Messias - Ralf Isau - E-Book

Messias E-Book

Ralf Isau

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ein packender Thriller von Bestsellerautor Ralf Isau! Gründonnerstag in dem kleinen irischen Dorf Graiguenamanagh: Vor dem Kreuz der Dorfkirche wird ein junger Mann gefunden, der blutende Wunden an Händen und Füßen aufweist. Neben ihm: eine Dornenkrone. Und als der Mann benommen erwacht, spricht er Hebräisch. Kann er wirklich der wiedergeborene Messias sein? Ein wahrer Mediensturm bricht über das verschlafene Nest und den vermeintlichen Heiland herein. Hester McAteer, Sonderermittler des Vatikans, soll der Sache auf den Grund gehen. Doch dabei wird er nicht nur mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert, sondern auch mit mysteriösen Todesfällen, die ihn an seinem Glauben zweifeln lassen.-

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Seitenzahl: 492

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Ralf Isau

Messias

Thriller

Saga

Messias

 

Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany

(www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 2009 im Piper Verlag erschienen

Coverimage/Illustration: Shutterstock

 

Copyright © 2009, 2022 Ralf Isau und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728390412

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Tu erst das Notwendige,

dann das Mögliche,

und plötzlich schaffst du das Unmögliche.

Franz von Assisi

For Philip and Mary

Prolog

Gráig na Manach, County Kilkenny, Irland, 1460

Gemessen an den streng asketischen Ordensregeln der Zisterzienser war der junge Aidan kein mustergültiger Mönch. Doch manchmal ändert gerade die Unzulänglichkeit den Lauf der Welt. Auf Aidan O’Ryan traf dies zweifellos zu.

Der Zweiundzwanzigjährige war ein notorischer Träumer. Schon als kleiner Junge hatte er den einst glanzvollen Namen seiner Familie neu aufpolieren wollen. Schließlich war er ein direkter Nachkomme von Dermod O’Ryan, dem Prinzen von Idrone. Aidan wollte sich durch Edelmut ins Gedächtnis der Menschheit einschreiben. Sein großes Vorbild war, nein, nicht Jesus Christus, sondern Robin Hood.

Die hochfahrenden Pläne des jungen Mönchs standen in krassem Gegensatz zu seinen Erfolgsaussichten. Er stammte aus dem unbedeutendsten Zweig des O’Ryan-Clans und war als jüngster von sechs Brüdern der unbedeutendste Sohn seines Vaters. Um einem hässlichen Erbstreit vorzubeugen, hatte der den Nachzügler im Alter von achtzehn Jahren nach Gráig na Manach geschickt; der irisch-gälische Name des Dorfes bedeutet »Landsitz der Mönche«. Irrigerweise hielt das Familienoberhaupt die dortige Duiske Abbey für geeignet, um seinem Jüngsten die Flausen auszutreiben.

Im Verlauf von Postulat und Noviziat hatte Aidan einiges Geschick darin erworben, die täglichen Pflichten mit geringstmöglichem Aufwand zu erledigen. Dadurch konnte er sich im dicht gestaffelten Tagesablauf aus Stundengebeten, Lesungen und harter Arbeit immer wieder kleine Freiräume schaffen, die er zum Träumen, zum Lesen und zum Bogenschießen nutzte. So geschah es auch an jenem stürmischen Frühlingsnachmittag des Jahres 1460, als er vor den Klostermauern eine Vogelscheuche mit Pfeilen spickte.

Er gab sich alle Mühe, dabei eine gute Figur zu machen. Immerhin hatte der Herrgott ihn mit dem Körper eines Recken gesegnet. Sobald er sich allerdings bewegte, sah er nur noch wie ein hochgeschossener, linkischer Junge aus, der auf Kriegsfuß mit seinen langen Gliedmaßen und einem zu schweren Knochenbau stand. Leider gestattete ihm die Ordensregel auch nicht, diese körperlichen Nachteile zu kaschieren. Das Schermesser der Tonsur richtete auf seinem Kopf jede Woche einen Kahlschlag von der Größe eines Handtellers an, wenn es die Haut unter dem nachwachsenden rotblonden Haarflaum abschabte. Und mit dem schlichten Habit der Zisterzienser ließ sich auch kein Staat machen. Das weite, knöchellange Obergewand aus grauweißer, ungefärbter Wolle und der schwarze, Brust und Rücken bedeckende Überwurf wirkten eher besänftigend als abschreckend.

Um die Rolle des Rächers von Witwen und Waisen überzeugend zu verkörpern, musste er schon sein ganzes schauspielerisches Talent aufwenden. Aidans Publikum bestand aus einem einzigen Zuschauer, einem blonden Strubbelkopf von ungefähr vier Jahren. Der Knabe stand nur einen Steinwurf entfernt am Ufer des Barrow und schielte immer wieder verstohlen zu dem Klosterbruder herüber. Aidan tat so, als bemerke er den Knirps nicht. Er hatte sich für seine Schießübungen wohlweislich das Geviert zwischen dem Refektorium und den Latrinen auserkoren, weil der Platz an drei Seiten von Mauern umgeben war und somit hinreichend Schutz bot, sollte der ein oder andere Pfeil danebengehen – ein nicht eben unwahrscheinlicher Fall.

Als Scharfschütze war der junge Mönch nämlich ebenfalls durchaus untalentiert. Von Robin Hoods legendärer Treffsicherheit lagen seine Zielkünste so weit entfernt wie Irland von Indien. Zwei von drei Schüssen hatten den Lumpenmann verfehlt. Für den nächsten nahm sich Aidan besonders viel Zeit. »Fahr zur Hölle, Schurke!«, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Ich werde jetzt dein Herz durchbohren.«

Unvermittelt hörte er ein Kichern.

Seine Augen schielten nach rechts und gewahrten ein Mädchen, das am Flussufer entlang in Richtung Brücke schlenderte. Gerade zerzauste es dem neugierigen Blondschopf im Vorbeigehen das Haar. Der Kleine neigte sich unwillig zur Seite.

Um sich keine Blöße zu geben, hielt Aidan den Langbogen weiter gespannt, doch sein Kopf und zunehmend auch der Oberkörper wandten sich der vorbeiziehenden Hübschen zu. Je länger er sie anstarrte, desto mehr geriet sein Herz ins Stolpern.

Was für eine Anmut und Grazie, was für ein wunderbares Geschöpf! Sie konnte kaum achtzehn sein, aber sie verfügte über jene Ausstrahlung, die schon Eva besessen haben musste, als sie Adam die verbotene Frucht aufschwatzte. Aidan hätte der Evastochter dort auf dem Weg alles abgenommen. Ihr bezauberndes Lächeln, der kecke Blick, die Rundung ihrer vorgeschobenen Hüfte, welche den von zarter Hand gehaltenen Weidenkorb stützte, ihr braunes, unter einer Haube her-vorquellendes Haar – das alles machte sie für den Tagträumer über die Maßen begehrenswert. Er stellte sich vor, wie er sich mit ihr im Heu wälzte, wie er ihren Körper bis in die geheimsten Winkel erkundete. Was würde er dafür geben, sie lieben zu dürfen, ein Leben lang!

