich euch in Sicherheit weiß. Bereite bitte alles für unsere sofortige Abreise vor. Lehi kann dir zur Hand gehen.« Er wandte sich seinem bärtigen Freund zu. »Du solltest deinen Donnerkeil ebenfalls rufen.«
Der Kirrie schloss die Augen, um sie gleich darauf zu enormer Größe aufzureißen. »Könnte schwierig werden«, antwortete er mit schwerer Zunge. »Ich hab ein paar Humpen Bier zu viel auf die Geburt deiner Tochter getrunken. Als ich zuletzt meine Fühler nach Aviathan ausgestreckt hatte, war er jagen. Weit draußen im Meer. Zu weit für meinen benebelten Geist, fürchte ich.«
»Versuch bitte trotzdem, ihn zu erreichen. Wir werden ihn brauchen.«
»Wir? Du meinst, du und ich?«
»Wer sonst?«
»Hattest du nicht gesagt, du wolltest deine Familie auf keinen Fall allein lassen?«
»Ja. Und der Gedanke, es dennoch tun zu müssen, bringt mich fast um den Verstand. Aber du hast Veridas gehört. Die Wolke bedroht die ganze Welt, also auch deine Heimat. Shúria und die Kinder sind nirgends sicher, solange wir dem Spuk kein Ende machen.«
Jagur rülpste. »Das ist mal ein Wort.«
Seine Frau erschien in der Tür. Sie lächelte müde. Abgesehen von Ari und Aïschah hatte in dieser Nacht niemand geschlafen. »Shúria fragt nach ihrer Familie.«
»Dann sollten wir sie nicht warten lassen«, sagte Taramis und gab seinem Sohn einen Wink. »Komm, kleiner Löwe. Wir müssen Familienrat halten.«
Als sie den Wohnraum durchquerten, schielte Ari neugierig zu Veridas hinüber. Taramis hatte ihn auf den großen Esstisch gebettet und ihm die Augen geschlossen. Der Tote sah aus, als schlafe er nur.
»Nicht trödeln«, ermahnte Taramis den Jungen. Er hätte ihm diesen Anblick gerne erspart. Für Ari war der Seher wie ein Familienmitglied gewesen.
Im Schlafzimmer wartete Shúria schon ungeduldig auf ihre Lieben. Ihr von der Anstrengung gezeichnetes Gesicht glühte im orangeroten Licht, das durchs offene Fenster in den Raum fiel. Sie ließ sich von Ari und Taramis herzen und nahm dem Vater das Neugeborene ab. Lächelnd bettete sie es an ihre Brust. Erst als ihre Aufmerksamkeit sich wieder den anderen beiden zuwandte, bemerkte sie deren ernste Mienen.
»Heute ist ein Freudentag. Warum sind meine Männer so griesgrämig?«
»Hat Lehi es dir noch nicht gesagt?«, fragte Taramis beklommen.
»Was?«
Er schluckte. So behutsam wie möglich erzählte er ihr vom plötzlichen Ableben ihres Lehrmeisters. Shúria brach in Tränen aus.
Aïschah erwachte. Sie spürte wohl die Unruhe ihrer Mutter und fing ebenfalls an zu weinen. Ari legte sich zu den beiden aufs Bett und streichelte sie zärtlich. Seit den Schrecken von Peor hatte er einige Erfahrung im Trösten von Mädchen jeden Alters.
Taramis widmete sich diesem Unterfangen weniger hingebungsvoll. Die Zeit drängte und daher berichtete er Shúria von dem, was der Seher ihm mitgeteilt hatte. »Ich habe Ischáh rufen lassen«, sagte er schließlich. »Sie wird dich und die Kinder nach Malon bringen. Siath hat versprochen, sich weiter um dich und Aïschah zu kümmern.«
»Und du?«
»Ich finde Gaal und schicke ihn ins Haus der Toten.«
»Was?«, stieß sie entsetzt hervor. »Warum kann das nicht ein anderer tun? Dieser Fischkopf hat uns schon genug Leid zugefügt. Muss erst einer von uns sterben, damit dieser Wahnsinn endlich aufhört?«
»Ja. Und zwar Gaal.«
»Wieso immer du, Taramis?« Ihre Stimme bebte und neue Tränen rollten ihr über die Wangen.
