Der verbotene Schlüssel - Ralf Isau - E-Book

Der verbotene Schlüssel E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

Die vierzehnjährige Sophia stammt aus einer alteingesessenen Uhrmacherfamilie. Als ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen, wird sie zur Waise. Auch ihr Großvater, den Sophia nie gekannt hat, verstirbt plötzlich. Zögernd nimmt sie dessen mysteriöses Erbe an: Eine geheimnisvolle kleine Maschine voller Zahnräder und Halbkugeln. Der Schlüssel zum Aufziehen dieser Maschine führt sie in die Parallelwelt Mekanis. Doch dort wartet nicht nur ein anderes, neues Leben auf Sophia, sondern auch ein dunkler Herrscher und sie muss erkennen, dass manche Dinge besser für immer unentdeckt bleiben sollten ...-

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Ralf Isau

Der verbotene Schlüssel

 

Saga

Der verbotene Schlüssel

 

Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany

(www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 2010 im cbj Verlag erschienen

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2010, 2022 Ralf Isau und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728390337

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Fragt man mich nach der Zeit,

so weiß ich es nicht.

Fragt man mich aber nicht,

dann weiß ich es!

Augustinus

Gedanken sind der Anfang von allem.

Gedanken verändern die Welt.

Anonymus

1

Für mehr als ein zaghaftes Klopfen brachte Sophia nicht den Mut auf. Ihre schmale Hand legte sich auf die kühle, verschnörkelte Klinke aus Messing. Während sie auf ein Lebenszeichen aus dem Büro wartete, musterte sie lustlos ihr Spiegelbild in den milchigen Glasfüllungen der hohen rotbraunen Holztür. Es ließ nur erahnen, wer davor mit klopfendem Herzen stand: ein schlankes, vierzehnjähriges Mädchen mit leicht schräg stehenden, traurigen, hellblauen Augen, ausgeprägten Wangenknochen, Sommersprossen um die Nase und honiggelben schulterlangen Haaren. Hatte sie schon wieder abgenommen? Anscheinend ging ihr die neuerliche Hiobsbotschaft mehr an die Nieren, als sie sich eingestehen wollte.

Hinter der Tür blieb es still. Unschlüssig drehte sich Sophia zu der Sekretärin um, eine Frau Ende vierzig mit fest eingebautem Lächeln, kastanienrot kolorierter Turmfrisur, knallig geschminkten Lippen und einer weißen, viel zu engen, vermutlich bretthart gestärkten Baumwollbluse. Unter der hohen, stuckverzierten Decke der zweckentfremdeten Berliner Altbauwohnung wirkte die dralle Notariatsgehilfin etwas verloren. Wenigstens lächelte sie und bedeutete der jungen Klientin, es noch einmal zu versuchen.

Sophia hätte zu gerne gewusst, warum die Vorzimmerdame nicht einfach ihren Chef anrief und ihm die Besucherin meldete. Wahrscheinlich lag es daran, dass Erwachsene oft unter Ausschaltung ihres Verstandes nur nach Schema F handelten. Das Mädchen wollte keine Spielverderberin sein und klopfte abermals.

Von drinnen ertönte endlich ein festes, nicht unfreundliches »Herein!«

Die Klinke quietschte vernehmlich, als sie heruntergedrückt wurde, und derweil die Tür aufschwang, quietschte diese noch mehr. Sophia wäre lieber davongelaufen, doch sie trat ein. Das Gewicht ihres Rucksacks schien sich bei jedem Schritt zu verdoppeln. Er enthielt neben dem Gepäck für den Kurztrip nach Berlin auch ihren Laptop – sie hatte während der Zugfahrt am Buch für ein Theaterstück gearbeitet.

Über knarzende Dielen schlich sie in das große Büro von Doktor Anton Sibelius. Schüchternheit gehörte normalerweise nicht zu ihrem Wesen. Als Zweitbeste ihres Jahrgangs im Internat brauchte sie sich vor niemandem zu verstecken. Nein, die für sie untypische Zurückhaltung wurzelte eher in einem tief sitzenden Argwohn. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie viel durchgemacht. Sie traute dem Leben nicht mehr. Und die Umstände, denen sie ihr Hiersein verdankte, bestärkten sie in dieser Haltung.

»Du bist Sophia, nicht wahr?«, rief Sibelius von der anderen Seite des überdimensionierten Arbeitszimmers. Es war mit ein paar Perserteppichen ausgelegt und roch nach Wachs, Mottenkugeln und altem Papier. Zur Rechten wetteiferten Aktenordner mit diversen ledergebundenen Nachschlagewerken um den Platz in einem deckenhohen Regal. Links gegenüber reihten sich vier sonnendurchflutete Fenster aneinander.

»Sophia Kollin«, erwiderte das Mädchen nickend. »Wollen Sie, dass ich mich ausweise?«

»Darum kümmern wir uns später. An dem Kleiderständer da kannst du erst mal deine Jacke aufhängen. Den Tornister stellst du am besten daneben. Dann komm bitte her, damit ich nicht so schreien muss.«

Sie entledigte sich des Rucksacks, hängte ihre schwarze Steppjacke an einen freien Haken und zog kurz den Saum ihres dünnen schwarzen Alpakapullovers gerade. Hätte sie für diesen offiziellen Anlass anstelle ihrer Lieblingsjeans doch lieber einen Rock anziehen sollen?

»Nun komm schon, Kind. Ich beiße nicht«, rief Sibelius vom anderen Ende des Raums.

Sie leistete den Anweisungen des Notars Folge. Auf dem Weg zu dessen schweren Eichenholzschreibtisch musterte sie den vielleicht sechzig Jahre alten Mann. Er war eine Ehrfurcht einflößende Persönlichkeit. Obwohl er gut im Futter stand, spannte die Weste über seinem enormen Bauch erkennbar weniger als die Bluse der Sekretärin. Sein grauer Flanellanzug war vermutlich maßgeschneidert, das weiße Hemd makellos und die weinrote Krawatte, dem Klubabzeichen nach zu urteilen, das Erkennungszeichen irgendeines elitären Zirkels, in dem er zweifellos eine maßgebliche Rolle spielte. Aus dem steifen Hemdkragen quoll ein Doppelkinn hervor, das beiderseits des dicklippigen Mundes in zwei Hängebacken überging. Die krumme, breite Nase erinnerte Sophia an eine Delikatessgurke. Seine drohende Kahlheit kaschierte er durch einen weitgehend ungestutzten Resthaarbestand, der in kunstvollen Windungen auf der spiegelnden Kopfhaut ausgelegt war. Umso üppiger spross das grauschwarze Haar aus seinen Ohren, der Nase und über den braunen Augen, die der nahenden Besucherin geduldig entgegenblickten.

Als Sophia vor dem Schreibtisch eintraf, hievte Sibelius seinen schweren Körper aus dem monströsen Ledersessel und streckte ihr seine fleischige Rechte entgegen, die ein schwerer Siegelring schmückte. Sie schüttelte ihm die Hand.

»Herzlich willkommen in meinem bescheidenen Reich. Bitte setz dich.«

Sie nickte und ließ sich in einen braunen Besuchersessel mit blanken Steppnägeln sinken. Als sie endlich das Polster unter dem Hintern spürte, reichten ihr die Armlehnen fast bis zu den Schultern. Sie kam sich vor wie in einem Schraubstock.

»Möchtest du etwas trinken? Kaffee? Tee?«, fragte der Notar.

»Cola bitte.«

»Haben wir nicht.«

»Dann eine Limo.«

»Haben wir auch nicht.«

Ihr Magen knurrte, weil sie im Zug nichts gegessen hatte. »Kekse?«

»Ich könnte dir Selters anbieten. Das Gebäck bekommst du gratis dazu.« Er lächelte schelmisch.

»Na gut.« Sie lächelte zurück. Sibelius gab sich alle Mühe, nicht so bärbeißig herüberzukommen, wie er aussah. Sie wollte ihn nicht entmutigen.

Der Notar erteilte seiner Sekretärin per Telefon ein paar knappe Anweisungen, legte wieder auf und setzte sein Lächeln fort.

Sophia räusperte sich. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so unwohl gefühlt.

Hinter ihr flog die Tür auf, und jemand trippelte über das Parkett, das trotz der Teppichinseln bei jedem Schritt vernehmlich knarzte. Die Sekretärin stellte vor Sophia ein Tablett auf den Schreibtisch.

»Mineralwasser und Gebäck«, sagte sie wie eine Bedienung im Restaurant und trat nach einem kurzen Dank ihres Chefs den Rückzug ins Vorzimmer an.

Sibelius stützte die Ellenbogen auf den Tisch, verschränkte seine Finger wie zum Gebet und lächelte abermals. Geduldig beobachtete er, wie seine Klientin einen winzigen Schluck trank, sich einen Keks schnappte und hineinbiss.

»Wie ist das Wetter in der Schweiz, Sophia?«

»Es regnet.«

Er warf an den gefalteten Händen vorbei einen Blick in die Akte, die aufgeschlagen vor ihm lag. »Du besuchst das Mädcheninternat des Lyceum Alpinum im schweizerischen Zuoz, nicht wahr?«

»Ja.«

»Gefällt es dir dort?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Weiß nicht.« Warum kam der Mann nicht zur Sache?