Plötzlich merkte er, wie ihm die Sehne aus den Fingern glitt. Es war wie in einem Traum, in dem man ein Unglück kommen sieht, es aber nicht mehr abwenden kann. Der Pfeil zischte davon. Ehe sein Blick ihm folgen konnte, hörte er einen schrillen Schrei, der ihm bis ins Mark drang.

Auf dem Uferweg brach der kleine Junge zusammen und blieb reglos liegen. Aus seiner Brust ragte Aidans Pfeil.

»Tom!«, rief das Mädchen entsetzt. Es ließ den Weidenkorb fallen, rannte den Weg zurück und wiederholte immer und immer wieder den Namen. Aber der Knabe antwortete nicht. Bei ihm angekommen, warf es sich über ihn. »Tom! Hörst du mich, Tom? Ich bin’s, Lissy! Bitte sag doch was!«

Dem Todesschützen war der Schreck in die Glieder gefahren. Anstatt Hilfe zu holen, starrte er nur fassungslos auf den leblosen Körper in den Armen des Mädchens.

Zwei Mönche eilten herbei. Einer kniete sich neben den Knaben, der andere sprach mit der weinenden Lissy. Sie deutete anklagend auf Aidan und rief: »Der da war’s. Er hat meinen Bruder umgebracht. Du Mörder! Ich verfluche dich! Möge deine schwarze Seele niemals Frieden finden.«

 

Die Vesper hatte Aidan wie in Trance an sich vorüberziehen lassen, kein Ton war über seine Lippen gekommen. Abt Roy Conlon hatte, weil nach der Regel des heiligen Benedikts nichts den Gottesdiensten vorgezogen werden durfte, das Verhör des Totschlägers auf die Stunde nach dem Abendgebet gelegt. Um jeglichen Vorwurf der Vertuschung im Keime zu ersticken, war der ganze Konvent im Kapitelsaal zusammengekommen. Auch die Eltern des kleinen Tom und seine Schwester Lissy – eigentlich hieß sie Elisabeth – hatte der Klostervorsteher in die Abtei gebeten. Aidan glaubte, ihm müsse das Herz in der Brust zerspringen, als er die Bitterkeit im Blick ebenjenes Mädchens gewahrte, mit dem er sich einen seligen Moment lang in Liebe vereint gesehen hatte.

Der Abt dankte allen Anwesenden für ihr Kommen und sprach Toms Angehörigen sein Mitgefühl aus. Anschließend ließ er Lissy den Hergang des Vorfalls schildern. Sie brach in Tränen aus und wiederholte im Wesentlichen, was sie schon am Nachmittag gesagt hatte: Aidan habe ihrem Bruder einfach ins Herz geschossen. Er sei ein Mörder.

Danach erteilte Abt Conlon dem Beschuldigten das Wort. Stammelnd beschrieb er das Geschehen so, wie er es sah, nämlich als Verkettung unglücklicher Umstände.

Zur Überraschung aller rief der Abt danach Bruder Rob auf. Dieser hatte das Ereignis vom Fenster des Refektoriums aus beobachtet und bestätigte Aidans Aussage.

Hierauf wandte sich der weißhäuptige Klostervorsteher wieder dem Mädchen zu. In ruhigem, eindringlichem Ton sagte er: »Es bekümmert mich, meine Tochter, wenn ich sehe, wie viel Zorn und Trauer in dir wohnt. Wer könnte dir das verdenken? Doch wappne deinen Verstand gegen das Blendwerk solcher Gefühle. Gehe in dich und sinne gut nach. Vermagst du vor Gott zu bezeugen, dass Bruder Aidan vorsätzlich auf den kleinen Tom geschossen hat?«

Lissy hatte sich von ihrem Platz erhoben und hielt die Hand ihrer Mutter. Schluchzend senkte sie den Blick und schüttelte den Kopf.

»Hat er dich angesehen, während der Pfeil sich löste?«, hakte der Vorsteher nach.

Sie nickte.

Der Abt gestattete ihr, sich wieder zu setzen, und während er sich dem Todesschützen zuwandte, wich der mitfühlende Ausdruck aus seinem Gesicht. »Erhebe dich, Bruder Aidan.«

Der junge Mönch fuhr vom Stuhl hoch.

»Wiewohl du kein Mörder bist«, erklärte der Klostervorsteher, »wird deine Bluttat auf ewig den Namen der Duiske Abbey beflecken.« Er deutete auf Elisabeth. »Du hast die Brunst zu diesem Mädchen in dir entbrennen und dich zu einem wollüstigen Werkzeug des Teufels machen lassen. Der Satan mag den Pfeil gelenkt haben, der ein unschuldiges Kind tötete, doch du hast für ihn den Bogen gespannt. Dadurch ist Blutschuld über dich gekommen.« Der Abt seufzte. Mit einem Mal wirkte er sehr müde. »Weil es trotz allem ein unseliges Geschick war und du ohne Arg bist, wird das Monasterium dich nach Ablauf deiner zeitlichen Profess nicht verstoßen. Hier kannst du für den Rest deines Lebens Sühne leisten. Aber wie du mit Gott ins Reine kommst, das musst du allein herausfinden.«

 

Mit dem Komplet, dem Nachtgebet, war im Kloster das »Große Stillschweigen« angebrochen. Bis zum nächsten Stundengebet um zwei Uhr morgens würde keiner der sechsunddreißig Mönche und fünfzig Laienbrüder auch nur ein Wort sprechen. Es schien, als hätten die frommen Männer das schreckliche Geschehen des Tages im Himmel abgeladen, damit kein unruhevoller Gedanke ihren knapp bemessenen Schlaf schmälern konnte.

Aidan beneidete sie um ihre Dickfelligkeit. Er teilte sich das Dormitorium mit neunundvierzig Konversen, Ordensmitgliedern ohne klerikale Weihen – eine eigene Zelle gestand Abt Conlon nur den Brüdern zu, die ihre lebenslangen Gelübde bereits abgelegt und sich damit fest an die Abtei gebunden hatten. Der Blick des von seinem Gewissen Gegeißelten wanderte unablässig durch den lang gezogenen Raum, verweilte mal beim Fenster gegenüber, wo gerade der Mond erschien, mal auf dem Schemel neben seiner Pritsche, dann wieder streifte er durchs Dunkel des Schlafsaals. Irgendwann schlief Aidan darüber ein, ohne es zu merken. Im Traum erkundete er weiter die Umgebung. Er glaubte, der Gehörnte lauere in den Schatten, um die gerade erhaschte Mönchsseele nicht wieder entwischen zu lassen.

Mit einem Mal erstrahlte der Saal in hellem Licht.