»Marnas sagte einmal zu mir: ›Fange nie einen Krieg an, den du nicht zu Ende bringen kannst.‹ Zweimal habe ich den König von Dagonis bezwungen, ohne ihn zu besiegen. Ich hätte unsere Feindschaft vielleicht nicht als persönliche Fehde betrachten sollen.«
»Ist sie das etwa nicht? Er hat deine Mutter, Xydia und meinen Vater getötet – deine Braut und deinen Schwiegervater. Ari und mich hätte er auch fast umgebracht.«
»Du hast ja recht, Schatz. Doch mit der dunklen Wolke ändert sich alles. Das Schicksal von ganz Berith ist mit dem unsrigen verwoben. Es war der Hohepriester – dein Vater, Shúria –, der in mir den verheißenen Jeschurun sah. Und mein eigener Vater hat mir den Stab Ez in die Wiege gelegt. Niemand außer mir ist dazu ausersehen, die dagonisische Plage abzuwenden. Ihr werdet nie in Sicherheit leben können, wenn diese Aufgabe nicht vollbracht ist.«
»Vielleicht steckt ja gar nicht Gaal hinter den mysteriösen Todesfällen.«
»Daran gibt es für mich keinerlei Zweifel«, sagte Taramis sanft. »Ich spüre es. Außerdem beweist Veridas’ Tod, dass sich gerade Bochims Drohung erfüllt. Nachdem er sein Schwert in meinen Seelenbaum gerammt hatte, prahlte er damit, wie sein Vater im Garten der Seelen jeden Widersacher nach Belieben töten könne. Und was geschieht, kaum dass Gaal den Reif der Erkenntnis besitzt? Seine Gegner sterben wie die Fliegen.«
»Aber …«
»Ich bin sein größter Feind, Shúria. Und du hast in Peor ebenfalls seinen Zorn erregt. Dieses Scheusal könnte sogar aus reiner Rachsucht unsere Kinder umbringen, weil ich seinen Sohn getötet habe. Vielleicht hat er mich bisher nur verschont, um mir in die Augen zu sehen, wenn er Vergeltung an mir übt. Ich muss seine Herausforderung annehmen. Nur so kann ich dieses Ungeheuer ein für alle Mal aus der Welt schaffen.«
»Ich möchte, dass du zurückkehrst«, sagte Shúria leise. Die Geburt hatte sie geschwächt und ihren Widerstand schneller als üblich erlahmen lassen. »Aïschah soll nicht ohne Vater aufwachsen.«
»Das wünsche ich mir genauso wie du, Schatz. Ich werde jede unnötige Gefahr meiden. Solange ich euch in Sicherheit weiß, wird es mir an Besonnenheit nicht mangeln. Deshalb müsst ihr die Insel verlassen, sobald Ischáh mit ihrem Donnerkeil hier eintrifft. Auf Barnea seid ihr nicht länger …«
»Taramis?« Jagurs tiefe Stimme ließ den Gerufenen herumfahren. Der Kirrie stand mit versteinerter Miene in der Tür zum Wohnraum. Die Morgensonne traf ihn von der Seite, was die Furchen auf seinem Gesicht gleichsam in dunkle Abgründe verwandelte. Im Ton des kleinen Recken schwang etwas mit, das Taramis einen Schauder über den Rücken jagte.
»Was gibt es?«
»Komm nach draußen. Ich muss dir was zeigen.« Jagur drehte sich um und verschwand aus der Tür.
Taramis drückte Shúrias Hand. »Es wird alles gut, Schatz.« Er küsste sie und Aïschah auf die Stirn und strich seinem Sohn durchs Haar. »Versprichst du mir, auf Mama und deine Schwester aufzupassen, bis ich zurückkomme?«
Ari nickte ernst.