»Der Grund deines Hierseins ist dir bekannt?«

Na endlich! »Das haben Sie mir doch geschrieben. Weil mein Großvater vor genau einer Woche gestorben ist. Es geht um sein Testament.«

Er nickte mit betrübter Miene. Offenbar waren ihm nicht nur die Pflichten eines Testamentsvollstreckers vertraut, er besaß auch Routine im Heucheln von Mitgefühl. »Herzliches Beileid, Sophia.«

»Danke.«

»Mit den Gefühlen ist das so eine Sache. Die heutige Testamentseröffnung wird hoffentlich nicht zu früh für dich kommen. Mich würde es nicht minder ...«

»Ich kannte diesen Menschen überhaupt nicht«, schnitt sie ihm das Wort ab. Sie hasste es, wenn sie so patzig war; ohne dieses Ventil konnte sie die innere Anspannung nicht ertragen. Was den Vater ihres Vaters anbelangte, so hatte sie zwar von ihm gehört, ihn aber nie kennengelernt – zwischen den beiden Männern herrschten unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten. Der »alte Sturkopf« – so hatte Sophias Vater ihr berichtet – sei eines Tages untergetaucht wie ein Bankräuber auf der Flucht. Gelegentlich hatte er der Familie ein Lebenszeichen nach Pforzheim geschickt. Immer unter einem anderen Namen.

Der Notar blickte erneut auf seinen Spickzettel. »Es tut mir leid, dass du im Verlauf von so kurzer Zeit schon zum zweiten Mal einen Trauerfall in der Familie hast. Laut meinen Aufzeichnungen bist du seit fast zwei Jahren Vollwaise?«

»Seit zweiundzwanzig Monaten und neunzehn Tagen«, antwortete Sophia gereizt. Ihre Eltern waren unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Während einer Reise zu einer Schmuckmesse in München hatten sie angeblich so gut wie gleichzeitig einen Herzstillstand erlitten. Ihr Auto war einen Abhang hinuntergerast und an einer Mauer explodiert. Eigentlich hatte die ganze Familie in die bayerische Hauptstadt fahren wollen, aber Sophia war an dem Wochenende krank geworden und unter der Obhut befreundeter Nachbarn in Pforzheim geblieben. Wahrscheinlich hatte sie nur deshalb überlebt.

Abgesehen von ihr war anscheinend niemand misstrauisch geworden. Der Gerichtsmediziner hatte für den offenbar gar nicht so ungewöhnlichen Vorfall eine Virusinfektion verantwortlich gemacht. Sie habe bei Rasmus Kollin und seiner Ehefrau Alisa Kollin, geborene Jumsuren, den Herzmuskel geschädigt, hieß es im Obduktionsbericht. Vermutlich hätten sich die beiden gegenseitig infiziert. Sophia hatte sich nie mit dieser Erklärung abfinden können.

»Du kommst mir etwas angespannt vor«, bemerkte Sibelius.

Sie ballte im Schoß die Fäuste, bis sie in den Handballen den Schmerz spürte, den die sauber gefeilten Fingernägel verursachten. »Ich mag nur keine Vollstrecker.«

»Testamentsvollstrecker«, stellte der Notar klar. Er blätterte geschäftig in seiner Akte herum und brummte: »Sei unbesorgt, du wirst diesen Raum nicht ärmer verlassen, als du ihn betreten hast. Wir bringen diese Formalie so zügig wie möglich hinter uns, sobald ich ... Ah! Hier haben wir ihn ja, den letzten Willen von Ole Kollin! Sagte ich schon, dass er der Vater deines Vaters war?«

Sophias Antwort bestand in einem verhaltenen Stöhnen.

»Nun ja, er war also dein Opa väterlicherseits«, bekräftigte Sibelius. Sein Finger folgte einer Zeile im Kopf der vor ihm liegenden Urkunde. »Geboren am 14. September 1924 in Helsinki als Sohn des Uhrmachers und Goldschmieds Jesse Kollin und seiner Ehefrau Nelli Kollin, geborene Lauren. Hier in Berlin hat er unter dem Namen Otto Konrad gelebt. Ich habe für deinen Großvater im Laufe der Jahre verschiedene Dinge aufbewahrt und ihn geschätzt. Warum ein Finne allerdings mit falscher Identität in eine fremde Stadt zieht, das hat er mir nie gesagt. Er meinte nur, er sei kein flüchtiger Bankräuber oder sonstiger Krimineller.«

Sophia spürte ein Kribbeln im Nacken. Seltsam, dass dieser geheimnistuerische Opa Ole fast dieselben Worte benutzt hatte wie ihr Vater. »Gibt es noch andere Verwandte außer mir?«

»Du meinst, andere Erben? Nein. Er hat alles dir vermacht.«

So hatte Sophia ihre Frage eigentlich nicht gemeint. Sie zog die Stirn kraus. »Warum mir? Er kannte mich doch nicht einmal.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Er zeigte mir mal ein Foto von dir als Baby. Ich glaube, er hat an deinem Leben aus der Entfernung Anteil genommen.«

»Wieso?«

»Das müsstest du besser wissen als ich. Vielleicht lag es an den Differenzen, die er mit seinem Sohn, deinem Vater, hatte.«

»Davon hat er Ihnen auch erzählt?«

»Nur andeutungsweise.« Sibelius sah beirrt in seine Akte. »Wo war ich stehen geblieben?«

»Bei der Erbschaft.«

»Richtig! Ich glaube, deshalb sitzen wir beide hier.« Er brachte ein verunglücktes Lächeln zustande, drehte rasch seinen monströsen Sessel zur Seite und beugte sich weit vor. Dabei verschwand sein Kopf hinter der Schreibtischkante. Er begann zu ächzen wie ein Gewichtheber. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er einen grauen Pappkarton in den Händen, der den Dimensionen nach ein Paar Skischuhe hätte enthalten können. Sibelius entfernte ein Siegelband, und während er den Deckel abnahm, sagte er: »Um es gleich vorwegzunehmen: Ole Kollin hat zuletzt in bescheidenen Verhältnissen gelebt. Sein Vermögen war so gut wie aufgezehrt, abgesehen von ...«

»Warum sagen Sie das?«, entfuhr es Sophia. Sie fühlte sich plötzlich verletzt, so als habe der Notar sie eine Erbschleicherin genannt. Im nächsten Moment schämte sie sich für ihre Unbeherrschtheit. »Es wäre mir lieber, ich müsste nicht andauernd jemanden aus meiner Familie beerben«, sagte sie zu ihrer Entschuldigung. Offenbar hatte der Brief des Testamentsvollstreckers ihre seelische Stabilisierung während der vergangenen zwei Jahre im Nu wieder zunichtegemacht. Seitdem glaubte sie, Gevatter Tod sei zu ihrem ständigen Begleiter geworden.

»Ist schon gut, Kind«, beruhigte sie Sibelius. »Ich wollte nur keine allzu großen Erwartungen wecken. Mir ist durchaus bewusst, dass deine Eltern dich alles andere als mittellos hinterlassen haben. Welches Mädchen in deinem Alter besitzt schon eine florierende internationale Juwelierladenkette? Und die Marke R.K. ist in der Schmuckbranche nach wie vor ein Synonym für noble Eleganz. Die Initialen deines Vaters schmücken übrigens auch meine Armbanduhr.« Zum Beweis entblößte er sein linkes Handgelenk.

Sophia würdigte das goldblitzende Kleinod mit einem kleinen Nicken. »Abgesehen von was?«

Er blinzelte irritiert. »Wie bitte?«

»Sie sagten eben, das Vermögen meines Opas sei so gut wie aufgezehrt gewesen, abgesehen von ...?«

Sibelius reckte seinen möhrenhaften Zeigefinger in die Höhe und schmunzelte verschmitzt. »Abgesehen von drei Dingen. Wohl eher von ideellem Wert ist ein Brief oder vielmehr ein handgeschriebenes Buch, das du bitte unverzüglich lesen musst.« Er holte Letzteres aus der Kiste. Es war schwarz mit einem weißen Sprenkelmuster, hatte wie ein Schulheft ein beschriftetes Namensschild und erinnerte Sophia an die Kladden, in denen Kaufleute früher ihre Einnahmen und Ausgaben aufgelistet hatten.

»Warum die Eile?«, fragte sie.

»Das verrate ich dir gleich. In der Nachlassliste rangiert an Nummer zwei das hier.« Er entnahm dem Karton etwas Kleines, Flaches und legte es vor Sophia auf den Tisch.

»Ein Schlüssel?«, fragte sie verwundert.

»Der Schlüssel zu seiner Eigentumswohnung. Von heute ab zu deiner Wohnung. Ich bin allerdings als Treuhänder eingesetzt, bis du volljährig bist. Alles darin gehört dir. Eine Kopie der Liste sämtlicher Möbel und sonstigen Gegenstände liegt in der Kiste. Die Wohnung befindet sich in der Bergstraße 70. Du kannst sie dir gleich nachher ansehen. Ist gar nicht weit von hier. Sei aber bitte nicht enttäuscht. Sie ist ziemlich alt.«

Sophia nickte. Andere an ihrer Stelle hätten vermutlich Freudensprünge gemacht. Ihr verursachte die »Formalie« Magendrücken. Es kam ihr vor wie Leichenfledderei. Andererseits – einen Blick konnte sie ja in die Wohnung werfen. Sie wollte ohnehin in der Stadt übernachten. Vielleicht erfuhr sie dort mehr über ihren geheimnisvollen Großvater.

»Und nun kommen wir zum Höhepunkt«, sagte Sibelius feierlich. Er stemmte sich aus dem Sessel hoch, schob umständlich das Tablett mit dem Wasser und den Keksen zur Seite und griff erneut in die Kiste. Es ließ sich unschwer erkennen, dass er diesmal einen größeren Gegenstand zutage fördern würde. Und so war es auch.