Erschrocken fuhr Aidan vom Lager hoch und hielt hektisch Ausschau nach einem lodernden Höllenschlund, der ihn zu verschlingen drohte. Unbegreiflicherweise schliefen und schnarchten die anderen Brüder seelenruhig weiter. Als sein Blick zum Fußende der eigenen Pritsche zurückkehrte, zuckte er zusammen, weil ungefähr zwei Ellen über seinen Zehenspitzen ein Engel schwebte. Dessen Antlitz strahlte wie die Sonne, und er war in gleißendes Leinen gehüllt. Hinter seinem Rücken ragten Flügel hervor, weiß und schön wie die Schwingen eines großen Schwans.

»Aidan!«, rief er mit einer donnernden Stimme, die so Ehrfurcht gebietend war wie das Tosen der See. Merkwürdigerweise ließen sich die Klosterbrüder auch davon nicht stören.

Umso beeindruckter war der Angesprochene. Kerzengerade saß er auf der Pritsche und zitterte am ganzen Leib. Weil es ihm die Sprache verschlagen hatte, kam der göttliche Bote ohne Umschweife zur Sache.

»Der Himmel ist deinetwegen von Gram erfüllt. Bist du dir überhaupt gewahr, dass für unseren Vater jedes Leben heilig ist? Keine Kreatur darf leichtfertig getötet werden, schon gar nicht ein Mensch.«

Auch darauf wusste Aidan nichts zu erwidern.

»Was du getan hast, ist mehr als ein bedauerliches Missgeschick«, machte ihm der Engel klar. »Menschen mögen im Tod des Knabens nur ein schreckliches Unglück sehen, weil sie nicht wie der Allmächtige in dein Herz blicken können. Stolz hat dich dazu bewogen, an der Waffe zu üben, um mit deinen Schießkünsten vor anderen zu glänzen. Und beim Anblick des Mädchens gabst du dich hemmungslos deinen unkeuschen Gedanken hin. Das ist der wahre Grund, weshalb du deine Beherrschung verloren und den tödlichen Pfeil losgelassen hast. Und darum sollst du verflucht sein, Aidan. Mit einem Kainsmal auf der Stirn wirst du bis zum Grabe ein Geächteter und Heimatloser sein, ein Hungernder und Frierender, ein Aussätziger – von den Menschen gehasst und gemieden.«

Ein solch hartes Urteil hatte der junge Mönch nicht erwartet. Feuer und Schwefel vom Himmel hätte er akzeptiert, auch die zeitweilige Verbannung ins Fegefeuer wäre für ihn ein angemessenes Strafmaß gewesen – aber sein ganzes Leben als Ausgestoßener zu verbringen? Er schüttelte verzweifelt den Kopf und bettelte um Gnade.

»Warum sollte der Allmächtige dir Barmherzigkeit erweisen?«, donnerte der Engel.

»Weil...« Aidan warf einen bangen Blick zu den Nachbarbetten. Seine Mitbrüder schlummerten wie in Abrahams Schoß. »Weil mein Vater mich gegen meinen Willen zu den Weißen Mönchen geschickt hat. Ich bin unglücklich hier.«

Der Engel musterte ihn mit unbewegter Miene. »Das gibt dir noch lange nicht das Recht, kleine Kinder zu töten.«

»Ja, das weiß ich«, knirschte Aidan. »Ich wollte nur...« Er schüttelte hilflos den Kopf.

»Was?«, bohrte der Engel nach.

Aidan seufzte. »Mich reut meine Tat. So sehr, dass ich ohne Zögern sterben würde, könnte ich dadurch den kleinen Tom wieder lebendig machen.«

Der Engel nickte verständnisvoll. »Einsicht und Reue sind gut. Aber damit sie dir etwas nützen, müssen entsprechende Taten folgen.«

»Was soll ich machen, damit Ihr den Fluch von mir nehmt?«

»Das zu tun, liegt ohnehin nicht in meiner Macht. Ich kann ihn nur einstweilen ruhen lassen. In dir schlummert etwas Besonderes, Aidan. Damit vermagst du dich selbst von deiner Schuld zu befreien. Warte!« Der Himmelsbote hielt unversehens eine Schreibfeder und ein Blatt in den Händen, warf schwungvoll ein paar Zeichen aufs Pergament und zeigte sie dem jungen Mönch.

Staunend las Aidan die Zahl, die in goldener Tinte auf dem Bogen prangte.

100

»Zur Sühne sollst du einhundert Wunder wirken«, erklärte der Engel. »Einhundert Mal wirst du Hoffnung geben, wo es nach Menschenermessen keine Hoffnung mehr gibt.«

»Einhundert Wunder? Bin ich Jesus?«, japste Aidan.

»Nein, du bist nicht einmal Robin Hood«, versetzte der Engel. »Aber du wirst die nötige Kraft empfangen, um deine Schuld abzutragen.«

»Und wenn es weniger als einhundert Wunder sind?«, fragte Aidan. Vielleicht konnte er die Buße ja herunterhandeln.

»Dann musst du die Restschuld an einen deiner Nachkommen weitergeben, damit er sie für dich zahlt. Und sollte auch dieser sie nicht gänzlich tilgen, dann geht sie auf die nächste Generation über. Wenn aber nur einer dein Vermächtnis ablehnt, wird der Fluch ihn und seine ganze Nachkommenschaft treffen.«

Er halte diese Erbfolgeregelung für problematisch, erklärte Aidan dem Himmelsboten, weil er demnächst die heilige Profess abzulegen gedenke, die ja mit einem Keuschheitsgelübde verbunden sei.

»Wage nicht, dem heiligen Geist gegenüber ein falsches Spiel zu treiben«, warnte ihn der Engel streng. »Heute Nachmittag hat dein Herz dich verraten. Es sehnt sich nach einem Weib.«

»Aber der Zölibat verbietet mir zu heiraten«, beharrte Aidan.

»Dann sieh zu, dass du deine Schuld abträgst, ehe deine letzte Stunde gekommen ist.« Mit dieser Antwort verschwand der himmlische Bote durch die Decke, das Dormitorium versank wieder in Dunkelheit und Aidan erwachte.

Eine Weile wagte er nicht sich zu rühren. Starr lauschte er dem Schnarchen der Brüder und rollte die Augen nach allen Seiten, um den Schlafsaal nach überirdischen Erscheinungen abzusuchen. Doch alles war wie immer.

Allmählich schlug sein Herz wieder ruhiger. Ist nur ein Albtraum gewesen, beruhigte er sich, ein Zerrbild deiner Schuldgefühle. Plötzlich fiel sein Blick auf den Schemel neben der Pritsche. Der Mond hatte einen Schleier fahlen Lichts darüber ausgebreitet. Auf dem Hocker lag ein Pergamentbogen.

Aidans Puls begann erneut zu rasen. Mit zitternden Fingern angelte er sich das Blatt und hielt es dicht unter seinen Augen ins Mondlicht. Es war fast leer.

Bis auf die drei goldenen Ziffern von des Engels Hand.

1.

