Der Kreis der Dämmerung – Teil 4: Der unsichtbare Freund - Ralf Isau - E-Book

Der Kreis der Dämmerung – Teil 4: Der unsichtbare Freund E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

Das packende Finale der Fantasy-Reihe um den "Kreis der Dämmerung". David Camden bleiben nur noch 25 Jahre, um den Kreis der Dämmerung zu besiegen, dann läuft seine Zeit als Jahrhundertkind ab. Seine Ermittlungen führen ihn rund um die Welt und schließlich bekommt er Hilfe von unerwarteter Seite. Die endgültige Konfrontation mit Lord Belial steht kurz bevor ...-

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Ralf Isau

Der Kreis der Dämmerung – Teil 4: Der unsichtbare Freund

 

Saga

Der Kreis der Dämmerung – Teil 4: Der unsichtbare Freund

 

Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany

(www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 2001 im Thienemann Verlag erschienen

Coverbild/Illustration: Shuttersotck

Copyright © 2001, 2022 Ralf Isau und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728390399

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Nur der Denkende erlebt sein Leben,

an Gedankenlosen zieht es vorbei.

Marie von Ebner-Eschenbach

SIEBTES BUCH

Jahre des Zorns

Manchmal scheint Gott genau denen Brot zu geben,

die keine Zähne haben,

damit ihre schlimmste Strafe der Tag sein wird,

an dem sie ihr Tun bereuen.

Ricardo Arjona

Tiara

Als sie das Pfarrhaus erreichten, hörte das Nieseln auf. Doch Mond und Sterne hielten sich weiter hinter dunklen Wolken versteckt. Es war eine finstere Nacht.

»Typisch«, sagte Lorenzo Di Marco und schloss mit einem mittelalterlich anmutenden Riesenschlüssel die Tür auf. »Komm rein, David, und zieh dir etwas Trockenes an. Ich koche uns noch einen Kaffee und schlüpfe schnell in andere Sachen. Dann können wir darüber reden, wie es nun mit uns weitergehen wird.«

Der Klang von Lorenzos Stimme gefiel David nicht. Es lag etwas Sachliches, Kühles in ihr. In diesem Ton pflegte man Absagen zu formulieren. Unter dem noch frischen Eindruck der misslungenen »Feuerprobe« in der Werkstatt des jüdischen Goldschmiedes konnte David seinen Freund sogar verstehen. Wäre der Fürstenring in Lord Belials Gegenwart eingeschmolzen worden, hätte der Kampf gegen den Kreis der Dämmerung ein schnelles Ende gefunden. Jasons Anleitung zufolge wäre damit »das Böse gebannt und das im Ring eingeschlossene Gute befreit« worden. Alle Theorie ist grau.

Die Praxis dagegen ist ein widerborstiges Biest, dem man nicht trauen darf. Der herbe Rückschlag dieses Abends hatte sie alle in Gefahr, aber dem Ende der Jagd nicht um ein Jota näher gebracht. Nur mit vielen beschwichtigenden Worten waren sie unbeschadet aus der Werkstatt des aufgebrachten Goldschmieds entkommen. Er wolle so ein »verfluchtes Ding« nicht in seinem Hause haben, hatte Davide gewettert und den Ring böse angefunkelt. Es bringe Unglück. Er werde sich ernsthaft überlegen müssen, ob er Lorenzo nicht die Freundschaft aufkündige.

David fröstelte. Lag es an der Feuchtigkeit in seinen Kleidern oder an den Gedanken in seinem Kopf? Ihr stümperhafter Versuch, den mächtigen Schattenlord in eine Falle zu locken, konnte sich leicht ins Gegenteil verkehren. Tags zuvor hatten sie im Mithräum mit Hilfe des Siegelringes die Bilder der Vergangenheit heraufbeschworen und ihn dann dem Feuer des Goldschmiedes ausgesetzt. Vielleicht war dadurch eine Tür aufgestoßen worden, die sich nun nicht mehr schließen ließ.

Gedankenversunken schritt David den breiten Flur entlang in das Wohn- und Arbeitszimmer. Bevor er sich umzog, wollte er die klamme Kälte aus dem Raum vertreiben. Er machte sich am Kamin zu schaffen, füllte die alte Asche in einen Behälter, schichtete Holzscheite und zuletzt einige Kienspäne auf. Dann ließ er ein langes Streichholz über die Reibefläche der Schachtel gleiten und betrachtete wie hypnotisiert die gelbe Flamme. Erst als er die Hitze des Feuers an den Fingerkuppen spürte, warf er das Zündholz auf die harzigen Späne. Schnell breitete sich unter seinen Händen eine wohlige Wärme aus.

»Wie viel Zucker möchtest du in deinen Kaffee?«, rief Lorenzo über den Flur.

»Nur einen Teelöffel ...« David stockte. Entsetzt riss er die Augen auf. Das Feuer im Kamin schien sich urplötzlich in einen Lichtblitz zu verwandeln. Im nächsten Moment war ihm klar, dass die Explosion erst noch stattfinden würde. Seine Sekundenprophetie hatte ihn gewarnt.

»Eine Bombe!«, schrie er, so laut er konnte, schnellte aus der Hocke hoch und rannte zur Flurtür. »Lorenzo, wir müssen raus!«

Der Freund war bereits auf dem Gang. »Was ...?«

»Keine Zeit! In höchstens fünfzehn Sekunden ... Ach, komm einfach!« David packte den Gefährten an der Jacke und wollte ihn zur Tür zerren, aber schon erkannte er eine neue Gefahr. »Draußen sind Männer mit Schrotflinten. Gleich fliegt hier alles in die Luft.«

Noch zehn Sekunden ...

»Hier lang!«, stieß Lorenzo hervor und zog nun seinerseits David mit sich. Am Ende des Flures riss er einen fadenscheinigen Läufer zur Seite und darunter eine Bodenluke auf. »Spring!«, brüllte er.

Noch vier Sekunden...

David sprang – der Keller war nur zwei Meter tief – und rollte sich sofort zur Seite weg. Lorenzo hatte hinter ihm noch nicht ganz den Boden erreicht, als eine gewaltige Detonation das Pfarrhaus erschütterte. Sie wichen zurück, um nicht von umherfliegenden Trümmern getroffen zu werden. Brennende Splitter regneten in den Kellerraum hinab, der dadurch für kurze Zeit in helles Licht getaucht wurde.

»Das war knapp«, keuchte Lorenzo.

»Noch sind wir nicht draußen. Sollte uns nicht schnell etwas einfallen, werden wir hier unten ausgeräuchert. Und selbst wenn wir irgendwie hinauskommen, warten oben die Kerle mit ihren Flinten auf uns.«

»Ein Hausherr sollte sich in seinen vier Wänden besser auskennen als irgendwelche Kerle!«, entgegnete Lorenzo verächtlich.

»Soll das heißen, es gibt hier noch einen zweiten Ausgang?«

»Warte!« Lorenzo nahm eine Grubenlampe von der Wand, fischte sich aus den glimmenden Trümmern einen langen Holzsplitter und setzte damit den Docht in Brand. Nachdem er das Schutzglas über die Flamme gestülpt hatte, sagte er: »Es kann losgehen. Bleib dicht hinter mir.«

Der Gewölbekeller des Pfarrhauses besaß mehrere Räume. Im vorletzten stapelte sich die Kirchengeschichte der vergangenen Jahrhunderte bis unter die Decke. An der Rückwand des Raumes hing ein schimmeliger Gobelin. Lorenzo verlor keine Zeit. Er riss den Wandteppich herab und legte eine schwere Eisentür frei, die sich nur unter einem qualvollen Ächzen öffnen ließ. Dahinter befand sich ein weiterer Gang. Lorenzo schob David hinein und zog schnell wieder die Tür zu, um den nachströmenden Qualm abzuhalten.

Anfangs waren die Wände des Tunnels sogar verputzt, aber schon nach wenigen Metern sah er fast wie ein Bergwerksstollen aus. »Da geht’s zur Kirche hinauf«, kommentierte Lorenzo eine Abzweigung.

»Und da?«, fragte David, in die dunkle Tiefe deutend.

»Du hast doch sicher schon von den Katakomben der Ewigen Stadt gehört?«

»Natürlich.«

Lorenzo lächelte grimmig. »Na, dann herzlich willkommen in Roms Unterwelt.«

 

Es war unheimlich. Im Lichtnebel von Lorenzos Grubenlampe konnte David immer nur einen kleinen Ausschnitt der Umgebung sehen. Die oft schmalen, sich manchmal aber auch zu großen Kammern weitenden Gänge wiesen zu beiden Seiten Nischen auf, deren ursprünglicher Zweck unschwer zu erraten war. Skelette lagen in ihnen. Die Gefährten durchwanderten einen unterirdischen Friedhof.

»Ich dachte immer, die Katakomben seien Zufluchtsstätten der ersten Christen gewesen«, sagte David, um die bedrückende Stille zu vertreiben.

Lorenzo schüttelte den Kopf. »Ich habe mal für eine Dissertation zu dem Thema recherchiert. Gianbattista de Rossi hat die Katakomben im letzten Jahrhundert gründlich erforscht. In seinem Buch Roma sotterranea beschreibt er dieses verwinkelte unterirdische System als eine reine Grabanlage. Sowohl heidnische, jüdische als auch christliche Römer haben ihre Toten hier unten bestattet. Die Nutzung als unterirdische Versammlungsstätte durch die Christen dürfte die Ausnahme gewesen sein.«

Ein Totenschädel glotzte David unverhohlen an. »Jetzt wird mir einiges klar. Bisher habe ich immer geglaubt, die Katakomben befänden sich weiter im Süden, unter der alten Via Appia.«

»Niemand ... Pass auf!«

David wich einem aus seiner Nische gerutschten Knochenarm aus, der in den Gang ragte und scheinbar nur von Spinnfäden festgehalten wurde.