Beim Durchqueren des Wohnraumes griff Taramis seinen Feuerstab. Lehi hielt bei ihrer Arbeit inne – sie war gerade dabei, Kleidungsstücke aus einer Wäschetruhe in Ledertaschen zu packen. Mit ihrem knubbeligen Daumen deutete sie zur Haustür und sagte: »Da draußen ist keine Menschenseele zu sehen. Trotzdem fuchtelt Jagur mit seiner Axt herum, als wolle er eine ganze Armee in Angst und Schrecken versetzen. Der Sturkopf will mir nicht verraten, was los ist. Meint wohl, er kann mir die Aufregung ersparen. Ich kenne ihn zu gut, um mir von ihm etwas vormachen zu lassen, Taramis. Irgendwas braut sich da zusammen.«
»Dann ist es besser, du beeilst dich, Lehi. Hilf bitte Shúria, sich anzuziehen und die Kinder reisefertig zu machen. Wenn Ischáh mit ihrem Schwaller kommt, solltet ihr bereit sein.« Er hatte die kleine Frau seines Kirriefreundes in den letzten Tagen zu schätzen gelernt. Sie besaß das seltene Talent, immer gleich den Kern einer Sache zu sehen, ohne sich von irgendwelchem Blendwerk ablenken zu lassen. Deshalb beherzigte er ihren Rat und nahm sein Schwert Malmath sowie den Schild Schélet von der Wand. Er wollte sich gerade zum Gehen wenden, als die Kirrie ihn erneut ansprach.
»Und Leviat?«
»Was?«
»Du solltest das Hemd der Unverwundbarkeit tragen. Immerhin hast du dein Leben dafür aufs Spiel gesetzt, es unserem toten König abzunehmen.« Sie griff in die Kleidertruhe, zog die fahl schimmernde Tunika heraus und reichte sie ihm mit einem wissenden Lächeln. »Ist nur so ein Gefühl.«
Er streifte sich rasch das aus dem Gewölle des Drachen Lurkon gesponnene Gewand über und eilte nach draußen.
Vor dem Haus erwarteten ihn Jagur und Siath. Der Kirrie hob die Augenbrauen, als er das Hemd sah, das im frühen Licht des Tages wie Perlmutt irisierte. Ohne darauf einzugehen, deutete er dann mit seiner blitzenden Streitaxt zum Feld hinaus. Bis zum nahen Mischwald erstreckten sich zweieinhalb Morgen bestes Ackerland. Die vom Pflug gezogenen Furchen traten in der tief stehenden Morgensonne als dunkles Streifenmuster hervor. »Siehst du das Flirren auf der Krume? An einem heißen Sommertag würde ich mir darüber nicht meinen brummenden Schädel zerbrechen, aber wir haben Frühling und die Sonne ist gerade erst aufgegangen.«
Sofort war Taramis hellwach. Unbewusst beschwor er die Zähe Zeit herauf, die jede Bewegung um ihn herum zu verlangsamen schien. Während er sich eilig den Schwertgurt umschnallte, spähte er aus schmalen Augen in die angegebene Richtung.
Tatsächlich! Irgendetwas ging da nicht mit rechten Dingen zu. Über dem braunschwarzen Acker flimmerte die Luft wie auf einem heißen Backblech. Es sah aus, als zitterten die mächtigen Bäume im Hintergrund wie Espenlaub.
»Da treibt jemand sein Spiel mit uns«, sagte Siath.