Graiguenamanagh, County Kilkenny, Irland, 9. April 2009,16.05 Uhr Ortszeit

Den kräftigen Schlägen war nicht anzuhören, dass der Hammer von einem Einhundertdreijährigen geschwungen wurde. Energischer als jede Strafpredigt hallten sie durchs Kirchenschiff. Doch der alte Seamus wusste, was er tat. Er hatte in der Duiske Abbey schon viele Kirchenbänke repariert. An diesem Gründonnerstag bedurfte die erste Reihe rechts, unmittelbar vor dem Podium mit dem Hochaltar, seiner fachkundigen Aufmerksamkeit.

Vor über fünfundvierzig Jahren hatte Seamus Whelan in Graiguenamanagh ein zweites Leben begonnen. Anfangs als Totengräber, doch inzwischen kümmerte er sich in der Duiske Abbey um alles, was wackelte, quietschte, leckte oder sonst wie den Ablauf der Messe stören könnte. Er war so etwas wie der gute Geist dieser einst größten Zisterzienserkirche Irlands.

Heinrich VIII. hatte das dazugehörige Kloster 1536 aufgelöst und das stolze gotische Gotteshaus dem Verfall preisgegeben. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Ruinen teilweise wiederaufgebaut worden, die Abbey erhielt ihre ursprüngliche Form eines lateinischen Kreuzes zurück. Der achteckige Vierungsturm war allerdings ebenso dem Rotstift zum Opfer gefallen wie die zwei Seitenschiffe – nur im nordöstlichen Abschnitt, zur Überdachung des Hauptportals, stand noch ein Rest davon. Bei der letzten Restaurierung zwischen 1974 und 1980 hatte Seamus hier sogar selbst mit Hand angelegt, als einen Meter fünfzig unterhalb des neuen Fußbodens ein Teil der Fliesen aus dem 13. Jahrhundert freigelegt worden waren. Irgendwann hatte der Schafhirte Paddy Prendergast dem munteren Alten seinen langen, oben gebogenen Stab geschenkt und spätestens seit dieser Zeit nannten ihn die Leute den Moses von Graig.

Graig – sprich Gräg – ist die von den Einheimischen bevorzugte Kurzform von Graiguenamanagh. Dieser Name, der bei Besuchern ohne irische Sprachkenntnisse schon zu Abszessen an Zunge und Kehlkopf geführt haben soll, geht einem bei richtiger Sortierung der Konsonanten und Vokale ganz leicht über die Lippen. Wer Grägnämanah sagen kann, gehört nicht zu der genannten Risikogruppe.

Allein Whelans unglaubliche Vitalität betrachteten viele als ein Wunder. Manchen war er deshalb sogar unheimlich. Gemessen an seiner körperlichen Verfassung, sprach eigentlich nichts dagegen, dass er mit seinem biblischen Vorbild gleichzog. Moses wurde, wie es im Deuteronomium Kapitel 34, Vers 7, hieß, einhundertzwanzig Jahre alt, und »sein Auge war noch nicht getrübt, seine Frische war noch nicht geschwunden«. Abgesehen von einer latenten Kurzsichtigkeit traf das Gleiche auch auf Seamus Whelan zu. Sein kupferfarbenes Haar ließ er sich zugegebenermaßen regelmäßig färben, doch die meisten seiner Zähne kamen noch nicht aus dem Ersatzteillager. Er war nach wie vor groß und stattlich, etwas schlanker zwar als früher, aber das wertete seine äußere Erscheinung eher auf. Wollte jemand die These aufstellen, dass Älterwerden nichts Schlimmes ist, dann wäre Seamus der lebende Beweis dafür, ein Muster an Rüstigkeit, der Referenzsenior schlechthin.

Er hämmerte immer noch, als unvermittelt hinter ihm jemand sagte: »In dreieinhalb Stunden beginnt die Messe zum Abendmahl des Herrn. Danke fürs schnelle Kommen.« Die Stimme war ihm vertraut. Sie schnarrte immer leicht um das tiefe F herum, ganz ähnlich wie das asthmatische Harmonium, das im Südflügel bei der Orgel stand. Seamus verzichtete darauf, vom letzten Nagel aufzublicken. Es lohnte die Mühe nicht. Solange er Pater Joseph Pompom O’Bannon kannte, hatte dessen Äußeres sich kaum verändert – nur ein paar Runzeln und Altersflecken waren jüngst hinzugekommen.

Der Gemeindepfarrer verdankte seinen merkwürdigen Spitznamen einer schwarzen Perücke, die so unberechenbar wie die Bommel einer Pudelmütze auf seinem Kopf zu tanzen pflegte. Er war ein untersetzter Mann von knapp einem Meter siebzig mit knolliger Nase, rot geäderten Wangen und verschmitzten braunen Augen. Ob der Kürze seines Halses geriet das Doppelkinn ständig mit dem Kollar, dem steifen Priesterkragen, in Konflikt, was man Letzterem gewöhnlich auch ansah.

»Du weißt doch, ich bin immer für dich da«, antwortete Seamus und ließ den Hammer auf den Nagel knallen.

»Ja, auf dich war immer Verlass«, sagte O’Bannon und seine Stimme klang plötzlich melancholisch.

Seamus blickte nun doch von dem finalen Nagel auf, um seinen alten Weggefährten zu mustern. Dessen Perücke war in gefährliche Schieflage geraten. »Alles in Ordnung mit dir, Joe?« Er hatte den Pfarrer von Graig nie Vater genannt, was nicht allein an ihrem Altersunterschied von immerhin sechsundzwanzig Jahren lag.

»Ist es dir schon aufgefallen?« Der Priester deutete mit dem Kopf zum Altarpodest in der Vierung, dem Schnittpunkt von Lang- und Querschiff. Dort, drei Stufen über dem Niveau des Bodens, stand ein übermannsgroßer Metallständer mit einem Kreuz obenauf.

Irgendwie hatte Seamus das Gefühl, da weiche ihm jemand aus. Ohne den Blick von O’Bannons Gesicht zu nehmen, nickte er. »Du hast das Silberkreuz von Captain Casey aus dem Tresor geholt. Gibt es einen besonderen Anlass dafür?«

Der Priester zog einen Mundwinkel hoch. »Jetzt tu nicht so scheinheilig. Den kennst du ganz genau. Ich bin Ostern 1959 nach Graig gekommen. Zur feierlichen Passionslesung morgen um drei begehe ich mein fünfzigjähriges Jubiläum.«

Seamus trieb den letzten Nagel bis zum Kopf ins Holz und brummte: »Vielleicht schaue ich später im Pub vorbei. Ich bin sicher, Mick wird dir zu Ehren eine Runde ausgeben.«

O’Bannon schüttelte den Kopf. »Du bist ein unverbesserlicher alter Knochen. Ich würde mich freuen, dich heute Abend oder morgen zum Gottesdienst zu sehen.«

»Schon recht«, antwortete Seamus, was ungefähr so viel bedeutete wie: Darauf kannst du lange warten.