Lorenzo ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Niemand kann genau sagen, wo die Römer überall den weichen Tuffstein ausgehöhlt und ihre Gräber angelegt haben. Aber du hast Recht: Die Wiederentdeckung dieser Anlage dürfte einer Sensation gleichkommen, sie liegt nämlich innerhalb des Pomerium, der geheiligten Stadtgrenze. Doch das alles hier ist völlig in Vergessenheit geraten.«

»Nicht ganz: Hättest du dich nicht daran erinnert, wären wir jetzt wohl längst geräuchert, verbrannt oder von Schrot durchsiebt.«

»Hier geht’s wieder in die Welt der Lebenden«, sagte Lorenzo und deutete mit der Lampe zu einer nach oben führenden Treppe.

»Warte«, hielt ihn David zurück. »Ich muss mich noch bei dir entschuldigen.«

»Wofür denn? Du hast mir doch gerade eben das Leben gerettet.«

»Ja, aber dafür liegt jetzt dein Haus in Schutt und Asche. Das ist meine Schuld. Wer immer mich in Buenos Aires in die Luft zu sprengen versuchte, hat hier offenbar seinen Fehler wieder ausbügeln wollen.«

»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Hast du dich schon gefragt, wie uns dieser Unbekannte finden konnte?«

David nickte mit grimmiger Miene. »Spätestens seit der Fürstenring sogar dem Feuer des Goldschmieds standgehalten hat, mussten wir wohl mit einer Entdeckung rechnen.«

Auch Lorenzo nickte. »Unser Experiment im Mithräum von San Clemente dürfte noch ein Übriges bewirkt haben. Von dir weiß ich schließlich, dass Negromanus dich einmal in einem schottischen Schloss nach einem ähnlichen, allerdings zufälligen Versuch aufgespürt hat.«

»Damals war ich mir nicht sicher, ob es einen Zusammenhang zwischen dem seltsamen Lichtspiel des Rubins und dem Auftauchen von Belials rechter Hand gab.« David seufzte. »Aber jetzt lässt sich das wohl nicht mehr leugnen.«

»Wir sollten so schnell wie möglich aus Rom verschwinden.«

David horchte auf. »Hast du eben wir gesagt?«

Lorenzo lächelte gequält. »Du glaubst doch nicht, ich wäre hier noch sicher? Nein, mein Lieber, jetzt hast du mich am Hals. Ich komme mit dir nach New York. Wenn ich es nicht besser wüsste, müsste ich fast annehmen, du hättest mir mein Heim mit Absicht unter dem Hintern weggesprengt.«

 

Die Via Appia Antica war die »Königin der Straßen«. Und das schon seit zweitausendzweihundertsiebzig Jahren. Schnurgerade – zumindest beinahe – erstreckte sie sich über fünfhundert Kilometer weit von Rom bis nach Brindisi, dem antiken »Tor zum Orient«. David und Lorenzo bezogen fast noch an ihrem Ausgangspunkt Quartier, kurz hinter dem zweiten Meilenstein, etwa auf der Höhe des Romulusmausoleums.

In der Villa eines Schuhfabrikanten aus Siena, der zu Lorenzos wenigen noch verbliebenen Freunden aus der Vorkriegszeit gehörte, lebten die beiden Ausgebombten für kurze Zeit in ungewohnt luxuriöser Umgebung. David wurde schnell wieder vertraut mit dem nur allzu menschlichen »Heiligen«. Der Tag nach dem Abenteuer in den Tiefen unter San Clemente war mit hektischer Betriebsamkeit ausgefüllt gewesen, der den beiden Freunden kaum Gelegenheit zum Schwelgen in der Vergangenheit gegeben hatte. Die Verabredungen mit dem jüdischen Goldschmied Davide und – gewissermaßen als Notfallplan – mit einigen anderen Informanten mussten getroffen und noch etliche Erkundigungen eingezogen werden. Aber nun waren sie zur Untätigkeit gezwungen.

David gab sich nicht der Illusion hin, Belials Häscher lange täuschen zu können. Ohne Frage würden sie nach Abrücken der Feuerwehr zu dem zerstörten Pfarrhaus zurückkehren und nicht eher ruhen, bis sie den verborgenen Fluchtweg entdeckt hätten. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden dürften die Suchtrupps des Schattenlords wie ein Bienenschwarm über Rom herfallen.

»Ich muss mit einigen Personen telefonieren, die mir noch einen Gefallen schulden«, hatte Lorenzo seinen Plan zur Rettung der wahrhaft brenzligen Situation erklärt. »Mit ihrer Hilfe werden wir das Gerücht in die Welt setzen, du seist aus der Stadt geflohen. Sobald die Fragerei nach dem weißhaarigen Ausländer aufhört, können wir uns wieder aus unserem Schlupfwinkel wagen. Aber bis dahin ist absolute Funkstille angesagt.«

In den kommenden Tagen verbrachten die beiden Freunde in mondäner Umgebung viel Zeit damit, sich die jeweiligen Erlebnisse der vergangenen Jahre zu erzählen. Zum ersten Mal berichtete David auch in aller Ausführlichkeit von den Tagen des Jahres 1939, als ihm Rebekka entrissen worden war, und der ehemalige Mönch trauerte um sie wie um eine verlorene Schwester. Um David aufzumuntern, erzählte er von seinen vielen Kontakten zu Insidern des Vatikans. So habe er erfahren, was bereits der vatikanische Liegenschaftsbeamte Ugo Buitoni angedeutet hatte: Franz von Papen befinde sich tatsächlich in der Obhut eines hohen kirchlichen Würdenträgers in Italien. Er, Lorenzo, werde David helfen, seinen alten Widersacher zu finden, und wenn er den Papst persönlich einschalten müsse.

Noch hatte David allerdings die misslungene Feuerprobe nicht ganz abgehakt. Immerhin ging es ja um die Frage, wie Lord Belial besiegt werden könnte.

»Was denkst du, Lorenzo, weshalb konnten die Flammen dem Ring nichts anhaben?«

»Möglicherweise bedarf es dazu eines besonderen Feuers, einer Energie, wie sie vielleicht bei der Entstehung des Universums existiert hat.«

»Also, wenn mir das Mut machen soll …« Wo sollte er nur ein solches Feuer hernehmen? Er musste sich wohl mit der unangenehmen Wahrheit abfinden, dass es keinen einfachen Weg gab, sich des Kreises der Dämmerung zu entledigen.

 

Anfang Oktober 1958 nahmen die beiden Freunde wieder ihre Nachforschungen auf. Seit einigen Tagen hatten Lorenzos Informanten nichts mehr über anonyme Frager berichtet, die mit Bündeln von Geldscheinen herumwedelten und sich nach einem »weißhaarigen Engländer« erkundigten. Diese Ruhe mochte natürlich trügerisch sein und deshalb wagten sich die beiden Freunde nur in wechselnden Verkleidungen ans Tageslicht. Je mehr Zeit allerdings verstrich, desto mutiger wurden sie. Bald ging David wieder ganz in jener Art von Ermittlungen auf, die ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen waren. Ein erfreulicher Unterschied: Nun kämpfte ein nicht nur tatkräftiger und intelligenter, sondern auch äußerst beschlagener Gefährte an seiner Seite.

Für gewöhnlich begann der Tag mit einer Lagebesprechung im holzgetäfelten Speisezimmer des Sieneser Schuhfabrikanten. Gemeinsam studierte man die Zeitungen, hörte die Nachrichten im Radio, man konnte ja nie wissen, aus welcher Quelle ein wichtiger Hinweis kam. Anschließend ging man getrennte Wege, jeder folgte einem Zweig des verwirrenden Geästs, das vom Stamm der katholischen Kirche getragen wurde. Wenn man sich des Abends wieder traf und die Sonne untergegangen war, stand für gewöhnlich ein ausgedehnter Spaziergang in den Parks der Umgebung auf dem Programm (in diesem Punkt hatte Lorenzo nicht nachgegeben). Anschließend wurde dann meist noch lange debattiert.

Lorenzo hatte in den Jahren ihrer Trennung einige mehr oder weniger schlüssige Theorien zu den Aktivitäten von »Belials Sippschaft« entwickelt. Er habe eine ganze Reihe von Hinweisen in der Geschichte gefunden, die auf das Wirken eines Geheimbundes schließen ließen. Schon Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, erwähne in der Offenbarung eine geheimnisvolle »Nikolaus-Sekte«. Im zweiten Kapitel des gleichen Buches der Bibel bezeichne er Pergamon als den »Thron des Teufels«.

David hörte das alles ohne rechte Freude und ließ Lorenzo auch wissen warum: Sollte die Welt tatsächlich – woran er eigentlich keinerlei Zweifel hege – derart von Belials Wirken durchdrungen sein, dann frage er sich einmal mehr, was ihm, David, eigentlich noch für Chancen blieben. Wie könne er überhaupt daran denken, einem solch machtvollen Gegner Paroli bieten zu wollen!

»Es gibt da eine interessante Stelle in der Schrift«, antwortete der einstige Benediktiner mit wissendem Lächeln.

»Habe ich beinahe vermutet«, brummte David.