Taramis nickte. »Offenbar bin ich nicht der einzige Gaukler hier. Hast du eine Ahnung, wer oder was das sein könnte?«
»Ich spüre etwas Bedrohliches. Etwas Animalisches. Mühsam gebändigte Angriffslust. Das Gleiche habe ich auch in Peor in der Nähe von Stegonten gefühlt. Es müssen mehrere Dutzend sein.«
Taramis sträubten sich die Nackenhaare bei der Vorstellung, einer Phalanx von Dreihörnern gegenüberzustehen. Selbst die mächtigsten Schlachtrösser wirkten im Vergleich zu diesen gewaltigen Echsen wie Rehkitze. Sie waren Kampfmaschinen aus Muskeln, Sehnen, Schuppen und Elfenbein. Ihr Körper hatte etwas von einem riesenhaften Stier und der Schädel war ein Rammbock mit einer herzförmigen Knochenplatte, zwei langen, gebogenen Hörnern auf der Stirn und einem dritten auf dem Nasenrücken.
»Geh sofort ins Haus!«, raunte Taramis. Er verließ sich auf Siaths Urteilskraft, als Angehörige des Gartenvolkes einen unbestechlichen Sinn für solche Dinge besaß.
Unvermittelt hörte er ein Zischen, das die Reflexe des Kriegers in ihm weckte. Er riss den Arm hoch und stieß die Ganesin zur Seite. Wie aus dem Nichts erschien ein Brandpfeil und verfehlte sie um ein Haar. Schnarrend bohrte er sich in den Türpfosten.
Ohne Zögern griff das Feuermädchen in die Flammen und erstickte sie mit der Hand. »Ich kümmere mich um Shúria und die Kinder. Verschafft uns etwas Zeit«, sagte sie in ihrer abgeklärten Art, wandte sich von ihm ab und lief ins Haus.
Jagur schwang seine Axt herum, fegte ein zweites Brandgeschoss aus dem Weg und brüllte: »Zeigt euch, ihr feigen Hunde. Verfluchte Gaukler!« Sein Blick ruckte nach links, wo Taramis stand. »Entschuldigung. War nicht gegen dich gerichtet.«
»Schon gut. Kannst du sie mit Blindheit schlagen?«
»Dazu müsste ich sie selber erst mal sehen …«
»Vorsicht!« Taramis riss den Schild hoch und verhinderte, dass ein Pfeil den Kirrie traf.
»Danke«, knurrte Jagur. »Wir stehen hier wie auf dem Präsentierteller. Lass uns lieber reingehen.«
»Dann werden sie uns im Haus einschließen und es über unseren Köpfen abfackeln. Ich weiß etwas Besseres.«
Taramis wandte sich wieder dem flirrenden Feld zu. Hoffentlich konnte er noch die Gabe heraufbeschwören, die er so lange vernachlässigt hatte. Als Fernwirker vermochte er nur auf Dinge oder Personen einzuwirken, die er sah oder von denen er zumindest genau wusste, wo sie sich befanden. Mehr war hier auch nicht nötig. Er konzentrierte sich auf die dunkle Ackerkrume. Sie war schwer vom Morgentau.
Sein Geist fuhr wie eine Windbö in die lose Erde, riss die feuchten Sandkörnchen aus der Krume und wirbelte sie empor. Mit einem Zischen fegten sie über das Feld und blieben an allem hängen, das vom Boden aufragte.
Überall erschienen bewaffnete Krieger. Ihre Zahl nahm rasch zu, bis es mindestens zweihundert waren. Etwa vier Dutzend saßen auf Stegonten, die Taramis an Rhinozerosse nach einem Schlammbad erinnerten. Man hätte meinen können, sämtliche Lebewesen dieser Armee bestünden aus Sand. Von manchen waren nur die Beine, der Oberkörper oder das Haupt zu sehen. Fischköpfe befanden sich nicht darunter.
Die enttarnten Krieger ließen nun alle Vorsicht fahren und stürmten mit lautem Gebrüll auf das Gehöft zu. Die Angriffslinie beschrieb einen weiten Bogen, dessen Enden bis zum Meeresufer reichten.