Der Pater deutete auf das ungefähr fünfzig Zentimeter hohe Silberkreuz. »Dir ist doch klar, wie kostbar unser Schatz ist? Schließ gut die Tür hinter dir zu.«

Seamus nickte und machte sich daran, sein Werkzeug in eine Henkelkiste aus Holz zu räumen. Er wusste, dass O’Bannon sich mit leisem Seufzen abwenden und mit noch leiseren Schritten über den braunen Nadelfilzteppich durch den Mittelgang des Langschiffes davonschleichen würde. Dann aber – Seamus hob gerade den langen Hirtenstab vom Boden auf – geschah etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte.

Zuerst vernahm er nur ein Rauschen, so als sei der Wind durchs Hauptportal gefahren. Alle Fenster und Türen waren jedoch geschlossen. Das Geräusch schwoll binnen weniger Sekunden zu einem Furcht einflößenden Brausen an, das die ganze Kirche erfüllte. Am westlichen Ende des Langschiffes läutete die Glocke, so wild, als treibe ein übernatürlicher Sturm mit ihr sein ungestümes Spiel. Und doch wehte nicht das kleinste Lüftchen im Gotteshaus. Seamus blickte erschrocken zum dunklen Gebälk des offenen Dachstuhls auf, konnte dort aber wegen seiner leichten Fehlsichtigkeit nichts Auffälliges bemerken.

Plötzlich wurde er von einem gleißenden Licht umstrahlt.

Geblendet von dem sonnenhellen Schein ließ er den Stab fallen, riss zum Schutz seiner Augen den Arm hoch und sank, völlig überwältigt und fast taub von dem Tosen, auf die Knie. Er zitterte am ganzen Leib. In seinem langen Leben waren Seamus Whelan schon viele wundersame Dinge widerfahren, aber nie zuvor hatte er dabei solche Angst verspürt.

Mit einem Mal brach Stille über ihn herein. Auch das rosarote Strahlen hinter den geschlossenen Augenlidern war wie weggewischt. Der jähe Wechsel ließ ihn unwillkürlich zusammenfahren.

Vorsichtig lugte er hinter dem Arm hervor. Das Erste, was er sah, war der neben ihn hingefallene Stab. Er griff danach, stellte ihn auf und zog sich daran hoch. Als er sich zum Altar umdrehte, durchfuhr ihn ein neuerlicher Schrecken.

Vor dem Podium lag bäuchlings ein nackter Hüne. Der Mann regte sich nicht, er sah aus wie tot. Sein muskulöser Körperbau glich dem eines Schwimmolympioniken, doch die Haltung – wenngleich sie durchaus zum Butterflystil passte – ließ anderes erahnten: Die Beine waren lang ausgestreckt, die Arme im rechten Winkel vom Körper abgespreizt. Auf diese Weise brachten Anwärter auf die Priesterweihe ihre Demut und Hingabe zum Ausdruck. Es war die Stellung des Gekreuzigten.

Und tatsächlich lag neben dem schwarzen Haarschopf des Toten eine Dornenkrone. An seinen Händen und Füßen sah Seamus blutende Wunden. Unwillkürlich wanderte sein Blick erst zu dem großen, hölzernen, ziemlich modern gestalteten Kruzifix hinter dem Hochaltar und dann weiter nach links zu dem kleineren auf dem Ständer. Seamus lief ein Schauer über den Rücken.

Die Jesusfigur an dem Silberkreuz fehlte.

Und von den kleinen Nägeln, die immer noch in den Balken steckten, tropfte Blut herab.

Der Alte hatte schon mancherlei Unerklärliches erlebt und auch den Trubel, den solche Phänomene jedes Mal auslösten. Deshalb verspürte er das überwältigende Bedürfnis, sich aus dem Staub zu machen. Nach Massenaufläufen und Aufmerksamkeit stand ihm nun wirklich nicht der Sinn. Er wollte seine letzten Tage in Frieden verbringen und nicht als Reinkarnation von Johannes dem Täufer, als Wegbereiter des wiedergekommenen Heilands. Seine knorrige Rechte umfasste entschlossen den Hirtenstab. Bloß weg hier!, schrillte es in seinem Kopf, während er sich dem Ausgang zuwandte ...

Unvermittelt vernahm er von dort ein Geräusch. Joe! Er hatte den Pfarrer in der Aufregung ganz vergessen. O’Bannon stand unter dem ersten der drei Spitzbögen, hinter denen das rudimentäre Seitenschiff lag. Ohne sich noch einmal zu dem Toten umzudrehen, lief Seamus auf ihn zu.

Beim Durchqueren des Mittelgangs bewegte sich der Moses von Graig in etwa so schnell wie sein biblisches Vorbild bei der Flucht aus Ägypten. Als ihm seine eingeschränkte Sehschärfe endlich ein klares Bild des Gemeindepfarrers zeigte, bemerkte er dessen erstaunten Gesichtsausdruck. O’Bannons Augen und Mund waren weit geöffnet. »Hast du es noch mitbekommen?«, fragte Seamus im Näherkommen.

Der Priester nickte so hektisch, als würde er unter Schüttelkrämpfen leiden. »E-Er hat geschwebt. Mit meinen beiden Augen habe ich’s genau verfolgt. Der Herr schwebte vom Kreuz herab...«

Unvermittelt hallte ein Stöhnen durch die Kirche, das O’Bannon verstummen und Seamus zum Altar herumfahren ließ. Sprachlos starrten sie den Toten an.

Der gar nicht tot war. Oder wieder lebendig? Jedenfalls hatte der nackte Mann sich auf seinen blutigen Händen hochgestemmt und ächzte: »Aizerwai!«

»Was sagt er?«, hauchte O’Bannon.

»Er hat um Hilfe gerufen«, antwortete Seamus fassungslos und fügte rasch hinzu: »Auf Hebräisch.«

2.

Rom, Italien, 9. April 2009,19.32 Uhr Ortszeit

Die Ewige Stadt glühte im Licht der Abendsonne. Von der Engelsburg im Norden, über das Pantheon im Osten, bis zum Viktor-Emanuel-Denkmal und dem Kapitolshügel hatte sie ihre ganze Pracht vor Robert Brannock ausgebreitet. Der irische Medienmogul ließ sich gerne um diese Zeit auf den Monte Gianicolo chauffieren, um die Dächer Roms wie einen roten Teppich vor sich ausgerollt zu sehen. Wenn er seinen Blick von hier oben über die Baumkronen der Platanen, Steineichen und Lorbeerbäume hinweg zur anderen Seite des Tiber hinüberwandern ließ, kam er sich vor wie ein Feldherr, dem das Herz der Welt zu Füßen lag.