»Eben erwähnter Johannes schreibt in seinem ersten Brief, Kapitel fünf: ›Denn alles, was aus Gott geboren worden ist, besiegt die Welt. Und das ist die Siegesmacht, die die Welt besiegt hat: unser Glaube.‹ Deine bisherigen Erfolge haben gezeigt, dass du auf der richtigen, auf Gottes Seite streitest, um das Böse zu besiegen. Du musst fest daran glauben, David, auch den endgültigen Sieg erringen zu können.«

»Ich wünschte nur, das Ganze ginge etwas schneller.«

»Damit kann ich dir dienen.«

»Wie meinst du das?«

Lorenzo schmunzelte. »Ich wollte dich eigentlich überraschen: Morgen wirst du eine Privataudienz bekommen.«

»Eine Audienz. Doch nicht . . .«

Der Italiener nickte. »Bei Pius XII., ganz recht. Es war nicht leicht für mich – einen geächteten ›Eiferer‹ –, dieses ›Arrangement‹ zu treffen. Der Papst kränkelt. Als er letzten Sonntag den Segen über die Teilnehmer eines Notarkongresses sprechen wollte, soll er plötzlich sekundenlang mit erhobener Hand mitten im Kreuzeszeichen verharrt haben. Na, jedenfalls, jetzt bewegt er sich wieder. Morgen um halb elf kannst du bei ihm vorsprechen. Du besitzt ja bereits Erfahrung in dieser Disziplin.«

David glotzte seinen Freund an, als wäre er einer jener Außerirdischen, die angeblich vor einigen Jahren in Roswell, New Mexico, gelandet waren. »Ich habe das nicht ganz ernst genommen, als du diese Option erwähnt hast.«

 

Am frühen Morgen des 9. Oktober 1958 wurden die Römer noch vor Sonnenaufgang von einem Glockengeläut aus dem Schlaf gerissen, das nur zu besonderen Anlässen erklang. Es kam von der Totenglocke der Laterankapelle. Bald fiel Sankt Peter ein und schließlich sangen alle Kirchen der Ewigen Stadt das Lied von der Vergänglichkeit des Menschen. Eugenio Maria Pacelli, besser bekannt als Papst Pius XII., war um drei Uhr zweiundfünfzig gestorben.

David und Lorenzo gehörten auch zu den vorzeitig aus dem Schlaf Gerissenen. Aus dem Radio erfuhren sie die Einzelheiten.

»Das gibt’s doch nicht!«, fauchte David.

»Beruhige dich. Wir können ihn nicht wieder lebendig machen.«

»Aber hätte er nicht einen Tag später sterben können?«

»Ich habe Pacelli zwar nie besonders gemocht, aber das ist nun wirklich pietätlos, David.«

»Entschuldige. So habe ich es nicht gemeint. Aber man könnte doch wirklich glauben, jemand habe ihn uns vor der Nase weggeschnappt.«

»Sind Meuchelmordtheorien nicht eine Spezialität deines Vaters gewesen?«

»Ist ja schon gut!« David lief im Esszimmer der Villa auf und ab, wedelte mit den Armen in der Luft herum, knurrte zusammenhanglose Satzfetzen ...

»Setz dich!«, befahl Lorenzo mit einem Mal.

David blieb stehen. Lange schon hatte niemand mehr so mit ihm gesprochen. Aber er gehorchte. Irgendwie gefiel es ihm sogar, nicht mehr die ganze Bürde seiner Aufgabe allein tragen zu müssen. Kraftlos ließ er die Schultern hängen und jammerte: »Lange halte ich diese ständigen Rückschläge nicht mehr aus. Hast du eine Idee, was wir jetzt tun sollen?«

»Bis das Konklave einen neuen Papst gewählt hat, wird noch einiges Wasser den Tiber hinabfließen. Es gibt da allerdings eine Sache, die ich ohnehin heute noch ausprobieren wollte.«

»Was denn?«

»Sagt dir der Name Hudal etwas?«

»Nie gehört.«

»Bischof Dr. Alois Hudal ist Rektor der deutschen Nationalkirche Santa Maria dell’Anima. Er hat aus seiner Schwäche für die Nationalsozialisten nie einen Hehl gemacht.«

»Ein deutscher katholischer Bischof?«

»Eigentlich ist er Österreicher. Man erzählt sich da eine nette kleine Anekdote: Hudal soll einmal Adolf Hitler ein Exemplar seines Machwerks mit dem schönen Titel Die Grundlagen des Nationalsozialismus geschenkt haben. Als Widmung textete er: ›Dem Siegfried deutscher Größe‹. Ist das nicht herzallerliebst?«

»Du kannst ja richtig zynisch sein, Lorenzo.«

»Hudal ist einer jener Katholiken, die meinen Glauben erschüttert haben. Aber das nur am Rande. Der Bischof gehört einer geheimen kirchlichen Organisation an, die sich der Fluchthilfe für Nazifunktionäre verschrieben hat. Um die Kriegsverbrecher vor dem Zugriff der Justiz zu retten, werden sie über die so genannte ›Klosterroute‹ in nazifreundliche Länder ausgeschleust und Hudal spielt sogar eine Schlüsselrolle dabei. In vielen Fällen haben sich die Gesuchten über Österreich abgesetzt, sind einige Zeit bei Mönchen untergeschlüpft, bis ihnen der Bischof dann frische Papiere gebacken hatte. Schließlich verschwanden sie auf Nimmerwiedersehen als ›unbescholtene‹ Emigranten ins Ausland.«

»Vorwiegend nach Südamerika, ich weiß. Dieser fromme Mann interessiert mich, Lorenzo. Ich werde dich begleiten.«

 

Die Kirche an der Piazza della Pace 20 fiel in jeder Hinsicht aus dem Rahmen. Natürlich waren die für Rom reichlich ungewöhnlichen gotischen Elemente von Santa Maria dell’Anima ein für David vernachlässigbarer Stilbruch. Als wesentlich deplatzierter empfand er das Element, das sie unmittelbar vor dem Altar erwartete. Es hieß Alois.

Ein Bischof, der gesuchte Nazis vor der Justiz verstecke, das sei schon eine besonders unverfrorene Gotteslästerung, hatte Lorenzo bemerkt. Dieser Meinung war auch David. Er stellte sich Hochwürden als Friedrich Vauser vor, der für das deutsch-argentinische Blatt Der Weg schreibe und die Verdienste des frommen Kirchenmannes vielspaltig würdigen wolle. Das freute Hudal. Er schien mit seiner von ihm als »karitative Arbeit« begriffenen Fluchthilfe keine Probleme zu haben, ja, man konnte glauben, er kokettiere sogar mit der Illegalität seines Tuns.

David umgarnte den Bischof mit Schmeicheleien und der schwang sich in immer höhere Sphären der Selbstbeweihräucherung empor. Irgendwann stöhnte der Nazi in narzistischer Verzückung: »Ich danke dem Herrgott, dass er mir meine Augen geöffnet und die unverdiente Gabe geschenkt hat, so viele Opfer der Nachkriegszeit in Kerkern und Konzentrationslagern besucht und getröstet und nicht wenigen mit falschen Ausweispapieren ihren Peinigern durch die Flucht in glücklichere Länder entrissen zu haben.«

David blieb die Luft weg. Mit den Nachkriegs-KZs meinte Hudal natürlich nicht jene Vernichtungslager, in denen Juden vergast worden waren – an die hatte er kein Wort des Bedauerns verschwendet –, sondern normale Strafvollzugseinrichtungen.

Als er sich wieder einigermaßen im Griff hatte, sagte David: »Leider muss ich bald wieder abreisen. Aber ich würde für mein Blatt gerne noch die Stimme eines langjährigen Weggefährten des verblichenen Heiligen Vaters einfangen. Dabei dachte ich an ein Interview mit dem Botschafter des Deutschen Reiches in der Türkei. Durch Ihre Vermittlung ließe sich das zeitlich doch noch arrangieren, nicht wahr?«

Er hatte absichtlich in diesem Zusammenhang das von den Nazis verpönte Attribut »ehemalig« vermieden. Die Minister und hohen Staatsdiener des Reiches galten nur als ihrer Ämter bestohlen. Hudal war dieses Detail nicht entgangen. Gleichwohl zögerte er noch.

David lächelte gewinnend. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Franz von Papen hält sich in der Stadt auf, das ist kein Geheimnis. Ich kenne nur seine derzeitige Adresse nicht.«

Hudal antwortete ausweichend. »Ich könnte vielleicht ein Treffen vermitteln.«

David wäre am liebsten an die Decke gesprungen. Es gelang ihm nur mühsam, seine Freude auf ein mildes Lächeln zu reduzieren. »Das würde mir vollauf genügen.«

»Ich gebe Ihnen eine Telefonnummer, unter der Sie mich erreichen können. Am besten rufen Sie in zwei Stunden an. Und Sie glauben wirklich, die Kirche der Deutschen in Rom mit einem Artikel gebührend würdigen zu können?«

Das Lächeln blieb unverrückbar auf Davids Lippen. »Wie Sie das eben formuliert haben, Hochwürden, gefällt mir wirklich: gebührend würdigen. Ja, das, denke ich, wird mir gelingen.«

 

Triumph auf der ganzen Linie! Nicht nur, dass Hudal Papens Anwesenheit in Rom bestätigt hatte, er übernahm sogar die Vermittlerrolle, um ein »Interview« mit dem ehemaligen Reichskanzler zu arrangieren. Zwei Stunden später war alles unter Dach und Fach. Noch am selben Abend sollte das Treffen stattfinden. David konnte es kaum glauben. Wie viele Jahre war er diesem Mann nachgejagt? Und nun wurde sein Kopf ihm beinahe auf einem silbernen Tablett serviert.

»Du wirst doch keine Dummheiten machen, wenn du ihm gegenüberstehst?«, fragte Lorenzo, als sie im Taxi zur Piazza Navona unterwegs waren, um Papen in den Privatgemächern des Nazifreundes Hudal aufzusuchen.