»Meine Fresse!«, keuchte Jagur. »Das wird ein hartes Stück Arbeit.«
Taramis deutete zu den Rändern der vorrückenden Kette. »Wir müssen verhindern, dass sie uns den Weg zum Ufer abschneiden.«
»Sollen wir sie einzeln erschlagen oder willst du mir die Spielereien aus deiner Trickkiste zeigen, von denen du neulich erzählt hast?«
»Bin schon dabei.« Er schloss kurz die Augen, um sich auf seinen »Abwehrzauber« zu konzentrieren. Der Boden zitterte unter den heranstampfenden Stegonten.
Ein weiterer Pfeil zischte herbei. Mit einem vernehmlichen Pling! fegte Jagurs Axt ihn aus dem Weg. »He!«, brüllte der kleine Recke. »Warum schießt ihr nicht zur Abwechslung mal auf ihn?«
»Vielleicht weil sie mich lebend kriegen wollen?«, murmelte Taramis abwesend. Er spürte, wie die feindliche Linie den ersten Verteidigungsgürtel erreichte.
»Entschuldige, wenn ich störe, aber wie lange gedenkst du noch zu warten?«, brummte Jagur.
»Bis jetzt!«, stieß Taramis hervor und riss die Augen auf. Kraft seines Willens hatte er eine Reihe verborgener Mechanismen ausgelöst. Unter Abdeckungen aus Reisigbündeln und einer dünnen Schicht Erde schnellten Schwungarme herum, an deren Enden sich Feuersteine befanden, welche ihrerseits gegen Eisenbänder schlugen, die Funken auf Zunderwatte warfen. Die mineralischen Kissen entzündeten sich und steckten ein explosives Gemisch aus Birkenpech und leicht entflammbaren Zutaten in Brand.
Aus einem halbkreisförmigen Graben rund um das Gut schoss plötzlich eine Wand aus Feuer und Rauch hervor. Im Nu verwandelte sich der Schauplatz in eine Szene des Schreckens.
Einige Angreifer waren direkt in die Flammen geraten und taumelten als lebende Fackeln über das Feld. Ein brennender Stegont raste in wilder Panik in die Feuerbarriere und dahinter, wie die grauenhaften Schreie der zu Boden getrampelten Krieger verrieten, in die eigenen Schlachtreihen.
»Das wird sie aber nicht lange aufhalten«, mäkelte Jagur.
»Die Feuerfurche ist erst der Anfang«, antwortete Taramis. »Sie soll dem Feind die Sicht nehmen.«
Vom Himmel stieß jäh etwas Dunkles auf ihn herab. Instinktiv riss er Ez hoch.
»Das ist Tosu!«, rief Siath von der Tür her. Gerade war sie aus dem Haus gekommen, so als habe sie die Ankunft ihres gefiederten Gefährten gespürt. Sie hatte Taramis’ Langbogen und den Pfeilköcher mitgebracht.
Er senkte den Feuerstab und der Goldmilan landete auf dem Arm der Ganesin.
»Ich wüsste zu gerne, was hinter dem Qualm vor sich geht«, brummte Jagur. Er hielt seinen Blick unverwandt auf die Mauer aus Feuer und Rauch gerichtet.
»Dasselbe dürften die anderen auch denken«, erwiderte Taramis.
»Tosu hat Ischáh gefunden. Sie ist auf dem Weg hierher«, meldete Siath.
»Gott sei Dank!«
Sie ließ ihren Greif wieder aufsteigen, reichte Taramis die Waffen und deutete mit dem Kopf zur Feuerfurche hinüber. »Der Lärm hat mich auf die Idee gebracht, dass du vielleicht ein paar Pfeile verschießen möchtest.«
»Danke.« Er nahm ihr Köcher und Bogen ab. »Kümmere dich bitte um Shúria und die Kinder. Hier könnte es gleich ungemütlich werden.«
»Könnte? Warum müsst ihr Männer nur immer so tun, als würde euch nichts erschüttern.« Sie verdrehte die Augen, wandte sich um und verschwand durch die Tür.