An diesem Abend hätte der Chef der BMC, der Brannock Media Corporation, den Anstieg zur Piazzale Giuseppe Garibaldi sogar ohne Limousine bewältigen können. Der Fünfundsiebzigjährige war am Vormittag von Dublin aus mit seinem Privatjet nach Rom gekommen, um mit Andrea Filippo Sarto über ein gemeinsames Projekt zu sprechen. Die Villa des italienischen Multimillionärs und Veranstalters von Megaevents lag nur ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt am Südwesthang des Ianiculum, wie man den legendenumwobenen Hügel in der Antike genannt hatte.

Brannock war ein Genussmensch, und so sog er die laue Luft ein, um im betörenden Duftcocktail des Frühlings zu schwelgen. Dabei spähte er über das Kapitol und die Krone des Kolosseums hinweg. Gerade erhaschte sein Blick dahinter die Heiligenstatuen auf der Basilika von San Giovanni in Laterano, als er plötzlich ein Vibrieren auf der linken Brust spürte. Einen Moment lang ließ er noch seiner hedonistischen Ader freien Lauf und gab sich ganz der anregenden Massagewirkung des Mobiltelefons hin. Nach drei oder vier Streicheleinheiten griff er in die Innentasche seines maßgeschneiderten Glenchecksakkos und zog das Handy hervor.

»Ja?«

»Francis hier«, meldete sich eine Stimme mit slawischem Akzent. »In Graiguenamanagh ist gerade der Sohn Gottes vom Himmel herabgestiegen.«

Brannock lächelte zufrieden. »Das nenne ich mal eine Story! Vielen Dank, mein Freund. Das BMC-Kamerateam wird in Kürze vor Ort sein und darüber berichten.«

3.

Kilkenny, County Kilkenny, Irland, 9. April 2009,18.54 Uhr Ortszeit

Der Gemeindepfarrer von Graiguenamanagh konnte über das Maß der Stille in dem Krankenzimmer nur Vermutungen anstellen, da es hinter einer Glasscheibe lag. Auf dieser spiegelten sich die Kontrollanzeigen des Geräts zur Überwachung der lebenswichtigen Körperfunktionen. Falls der Apparat irgendwelche Geräusche machte, so störte es Mr X nicht. Er schlief so ruhig, als sei die Duiske Abbey nur ein Ort aus seinen dunkelsten Träumen.

Mr X!, schnaubte O’Bannon in Gedanken und schüttelte in stiller Entrüstung den Kopf. Dieses Etikett – anders konnte man es nicht nennen – hatte irgendein Witzbold von Arzt auf das Krankenblatt geschrieben, das nun am Fußende des Unbekannten stak. Es war wohl nicht nur als Synonym für den Patienten ohne Namen gedacht, sondern als spöttische Anspielung auf den Heiland – im englischen Sprachraum wird die Silbe Christ allgemein durch ein X abgekürzt.

Nachdem der Notarztwagen Mr X im St Luke’s General Hospital von Kilkenny eingeliefert hatte, war er sofort an Händen und Füßen operiert worden. Jeden Moment konnte er aus der Narkose erwachen. Er habe eine gute Konstitution, die Einstiche von der Dornenkrone am Kopf seien nur oberflächlich und die übrigen Wunden hätten ebenfalls schlimmer ausgesehen, als sie tatsächlich waren, hatte der Chirurg dem Priester nach einem ausführlichen Diskurs über die ärztliche Schweigepflicht streng vertraulich mitgeteilt. Und dann sagte der Operateur etwas Sonderbares:

»Es handelt sich um keine frischen Wundmale. Oder anders ausgedrückt: Die Durchstoßung seiner Gliedmaßen ist nicht neu, sondern alte Läsionen sind wieder aufgebrochen. Wenn keine unerwarteten Komplikationen auftreten, wird er sich schnell erholen. Morgen früh wissen wir mehr. Für die Karfreitagsprozession müssen Sie sich allerdings einen anderen Jesus-Darsteller suchen.«

Jesus-Darsteller?, empörte sich O’Bannon und raufte sich ob der respektlosen Titulierung das Haar; dabei riss er sich fast die Perücke vom Kopf. Hätten diese Ignoranten doch nur den ergreifenden Moment in der Kirche erlebt: das Brausen, das Licht, das Blut... »Heute Nachmittag, in der Abbey«, murmelte er ergriffen. »Erst sein Hilferuf und dann die anderen Worte... Der alte Seamus meint, er habe hebräisch gesprochen.«

»Ich kann Ihnen versichern, es ist Hebräisch gewesen. Zweitausend Jahre altes Hebräisch«, sagte zu seiner Linken eine volltönende Stimme mit einem harten Akzent, der wie ein Direktimport vom Balkan klang.

Der Priester wandte sich dem neben ihm stehenden Mann zu. Er trug den braunen Habit eines Franziskanermönchs und war ein vollbärtiger Riese Ende vierzig mit aschblondem Haar, breiter Stirn und fast schon unangenehm hellblauen Augen. Allein seine physische Präsenz weckte in O’Bannon stets die Vorstellung von einer Naturgewalt, die man nicht bezwingen, sondern mit der man sich nur arrangieren konnte. »Ehrlich gesagt irritiert mich das ein wenig. Ich bin bis heute der Meinung gewesen, Jesus habe aramäisch gesprochen.«

»Fragen Sie einmal Ihre Schäflein in der Gemeinde, ob sie genauso denken. Die meisten werden Ihnen antworten, die Muttersprache des Heilands sei Hebräisch gewesen.«

»Das sind nur Laien.«

»Verstehe. Und Sie als geweihter Priester besitzen den Schlüssel zur letztgültigen Erkenntnis. Wem verdanken Sie eigentlich die Erleuchtung? Haben Sie etwa eine Schallplatte von der Bergpredigt?«

»Sie brauchen nicht gleich zynisch zu werden, Bruder Francis. Die maßgeblichen Gelehrten sagen, das Aramäische habe in Jesu Tagen das Hebräische völlig verdrängt...«

»Maßgeblich sind immer die Leute, die einem sagen, was man hören will. Widersprüche werden ausgefiltert«, fiel der Franziskaner O’Bannon abschätzig ins Wort. »Kennen Sie William Chomsky?«

»Er war Hebraist.«

»Ein ziemlich angesehener sogar. Einer, der es für sehr viel wahrscheinlicher hielt, dass die Juden im Palästina vor zweitausend Jahren ein zweisprachiges Volk waren. Zwar konnten seiner Ansicht nach viele auch Aramäisch sprechen, aber das Hebräische habe immer noch den Vorzug genossen. Die gebildeten Juden dürften außerdem des Griechischen und Lateinischen mächtig gewesen sein.«

Der Gemeindepfarrer von Graiguenamanagh nickte lahm. »Vielleicht ist es ja nicht das Schlechteste, wenn dieser Mann die Theologen, Exegeten und Sprachwissenschaftler in ihre Grenzen verweist.«

»Ich verspreche Ihnen, das einfache Kirchenvolk wird ihn lieben. An Millionen von Kruzifixen prangen die Buchstaben INRI für...«

»... Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum oder ›Jesus von Nazareth, König der Juden‹. Das ist allerdings lateinisch, Bruder Francis, und nicht hebräisch.«

»Richtig. Laut dem 19. Kapitel des Johannesevangeliums ließ Pontius Pilatus die Worte aber auch in griechischer und – nicht aramäischer, sondern – hebräischer Sprache über dem Haupt Christi anbringen. Die Juden hatten den römischen Statthalter gezwungen, einen Unschuldigen hinzurichten, und mit der spöttischen Inschrift hat er’s ihnen heimgezahlt. Die Wirkung der Retourkutsche wäre völlig verpufft, wenn Hebräisch lediglich eine nur Priestern und Schriftgelehrten vertraute Sakralsprache gewesen wäre.«

O’Bannon blickte wieder durch die Scheibe ins Krankenzimmer. »Er sieht so ... echt aus! Es könnte tatsächlich der Heiland sein, Francis.«

Der nickte nur.