»Was meinst du?«

»Nun komm schon, David!« Lorenzo schob wegen des Taxifahrers seine Lippen dicht ans Ohr des Freundes und flüsterte: »Ich rede von Erwürgen, Kehledurchschneiden, Genickbrechen – solchen Sachen eben.«

»Er hat Rebekka auf dem Gewissen.«

»Dafür gibt es keine Beweise.«

»Ich will seinen Ring und seine Macht. Sein armseliges Leben kann er meinetwegen behalten.«

»Du solltest dich nicht irgendwelchen Rachegelüsten hingeben. Vergeltungssucht ist wie Gangrän, das schließlich jede Vernunft besiegt und einen von innen verzehrt. ›Mein ist die Rache, spricht der Herr.‹ Bleib bitte besonnen, hörst du, David?«

»Ist ja schon gut. Ich werde ihm kein Härchen krümmen. Es sei denn, er will es so.«

»Du bist unverbesserlich!«

»Um das zu sagen, kennst du mich noch nicht lange genug.«

»Dann ändert sich das jetzt. Ich werde auf jeden Fall dem Treffen beiwohnen.«

»Du weißt, wie meine letzten ›Besprechungen‹ mit den Angehörigen eines gewissen Zirkels ausgegangen sind. Mir wäre es wirklich lieber ...«

»Willst du das Thema etwa noch mal durchkauen, David? Ich bin bei dem Gespräch dabei, wie wir es beschlossen haben.«

David nickte. Dann wanderte sein Blick wieder auf die Straße hinaus. »Schau, da! Das müsste Hudals Residenz sein.«

Das Taxi hielt vor der hohen Holztür eines stuckverzierten Stadthauses, von dem pausbäckige Engelchen auf die Ankömmlinge herabblickten. Es war kurz vor acht. Längst hatte sich die Sonne von der trauernden Stadt abgewandt. Ein Diener öffnete den beiden Besuchern das Tor. Wenig später hieß sie im Salon der Bischof willkommen, zum zweiten Mal an diesem Tag und doppelt so freundlich. Man wechselte einige der üblichen Höflichkeitsfloskeln. Dann endlich sprach Hudal die ersehnten Worte.

»Herr von Papen müsste jetzt bereit sein, Sie zu empfangen. Ich habe Ihnen für das Gespräch meine Bibliothek zur Verfügung gestellt. Gehen Sie einfach durch diese Tür.« Er deutete auf ein wahrhaft stattliches Exemplar der Gattung, das David an einige ähnlich hoch aufgeschossene Artgenossen im Vatikan erinnerte.

David dankte dem Bischof und schritt äußerlich ruhig auf das Türmonstrum zu. Lorenzo folgte ihm wie sein Schatten. David klopfte und hörte von drinnen ein leises »Herein«. Langsam, als koste es ihn viel Kraft, drückte er die Klinke nieder. Dann trat er in den von Büchern und massiven Nussbaummöbeln beherrschten Raum. Auf einem rechteckigen Tisch brannte eine einsame Leselampe, deren Form und Farbe entfernt an einen ausgehöhlten Stalaktiten erinnerten. Sie tauchte das Zimmer in ein gelbbraunes Licht.

Franz von Papen war beim Öffnen der Tür aufgestanden und hatte den auf ihn zukommenden Besuchern ruhig entgegengeblickt. Lorenzo hielt sich im Hintergrund. Ungefähr anderthalb Schritte vor dem einstigen Reichskanzler blieb David stehen. Sein Herz raste. Er spürte seine Handflächen feucht werden. Dieser Begegnung haftete etwas zutiefst Unwirkliches an. Ihm wäre wohler gewesen, wenn Papen eine Pistole zücken oder sich sonst auf irgendeine Weise diabolisch betragen würde. Dieser Mensch hatte Hitler zur Macht und damit die Welt an den Rand des Untergangs geführt. Die Worte aus Admiral Canaris’ Nachricht über Rebekkas Tod dröhnten durch Davids Geist: Wie es aussieht, hat Papen von München aus einige Maßnahmen eingeleitet, für die mir kein besseresWort als »teuflisch« einfallen will.

Die beiden Männer blickten sich stumm an. Sie suchten nach dem Vertrauten und doch auch Fremden im Gesicht des anderen.

Unsicherheit lag in beider Augen. David konnte seine Gefühle kaum noch im Zaum halten. Er verspürte ein unbändiges Verlangen, diesem Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und zwar sofort. Seine zu Fäusten geballten Hände zitterten. Er hat Rebekka auf dem Gewissen!

Da drangen Lorenzos mahnende Worte wie ein Ruf aus der Ferne in Davids Bewusstsein. »Mein ist die Rache, spricht der Herr.« Bleibe bitte besonnen, hörst du, David? Er wollte es ja, aber: Wie kann ich in dieser Situation nur Ruhe bewahren! Mit einer gewaltigen Willensanstrengung zwang sich David schließlich, die Szene durch Lorenzos Augen zu sehen.

Franz von Papen war älter geworden. Das irritierte Dar vid. Fast auf den Tag genau war es zwanzig Jahre her, dass er diesem Mann zum letzten Mal so nahe gekommen war. Ein Logenbruder Belials durfte während dieses Zeitraums kaum stärker altern als ein normaler Mensch in zwei Jahren. Aber was er noch 1946 in Nürnberg übersehen zu haben schien, ließ sich nun nicht mehr verheimlichen. Papen wirkte wie ein Achtzigjähriger.

Doch das ließ sich für David noch vergleichsweise leicht verkraften. Was ihn wirklich aus der Fassung brachte, war das Fehlen des Siegelringes. Während des Nürnberger Hauptkriegsverbrechertribunals hatte ihn diese Tatsache noch nicht allzu sehr beunruhigt, aber jetzt, da sich dieser Jünger Belials wieder in Freiheit befand, weckte sie Davids Misstrauen. Irgendetwas stimmte hier nicht.

»Kennen wir uns?« Es war schließlich der einstige Reichskanzler, der das lange Schweigen gebrochen hatte. Er bediente sich seiner Muttersprache.

»Das habe ich mich auch gerade gefragt«, erwiderte David ebenfalls auf Deutsch und deutete eine Verbeugung an, weil er es nicht fertig brachte, Papen die Hand zu reichen. »Mein Name ist Friedrich Vauser.« Dasselbe Pseudonym hatte er bei ihrer so dramatischen Begegnung 1938 in München verwandt.

Nach kurzem Überlegen schüttelte Papen den Kopf. »Nein, dieser Name sagt mir leider überhaupt nichts, Herr Vauser. Und Ihr Begleiter?«

David stellte Lorenzo als seinen Assistenten und Italiennischdolmetscher vor. Papen deutete auf zwei der Stühle am Tisch und forderte seine Gäste zum Platznehmen auf.

Mühsam presste David einige Fragen zum Ableben Pius’ XII. heraus. Wie empfinde Papen angesichts des unerwarteten Todes jenes Mannes, dem er einen seiner größten diplomatischen Erfolge verdanke? Papen antwortete voll ungeheucheltem Schwermut. Pacelli sei mehr als nur ein Verhandlungspartner für ihn gewesen. Er, damaliger Stellvertreter des Reichskanzlers Hitler, habe an diesem Tag einen Freund verloren.

Während sich das Interview hinzog, wurde aus Davids anfänglicher Verwirrung zunehmend Bestürzung. Aufmerksam verfolgte er Papens Mienenspiel im bernsteinfarbenen Licht. Da gab es echte Trauer, Melancholie – aber alles war überdeckt von einer unerklärlichen Patina aus Gleichgültigkeit. Obwohl der einstige Regierungschef beherrscht schien und mit wohlgesetzten Worten sprach, wirkte er auf David wie ein durch Drogen betäubter, gebrochener Mann, der sich nur dank seiner außerordentlichen Selbstdisziplin noch aufrecht halten konnte.

Um zu erfahren, wie Papen die eigene Rolle im Dritten Reich einschätzte, hoffte David auf verräterische Äußerungen. Alles, was er jedoch zu hören bekam, waren Rechtfertigungen. Nie habe er, Papen, jene Auswüchse gebilligt, die Hitler zum meistgehassten Mann vielleicht der ganzen Menschheitsgeschichte gemacht hätten. Ihm sei es nur immer darum gegangen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. David kannte alle diese Phrasen zur Genüge, aber was ihn wirklich erschreckte: Der ehemalige Reichskanzler glaubte wirklich an das, was er sagte. Papen schien nicht mehr er selbst zu sein.

Hatte er es vielleicht mit einem Doppelgänger zu tun? David fand den Gedanken abwegig. Er fühlte es doch, er saß vor einem Menschen, der sich zwar von politischer Schuld nicht frei machen konnte, der aber dennoch die Wahrheit sagte. Gleichzeitig präsentierten ihm seine Augen zweifelsfrei jenen Feind, dem er so lange Jahre nachgejagt war.

Und was nun?, fragte er sich selbst. Wenn ihn das Dilemma nicht den Verstand kosten sollte, brauchte er Gewissheit. In Gedanken formte er eine kindisch anmutende Bedingung: Wenn du mich belügst, sollst du rote Augen bekommen.

Sie blieben graublau.

Falls du ein anderer als der echte Franz von Papen bist, schau mich aus rosafarbenen Augen an!

Auch diese Forderung blieb unberücksichtigt.

Na gut, eine letzte Probe: Wenn du der bist, der mit Belial den Jahrhundertplan aus der Taufe gehoben hat, dann mögen deine Augen die Farbe der Leselampe annehmen.

Als würde die Sonne hinter einer am Himmel dahinjagenden Wolke auftauchen, wurden Papens Augen plötzlich bernsteingelb. Jetzt war David so klug wie zuvor und mindestens doppelt so verwirrt. Hinter sich vernahm er ein erschrockenes Luftholen. Lorenzo hatte die Veränderung also auch bemerkt. Papen dagegen nicht. Er wunderte sich nur, warum ihn die beiden Besucher so anstarrten.

»Ist etwas, meine Herren?«

Gedankenschnell formulierte David noch einen letzten Befehl: Augen, werdet wie früher, wenn ihr nicht mehr einem Logenbruder Belials gehört.

Und im Nu hatten sie wieder die ursprüngliche Färbung.

Es war nur eine fixe Idee gewesen und trotzdem hatte David ins Schwarze getroffen: Franz von Papen hatte sich verändert. Wenn schon Nachrichtendienste sich der Gehirnwäsche bedienten, um einem Menschen seine letzten Geheimnisse zu entreißen oder seine Persönlichkeit zu zerstören, wie viel leichter musste dies dem Schattenlord fallen!