»Wieso hat unser Blondlöckchen so schlechte Laune? Ist doch ein herrlicher Morgen«, knurrte Jagur. Wegen des Lärms vom Feld her war er kaum zu verstehen.
»Was macht dein Donnerkeil?«, rief Taramis. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
»Schwallt noch im Äther herum.«
»Wir brauchen ihn aber hier.«
»Hetz mich nicht! Ich arbeite daran. Kümmer du dich lieber um die Bande auf dem Acker.«
»Keine Sorge, im Geiste bin ich längst auf dem Schlachtfeld da draußen.«
»Das Haus!«, keuchte Jagur unvermittelt. »Es ist gerade über den Stall gesprungen. Meine Güte, so sturzbetrunken kann ich doch gar nicht sein.« Anscheinend waren die drei Gebäude des Gehöfts um gut fünfzig Schritte nach links versetzt worden.
»Bist du auch nicht. Es ist nur eine Gaukelei.«
»In dieser Größe? Sei vorsichtig, Taramis! So ein riesiges Trugbild kostet dich einen Haufen Kraft.«
Tatsächlich hatte Taramis vor Anstrengung kaum seine Gesichtszüge unter Kontrolle. »Unsere Gegner werden gleich durchbrechen. Irgendwie müssen wir die Frauen und Kinder vor weiteren Brandpfeilen schützen.« Er ließ den Blick an der lodernden und qualmenden Furche entlangwandern. An einigen Stellen erloschen die Flammen bereits. Jeden Moment würde die Feuerbastion fallen. Hoffentlich wartete der Feind nicht zu lange auf freie Sicht.
Plötzlich brach der erste Stegontenreiter durch die Barriere. Ohne Gaukelei oder sonstige Tarnung preschte er aus dem aufsteigenden Qualm hervor. Links und rechts von ihm erschienen weitere Krieger auf ihren stampfenden Dreihörnern.
»Jetzt!«, hauchte Taramis und stemmte seinen Geist unter die Forken. So nannte er die langen Baumstämme, in denen Zinken aus angespitzten Pfosten staken. Drei Reihen dieser tödlichen Hindernisse hatte er mit seinen Helfern hintereinander gestaffelt. Schweißtropfen traten auf seine Stirn, als er die schweren Barrieren nun mit seinem Willen aufrichtete.
Rauch und Feuer nahmen den Stegontenreitern die Sicht. So bemerkten viele zu spät, dass sie ihre Tiere geradewegs in die schräg aufragenden Spitzpfähle trieben. In vollem Galopp spießten sich etliche Dreihörner daran auf und schleuderten ihre Reiter in die zweite oder sogar dritte Pfostenkette. Todesschreie gepfählter Menschen und Stegonten hallten über das Schlachtfeld.
»Die tragen ihre Haare offen«, sagte Jagur unvermittelt. Er hatte den Axtkopf zu Boden sinken lassen und seine Hand auf den Stiel gestützt.
Taramis sah ihn verständnislos an. »Was?«
»Die Krieger. Sind dir ihre Mähnen nicht aufgefallen? Außerdem scheinen sie alle tätowiert zu sein, soweit ich das erkennen kann. Es sind Drachenmenschen.«
»Kesalonier?« Taramis entsann sich der Erzählungen seines Meisters von den marodierenden Banden aus dem entlegenen Inselreich. Vor vielen Jahren hatten sie sogar einmal die Heilige Insel bedroht. Erst durch eine Allianz aus Tempelwächtern, Komanaern und anderen Völkern waren die wilden Scharen in die kesalonischen Steppen zurückgedrängt worden.
»Vielleicht ist dieser Überfall nur ein gewöhnlicher Raubzug«, sinnierte der ehemalige Pirat, als seien derartige Übergriffe so normal wie ein Sommergewitter.