»Hoffentlich ist der Ärmste bald übern Berg.«

»Wir können gerne morgen früh noch einmal nach ihm sehen – bevor der große Trubel beginnt.«

»Wenn ich bis dahin schon wieder aus Carlow zurück bin, gerne.«

»Hat Bischof Begg Sie zum Rapport zitiert?«

»Noch nicht. Sobald wir hier raus sind, rufe ich ihn an.«

»Jetzt erst? Warum haben Sie das nicht schon während der Notoperation getan?«

»Ich wollte sichergehen, ihm die Nachricht vom lebenden Messias mitteilen zu können. Ohne Zweifel wird er mich danach sofort einbestellen.«

»Schicken Sie doch mich als Ihren Vertreter nach Carlow. Sie haben auch so schon genug um die Ohren, wenn Sie morgen noch die zwei Karfreitagsgottesdienste bewältigen wollen.«

»Die Passionslesung muss ich wohl ohnehin absagen. Sie ist auf drei Uhr angesetzt. Ich denke nicht, dass die Spurensicherung der Polizei uns schon so bald wieder in die Kirche lässt.«

»Lassen Sie das nur meine Sorge sein. Ich spreche mit dem Bischof. Er wird seinen Einfluss geltend machen.«

»Wenn Sie das für mich tun könnten«, sagte O’Bannon dankbar. Sein Blick wanderte wieder durch das Fenster zu dem Mann im Bett. »Die Duiske Abbey dürfte tief in seiner Schuld stehen. Heute ist die Messe zwar ausgefallen, aber ich kann mir schon gut vorstellen, wie bald Scharen von Gläubigen nach Graig pilgern, um den Ort der Wiederkunft Christi mit eigenen Augen zu sehen.«

»Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Verlassen Sie sich auf mich.«

O’Bannon seufzte. »Wissen Sie was, Bruder Francis? Mir kommt das Ganze tatsächlich wie ein Wunder vor.«

Die wulstigen Lippen des Franziskaners verzogen sich zu einem Lächeln, das jedoch nicht die Augen erreichte. »Was heißt hier, wie ein Wunder? Es ist eines. Und ich habe das Gefühl, es wird nicht das einzige bleiben.«

4.

Kilkenny, County Kilkenny, Irland, 9. April 2009,18.58 Uhr Ortszeit

Das Dunkel hätte vollkommener nicht sein können. Keinen Gedanken duldete es, keinen Traum, nur den todgleichen Schlaf. Als es sich nun zurückzog, war es für den Erwachenden wie eine zweite Geburt.

Das neue Leben stellte sich ihm zunächst akustisch vor: durch einen regelmäßigen, kurzen Piepton. Der vom Fachpersonal des St Luke’s General Hospital als Mr X etikettierte Patient wunderte sich. Er konnte sich nur an Tiere erinnern, die sich der Welt mit vergleichbaren Lauten mitteilten. Aber nie hatte er irgendwelchen Kreaturen gelauscht, die einen so strengen Takt einhielten. Vielleicht eine neue Schöpfung?, überlegte er.

Mr X schlug die Augen auf und war ein weiteres Mal verblüfft.

Das Piepen kam aus einer teils blauen, teils metallisch glänzenden Kiste mit einem vielfarbigen Lichterspiel auf der Vorderseite. Vielleicht konnte das darin eingesperrte Tier ihn sehen und fürchtete sich, denn seine klagenden Fieplaute waren jetzt öfter zu hören. Mr X tat so, als beachte er es nicht, und ließ seinen Blick durch das Gemach schweifen, in dem er lag.

Der Raum wirkte seltsam glatt, sauber wie geleckt und alles in allem sehr fremd. An der Wand gegenüber sah Mr X ein Fenster. Es hatte einen Vorhang, der allerdings so klar wie Tautropfen war. Würden sich nicht die bunten Lichter der glänzenden Kiste darin spiegeln, hätte der Erwachte ihn überhaupt nicht bemerkt.

Hinter der Abtrennung standen zwei Männer und unterhielten sich angeregt miteinander. Den linken mit dem seltsam schiefen Haaransatz hatte er schon einmal gesehen. Er war, abgesehen vom zerdrückten weißen Stehkragen, schwarz gekleidet, glatt rasiert und ziemlich betagt. Das Gesicht des rechten dagegen kam ihm völlig unbekannt vor. Er trug einen Vollbart und ein braunes Gewand mit einem Strick als Gürtel. Mr X wandte sich der näheren Umgebung zu.

Seine Hände wie auch die Füße waren in weiße Binden gewickelt, und am übrigen Körper hingen allerlei dünne bunte Schnüre oder Schläuche. Sie erinnerten ihn unweigerlich an lange Würmer, deren Köpfe bereits tief in seinem Fleisch steckten. Er fand diese Vorstellung einigermaßen beängstigend, und je mehr sie ihn in Unruhe versetzte, desto schneller piepte das Tier im glänzenden Kasten. »Vater, hilf mir!«, rief er verzweifelt. Sein ganzer Leib zitterte.

Eine schwarzhaarige Frau in fremdländischer schneeweißer Tracht eilte herbei und sprach in beruhigendem Ton auf ihn ein. Kurz darauf gesellte sich ein Mann hinzu, ebenfalls in Weiß, und unterstützte sie in ihrem sicher gut gemeinten Bemühen. Leider konnte Mr X nichts verstehen und das versetzte ihn immer mehr in Panik. Der armen Kreatur im glänzenden Kasten ging es wohl ähnlich, so aufgeregt piepte sie.

»Wo bin ich? Warum habt ihr mich gebunden?«, rief er und bäumte sich gegen die bunten Schnüre auf. Hektisch sprudelte er Worte hervor, die aber außer ihm offenbar niemand verstand. Die Frau mit dem dunklen Haar versuchte ihn sanft in die Kissen zurückzudrücken, während der Mann mit einer kleinen, blitzenden Nadel herumhantierte, die am Ende einer Art Phiole angebracht war. Mr X fürchtete schon, er solle mit dem Dorn ein weiteres Mal durchbohrt werden, doch der Mann stach nur – wie befremdlich! – in eine der Schnüre.