Der Notar hob einen rubinroten, glänzenden Würfel aus dem Karton. Vorsichtig stellte er ihn vor Sophia auf den Tisch. Eine Schatulle, dachte sie sogleich. In einem Bildband ihres Vaters über Juwelierkunst hatte sie ähnliche, wenn auch kleinere Behältnisse gesehen: Pillen- und Schnupftabakdosen, Kassetten für Schmuck und sogar eine für ein Glasauge. Der Kasten hier barg offenbar etwas anderes, Größeres. Auf allen sechs Seiten zierten ihn Quadrate, die ungefähr bis auf Fingerbreite an die Außenkanten heranreichten und mit einem goldenen Rautenmuster ausgefüllt waren. Unter der rot glasierten Schicht jedes dieser Felder bemerkte Sophia ein Strahlenmuster, in dem das einfallende Licht sich fing und in unterschiedlichen Schattierungen reflektiert wurde.

Sibelius nickte ihr zu. »Mach ihn ruhig auf.«

Sie beugte sich vor, klappte die obere, mit rotem Samt ausgeschlagene Hälfte des Würfels auf, und zum Vorschein kam ... Sophia fuhr erschrocken zurück und starrte mit großen Augen auf das blaue Ei.

»Nein!« Ihre Stimme war nur ein Hauch.

Der Notar schmunzelte. Die Überraschung seiner Klientin bereitete ihm sichtliches Vergnügen. »Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«

»Ist es das, wonach es aussieht?«, fragte Sophia leise.

»Nimm es heraus und schau es dir genau an. Du bist die Expertin.«

Mit den Fingerspitzen umfasste sie das Ei und hob es aus dem Kasten. Sie merkte, wie ihre Hände zitterten.

»Da müsste noch ein Ständer drin sein«, erklärte Sibelius.

Sophia förderte auch den ans Tageslicht: einen Ring mit drei Füßen, die in kleinen Adlerklauen mündeten, alles offenbar aus ziseliertem Gold. Vorsichtig setzte sie das blaue Ei darauf ab und lehnte sich erschöpft zurück. Sie war überwältigt. »Das ist ein Fabergé-Ei, nicht wahr?«

Er nickte zufrieden. »Das Zwielicht-Ei. Einmal hat dein Großvater es auch Nacht-Ei genannt. Ich habe mich ein wenig für dich umgehört. In der New Yorker Forbes Collection befinden sich ähnliche Stücke. Ihr Wert beläuft sich auf zehn Millionen Dollar und mehr.«

»Zehn ...?« Sophia verschlug es die Sprache. Das war selbst für sie eine Menge Geld. »Ist es echt?«

Sibelius entnahm seinem Aktendeckel einen Zettel. »Hier ist das Zertifikat, das mir dein Großvater bei der Hinterlegung überlassen hat, eine Art Steckbrief des Eies. Warte, da sind einmal die Materialien aufgelistet – Lapislazuli, Gold, Diamanten, Mondsteine und sternförmige Goldpaillons – dann die Ausführung ... Jetzt hab ich’s! Da steht: ›Es handelt sich um das erste Osterei, das der Goldschmied Carl Peter Fabergé für den russischen Zaren anfertigen ließ. Die Arbeit wurde von seinem leitenden Juweliermeister ausgeführt.‹« Sibelius blickte über den Rand des Blattes hinweg. »Du weißt sicher, von wem ich spreche.«

Sie nickte benommen. »Erik August Kollin. Mein Ururgroßvater ... Sagten Sie nicht, Opa Ole lebte in bescheidenen Verhältnissen?«

»Ja. Was nicht heißen muss, dass er arm war. Er hat mir das Ei schon vor etlichen Jahren zur Aufbewahrung übergeben. Ab und zu holte er es wieder ab und brachte es nach nur ein paar Tagen zurück. Er sagte, er müsse gelegentlich mit dem Ei reden. Dein Großvater konnte recht merkwürdig sein, weißt du? Ich habe ihn oft gefragt, warum er das Fabergé-Ei nicht verkauft. Es hätte ihn zu einem sehr vermögenden Mann gemacht. Seine Antwort war immer die gleiche: ein hektisches Kopfschütteln und die Bemerkung, im Verborgenen sei es am besten aufgehoben.«

Sophia beugte sich erneut vor, um das Ei genauer zu betrachten. Es war nicht so bunt und überladen wie andere Werke Fabergés, die sie schon gesehen hatte. Aber in ihren Augen machte gerade seine schlichte Schönheit es zu einem unübertrefflichen Meisterstück der Goldschmiedekunst.

Es stellte unverkennbar den Nachthimmel dar. Den Hintergrund bildeten dunkelblaue Lapislazulisteine, die es wie ein Mosaik bedeckten. Die Sterne waren eine Einlegearbeit aus Goldfolie, Paillons, wie die Experten sagten. Obenauf saß eine Krone aus einem großen und mehreren kleinen Diamanten. An der breitesten Stelle ließ sich das Ei augenscheinlich öffnen; die aufeinanderstoßenden Kanten waren ebenfalls in Gold eingefasst. An der Vorderseite befand sich ein goldenes Tor, wie es die Zufahrt zum Zarenpalast geschmückt haben mochte. Mittig darüber, noch unterhalb des goldenen Nahtringes, saß eine weitere Rosette aus einem großen und zehn kleineren Diamanten.

Sophia überkam plötzlich ein unbeschreibliches Hochgefühl. Es war weniger der materielle Wert des Fabergé-Eies, der sie taumeln machte, als vielmehr dessen atemberaubende Schönheit. Sie schüttelte den Kopf. »Das muss doch schon vor hundertzwanzig Jahren unbezahlbar gewesen sein. Und Papa hat mir erzählt, sein Urgroßvater sei nur Mitarbeiter, nicht Partner von Carl Fabergé gewesen. Wie ist das Ei in unseren Familienbesitz gelangt?«

»Darüber hat sich dein Großvater mir gegenüber ausgeschwiegen. Vielleicht findest du in seinen Aufzeichnungen die Antwort darauf.« Sibelius deutete auf das Schreibbuch, das neben der Archivkiste lag. »Im Testament steht übrigens, ich soll dich ausdrücklich und in aller Deutlichkeit warnen, das Fabergé-Ei zu öffnen, bevor du die Einleitung des Buches gelesen hast.«

Sie nickte abwesend. »Also darf ich es mitnehmen?«

»Ja!!! Mit drei Ausrufungszeichen geschrieben. Ich habe versucht, deinem Großvater auszureden, ein Zehn-Millionen-Dollar-Ei in die Hände einer Minderjährigen zu legen, aber er bestand darauf. Wenn Chronos ihm das Leben abschneide, schärfte er mir ein, dann soll ich keinen Tag zögern, dir das Ei und das Notizbuch auszuhändigen.«

»Chronos?«

»Der griechische Gott der Zeit.« Sibelius kräuselte die Lippen. »Wie gesagt, Ole Kollin war ein liebenswerter und manchmal recht seltsamer Mann.«

Sophia musterte ihr Gegenüber nachdenklich. Der Notar war wohl doch nicht so abgebrüht, wie sie gedacht hatte. »Wie ist mein Opa eigentlich gestorben?«

Er zögerte. »Es gehört an und für sich nicht zu meinen Aufgaben ...«

»Anscheinend haben Sie ihn gemocht. Sein Tod kann Sie unmöglich kaltlassen.«

»Wer behauptet das?«, entfuhr es ihm. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. »Es ist nur ... Ich bin kein Arzt und will dir nichts Falsches sagen.«

»Doktor Sibelius, Sie brauchen nicht zu denken, dass Sie mir unangenehme Wahrheiten vorenthalten müssen. Ich bin kein kleines Kind mehr. Was hat den Tod meines Großvaters verursacht?«

Er brachte ein großes Stofftaschentuch zum Vorschein und wischte sich damit Stirn und Nacken ab. »Na schön. Wenn du unbedingt darauf bestehst. Dein Großvater war Uhrmacher – alte Familientradition, wie er zu sagen pflegte. Ich habe ihn einmal in seiner Wohnung besucht. Es ist ein regelrechtes Uhrenmuseum, in jedem Raum tickt es. So sei es auch am Tag vor seinem Ableben gewesen, hatte mir Frau ...« Sibelius blätterte hektisch in seinen Unterlagen. »Frau Erna Waczlawiak. Eine Nachbarin. Ich habe sie nach der Freigabe der Wohnung durch die Kriminalpolizei gesprochen. Sie schaute fast täglich bei deinem Großvater nach dem Rechten – mit seinen sechsundachtzig war er ja nicht mehr der Jüngste. Als man ihn fand, standen sämtliche Uhren still. Merkwürdig, nicht wahr? So seltsam wie vieles im Leben von Ole Kollin. Jedenfalls wurde sein Leichnam gerichtsmedizinisch untersucht, weil die Kripo einen Tod durch Fremdeinwirkung nicht ausschließen konnte. Dabei stellte man fest, dass die Netzhaut deines Großvaters Verbrennungen aufwies, so als hätte er zu lange in die Sonne geblickt.«

Sophia war in den letzten Sekunden eiskalt geworden. »Daran stirbt man doch nicht.«

Sibelius schüttelte den Kopf. »Nein, daran stirbt man nicht. Der ermittelnde Kommissar hat mir den Obduktionsbericht gezeigt. Darin heißt es, das Herz deines Großvaters sei einfach stehen geblieben. Wie bei einer Uhr, deren Pendel angehalten wird.«

2

Das Haus in der Bergstraße Nummer 70 war mindestens schon hundert Jahre alt. Sophia stand auf dem Kopfsteinpflaster des Trottoirs, den unscheinbaren Karton mit ihrer Millionenerbschaft unter dem Arm, und sah an der hübsch renovierten Fassade empor. Von einem Fries über der Tür blickten mehrere Gesichter zurück. Ob sie Engel oder Dämonen darstellten, hätte sie nicht sagen können. Schwungvoll stemmte sie sich gegen den rechten der beiden Türflügel und verschaffte sich dadurch Zugang zu einer dämmrigen Durchfahrt. Jenseits des Zwielichts sah sie einen Innenhof. Von dort kam ein junger Mann auf sie zu. Er schleppte ein ungerahmtes Ölgemälde – die Leinwand war nur auf einem Holzgestell aufgeblockt. Sophia lief ihm entgegen. Am Ende der Passage trafen beide zusammen.