Mit einem Mal fügte sich alles ineinander. Schon früher war David die außergewöhnliche Geltungssucht dieses schnauzbärtigen Mannes aufgefallen. Weder die Fähigkeiten noch der Charakter qualifizierten ihn für die Rolle des großen Staatsmannes und doch hatte es ihn immer wieder in exponierte Ämter gedrängt. Durch sein Verhalten musste er seine so auf Geheimhaltung bedachte Bruderschaft in große Gefahr gebracht haben. Vermutlich war er getadelt worden und hatte sich in den Wirren des Röhmputsches geschickt aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, nur um später erneut seiner Schwäche zu erliegen. Aber warum hatte Belial ihn nicht einfach umgebracht wie einst den Grafen Zapata? Hatte das etwas mit Verpflichtung zu tun, mit der Anerkennung bereits geleisteter Dienste?

Nein, zu solchen Regungen war der Schattenlord wahrscheinlich gar nicht fähig. David fiel nur eine Erklärung für die »schonende« Kaltstellung Papens ein: Sein Leben war durch die Besiegelung des Jahrhundertplans mit dem jedes anderen Logenbruders verwoben. Der Tod eines einzigen von ihnen verkürzte auch die Lebensspanne der übrigen. Eine solche Sippenhaftung hätte die Kampfmoral der treuen Mitstreiter Belials unnötig geschwächt. Bei dem wachsenden Druck, den David auf den Zirkel ausübte, konnte sich der Großmeister ein derartiges Risiko nicht leisten. Also hatte er Papens Bewusstsein von allem Verräterischen »gereinigt« und sein Amt einem anderen übertragen.

Auf schreckliche Weise klar und deutlich erschien David plötzlich so vieles, was er bis dahin nicht richtig verstanden, ja, teilweise kaum durchschaut hatte. Er musste an Toyamas Angebot denken, das der ihm in seinem Palast in Hiroshima unterbreitet hatte: Treten Sie auf dieSeite des Kreises der Dämmerung. Es ist da ein Posten vakant, den wir Ihnen gerne anbieten würden.

Inzwischen war wohl dieser »Posten« anderweitig besetzt. Aber von wem? David begann langsam wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren. Während er Papens ungeduldigen Blick bemerkte, fragte er sich, ob dieser Mann eine Vorstellung von der Identität seines Nachfolgers hatte. War der einst so stolze deutsche Reichskanzler jetzt nicht nur noch ein am Leben gescheitertes, sich missverstanden fühlendes Individuum – wie tausende andere auch?

»Friedrich!« Lorenzo hatte die Stimme erhoben, um den benommenen Journalisten aus der längst peinlich gewordenen Versenkung zu wecken.

»Was ...? Ja, entschuldigen Sie bitte«, wandte sich David wieder an Papen. Er hatte einen Entschluss gefasst. Womöglich konnte der Wahrheitsfinder im Gedächtnis des geschassten Logenbruders doch noch etwas ausgraben, was Belial dort auszutilgen vergessen hatte. »Jetzt ist es mir wieder eingefallen«, sagte er lächelnd. »Wir sind uns doch schon einmal begegnet. Und zwar am 30. September 1938, anlässlich der Unterzeichnung des Münchener Abkommens. Bestimmt erinnern Sie sich jetzt.«

Wieder zögerte Papen, gab sich redlich Mühe, den Worten des Reporters einen Sinn abzugewinnen, aber dann schüttelte er den Kopf. »Das ist unmöglich, Herr Vauser. Zu dieser Zeit habe ich mich in Wien aufgehalten.«

Jetzt hilft nur noch der Frontalangriff. »Dann ist Ihnen aber sicher noch Lord Belial im Gedächtnis.«

Für einen Moment weiteten sich Papens Pupillen. Wie ein fernes Wetterleuchten schien eine Erinnerung in seinen Augen aufzuflackern. David wappnete sich für eine Lüge, aber als Papen endlich antwortete, er kenne keinen Aristokraten dieses Namens, hielt er es unzweifelhaft für die Wahrheit. Allerdings wurde er nun ungehalten. Was diese seltsame Fragerei solle, verlangte er zu erfahren. Sich an die Stirn fassend, klagte er mit einem Mal über heftige Kopfschmerzen. Er leide sehr unter dem Tod des Papstes und habe wirklich kein Verständnis für derart seltsame Journalistenspiele.

David sah schon sämtliche Felle davonschwimmen. Jetzt half nur noch die Holzhammermethode. »Besitzen Sie einen goldenen Siegelring?« Wenn du lügst, sollst du eine rote Nase bekommen.

Papen machte sieh nicht zum Clown. »Nein. Ich habe ein paar Ringe, auch goldene, aber keinen Siegelring. Und außerdem weiß ich nicht, was das Ihre Leser angeht. Wollen Sie mich nun als Nächstes nach meinen Manschettenknöpfen fragen?«

»Verzeihen Sie, Herr Papen. Die Damenwelt ist verrückt nach solchen kleinen Details. Aber was mich wirklich noch interessiert, sind die großen Persönlichkeiten des Deutschen Reiches, die Ihren Lebensweg gekreuzt haben. Mit welchen dieser führenden Männer, abgesehen von Adolf Hitler natürlich, haben Sie persönlich verkehrt?«

»Ich kenne sie alle: Hess, Göring, Goebbels, von Schirach, Heydrich, von Ribbentrop, Himmler ...«

»Das ist ja wirklich beeindruckend!«, unterbrach David den missgelaunten Papen. »Ein Blatt wie Der Weg sieht seine hehre Pflicht auch darin, solche Männer zu würdigen, deren Verdienste in der Öffentlichkeit wenig Beachtung fanden. Gab es da vielleicht jemanden von Einfluss, der heute längst vergessen ist?«

Papens finstere Miene hellte sich wieder etwas auf. Irgendwie schien er diese Frage als Herausforderung aufzufassen. Nach einer Weile begann er langsam zu nicken. »Da fällt mir eigentlich nur einer ein. Ein SS-Obersturmbannführer, der sich unter Reinhard Heydrich hochgedient hatte. Das letztendliche Resultat seiner Arbeit kann ich nicht gutheißen, aber die bedingungslose Disziplin, die er an den Tag legte, und die von ihm erreichte Effizienz verdienen Bewunderung.«

David fühlte seine Knie weich werden. »Sie sagten, er sei ein Mitarbeiter Heydrichs gewesen?«

Papen nickte. »Der Mann stand im Dienst des Reichssicherheitshauptamtes. Sein Name lautet Adolf Eichmann.«

 

»Das ist er! Oh, ich Hornochse! Da suche ich diesen Logenbruder, stoße x-mal auf seinen Namen, aber bin zu vernagelt, um ihn zu erkennen.«

»Nun beruhige dich doch, David. Wie kannst du dir mit einem Mal nur so sicher sein? Vielleicht ist Eichmann ja gar nicht der Gesuchte.« Lorenzo schüttelte den Kopf und wischte sich den Regen aus dem Gesicht.

Wieder einmal nieselte es. Trotzdem hatte sich David geweigert, einen Bus oder ein Taxi zu nehmen. Er wollte keine neugierigen Ohren um sich herum haben und er brauchte die Luft in seinem erhitzten Gesicht. Sie liefen schnellen Schrittes Richtung Palatin, jenem Hügel, dessen Name David schon einmal getäuscht, ihn zuletzt aber doch auf die richtige Fährte gelenkt hatte. Alles schien sich zu wiederholen, nur mit anderen Vorzeichen.

Der Abschied von Papen war kurz und – für David – durchaus nicht schmerzlos abgegangen. Wie hätte er dem Mann, den er noch immer für den Hauptschuldigen an Rebekkas Tod hielt, auch einen freundlichen Gruß entrichten können? Also beschränkte er sich auf die zweideutige Wendung: »Möge die Nachwelt über Sie urteilen, wie Sie es wirklich verdienen.«

Während Franz von Papen sein fatales Handeln in diesem Wunsch bestätigt sah, stieß ihn David wie einen Verfluchten aus seinem Leben, wie einen, dessen Namen er nie wieder auszusprechen gedachte. Sein Gewissen erlaubte ihm keine andere Bestrafung für diesen zwiespältigen Menschen. Lorenzo begrüßte die Entscheidung, wenn ihn auch die Entschlossenheit seines Freundes in Bezug auf Adolf Eichmann ratlos machte.

»Aber verstehst du denn nicht?«, ereiferte sich David. »Ich habe diesen Eichmann monatelang verfolgt, ohne zu wissen, dass es in Wirklichkeit um ihn geht. Justo Rufino Barrios beschwerte sich über die Verstärkung der Loge in einer Region, die er als sein Revier ansah. Er muss von Papens Degradierung gewusst haben. Als ich ihn aus der Reserve gelockt hatte, sagte er: ›Seien Sie versichert: Mir wird das nicht passieren.‹ Er meinte natürlich, ihm würde nicht das Schicksal Papens widerfahren. Barrios hielt sich für loyal. Warum wird mir das alles erst jetzt klar?«

»Wir alle sind in unserer Haut gefangen und schauen durch zwei kleine Löcher in die Welt. Das engt die Sicht enorm ein. Im Übrigen – bitte nimm mir den Einwand nicht übel, David – könnte hinter dieser Geschichte genauso gut ein ganz anderer Logenbruder stecken, es muss nicht ausgerechnet Adolf Eichmann sein.«

»Nicht, wenn das Kreuz-Ass im Spiel bleibt.«

»Wie bitte?«

»Ich rede von der Nachricht meines ominösen Freundes, die mir in Buenos Aires vermutlich das Leben gerettet hat. Die letzten beiden Zeilen lauten: ›Suche in Rom und vergiss Eichmann nicht!‹«

»Um Eichmann zu finden, hättest du nicht nach Rom kommen müssen.«

»Nein«, antwortete David leise. »Begreifst du es immer noch nicht, Lorenzo. Du bist der Grund, weshalb mich dieses Spielkartenphantom nach Rom geschickt hat. Ich bin dir unendlich dankbar, dass du mich nicht alleine nach New York zurückkehren lässt.«