Taramis hatte wieder die Augen geschlossen und hörte dem Kirrie nur noch mit halbem Ohr zu. Das Trugbild aufrechtzuerhalten war schon mühsam genug. Und dabei durfte er es ja nicht belassen. Auch die Spitzpfähle vermochten den Gegner nicht lange aufzuhalten. Höchste Zeit, die nächste Barriere in Stellung zu bringen. Dazu musste er bis an die Grenze der Reichweite seines Fernwirkens gehen. Zur Rechten, hinter dichten Büschen verborgen, gab es ein System aus Wehren zum Regulieren der Pegel im Bach und in den Bewässerungskanälen.
Wie von Geisterhand senkten sich nun, einen Bogenschuss vom Hof entfernt, hölzerne Schwellen herab. Die unbändige Flut des Frühjahrshochwassers schoss in den einzigen noch unverschlossenen Graben, der etwa zwei Manneslängen tief und vier Schritte breit war. Wie schon die Feuerfurche hatte Taramis auch diesen dritten Verteidigungsring mit Schilfmatten und einer dünnen Schicht Erde abdecken lassen.
Erschöpft öffnete er die Augen und erschrak.
Jagur stand nicht mehr neben ihm unter dem Vordach. Mit wirbelnder Axt lief er auf einen Kesalonier zu, der kaum größer war als er selbst. Es musste sich um einen Stegontenreiter handeln, der ob seiner Leichtigkeit über sämtliche Barrieren hinweggeschleudert worden war, als sein Tier sich in den Spitzpfählen verfangen hatte. Der Mann trug nur einen Lederpanzer und einen kurzen Schurz, der eine Handbreit oberhalb der Knie endete. Die unbedeckten Beine, Oberarme und das Gesicht des stämmigen Kriegers waren dicht mit verschlungenen Mustern tätowiert. Er schoss mit seinem Rundbogen einen Pfeil auf den Kirrie ab.
Dessen Streitaxt wirbelte herum und fegte die tödliche Bedrohung wie eine lästige Hornisse aus dem Weg. Der kleine Recke war nicht einmal stehen geblieben. Mit wütendem Gebrüll stürmte er weiter auf seinen Gegner zu.
So hatte sich Taramis den Durchbruch eigentlich nicht vorgestellt. Im Kampf Mann gegen Mann standen ihre Chancen bei einer solchen Übermacht ausgesprochen schlecht. Er zog blitzschnell einen Pfeil aus dem Köcher, legte an und schoss.
Der Kesalonier brach mit durchbohrtem Herzen zusammen.
Jagur kam schlitternd zum Stehen, wirbelte herum, rammte zornig den Axtkopf in den Boden und brüllte: »Musste das sein?«
»Wir sind nicht zum Vergnügen da«, rief Taramis. »Die Frauen und Kinder brauchen uns hier. Komm sofort wieder her und kümmere dich um deinen Donnerkeil.«
»Hab ich schon. Aviathan ist auf dem Weg. Anstatt die Zeit totzuschlagen, bis er da ist, sollten wir lieber Kesalonier erschlagen. Die Drachenmänner sind Geisterbeschwörer und Frauendiebe. Gao hat bestimmt nichts dagegen, wenn es ein paar weniger von ihnen gibt.«
»Aber ich. Auf meinem Land gilt mein Gesetz. Mach, dass du endlich herkommst, Jagur. Du wirst gleich genug zu tun bekommen.«
Missmutig vor sich hin brummelnd stapfte der Kirrie zum Haus zurück. Ehe er es erreichte, überwanden hinter ihm weitere Kesalonier den zweiten Ring. Etliche Spitzpfähle waren unter dem Gewicht der Stegonten zusammengebrochen, andere konnten wegen der darauf steckenden Leichen ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Die nachdrängenden Krieger stiegen einfach über die Kadaver und toten Stammesbrüder hinweg.
»Wie viele Überraschungen hast du noch in petto?«, knurrte Jagur, als er wieder neben seinem Freund Stellung bezog.
»Eine einzige«, antwortete Taramis mit finsterer Miene. Er fühlte sich ausgelaugt, als hätte er einen ganzen Tag auf dem Feld geschuftet.