»Hallo«, sagte sie. »Ich hätte eine Frage.«

»Klar. Frag mal«, antwortete er und blieb stehen. Sie schätzte ihn auf Anfang oder Mitte zwanzig. Er trug ein Leinenhemd über den zerschlissenen schwarzen Jeans, war etwas untersetzt, hatte strubbeliges rotblondes Haar und wirkte auch sonst so unkonventionell, dass sie auf das förmliche Sie verzichtete.

»Ist das Bild von dir?« Das war ihr spontan in den Sinn gekommen. Sie deutete auf das Gemälde. Es zeigte ein Einhorn in einem Wald mit mächtigen Bäumen.

»Ja.« Er lächelte. »Kunstliebhaberin?«

»Irgendwie schon.«

»Dann ist in dem Karton da wohl deine Sammlung.« Er deutete mit dem Kinn auf ihre Erbschaft.

»Nicht direkt. Mein Fach ist das Theater. Ich suche die Wohnung von Ole Kollin. Hast du eine Ahnung, wo ich sie finde?«

Er schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf. »Nee. Sagt mir überhaupt nichts.«

»Er war Uhrmacher und ist vor Kurzem gestorben.« Mit einem Mal fiel ihr ein, was der Notar über die neue Identität ihres Großvaters gesagt hatte. »Kann sein, dass er hier unter seinem ... Künstlernamen gelebt hat. Otto Dingsbums – er fällt mir bestimmt gleich wieder ein ...«

»Du meinst Otto Konrad?«

»Ja, genau!«

»Und du bist ...?«

»Sophia Kollin. Seine Enkelin zu Besuch aus der Schweiz.« Sie zückte den Wohnungsschlüssel, den ihr der Notar überlassen hatte, hielt ihn neben ihr Gesicht und lächelte dazu, wie es ihrer Ansicht nach nur arglose Mädchen tun konnten.

Der junge Mann klemmte sich das Bild unter die linke Achsel und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Oliver Pollock. Tut mir leid, das mit deinem Großvater. Ich war selbst geschockt, als mir Frau Waczlawiak von seinem Tod erzählte.«

»Dann hast du meinen Opa gekannt?«

»Ja. Wie sich gute Nachbarn eben kennen. Seit ich bei meinen Eltern aus- und auf die andere Straßenseite in unsere frühere Wohnung eingezogen bin, haben er und ich uns fast täglich gesehen. Manchmal hat er mich auf einen Kaffee eingeladen. Ich durfte sogar Otto zu ihm sagen. Er war schon etwas wacklig auf den Beinen, aber geistig noch auf Zack.«

Sophia hielt nochmals den Schlüssel hoch. »Den habe ich geerbt. Wo finde ich das passende Schloss dazu?«

»Otto hat in der Wohnung unter mir gewohnt: drittes Hinterhaus, rechter Aufgang, dritter Stock, rechte Tür.«

»Danke.« Sie zeigte auf das Gemälde. »Willst du das verkaufen?«

»Wieso? Bist du interessiert?«

»Vielleicht.«

»Nee, lass mal. Ich bring’s nur zu Jessica. Das ist meine Schwester. Als Leihgabe, weil’s in meiner Bude allmählich zu eng für meine ganzen Bilder wird. Noch kann ich mich nicht davon trennen. Hängen zu viele Erinnerungen dran. Also, man sieht sich.« Er hob die Hand zum Abschied und schleppte sein Kunstwerk weiter in Richtung Straße.

Kurz darauf hatte Sophia das Haus am Ende des zweiten Hinterhofs gefunden. Wie beschrieben wählte sie den rechten Eingang. Als sie im Treppenhaus nach oben stieg, begegnete ihr eine pummelige alte Frau mit Kopftuch und Kittelschürze, die gerade mit großer Gründlichkeit das Podest vor ihrer Wohnungstür fegte. Auf dem goldenen Schild über der Klingel stand: Erna Waczlawiak.

»Grüß Gott«, sagte Sophia höflich, wie sie es aus ihrer badischen Heimat gewohnt war.

Die Alte fuhr ruckartig herum, sah erst das Mädchen und dann den Karton an. »Tach. Wohl zu Besuch hier. Oder ziehen Sie gerade ein?«

»Ja und nein.« Sophia lief einfach weiter. Bestimmt hätte Frau Waczlawiak ihr gerne die Geschichte vom unheimlichen Leichenfund erzählt, aber die Schilderungen von Doktor Sibelius genügten der Enkelin des Verblichenen fürs Erste.

Als die putzwütige Nachbarin schon eine Weile außer Sicht war, erreichte Sophia die Wohnung von Otto Konrad. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum er so rigoros alle Brücken hinter sich abgerissen hatte. Sie rückte den Karton unter dem linken Arm zurecht, damit er ihr beim Aufschließen nicht entglitt. Während sie den Schlüssel in das Sicherheitsschloss steckte und zweimal herumdrehte, überkam sie ein seltsames Gefühl. Wollte sie wirklich das Geheimnis ihres mysteriösen Großvaters ergründen? Manche Dinge blieben besser für immer unentdeckt. Noch konnte sie wieder abschließen und einfach davonlaufen ...

»Ach, was soll’s?«, flüsterte sie und öffnete die Tür.

Vor ihr lag ein hoher, dunkler Flur. Sie trat ein und knipste das Licht an. Wie schon im Büro von Doktor Sibelius knarrten auch hier die Dielen unter ihren Füßen. Links und rechts gingen mehrere Türen ab. Fast jede freie Stelle dazwischen war von einer Standuhr belegt. An den Wänden hingen verblichene Fotografien. Auf einer erkannte Sophia ihren Vater als Junge von vielleicht zehn Jahren. Der typische Geruch alter Leute stieg ihr in die Nase. Der Geruch deines Opas, dachte sie und stellte ihren Karton auf eine abgeschabte Kommode neben der Hängegarderobe. Auch ihre Jacke und den Rucksack legte sie ab, bevor sie sich an die weitere Erkundung ihrer neuen Immobilie machte.

Die erste Tür links führte in ein winziges Bad, danach kam die Küche – wahrscheinlich war Ersteres zu Lasten von Letzterem nachträglich eingebaut worden. Neue Heizkörper und Sanitäreinrichtungen deuteten auf eine kürzlich durchgeführte Sanierung hin. An den Wänden der Räume hingen unglaublich viele Uhren. Rechts ging vom Flur das Wohnzimmer ab. Es war, wie Doktor Sibelius schon angedeutet hatte, ein wahres Uhrenmuseum. Hier gab es Wanduhren, Standuhren, Sanduhren, außerdem Taschenuhren, Wecker und Uhren, die man auf Schränke platzierte, wie auch solche, die sich zuklappen und ins Reisegepäck stecken ließen. Die meisten waren alt, einige neuere Modelle strombetrieben. Rein äußerlich befand sich die Sammlung in tadellosem Zustand.

Doch die Uhren zeigten ausnahmslos die falsche Zeit an.

Weil etwas – oder jemand? – sie alle um dreizehn Uhr dreizehn angehalten hatte.

So wie auch Ole Kollins Herz zum Stillstand gekommen war.

Und das ihrer Eltern.

 

Der Kessel auf der blauen Gasflamme pfiff. Sophia hängte einen Beutel Pfefferminztee in die hohe Tasse und goss kochendes Wasser hinein. Vielleicht konnte sie damit die Kopfschmerzen vertreiben, die sie seit zwei Jahren plagten, sobald sie zu intensiv grübelte. Außerdem hatte sie sich irgendwie ablenken müssen. Wenn sie noch länger die stummen Uhren angestarrt hätte, wäre sie vermutlich durchgedreht. Und dann die sonderbaren Parallelen zwischen dem Tod des Großvaters und dem ihrer Eltern! Bei dem Gedanken bekam sie Gänsehaut.

Als sie mit der dampfenden Tasse in den Flur zurückkehrte, fiel ihr Blick auf den grauen Karton. Sie nickte. Damit konnte sie sich fürs Erste beschäftigen. Weil sie den Teepott nicht abstellen wollte, bückte sie sich, schob umständlich die Kiste auf ihren linken Oberschenkel und klemmte sie sich unter den Arm.

Die Wohnzimmertür knarrte, als Sophia sie mit dem Fuß aufschob. Die Möblierung des Raumes beschränkte sich auf ein hohes Regal voller Bücher, eine schwarzbraune Anrichte mit Kristallglastürchen – vermutlich aus der Zeit, als das Haus gebaut worden war – und einen Ohrensessel mit einem viereckigen Beistelltisch. Letztere standen zwischen den zwei schmalen Fenstern, die in den Hinterhof hinausblickten.

Sophia stellte ihre Tasse auf dem kleinen Tisch ab und setzte sich in den Sessel. Das abgewetzte braune Leder des Bezugs war angenehm warm und weich. Es verströmte den Geruch von Geborgenheit. Sie stellte die Archivbox auf ihre Oberschenkel, löste das Siegelband und nahm den Deckel ab. Obenauf lag das Notizbuch. Es hatte DIN A4-Größe und mochte hundert Seiten umfassen. Zum ersten Mal las Sophia die Widmung, die Ole Kollin mit seiner feinen, altmodischen Handschrift auf das Namensschild geschrieben hatte:

Für Sophia:

»Das merkwürdigste Buch der Welt«

»Komischer Titel«, murmelte sie und nahm die Kladde aus dem Kasten. Dabei fiel ihr Blick auf die würfelförmige rote Schatulle darunter. Schon als Kind hatte sie von ihrem Vater einiges über Goldschmiedekunst gelernt; deshalb wusste sie die kunstvolle Ausführung der winzigen Details zu würdigen. Wie von selbst wanderte das Behältnis in ihre Hände. Eine kleine Weile lang bewunderte sie die feine Emaillearbeit, öffnete dann den Deckel und nahm das blaue Fabergé-Ei heraus. Den Kasten ließ sie achtlos neben dem Sessel auf den Teppich gleiten.