Lorenzo war sprachlos. Mit dem Ärmel seiner Jacke wischte er sich wieder einmal den Regen aus dem Gesicht und sagte schließlich: »Wie kann dieser Unbekannte gewusst haben, dass du Ugo Buitoni begegnen und dadurch mich wiederfinden würdest?«

David schüttelte sein regennasses Haupt. »Ich kann es dir nicht sagen, Lorenzo, aber er hat es gewusst. Und deshalb weiß ich jetzt auch, dass Papen den Namen Eichmanns nicht nur zufällig genannt hat. Adolf Eichmann ist der nächste Kandidat auf unserer Liste.«

»Auf deiner, David. Ich gehe zwar mit dir nach Amerika, aber versprich dir nicht zu viel davon. Diese Odyssee kreuz und quer über den Globus mache ich nicht mit. Meinen Lebensinhalt habe ich dir erklärt. Du kannst mich gerne um Rat fragen, wann du willst. Meinetwegen recherchiere ich auch für dich. Hauptsache, es geschieht von New York aus oder wo immer ich mich niederlassen werde.«

»Das ist mehr als ich erwarten durfte, Lorenzo.«

»Und im Übrigen solltest du den Rest von deinem Pik-Ass noch nicht ganz abhaken.«

David tunzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Soweit ich mich erinnere, war in dieser bizarren Nachricht vom ›Hort der Tiara‹ die Rede ...«

»Dem Vatikan, wo die dreifache Papstkrone aufbewahrt wird.«

»Der Papst ist bei weitem nicht der Erste, der sich mit diesem Herrschaftszeichen schmückt. In Wirklichkeit ist es ein altes heidnisches Symbol. Du erinnerst dich doch noch an dieses Hochrelief, das uns der Fürstenring im Mithräum gezeigt hat.«

»Wie könnte ich das vergessen!«

»Darauf war ein persischer Herrscher abgebildet, unverkennbar an der Bart- und Haartracht. Die Großkönige von Persien trugen bisweilen dreistufige Kronen mit einem breiten Band oder einen mit Bändern beflochtenen, hinten offenen Stirn- oder Kopfreif. Ich sage das nur, weil dein mysteriöser ›Freund‹ dir vielleicht mehr sagen wollte als nur: Abmarsch nach Rom!«

David brauchte einige Zeit, um Lorenzos Hinweise zu verarbeiten. »Hast du das Relief mit dem von der Sonne bekrönten König schon einmal irgendwo gesehen?«

»Ich bin mir nicht sicher. Möglich wäre es.«

»Dann hätte ich eine Bitte an dich: Wenn es in Persien oder irgendwo sonst auf der Welt noch einen zweiten ›Hort der Tiara‹ gibt, dann finde ihn für mich.«

 

Der weiße Wolf wollte nichts unversucht lassen, Eichmanns Fährte gleich in Rom aufzunehmen. Bevor sie der Ewigen Stadt den Rücken kehrten, schlüpfte er daher noch einmal in die Rolle des braunen Reporters Friedrich Vauser. Er wolle dem Bischof für seine gestrige Vermittlung in Sachen Franz von Papen danken, lautete Davids offizielle Begründung, als er am Samstagmorgen noch einmal mit Hudal telefonierte. Es gebe da noch ein paar Ergänzungsfragen, die er dem Ordinarius gern persönlich stellen würde. Ob denn ein halbstündiges Gespräch innerhalb der nächsten Stunden möglich wäre?

Es war. Noch am späten Vormittag saßen David und Lorenzo – jeder eine vergoldete Tasse dampfenden Kaffees in der Hand – dem Rektor der deutschen Nationalkirche Santa Maria dell’Anima in ebenjenem Zimmer gegenüber, das nur wenige Stunden zuvor das schicksalhafte Treffen mit Belials einstigem Logenbruder gesehen hatte. Der Bischof zeigte sich für die »Ergänzungsfragen des Weg-Korrespondenten« überraschend empfänglich. Trotz des zeitweilig frostigen Interviewverlaufs schien Franz von Papen das Treffen des vorangegangenen Abends positiv bewertet zu haben.

Und so plauderte Hudal in der ihm eigenen Großspurigkeit über die Rettung »missverstandener« Nazis. Auch Adolf Eichmann habe er aus der Klemme helfen können. Über die »Klosterroute« war der Organisator des Holocausts nach Italien gelangt, wo ihn die Franziskaner unter ihre Fittiche genommen hatten. Das Schleusersystem für gesuchte Naziverbrecher war erstaunlich gut durchdacht. Obwohl der Name nicht genannt wurde, glaubte David hinter den Schilderungen des Bischofs doch die Handschrift Odessas zu erkennen, jener Geheimorganisation, von der er durch Simon Wiesenthal wusste. Selbst Pius XII. habe seine seelsorgerische Pflicht gegenüber den schwer vermittelbaren Emigranten aus dem Tausendjährigen Reich erkannt, meinte Hudal. Noch vor dessen Zusammenbruch habe er sich mit dem SS-Gruppenführer und General der Waffen-SS Karl Wolff getroffen. Während dieser Umstand David kaum noch schrecken konnte, zeigte er sich hingegen irritiert über die Verstrickung des Roten Kreuzes in die Fluchthilfeaktionen.

In der Überzeugung, einen recht(s) gesinnten Deutschen vor sich zu haben, plauderte der Bischof gegenüber David weitere Details von Adolf Eichmanns Flucht aus. Der katholische Taktiker war augenscheinlich stolz auf die eigene Wohltätigkeit. Pater Anton Weber von der St.-Raphael-Gesellschaft habe Eichmann während der schweren Wartezeit betreut, berichtete der Kirchenrektor. Worauf habe er denn gewartet, fragte David. Na, auf die neuen Ausweispapiere vom italienischen Roten Kreuz selbstverständlich. Auch ein Mönch namens Francisco habe dem Leidenden Trost zugesprochen. Gelobt sei der Herr für solch aufopferungsvolle Brüder!

Seinen »Reptilienfonds« habe er übrigens nicht angreifen müssen, um Eichmanns Schiffspassage auf der Giovanna C nach Argentinien zu bezahlen. Hudal erinnerte sich dessen mit einem wehmütigen Lächeln. Der fleißige Mann habe sich jahrelang in der Lüneburger Heide als Hühnerzüchter die Reise vom Munde abgespart.

»Erstaunlich!«, entfuhr es David. Sein Ausruf galt der Blindheit des amerikanischen Counter Intelligence Corps sowie der deutschen Behörden, aber Hudal verstand ihn als Anerkennung der Kaltblütigkeit des Obersturmbannführers. Der Bischof nickte gerührt.

»›Zäh wie Leder, flink wie Windhunde und hart wie Kruppstahl.‹ Baldur von Schirach muss an Männer wie Eichmann gedacht haben, als er seinen deutschen Jungs erklärte, was wahre Ideale sind.«

David hätte sich beinahe verschluckt. Laut Wiesenthal war der Massenmörder ein eher farbloses Gewächs. »Können Sie sich noch erinnern, wann dieser zähe Mann Europa den Rücken kehrte?«

»Nun, dank meiner Hilfe konnte die Kirche wohl mehreren hundert aus der Bedrängnis helfen«, antwortete Hudal selbstgefällig, »aber an Adolf Eichmann oder Ricardo Klement, wie er jetzt heißt, erinnere ich mich noch genau. Er stach mit der Giovanna C Mitte 1950 in See. Dann muss er so ungefähr einen Monat später in Buenos Aires an Land gegangen sein.«

Das träfe sich gut, antwortete David. Der Weg sei ja in derselben Stadt beheimatet. Er lächelte voller Optimismus. »Adolf Eichmanns zweites Leben interessiert mich ungemein. Ich bin zuversichtlich, bald Bedeutendes darüber berichten zu können.«

Der Buchhalter des Todes

Den Franziskanermönch ließen sie links liegen. Und Pater Anton Weber von der St.-Raphael-Gesellschaft ebenso. Belials Logenbruder hatte sich eine Zeit lang dieser Kleriker bedient, nicht mehr. Wenn er jedoch wachsamer als Papen war – und davon ging David aus –, dann hatte der Nazi längst alle Brücken hinter sich abgebrochen. Für einen eiskalten Massenmörder besaß Eichmann allerdings einen ausgeprägten Familiensinn. Immerhin hatte er Frau und Kinder nach Argentinien geholt, anstatt sich auch ihnen als im Kriege Gefallener zu empfehlen. Darin witterte David seine Chance.

Mit dem Nachtzug reisten er und Lorenzo noch am 11. Oktober nach Linz, von wo aus Simon Wiesenthal seit der Schließung seines Dokumentationszentrums die Nazis als Einzelkämpfer jagte.

Die Stippvisite dauerte nur einen Tag. David machte den Juden mit dem neuesten Informationsstand in Sachen Eichmann bekannt und erbat sich als Gegenleistung einen für Wiesenthal kurios erscheinenden Lohn aus. »Wenn Sie den Verbrecher vor mir fangen, dann will ich nur seinen Siegelring und, wenn möglich, ein Gespräch mit ihm.«

Der Nazijäger hob verwundert die Augenbrauen. »Was für einen Ring denn?«

David zog Belials Fingerreif unter seinem Hemd hervor.

Wiesenthal versprach, alles zu tun, um Davids »exzentrischen Wunsch« zu erfüllen.

Der schnurrbärtige Mann strahlte Zuversicht aus, war er seit ihrem letzten Zusammentreffen doch ebenfalls nicht untätig gewesen. Er habe von unerwarteter Seite eine Bestätigung für Davids Berichte erhalten. Während des Besuchs bei einem alten österreichischen Baron sei das Gespräch unweigerlich auch auf sein, Wiesenthals, Hobby gekommen: das Aufspüren von Nazikriegsverbrechern. Der Gastgeber förderte daraufhin den Brief eines alten, nach Buenos Aires ausgewanderten Freundes zutage. Die Worte im letzten Absatz hatten Wiesenthal elektrisiert.