Unwillkürlich schlug ihr Herz schneller, als ihre Finger über den Nachthimmel aus Lapislazuli und die goldenen Sterne strichen. Sophias Vater war mit einigen aufsehenerregenden Entwürfen maßgeblich daran beteiligt gewesen, die Marke Fabergé in der Neuzeit wiederzuerschaffen. Deshalb wusste sie auch so viel von dem russischen Juwelier und Goldschmied Carl Peter Fabergé und seinen Prunkeiern.

Weil in der russisch-orthodoxen Kirche Ostern das wichtigste Fest ist, hatte Fabergé sie ursprünglich als Ostereier für den Zaren gedacht. Sie bildeten gewissermaßen den Gipfel der damaligen Goldschmiedekunst und waren der Inbegriff von Luxus und Kunstfertigkeit. Nicht nur ihr kostspieliges Äußeres begründete diesen Ruf, sondern ebenso das aufwendige, oft mit verblüffenden Funktionen versehene Innenleben.

Insofern waren es auch »Überraschungseier«. Manche enthielten kleine Tiere oder Blumen aus Gold und Juwelen, andere Miniaturen von einem Schiff, der Transsibirischen Eisenbahn oder einem Palast. Das barocke Kuckucks-Ei etwa war eine Tischuhr. Drückte man einen Knopf auf der Spitze des Eies, hüpfte ein Vögelchen heraus, das den Schnabel bewegen, krähen und mit den Flügeln schlagen konnte. Neben dem Uhrwerk gab es einen zweiten Mechanismus für einen winzigen Blasebalg, der die für den Gesang des Vogels nötige Luft lieferte.

Welche Überraschung mochte wohl das Zwielicht-Ei bergen?

Sophia versuchte, es aufzuklappen, aber irgendetwas hinderte sie daran. »Lass mal überlegen«, murmelte sie. Für die Tochter von Rasmus Kollin musste diese Hürde doch zu nehmen sein. Sie drehte und wendete das Ei hin und her. Mit einem Mal lächelte sie. Zielsicher drückte sie den großen Diamanten in der Rosette an der Vorderseite. Ein leises Klick! ertönte und die beiden Hälften des Prunkeies sprangen ein Stückchen auseinander. Neugierig klappte sie es vollends auf.

»Noch ein Ei?«, entfuhr es ihr überrascht. Es lag in dunkelblauem Samt, war ungefähr so groß wie eine Avocado oder eine Männerfaust, also deutlich kleiner als die es umgebende Hülle, und bestand aus kunstvoll ziseliertem Messing. Sophia kannte zwar die russischen Matrjoschkas, diese bunt bemalten, schier endlos ineinander verschachtelten Holzpuppen – und Fabergé war ein Russe –, aber damit hatte sie trotzdem nicht gerechnet. Würde sich in dem Messingei ein weiteres, noch kleineres Ei befinden und darin wieder eins?

Behutsam hob sie es aus dem Samtbett. Dabei kam in einer Mulde darunter ein goldenes Schlüsselchen zum Vorschein. Eine Spieldose? Ihre Vermutung wurde durch die Form des Gegenstandes bestärkt, den sie jetzt erst genau erkennen und erfühlen konnte. Eigentlich war es kein richtiges Ei. Unter dem gewölbten Deckel glich es eher einer Dose mit eiförmiger Silhouette. Sophia legte das Fabergé-Ei neben die Schatulle auf den Boden, öffnete vorsichtig den Schnappverschluss und klappte den Verschluss auf.

Es war eine Uhr.

»Eine Eier-Uhr«, flüsterte sie schmunzelnd.

Dem Aussehen nach musste der Zeitmesser schon sehr alt sein. Über die drei Zeiger wölbte sich eine Abdeckung aus Glas und auch das sparsam gravierte Ziffernblatt war so klar wie Kristall. So vermochte man ins Innenleben der Uhr hineinzusehen. Sophia konnte nur staunen. Es kam ihr so vor, als blicke sie in einen Organismus, dem nur ein Hauch fehlte, um zum Leben zu erwachen. Hätte sie doch nur eine Lupe bei der Hand, um die winzigen »Organe« – die Rädchen, Hebelchen, Scheiben, Bolzen und Wellen – genauer zu betrachten! Besonders faszinierte sie ein Bauteil tief im Innern, das sie spontan zum Herzen des mechanischen Körpers erklärte. Es bestand aus mehreren ineinander verschachtelten Halbkugeln, von denen sich wohl jede in eine andere Richtung bewegen konnte. Sie bildete sich ein, einiges von Uhren zu verstehen, aber das Ei war mit nichts vergleichbar, was sie von ihrem Vater darüber gelernt hatte. Fast schien es, als entdeckte sie – je tiefer ihre Blicke in den Mechanismus eindrangen – immer neue und kleinere Details. Der unwiderstehliche Drang, dieses faszinierende Räderwerk in Gang zu setzen, überwältigte sie. Sie beugte sich über die Sessellehne zum Fabergé-Ei hinab und griff nach dem Schlüsselchen ...

Ihre Hand stockte. Was hatte Doktor Sibelius noch gleich gesagt? Im Testament steht übrigens, ich soll dich ausdrücklich und in aller Deutlichkeit warnen, das Fabergé-Ei zu öffnen, bevor du die Einleitung des Buches gelesen hast. Sophia richtete sich wieder auf und nahm stattdessen die Kladde aus der Mulde zwischen ihrem rechten Oberschenkel und der Sessellehne.

»Das merkwürdigste Buch der Welt?«, wisperte sie. Was hatte der verschrobene Alte sich dabei gedacht, diese Worte an den Anfang seines Vermächtnisses zu setzen? Sie ließ die »Eier-Uhr« in ihren Schoß gleiten, schlug das Schreibbuch auf, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und begann zu lesen.

Liebe Sophia!

 

Bestimmt wunderst du dich über den Titel auf dem Buchdeckel. Bald wirst du mich verstehen. Ehe ich dir mehr von mir und meinem jahrelangen Schweigen erzähle, lass mich bitte eines voranschicken. Es ist sehr, sehr wichtig. Öffne bitte auf keinen Fall das Nürnberger Ei in der roten Kassette, die Dr. Sibelius dir übergeben hat! Ich rede von der Uhr im Messinggehäuse. Hast du es schon getan? Dann ziehe sie um Himmels willen nicht auf, ehe du mein Vermächtnis an dich – dieses von mir geschriebene Buch – von Anfang bis Ende gelesen hast! Sie ist nämlich weit mehr als eine gewöhnliche Uhr. In Wahrheit ist sie ein kosmischer Mechanismus. Fasse am besten ihren vergoldeten Schlüssel gar nicht erst an. Tu einfach so, als sei es dir bei Todesstrafe verboten, ihn anzurühren. Wer diesen Schlüssel benutzt und ahnungslos das Uhr-Ei in Gang setzt, kann großes Unheil auslösen und die ganze Welt zum Stillstand bringen ...

»Irre!«, japste Sophia. Die Kladde sank auf ihre Schenkel herab. Der Notar hatte sie ja gewarnt, Ole Kollin sei ein zwar liebenswerter, doch manchmal recht seltsamer Mann gewesen. Dass er allerdings so seltsam war, hatte Sibelius nicht erwähnt. Sie schüttelte den Kopf, ließ das Buch wieder hochklappen und versenkte ihren Blick erneut in die schwungvolle, wunderschöne Handschrift des Uhrmachers.

Du brauchst gar nicht den Kopf zu schütteln, Sophia. Ich mag ein komischer alter Kauz sein, aber ich bin nicht so verrückt, wie du vielleicht denken magst. Mein Wissen über das Uhr-Ei fußt auf zuverlässigen Quellen. Manche von ihnen sind uhralt (sic!) – sie stammen aus der Zeit, als das mechanische Ei von dem Nürnberger Uhrmachermeister Hans Gruber und zwei anderen Meistern des Fachs gebaut wurde. Durch einen Jungen namens Theo sind wir Kollins sogar in zweitausend Jahre alte Geheimnisse eingeweiht worden. Das wahre Mysterium des Uhr-Eis wurzelt in noch fernerer Vergangenheit. Niemand weiß heute mehr, wann alles begann. Es gibt nur eine Legende, die der Gefahr einen Namen gibt, den sogenannten »Mythos von Ys«. Was ich darüber herausfinden konnte, habe ich auf den folgenden Seiten aufgeschrieben. Du solltest diese Geschichte kennen, ehe du das Buch zuklappst und mich endgültig für verrückt erklärst. Bitte blättere um.

Sophia schüttelte abermals den Kopf. Der alte Zausel musste nicht mehr ganz richtig im Kopf gewesen sein, als er diese Zeilen ... Ihre Gedanken verharrten, weil ihr die Stille im Zimmer aufs Gemüt schlug. Unbehaglich blickte sie sich um. Nichts als stehende Räderwerke. Wie festgepinnt auf dreizehn Uhr dreizehn. Abgesehen vom Chronometer an ihrem Handgelenk funktionierte kein einziger Zeitmesser im Raum – es war kurz nach halb eins.

Sie trank einen Schluck Pfefferminztee. Als Theatermensch liebte sie gute Geschichten, vor allem die fantastischen Stoffe. Der geheimnisvolle Tonfall ihres Großvaters hatte sie in den Bann geschlagen. Die von ihm erwähnten Gefahren empfand sie als Würze, nicht als Bedrohung. Neugierig blätterte sie auf die nächste Seite um. Opa Ole verdiente eine Chance. Und sein leicht antiquierter Wortschatz war ja auch ganz nett. Mal sehen, was er schrieb.

3

Die merkwürdigste Geschichte der Welt beginnt mit dem Untergang einer Stadt, was durchaus wörtlich zu verstehen ist. Damals war die Menschheit noch jung und die dramatischen Ereignisse gingen in zahlreiche Sagen und Legenden ein. Die Kelten haben sie im Mythos von Ys bewahrt, bei den alten Griechen hieß das versunkene Reich Atlantis.

Im Mittelpunkt dieser Überlieferungen steht eine tragische Gestalt, ein mächtiger König, für dessen wahren Namen sich heute niemand mehr verbürgen kann. Um ihm ein Gesicht zu geben, wollen wir uns an die Bretonen halten, die ihn Gradlon nannten.

Jener Herrscher also soll ein großes Reich geschaffen haben. Es erstreckte sich von seinem Stammland Kernow an der Südwestspitze Britanniens – dem heutigen Cornwall – bis weit in den Norden. Während er mit seiner Flotte in feindlichen Gewässern kreuzte, spürte er eines Nachts die Gegenwart einer ungeheuren Macht. Er lag, wie es seine Gewohnheit war, rücklings auf dem Bett und hob den Kopf.

Etwas oberhalb seiner Füße schwebte eine Frau von atemberaubender Schönheit. Ihr Gesicht war so bleich wie der Vollmond, das lange, zu Zöpfen geflochtene Haar rot wie eine Feuersbrunst und ihr silberner Brustharnisch schimmerte wie die Sterne des Polarhimmels. Obwohl oder gerade weil sie ihm wie ein magisches Wesen erschien, entbrannte sein Herz sogleich in Liebe zu ihr.

»Ich bin Malgven, die Königin des Nordens«, ließ sie ihn wissen, »und ich kenne dich gut. Du bist jung, mutig und in der Kriegskunst bewandert. Mein Gemahl dagegen ist so alt wie sein rostiges Schwert. Wenn du mir hilfst, ihn zu töten, will ich als dein Weib mit dir nach Kernow gehen.«

Gradlon hatte von der Königin der Hyperboreer und ihrem nachtschwarzen Hengst Morvarc’h gehört. Angeblich spien die Nüstern des Rosses Feuer und es konnte auf den Schaumkronen der Wellen galoppieren. Mit einer solchen Gefährtin an der Seite würde sein Reich jedem Gegner trotzen können. Von der Leidenschaft und den Verlockungen der Unbesiegbarkeit betört, willigte Gradlon in den mörderischen Pakt ein. Er ahnte nicht, dass hinter der machtvollen Präsenz, die er kurz zuvor gespürt hatte, nicht Malgven, sondern ein abgrundtief böses Wesen steckte. Ein Meister der Täuschung.

Der Herrscher der Zeit.

Er hat kein Gesicht, und zugleich besitzt er viele, weil er die Schwächen der Menschen ausnutzt, um ihnen seinen Willen aufzuzwingen und in ihrer Gestalt neue Ränke zu schmieden. Selbst nennt er sich Oros, obgleich er Hunderte von Namen besitzt. Gradlons weise Männer nannten ihn den Stundenwächter. Wer so mannigfaltig ist, der bleibt für die meisten ein Niemand. Diesem Umstand verdankt Oros seine weitgehende Unbekanntheit. Das Bewusstsein der Menschheit reflektiert nur seinen Widerschein, bei den alten Persern als Zervan, dem Herrn des Lichts, der Finsternis und des Schicksals, oder bei den Griechen als Chronos, dem Gott der Zeit. Die Jünger des Orpheus hielten ihn gar für den Schöpfer des silbernen Welten-Eies.

Auch Gradlon ließ sich von ihm blenden, als er Malgvens Schönheit erlag und den König der Hyperboreer erschlug. Danach heiratete er die Witwe. Noch ahnte er nicht, dass ihm aus dieser Verbindung nur Schmerz und Kummer erwachsen sollten.

Das Unheil nahm seinen Lauf, nachdem er die Krone des Nordens empfangen hatte. Der ewigen Kämpfe überdrüssig, zettelten seine Männer eine Meuterei gegen ihn an und segelten mit der Flotte davon. Kaum waren Gradlon und Malgven mit dem einzigen verbliebenen Schiff in See gestochen, kam ein gewaltiger Sturm auf. Er trieb es unentwegt vor sich her, bis weit in die nordwestlichen Gewässer hinein. Die Irrfahrt dauerte ein volles Jahr.

Währenddessen schenkte Malgven ihrem Liebsten eine Tochter und nannte sie Dahut. Die Freude darüber währte nicht lang. Kurz nach der Geburt des Kindes starb Gradlons große Liebe im Kindbett. Mit dem Königsmord hatte er einen Fluch auf sich geladen, das wurde ihm allmählich klar.

Nach der Heimkehr gab sich der Witwer ganz seiner Trauer hin. Das einzige Licht in seinem Leben war die kleine Dahut. Im Spiel mit ihren blonden Locken fand seine wunde Seele Trost. Allmählich wuchs sie zu einem Mädchen heran, das seine Mutter an Schönheit sogar noch übertraf. Im Alter von sieben bat sie ihren Vater zum ersten Mal, ihr eine »Heimstatt am Meer« zu bauen. Offenbar, so glaubte der König, hatte sie auch die Liebe zur See von Malgven geerbt.

Als Dahuts Drängen immer inbrünstiger wurde, gab der in sie vernarrte Vater schließlich nach. Ihr zum Gefallen errichtete er das prächtige Ys.

Um die Stadt zu schaffen und zu voller Blüte zu bringen, versammelte er von nah und fern die begabtesten Künstler und größten Gelehrten. Auch damit diente er in Wahrheit dem Herrscher der Zeit, doch nach wie vor ahnte Gradlon davon nichts. Sogar Dahut verdankte ihr Leben Oros, denn ohne dessen Intrigen hätten ihre Eltern nie zueinander gefunden. Nun nährte er bei dem Mädchen die gleichen Schwächen, denen schon Malgven erlegen war. Allnächtlich sandte er ihr verführerische Träume von Größe und Glanz. Je mehr Dahut darüber ihre kindliche Unschuld verlor, desto stärker geriet sie in die Gewalt des gesichtslosen Ränkeschmieds.

 

Ys lag an einer malerischen Bucht in Arvorig – im Wesentlichen die heutige Bretagne –, wo das keltische Volk der Bretonen lebte. Wer sich der Stadt vom Wasser her näherte, dem kam es so vor, als wüchsen ihre schimmernden Dächer, Kuppeln und Türme direkt aus dem Meer empor. Und aus der Mitte ragte die Zitadelle des Königs auf.

Um seine Hauptstadt vor den Wellen des Atlantischen Ozeans zu schützen, ließ er zur See hin einen gigantischen Steinwall errichten, Ker-Ys, die »Festung der Tiefe«. Den Zugang zum Hafen sicherte ein riesiges Tor aus Bronze.

Den einzigen Schlüssel dazu hielten manche für einen magischen Kraftspender, weil Gradlon ihn Tag und Nacht an einer schweren Silberkette um den Hals trug. Nicht wenige glaubten, solange das Amulett über dem Herzen des Königs verweile, könne Ys kein Unheil treffen. Es zu berühren, galt jedem Untertan als todeswürdiger Frevel. So bekam es seinen Namen: der »Verbotene Schlüssel«.

Kaum war Dahuts Heimstatt am Meer Wirklichkeit geworden, trachtete sie bereits nach etwas noch Größerem. Was nütze es ihr, flüsterte Oros der Prinzessin im Traum zu, wenn die Nachwelt Hymnen auf ihre prächtige Stadt sänge, Ys selbst aber längst zerfallen sei? Wäre es nicht besser, ihr Reich unzerstörbar zu machen? Alles, was sie hierfür benötigten, sei Macht über die Zeit. Und der Schlüssel dazu sei das Wissen der Erleuchteten, das die Weisen von Ys eifersüchtig bewachten. Wenn es Dahut jedoch gelänge, das Geheimnis nur einem von ihnen zu entlocken, dann könne ihr Name unsterblich werden.

In Wahrheit verfolgte Oros vollkommen andere Ziele. Ihm schwebte ein eigenes Reich vor – Mekanis sollte es heißen. Bisher war es nur ein Hirngespinst, eine Idee, ein Spiegelbild im Bewusstsein der Menschen. Solange es dort existierte, gedieh es wie ein Baum am Wasser. Und es verdorrte wieder, sobald diese vergänglichen Wesen den Gang alles Irdischen antraten und er niemandem mehr seinen Willen aufzwingen und seine Gedanken denken lassen konnte.

Deshalb trachtete Oros danach, sich von den Kleingeistern, wie er sie nannte, zu befreien. Er musste sich mit etwas, das so unvergänglich wie Gold war, an den materiellen Kosmos binden. Das Schattendasein von Mekanis hätte ein Ende. Es würde sich aus dem flüchtigen Dasein im gefühlsduseligen Tümpel menschlicher Schöpferkraft erheben. Es würde eine wirkliche Welt. Das Geschlecht der Sterblichen wäre für ihn darin wie Ton in den Händen des Töpfers. Beliebig formbar.

Und dazu benötigte er Dahut.

Dummerweise, so dachte er, hatte dieses »Werkzeug« einen schweren Makel: Es war ein Mädchen. Welches Volk folgte denn einer Jungfrau? Undenkbar so etwas! Schon gar nicht bei den Bretonen. In ein paar Tausend Jahren vielleicht ... Immerhin, tröstete sich Oros, die Prinzessin war fast erwachsen und betörend schön. Für seine Zwecke also durchaus nützlich. Zur endgültigen Umsetzung seiner Pläne brauchte er allerdings einen Mann. Er musste sich den Willen eines Königs unterwerfen, am besten den eines Helden wie Gradlon.