Ich sah dieses elende Schwein Eichmann, der die

Juden kommandierte, er lebt in der Nähe von

Buenos Aires und arbeitet für ein Wasserwerk.

Mit dem guten Gefühl, der richtigen Fährte zu folgen, reisten David und Lorenzo nach Deutschland weiter. Bevor sie mit einer Maschine der BEA nach London flogen, trafen sie sich in Frankfurt am Main mit Fritz Bauer. Das Büro des hessischen Generalstaatsanwalts befand sich im zweiten Stock des ehrwürdigen Justizgebäudes in der Gerichtsstraße. Im schlichten Ambiente einer deutschen Beamtenstube tauschten sie die neuesten Erkenntnisse aus. Bauer versprach, bei der nächstbesten Gelegenheit einen Vorstoß in Richtung Mossad zu unternehmen.

»Was hast du denn mit dem israelischen Geheimdienst zu schaffen?«, wunderte sich David.

»Du weißt doch noch, was ich dir einmal über das politische Klima in diesem Land erzählt habe. Es gibt einfach noch zu viele Altnazis auf Richterstühlen. Die Israelis sind da flexibler. Man muss sie nur ein wenig treten.«

»Inwiefern?«

»Sowohl Mossad als auch Shin Beth werden von einem Exilrussen namens Isser Harel geführt. Als israelischer Premier soll Moshe Sharett den kleinwüchsigen Agentenchef einmal einen ›Teufel in Zwergengestalt‹ genannt haben. Harel redet wenig, misstraut allem und jedem, ist puritanisch und erbarmungslos. Manchmal kann er tatsächlich ein wahrer Giftzwerg sein. So beachtenswert seine Fähigkeiten auch sind, so sehr überschätzt er sich gelegentlich.«

David kam diese Beschreibung sehr bekannt vor. »Vermutlich sagt man auch von ihm, nur Hunde und Kinder hätten keine Angst vor seinen harten blauen Augen.«

Fritz stutzte. »Sag bloß, du kennst den Mann.«

David lächelte still in sich hinein. »Nein, aber einen seiner Mitarbeiter.«

»Auf jeden Fall habe ich an Harel dein ganzes Material über Eichmann weitergegeben. Daraufhin hat er einen Mossad-Agenten nach Argentinien geschickt. Mit einem Spanisch sprechenden Kollegen fuhr der dann auch nach Coronel Suarez und besuchte Lothar Hermann ...«

»Aber das ist doch wundervoll. Sag bloß, die Israelis haben Eichmann inzwischen geschnappt?«

»Da kennst du den eigensinnigen Harel nicht. Als sein Agent ihm von Hermanns Blindheit berichtete, hat er die ganze Aktion abgeblasen.«

»Wie bitte? Aber Sylvia, die Tochter, ist doch die eigentliche Zeugin.« David schüttelte den Kopf.

»Das scheint weder die Agenten noch Isser Harel beeindruckt zu haben.«

»Ein Narr, wer Böses dabei denkt. Würde mich nicht wundern, wenn Belial auch Männer im Mossad hat. Man muss ein neues Team auf die Sache ansetzen und ich glaube auch schon den Richtigen für die Operation zu kennen.«

»Vermutlich der ›Mitarbeiter‹, den du eben schon erwähnt hast.«

David nickte. »Versuch bitte noch einmal bei Harel vorstellig zu werden. Lass dich nicht abweisen. Ich habe in den letzten Jahren so viele Fehler gemacht, dass ich für die Hilfe von Profis wahrlich dankbar wäre. Ich werde in der Zwischenzeit meine eigenen Kontakte spielen lassen und mich wieder nach Südamerika begeben. Diesmal muss es uns einfach gelingen, diesem Buchhalter des Todes das Handwerk zu legen.«

 

Die Rückkehr nach New York sorgte für einige Überraschungen. Ruben Rubinstein zeigte sich verwundert, ja, sogar misstrauisch, als ihm David den neuen Mitarbeiter Lorenzo Di Marco vorstellte. Diesen verblüffte dagegen mehr die überwältigende Trostlosigkeit von Davids Wohn-Schlaf-Koch-Büro.

Und Letzterer staunte über Zvi Aharonis Brief auf seinem Schreibtisch.

Er könne Davids Vermutungen im Hinblick auf seinen Arbeitgeber nicht bestätigen, schrieb Zvi vieldeutig, aber dessen feines Gespür für »gewisse Zwischentöne« habe er schon immer bewundert. Alter Heuchler, dachte David, ich kenne deinen Chef, den Giftzwerg, und ich kenne dich. Aber jetzt, mein Bruder, musst du endlich Farbe bekennen. In Sachen Eichmann habe er wenig ausrichten können, gestand Zvi im Weiteren, weil derartige Ermittlungen nicht in sein Ressort fielen.

David verfasste sofort eine Antwort, in der er den aktuellen Ermittlungsstand darlegte und auch den Abbruch der Operation heftig kritisierte. Sobald er sich in Buenos Aires wieder etabliert habe, werde er Zvi Nachricht geben.

Diesmal überstürzte David nichts. Der Kreis der Dämmerung hatte erneut zur Jagd auf ihn geblasen. Er musste vorsichtig taktieren. Vor allem seinen Stützpunkt, die Gelbe Festung, wollte er nicht in Gefahr bringen. Jetzt war eine glaubhafte Tarnung notwendig.

Lorenzo wurde Davids neuer Chefanalytiker und Leiter der Rechercheabteilung. Nach einigem Hin und Her willigte er sogar in einen offiziellen Arbeitsvertrag ein. Von nun ab bezog er ein festes Gehalt und würde, ganz wie in Rom gefordert, sein dienstliches Umfeld auf New York beschränken können. Die »Odyssee kreuz und quer über den Globus« blieb weiterhin Davids Angelegenheit. Zwar hatte der Italiener noch keine festen Mitarbeiter, aber auch das sollte sich in Kürze ändern. Nicht zuletzt auf sein Drängen war David zu der Überzeugung gelangt, ihre New Yorker Mannschaft alsbald verstärken zu müssen. In Manhattan sollte endlich jene Nachrichtenagentur Wirklichkeit werden, die bisher nur als Briefkastenfirma existiert hatte.

»Das Kind braucht einen neuen Namen, einen, mit dem es groß und stark werden kann, ein Warenzeichen gewissermaßen, das zugleich Programm ist«, meinte Lorenzo und rümpfte die Nase. »›Ich kaufe meine Nachrichten bei Dan Kirpan ein.‹ Wie sich das anhört!«

»Ich finde, auch nicht schlechter als ›Reuters‹.«

Lorenzo schüttelte den Kopf. »Das ist etwas anderes, mein Lieber. Kirpan ist der Herr der Gelben Festung, ein Mann, den fast nie jemand zu Gesicht bekommt und damit per se ungeeignet, um auf ihm eine Firma zu gründen. Außerdem, was wird morgen sein? Bei dir verschleißen sich die Namen einfach zu schnell.«

»Das ist ja der Zweck der Übung. Ich bin wie der Wind, der weht, wo er will, dessen Geräusch man hört, aber nicht weiß, woher er kommt und wohin er geht . . .«

»Johannes, Kapitel 3, Vers 8 – ich unterbreche dich ja nur ungern, David, aber ein wenig mehr Kontinuität und Präsenz wird schon vonnöten sein, um einen Markennamen zu etablieren.«

»Dann nennen wir unser Kind eben Truth – ›Wahrheit‹.«

Lorenzo lächelte. »Das sieht dir ähnlich!«

David zuckte die Achseln. »Mark Twain soll einmal gesagt haben: ›Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.‹ Vielleicht können wir daran ja etwas ändern. Belial verlässt sich ganz auf die Dynamik zersetzender Gerüchte. Wir legen Truth auf die andere Waagschale.«

Und so hatte das Kind einen neuen Namen, unter dem es bald wuchs und gedieh. In Truth wurden Informationen aus aller Welt gesammelt, dechiffriert, analysiert, sortiert und gewichtet. Der größte Teil der eingeheimsten Meldungen und Bilder sollte den Nachrichtenmedien – Zeitungen, Magazinen, Rundfunkstationen und dem Fernsehen – angeboten werden. Aber der eigentliche Zweck der Organisation bestand darin, einen »Extrakt« aus den eingeholten Informationen zu gewinnen für die Jagd auf den Kreis der Dämmerung.

Als Ruben Rubinstein merkte, dass sein Posten als freier Vermögensverwalter nicht bedroht war, verlor er sein anfängliches Misstrauen gegenüber Lorenzo. Bald waren der Jude und der Heilige dicke Freunde, die keine Gelegenheit ausließen, ihren Chef aus der Fassung zu bringen.

»Was sind das für Kartons?«, fragte Lorenzo einige Tage nach seiner Ankunft in New York. Er deutete auf die Kisten an der Wand hinter Davids Schreibtisch.

»In einem befinden sich alte Aktien, mit denen ich bei Gelegenheit mein Büro tapezieren werde ...«

»Gute Idee!«, warf Lorenzo schmunzelnd ein.

» ... und in dem anderen sind die in Ben Nedals Strandpalast gefundenen Papiere. Ich habe dir ja davon erzählt.«

Lorenzo nickte. »Kann ich sie mir mal ansehen?«

»Natürlich, warum nicht?«

Während Lorenzo alles für die Aufnahme des Agenturbetriebs im vorletzten Stockwerk der Gelben Festung vorbereitete und nebenbei die von Professor Choi Soo-wan und Indu Cullingham übersetzten Dokumente studierte, widmete sich David der Suche nach neuen Brüdern. In bekannter Manier beobachtete er die Menschen, verwickelte sie in Gespräche, prüfte ihre Wahrheitsliebe, sonderte viele aus und erwählte wenige für sein neues Unternehmen.