Um diesen Vorsatz zu verwirklichen, ließ er Dahut ein großes Fest ausrichten. Die ganze Stadt sollte mit ihr feiern. Es war die Zeit des Frühlings und rings um die Zitadelle freute man sich über die großzügige Geste des Hofes. In den Palast lud die Prinzessin ebenso die Seeleute ein, denen Ys seinen Reichtum verdankte, wie auch die Honoratioren der Stadt, darunter die Weisen des Königs, die das uralte Wissen hüteten. Talan, ihrem Wortführer, reservierte sie einen Platz an ihrer Seite. Er war ein Mann mittleren Alters von edlem Blut und gutem Aussehen. Keine Frau hatte bisher sein Herz erobert.

»Könnt Ihr mir das Wesen der Zeit erschließen?«, erkundigte sich Dahut zu vorgerückter Stunde im Plauderton bei ihm. Viele Gäste waren schon betrunken und es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Ihr Vater lauschte mit versonnener Miene einem Harfenspieler und auch sonst achtete niemand auf die beiden.

»Wozu?«, fragte der königliche Ratgeber ernst.

»Ich will sie mir untertan machen. Als zukünftige Königin von Ys soll weder sie noch eine andere Macht über mich bestimmen.«

»Ihr begehrt, in etwas Einblick zu nehmen, das große Gefahren in sich birgt. Deshalb wird dieses Geheimnis seit Anbeginn der Menschheit nur von Erleuchteten, von Männern und Frauen reinen Herzens, beschützt. Niemand sonst darf sich diesem Wissen nähern. Schlagt Euch die Sache aus dem Kopf, Prinzessin.«

Gradlons Tochter lächelte keck. »Seht mich an, Talan. Findet Ihr irgendeinen Makel an mir?«

»Es geht um innere Werte, Hoheit. Um die Reinheit des Wesens. Es steht mir nicht zu, über das Eure zu urteilen.«

Dahut merkte, dass die Lippen des Weisen für sie versiegelt waren. Sie trank einen Schluck Wein. Dann fragte sie scheinbar beiläufig: »Wurde das Wissen der Erleuchteten eigentlich je niedergeschrieben?«

»Wo denkt Ihr hin! Schon ein ungezügelter Gedanke daran könnte die ganze Stadt zerstören. Um wie viel gefährlicher wäre da ein Buch, das jedem Narren das Wesen der Zeit erschlösse!«

»Ihr haltet mich also für eine Närrin«, versetzte die Prinzessin spitz.

Talan seufzte. »Nein. Aber nicht Ihr und auch nicht der König seid die Hüter des Geheimnisses. Mit Bedacht haben die Altvordern des Reiches diese Aufgabe dem Rat der Weisen übertragen. Bei uns ist es sicher.«

»Könnten uns diese Eingeweihten und damit ihr kostbares Wissen nicht durch ein Unglück verloren gehen? Wie groß ist dieser Zirkel?«

»Es sind etliche. Mehr als zwei Dutzend. Die genaue Zahl braucht Ihr nicht zu kennen. Um das Geheimnis auszulöschen, müsste schon die ganze Stadt im Meer versinken. Und was Eure gefährliche Neugier anbelangt, Prinzessin, werde ich davon dem König berichten.«

Dahut blickte verstohlen nach rechts zu ihrem Vater, der sich immer noch von den Klängen der Leier verzaubern ließ. Er durfte nichts von ihren Plänen erfahren. Rasch wandte sie sich wieder dem Obersten Ratgeber zu, schenkte ihm ein bestrickendes Lächeln und legte ihre Hand an seine Wange. »Warum so streng, Weisester aller Weisen? Ich bin nur ein dummes, neugieriges Mädchen, das so kluge Männer wie Euch bewundert. Reden wir von etwas anderem. Wenn Ihr schon meine inneren Werte nicht beurteilen wollt, wie gefällt Euch das Äußere? Findet Ihr mich hübsch? ...«

Es wäre müßig, den Fortgang des Abends in sämtlichen Einzelheiten zu schildern. Am Ende gelang es der Prinzessin, was noch keiner Frau gelungen war. Talans Herz stand in Flammen. Er begehrte diese zarte Blüte, die nie ein Mann zuvor gepflückt hatte. Wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, folgte er ihr ins Schlafgemach.

Hier nahm sie ein Paar Halbmasken zur Hand, schwarze Larven, deren Sehschlitze mit dunklem Flor verkleidet waren. Mit der einen bedeckte sie ihre eigenen Augen, die andere reichte sie Talan mit den Worten: »Bis zum Sonnenaufgang sind wir nicht die Tochter des Königs und sein erster Ratgeber. Wir sind nur zwei Liebende ohne Namen.«

Nichts ersehnte er sich mehr als das. Während die Prinzessin ihn liebkoste, meinte er ab und an, hinter den Augenschleiern ihrer Maske ein Licht zu sehen. Doch der Weise war längst zum Narren geworden. Er hielt den Schimmer für ein Trugbild, das ihm seine entflammte Leidenschaft vorgaukelte. Als der Morgen graute und er trunken war von der Liebe zu Dahut, musste er den Preis für seine Unvorsichtigkeit zahlen.

Die schwarze Larve auf seinem Gesicht schien plötzlich zum Leben zu erwachen und ihn wie ein Krake zu umklammern. Sie wuchs um seinen Kopf herum, schloss sich um den Hals und zog sich dabei immer fester zusammen. Talan bekam keine Luft mehr. Er versuchte, um Hilfe zu schreien, doch es kamen nur gurgelnde Laute heraus. Dahut wartete am Fußende des Bettes, bis sein Todeskampf vorüber war.

»Du wirst mich nicht bei meinem Vater anschwärzen«, zischte sie. Dann rief sie nach einem Diener und befahl ihm, den Leichnam bei der Bucht der Toten ins Meer zu werfen. Als Opfer für den Ozean.

 

In den folgenden Wochen wurden in Ys fast täglich rauschende Feste gefeiert. Regelmäßig scharte die Prinzessin Edle, Reiche und Mächtige um sich, ebenso wie die Seefahrer von Ys und Kaufleute aus fernen Landen. Und immer häufiger lockte sie einen der Weisen in ihr Schlafgemach.

Zehn von ihnen teilten Talans Schicksal. Wenngleich sie ihr Geheimnis nicht preisgaben, erlagen sie doch Dahuts Verführungskunst. Sie ließen sich auf das Spiel der schwarzen Masken ein, starben im Morgengrauen und versanken im Meer. Dabei ging die Prinzessin so geschickt vor, dass niemand ihr auf die Schliche kam. Sogar ihren Vater konnte sie lange täuschen – vielleicht weil er die Wahrheit nicht sehen wollte.

Als die Sommerhitze über der Stadt flirrte, hatte sich die Kunde von den ausschweifenden Festlichkeiten in Ys bis weit über die Reichsgrenzen hinaus verbreitet. Es sei eine Stätte des Lasters, wurde erzählt. Der König schien davon nichts zu bemerken. Er war in seiner Trauer gefangen und nahm kaum noch an den Banketten teil. Seine Tochter hingegen übertrumpfte sich selbst mit immer neuen Attraktionen, um das Interesse der Weisen wach zu halten.

Wieder hatte sie einen von ihnen umgarnt, nun schon der Zwölfte und der bisher Jüngste auf ihrer schwarzen Liste. Der hübsche Bursche hieß Gwenole und zeigte sich für ihre Verführungskünste besonders empfänglich. Erst vor Kurzem war er aus Phaistos auf der Insel Kreta nach Ys gekommen. Wegen seiner außergewöhnlichen Klugheit hatten die Weisen der Stadt ihn schnell als Adept in ihren Rat aufgenommen.

Auf dem Bett der Prinzessin, das Gesicht unter der dunklen Maske verborgen, gestand der heißblütige Verehrer ihr seine Liebe. Alles würde er für sie tun.

Dann erschließe mir das Wesen der Zeit, bettelte Dahut.

Nach anfänglichem Zögern erklärte er sich dazu bereit. Er werde das bisher nur mündlich überlieferte Wissen der Erleuchteten in ein Buch schreiben, versprach er, auf eine Scheibe aus Ton. Nein, fügte er hinzu, besser noch in pures Gold werde er das Buch der Zeit für seine Liebste bannen, damit es so unvergänglich sei wie das, was er ihr damit zu Füßen lege: ewige Jugend und Schönheit. Allerdings knüpfte er seinen Verrat an eine Bedingung.

»Du bekommst das Buch von mir, wenn ich von dir den Schlüssel erhalte, den dein Vater an der Silberkette bei sich trägt.«

»Den zum Bronzetor? Den Verbotenen Schlüssel? Wozu? Wer ihn antastet, ist des Todes. Das gilt sogar für mich.« Aus Dahut sprach der Argwohn von Oros.

»Es ist zu deinem und unser aller Wohl«, erklärte Gwenole und lächelte besänftigend. »Die Kontrolle über die Festung der Tiefe ist das Einzige, das dein Vater uns Weisen vorenthält. Wie die älteren Ratsherren mir erzählten, ist er schon einmal aufs Meer hinausgefahren und fast nicht mehr zurückgekehrt. Keine Sorge, du bekommst den Schlüssel zurück. Ich will ihn nur kopieren, damit die Stadt sich schützen oder öffnen kann, wie es ihrem Gedeihen nützt. Sollte Gradlon jemals von uns gehen, wäre so ihr Fortbestand gesichert.«

Das Argument erschien Dahut vernünftig – weil Oros es einleuchtend fand. Der Herrscher der Zeit sah seine große Stunde gekommen. Die Prinzessin war ihm nützlich gewesen, solange er aus ihrer kindlichen Unschuld hatte Kraft schöpfen können. Nun war sie verbraucht, ein im Blut ihrer Opfer stumpf gewordener Meißel, der dem Bildhauer nicht länger nützte. Er würde sich ihrer entledigen und an ihrer statt Gradlon in seine Gewalt bringen.