Was David früher immer so schwer gefallen war, schien mit einem Mal wie von selbst zu gehen. Er wusste natürlich, wem er das zu verdanken hatte. Lorenzo beflügelte ihn. Insofern erwies sich der mysteriöse Text auf dem Kreuz-Ass – sofort reisen und später Eichmann fangen – als genau der richtige Rat. Lorenzo schien all das zu haben, was David fehlte, und war ihm dennoch so nah, dass ihre Bande mit jedem Tag fester wurden. Als David einmal eine dementsprechende Bemerkung machte, lächelte der Italiener nur und antwortete wie so oft mit einem Bibelwort: »Eisen wird durch Eisen geschärft. So schärft ein Mann das Angesicht seines Freundes.«

Der eigentlich als Stippvisite geplante Aufenthalt in New York dehnte sich zu einem mehr als einjährigen Gastspiel aus. Davids Agentur Truth kam endlich auf Touren. Aber auch Belials Ränkeschmiede war nicht untätig. Pünktlich zum neuen Jahr 1959 jagte Fidel Castro den kubanischen Diktator Fulgencio Batista von der Insel. Allen proamerikanischen Beteuerungen der neuen Machthaber zum Trotz reagierte man in den USA verschnupft. Der geschasste Diktator hatte sich zu lange am Busen der großen Nachbarnation genährt.

Nur wenig später erschütterte die Sowjetunion mit einer neuen technischen Pioniertat das seit dem Koreakrieg angeknackste amerikanische Selbstvertrauen. Was den Vereinigten Staaten selbst nach vier Fehlschlägen nicht gelungen war, schafften die Russen im Handumdrehen: Sie katapultierten ihre Raumsonde »Lunik« aus der Erdanziehungskraft geradewegs zum Mond. Im weiteren Verlauf des Jahres setzten Abel und Baker entschlossen zur Aufholjagd an. Eine echte Pioniertat war auch das nicht, denn die beiden amerikanischen Astronauten folgten nur der anderthalb Jahre alten Fährte ihrer sowjetischen Kollegin Laika. Die Verfolger waren übrigens Affen und die Kosmonautin eine Hündin.

Manchmal kam auch David sich in seiner Hatz auf Eichmann wie der ewige Zweite vor. Warum zögerten seine israelischen Verbündeten nur so lange? Als er sich schon mit dem Gedanken an einen Alleingang trug, traf endlich die erlösende Nachricht von Zvi Aharoni ein: »Die Operation Eichmann hat begonnen.«

Erst in der letzten Woche des Jahres 1959 war Fritz Bauer durch Vermittlung seines Kollegen Chaim Cohen eine Audienz bei Isser Harel gewährt worden. Wie es der Zufall so wollte, durfte auch Zvi Aharoni an der Besprechung teilnehmen. David hatte ganz bewusst seinen deutschen Freund Bauer und niemand anderen mit diesem Auftrag betraut. Der jüdische Jurist war eine beeindruckende Persönlichkeit. Selbst der diamantharte Mossad-Chef konnte sich Bauers Ausstrahlung nicht ganz entziehen. Schließlich gab Harel nicht nur grünes Licht für die Operation, sondern schickte ausgerechnet auch noch Zvi Aharoni nach Argentinien.

Zvi war Verhörspezialist, aber kein »Außendienstler«. Solche Widersprüchlichkeiten sind dazu angetan, Historikern Grübelfalten auf die Stirn zu treiben, während der Eingeweihte nur huldvoll lächelt. Die Rolle des Wissenden besetzte in diesem Fall David.

 

Am 1. März 1960 traf Zvi Aharoni auf dem Flughafen Ezeiza ein. David befand sich schon seit gut einem Monat in Buenos Aires. Ihre letzte Begegnung in Nürnberg lag bereits vierzehn Jahre zurück. Der neununddreißigjährige Israeli hatte noch dasselbe Lächeln. Er entsprach in keiner Hinsicht dem gängigen Klischee des Geheimagenten. Weder konnte er durch hohen Wuchs noch durch herkulischen Körperbau beeindrucken. Haare und Augenbrauen waren dunkel und dicht, die Nase kräftig, aber nicht dick, seine Kleidung geschäftsmäßig, jedoch nicht im Geringsten extravagant. Man konnte Zvi von seinem Aussehen her vielleicht für einen Maschinenschlosser, Busfahrer oder auch Bergbauingenieur halten. Ihn als einen der besten Männer des Mossad vorzustellen wäre wohl als platter Scherz verstanden worden.

Nach der herzlichen, aber kurzen Begrüßung kam Zvi schnell zur Sache. »Was hast du in der Zwischenzeit herausbekommen?«

David steuerte einen De-Soto. Den zuverlässigen Mietwagen aufzutreiben hatte ihn fast einen ganzen Vormittag gekostet. Da sie unbelauscht waren, antwortete er auf Deutsch. »Ich habe mich ein wenig in Vincente Lopez umgesehen, leider ist mir bisher kein Mann über den Weg gelaufen, den ich aufgrund von Wiesenthals Beschreibung und den alten Fotos, die er uns überlassen hat, als Eichmann hätte identifizieren können.«

»Warst du in der Calle Chacabuco?«

»Keine Angst, ich bin vorsichtig gewesen.«

»Das hoffe ich. Eines muss dir bitte von Anfang an klar sein, David. Ich leite die Ermittlungen, und wenn wir Eichmann wirklich finden, wird ein Operationsteam des Mossad herüberkommen und den Rest erledigen.«

»Dann wollt ihr Eichmann also wirklich nach Israel entführen und ihm dort den Prozess machen?«

»So lauten die Befehle.«

David nickte zufrieden. »Er wird bekommen, was er verdient. Ich hätte eine Bitte an dich, Zvi. Eigentlich sind es sogar drei.«

»Wenn ich sie dir erfüllen kann, gerne.«

»Ich vermute, Adolf Eichmann trägt einen schweren Siegelring. Gib mir den Fingerreif und eine Stunde Zeit, ihn auf meine Weise zu verhören. Dann könnt ihr ihn haben und mit ihm verfahren, wie es euch richtig erscheint. Außerdem möchte ich der erste Journalist sein, der über die Eichmann-Ergreifung berichten kann.«

Der Israeli grinste. »Ist mir bisher entgangen, dass du deinen Reporterberuf so ernst nimmst. Willst du deinen eigenen Namen unter den Bericht setzen?«

»Ich verwende ein Pseudonym. Selbst dein Chef wird sich wundern, woher die Presse von der Sache Wind bekommen hat.«

Der Gedanke, seinem Boss eins auswischen zu können, schien Zvi zu gefallen. Unter der Bedingung, dass die Identität der Teammitglieder geheim sowie die Sicherheit Israels gewahrt bliebe, stimmte er allen Wünschen Davids zu.

Zvi war als Mitarbeiter der Finanzabteilung des israelischen Außenministeriums nach Argentinien eingereist. Auch David gab sich nun als jüdischer Diplomat aus und ließ sich von seinem Partner Yossef nennen. Ein Satz vom Mossad gefälschter Papiere untermauerte die Tarnung. Wenn das Unternehmen in seine heiße Phase eintrat, dann mussten alle erneut ihre Identität wechseln. Die argentinische Regierung würde eine Geheimdienstoperation einer fremden Nation auf ihrem Territorium als schwere Provokation auffassen.

Wie sich schnell herausstellte, verfügte Zvi über ein schier unerschöpfliches Reservoir an abrufbereiten Mitarbeitern. Wegen der antisemitischen Umtriebe gab es in Argentinien jüdische Selbstverteidigungsorganisationen, aus deren Reihen sich fast nach Belieben Amateuragenten rekrutieren ließen. Am 3. März fuhren Yossef alias David, Zvi und ein Hilfsspion namens Alberto nach Vincente Lopez. Das Viertel im Stadtteil Olivos war der letzte Aufenthaltsort der Familie Klement/Eichmann.

Die Chacabuco verdiente mit Recht das Prädikat »hübsche Wohnstraße für Menschen mit geregeltem Einkommen«. Mit Bäumen geschmückt und breiten Gehwegen gesäumt bot sie – trotz fehlenden Straßenbelags – ein Bild kleinbürgerlicher Idylle. Elegante Villen und eher verwahrloste Mietshäuser standen hier in friedlicher Eintracht nebeneinander, wenn auch in angemessenem Abstand.

Der Mietwagen parkte achthundert Meter vom Haus Nummer 4261 entfernt. Zvi schickte Alberto mit einer präparierten Ansichtskarte zu dem Anwesen. Die Urlaubsgrüße trugen den Absender »Dagoto, 4263, Calle Chacabuco«. Das Ganze war ein abgekartetes Spiel. Die Adresse ähnelte bis auf eine Ziffer jener, die Sylvia Hermann bei ihrer Suche nach Klaus Eichmann entdeckt hatte. Falls Alberto gefragt wurde, was er in dem Haus herumzustöbern habe, konnte er die Postkarte zeigen und behaupten, den Absender zu suchen. Man würde ihm antworten, er habe sich im Haus geirrt, dieses hier trage die Nummer 4261, und ihn, wahrscheinlich ohne Misstrauen zu schöpfen, wieder fortschicken.

Nach etwa zwanzig Minuten kehrte Alberto zurück und schwang die Urlaubskarte in der Hand: Eine Familie Dagoto wohne nicht mehr hier, habe ihm ein kleines Mädchen verraten. Er sei dann trotzdem ins Haus gegangen, habe aber keine Hinweise auf die früheren Mieter finden können. Wahrscheinlich waren sie umgezogen.

David war enttäuscht, aber Zvi machte ihm Mut. »Wir stehen erst am Anfang.«

Wenn du wüsstest! »Was machen wir jetzt?«

»Der Name, den Sylvia Hermann auf dem Stromzähler gefunden hat, könnte von einem Vormieter des Gesuchten stammen. Wir werden noch einmal jemand in das Haus schicken, und diesmal fragen wir direkt nach Ricardo Klement.«

»Und wenn Eichmann dort einen Spitzel hat? Er könnte gewarnt werden und fliehen.«