Und sobald der liebestolle Gwenole ihm das Buch der Zeit aushändigte, brauchte er auch die Erleuchteten von Ys nicht mehr. Dann konnte er sich andere Werkzeuge suchen. Am besten einen neuen unbefleckten Geist, einen Menschen mit Genie und ein paar nützlichen Charakterschwächen, einen Verführbaren also, der das Reich Mekanis endgültig aus dem Kosmos der Gedanken befreite und ins stoffliche Universum hinübertrug.

»Wann wirst du mir die Geheimnisse übergeben?«, fragte die Prinzessin ungeduldig.

»Morgen zur achten Stunde«, versprach der junge Adept. »Nach dem Mittagsmahl pflegt dein Vater auszuruhen. Wir treffen uns in seinem Schlafgemach. Du entwindest ihm den Schlüssel und ich gebe dir im Tausch das Buch.«

»Gut«, willigte Dahut in den Handel ein. Und während sie Gwenole die schwarze Maske abnahm, fügte sie hinzu: »Die brauchst du nicht mehr. Wir sind ab jetzt ein Herz und eine Seele.«

Er schickte sich an, es ihr gleichzutun, doch sie griff schnell nach seinen Handgelenken und drückte sie nach umten. »Es ist besser, wenn ich meine Augen nicht enthülle. Sonst könnte das Feuer meiner Liebe dich verbrennen.«

 

Als die Sonne sich über dem Horizont erhob, lebte Gwenole immer noch. Er schlich sich aus dem Gemach der Prinzessin und zur Mittagszeit traf er sich erneut mit ihr. Sie trug wieder ihre Maske und reichte eine zweite ihrem Komplizen. »Setz die Larve auf. Sollten wir entdeckt werden, können wir unerkannt entkommen.«

Gwenole ahnte, dass dies nicht der wahre Grund war, doch er ließ sich nichts anmerken.

»Wo hast du das Buch der Zeit?«, fragte Dahut.

»Du wirst es bei deinem Vater finden. Ich bin ertappt worden, als ich die geheimen Zeichen der Erleuchteten, wie ich es dir versprach, auf eine goldene Scheibe bannte. Nur indem ich behauptete, es sei auf des Königs Befehl geschehen, konnte ich dem Kerker entgehen.«

»Und das haben sie dir geglaubt?«

»Ja, weil er es bestätigte. Er hatte mich tatsächlich einmal nach dem Wesen der Zeit befragt, nachdem ihm von deiner diesbezüglichen Wissbegier berichtet worden war. Kann es sein, dass du schon vor mir andere aus dem Rat der Weisen ausgefragt hast?«

»Vielleicht habe ich gelegentlich mit ihnen darüber geplaudert«, antwortete Dahut ausweichend. Mit einem Mal hatte sie es sehr eilig, den Raub des Verbotenen Schlüssels hinter sich zu bringen.

Gemeinsam drangen die beiden durch ein Fenster ins Dachgemach des Königs ein. Hier pflegte er seine Mittagsruhe abzuhalten, weil zahlreiche Öffnungen die Meeresbrisen hereinwehen ließen und auch im Sommer angenehme Temperaturen herrschten.

Gradlon schnarchte vernehmlich.

Während Gwenole beim Fenster Wache hielt, schlich die Prinzessin zum Diwan ihres Vaters. Er schlief voll bekleidet auf dem Rücken und trug eine Maske, wohl damit die helle Mittagssonne ihn nicht störte. Die schwere Silberkette lag auf seiner Brust.

Dahut streckte die Hand nach dem verbotenen Schlüssel aus.

Und zögerte.

Nicht Oros, die eigenen Bedenken bewogen sie dazu. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie blickte erneut in Gradlons Gesicht. Äußerlich war seine schwarze Larve den von ihr benutzten sehr ähnlich. Wollte er sie damit warnen? Wusste er etwa ...?

Ehe der Gedanke zu Ende gedacht werden konnte, verlor Oros die Geduld. Wie ein ruppiger Marionettenspieler ließ er seinen Willen in Dahuts Körper fahren.

Ihre Hand näherte sich wieder der Brust des Vaters. Hilflos musste sie mitansehen, wie ihre Finger zu zitternden Klauen wurden, die sich um den silbernen Schlüssel krallten.

Plötzlich fuhr Gradlons Linke nach oben und packte das Handgelenk seiner Tochter. Blitzschnell zog er ein Schwert unter sich hervor. »Also ist es wahr«, zischte er. »Ich wollte es nicht glauben, als Gwenole mich vor dir warnte.«

Gradlon war ein erfahrener Kämpfer und alles andere als altersschwach. Dennoch hatte er die Kraft unterschätzt, die der Herrscher der Zeit in Dahuts Körper entfesselte. Oros riss sich aus dem eisenharten Griff des Recken los, ehe dieser ihm die Klinge an den Hals setzen konnte. Im Zurückweichen befahl er Gwenole: »Wenn du nicht das Schicksal deiner elf Vorgänger teilen willst, dann töte den König!«

Der junge Adept schüttelte den Kopf. »Für wie dumm hältst du mich, Oros?«

Ein Ruck ging durch Dahuts Leib. »Woher kennst du meinen Namen?«

»Wer das Wesen der Zeit erforscht, muss sich auch mit ihrem Herrn befassen. Und selbst der Stundenwächter vermag sie nicht völlig zu ergründen, obwohl seine Macht ihren ewigen Strom doch lenkt. Dies und vieles mehr lehrte mich der Seher Polyidos, den ein weitblickender Fürst nach Phaistos rief. Vielleicht hast du schon von Minos gehört, dessen Sohn ich bin. Er ist der König von Kreta und ein treuer Bundesgenosse Gradlons. Als dessen Hilferuf uns erreichte, schickte mein Vater mich, um das spurlose Verschwinden der Weisen von Ys aufzuklären.«

»Genau so war es«, knurrte Gradlon. Mit ausgestrecktem Schwert näherte er sich vorsichtig dem Herrscher der Zeit. »Gwenole erklärte mir, dass du wie ein Seefahrer bist, der die Gezeiten nutzt, ohne ihre Natur ergründet zu haben. Dazu benötigst du die Erleuchteten. Ich kann mir denken, wie außerordentlich dich das wurmt. Und jetzt gib meine Tochter frei, sonst ...«

»Was dann?«, schnitt Oros ihm das Wort ab. »Tötest du etwa dein eigen Fleisch und Blut, dein Ein und Alles? In Dahut lebt dein Weib Malgven fort. Ich weiß, wie abgöttisch du beide liebst.«

Gwenole ballte die Fäuste. »Hört nicht auf ihn, Majestät. Er will nur Eure Entschlossenheit schwächen.«

Aus Gradlons Kehle grollte es bedrohlich. Unerbittlich rückte er weiter gegen Oros vor. Schritt für Schritt drängte er ihn in eine Ecke. Nur ein Fenster gab es da und einen in der Sonne leuchtenden Wandbehang aus bunter Seide. Als dem Herrscher der Zeit kein Ausweg mehr blieb, riss er sich die schwarze Maske vom Gesicht.

Ein gleißendes Licht schoss aus den Augenhöhlen der Prinzessin. Der König schreckte vor ihr zurück und sie stahl sich an seiner blitzenden Klinge vorbei. Hätte er nicht die Larve getragen, wäre er mit Sicherheit dabei geblendet worden. Gwenole hatte ihn vor den Augen des strahlenden Stundenwächters gewarnt. Die Wirklichkeit übertraf alle Erwartungen.

Mit einem Mal befand sich Gradlon in der Defensive. Benommen taumelte er nach hinten bis an den Wandbehang. Nur das erhobene Schwert hinderte Oros daran, sich sofort auf ihn zu stürzen.

Das Gesicht der Prinzessin lächelte. »Wenn du mir freiwillig deinen Körper überlässt, dann werde ich dich verschonen. Ich verspreche dir ein sehr langes Leben.«

»Und was ist mit Dahut?«

»Bis jetzt hat sie nur ihr Augenlicht verloren. Es liegt in deiner Hand, sie vor Schlimmerem zu bewahren.«

Der König verspürte unbändigen Zorn. Nur um seiner Tochter willen beherrschte er sich. Konnte er Oros trauen und sie doch noch retten? Er musste an Gwenoles Warnungen denken. Alles, was der junge Adept gesagt hatte, war bisher eingetroffen ...

Gradlon schnaubte verächtlich. »Ich werde nicht zulassen, dass du in meiner Gestalt über die Menschen herrschst.«

»Du wärst nicht der Erste. Vor dir hat es schon andere gegeben, denen ich zehntausend und mehr Jahre gab.«

»Und was ist aus ihnen geworden? Darf ich raten? Sie sind zu Staub zerfallen.«

Wie eine Marionette streckte Dahut die Hand nach der drohend auf ihre Brust gerichteten Schwertspitze aus. »Ich könnte dein Herz auf der Stelle stillstehen lassen. Dazu bräuchte ich nur deine Klinge zu berühren.«

Der König straffte die Schultern. »Mein Leben magst du mir nehmen, aber den Namen Gradlons wirst du damit nicht auslöschen. Schau aus dem Fenster hinter dir. Ys ist mein Werk. Seine Pracht bringt die Menschen zum Staunen und das wird es noch viele Tausend Jahre tun.«