»I am Maria. What is your name?«, sprach die Frau mit sanfter Stimme auf den verängstigten Patienten ein.

Maria? Das war auch der Name seiner Mutter! Er beruhigte sich etwas. Wollte die Fremde vielleicht wissen, wie er hieß ...?

Mit einem Mal verspürte Mr X eine große Müdigkeit. Während sein Körper immer schwerer wurde, sah er verschwommen, wie der Dorn aus der Schnur gezogen wurde. Schon zerrte der Schlaf erneut an seinem Bewusstsein, wollte es wieder in die dunklen Tiefen reißen. Doch bevor er sich dem kleinen Bruder des Todes ergab, musste er der schneeweißen Maria wenigstens sagen, wer er war. Mit schwerer Zunge murmelte er seinen Namen.

»Jeschua.«

5.

Carlow, County Carlow, Irland, 9. April 2009,19.22 Uhr Ortszeit

Wenn es in der katholischen Kirche etwas gibt, das abgebrühte Routine provoziert, dann sind es Wundermeldungen. Überschwänglichkeit gilt in diesem Kontext als verpönt. Über Jahrhunderte hinweg hat der Kirchenapparat zur Handhabung angeblicher Machtkundgebungen Gottes ein ausgeklügeltes System entwickelt.

Das Prozedere sieht zunächst vor, das Objekt des mutmaßlichen Wunders aus dem Verkehr zu ziehen, vorgeblich, um es in Sicherheit zu bringen, aber auch, weil der unvermeidliche Wundertourismus nicht gern gesehen wird. Anschließend unterzieht man es einer gründlichen Untersuchung. Darüber können Jahrzehnte vergehen. Wenn es sich bei dem Objekt um eine Person handelt, gilt im Prinzip das Gleiche, jedoch ist die Prozedur nötigenfalls mit den landesüblichen Gesetzen zur Freiheitsberaubung zu harmonisieren.

Die offizielle Anzeige der mirakulösen Vorgänge in Graiguenamanagh ging zunächst vorschriftsmäßig am Sitz des Bischofs von Kildare und Leighlin ein. Mit übernatürlichen Erscheinungen war man hier bestens vertraut, da es zu den üblichen Pflichten der Diözesanverwaltung gehörte, die im Amtsgebiet aktenkundig gewordenen Wunder auf Stichhaltigkeit zu überprüfen. Entsprechende Meldungen – manchmal sogar mehrere am Tag – wurden ohne jede Aufgeregtheit bearbeitet. Allerdings hatte bisher noch nie ein Gemeindepfarrer die Wiederkunft Christi angezeigt. Bruder Michael Shortall, der Sekretär des Bischofs, informierte sofort den Chef.

Eunan Begg, der oberste Seelenhirte der Diözese, zündete sich zunächst eine Zigarette an. Das tat er immer, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Er war trotz seiner fast achtzig Jahre ein passionierter Kettenraucher und wirkte dabei kerngesund. Somit gehörte er zu jener ominösen Minderheit, die von anderen Kettenrauchern immer als Musterbeispiel für die Harmlosigkeit ihres Lasters beschworen wurde. Böse Zungen unterstellten Begg in diesem Zusammenhang Vernebelungstaktik. Hinter dem blauen Dunst wolle er nur seine körperlichen Unzulänglichkeiten verbergen, behaupteten sie. Derlei Gerüchte beruhten in neun von zehn Fällen auf Neid. Zwar sah der kleinwüchsige Bischof tatsächlich aus wie ein alternder Napoleon Bonaparte auf einem ungeschmeichelten Porträt – nur mit roten Haaren –, doch er besaß auch mindestens so viel Selbstbewusstsein wie einst der französische Kaiser.

Der Anruf von Bruder Michael ereilte ihn in seinem Büro im ersten Stock des Bischofspalastes, einem wuchtigen, grauen, mit Marienstatuen dekorierten Doppelgiebelbau in der Carlower Dublin Road. Dort, direkt hinter dem Balkon mit dem schneeweißen Eisengeländer, lehnte er sich nun in seinem Sessel zurück, den Telefonhörer immer noch am Ohr, füllte seine Lunge mit etwa vier Litern des Gemischs aus Luft, Teer und Nikotin, das er zum Nachdenken so dringend benötigte, und machte sich an eine Kurzanalyse der Wundermeldung. Seine berufsbedingte Grundeinstellung dazu war Argwohn.

Während des Theologiestudiums hatte er sich zuletzt eingehend mit der Parusie – der Wiederkunft Christi beim Jüngsten Gericht – beschäftigt, ihr danach aber keinen nennenswerten Stellenwert mehr beigemessen. Und er verspürte auch keinen Drang, daran etwas zu ändern. Seine Erinnerungen an die Wunderhysterie des Jahres 1985 waren noch sehr lebendig. Damals hatten Berichte von levitierenden Statuen die Bistümer Irlands in Atem gehalten. Und jetzt das! Nicht eine frei schwebende, sondern gleich eine fleischgewordene Jesusfigur war in Graiguenamanagh aufgetaucht, war einfach vom Kreuz gestiegen und hatte mit ihrem Blut den Teppichboden in der Duiske Abbey versaut.

Alles in Bischof Begg schrie: Blasphemie!

»Dieser falsche Messias gehört ins Gefängnis gesteckt und der Schlüssel weggeworfen«, wetterte er in die Sprechmuschel.

»Der Verletzte liegt derzeit im St Luke’s Hospital von Kilkenny auf der Intensivstation, von wo aus mich auch Pater O’Bannon angerufen hat«, erklärte sein Sekretär ungerührt. Obwohl erst zweiunddreißig Jahre jung, war Bruder Michael ziemlich abgeklärt. Den scharfen Tonfall seines Vorgesetzten steckte er anstandslos weg.

»Er soll bewacht werden. Verunglimpfung religiöser Symbole ist strafbar. Das schlägt doch dem Fass den Boden aus!«

»Ich werde sofort die Polizei des Countys darüber in Kenntnis setzen, dass Seine Exzellenz der Hochwürdigste Herr Bischof eine Inverwahrungnahme des Gekreuzigten wünscht.«

»Ersetzen Sie den Gekreuzigten durch die Formulierung mutmaßlicher Betrüger«, knurrte Begg. Er zog zwar durchaus die althergebrachten Titel den modernen, eher laxen Anredeformen vor – niemand wagte es, ihn unaufgefordert bei seinem Kosenamen »James« anzusprechen –, aber in Momenten wie diesen verspürte er große Lust, seinen Sekretär für dessen geschraubte Ausdrucksweise zu erwürgen.

»Ganz wie Sie belieben. Ist das alles, Exzellenz?«

»Nein. Ich will das geplünderte Kreuz und die Dornenkrone hier bei mir haben. Sofort! Am besten, Bruder Joseph bringt sie persönlich vorbei. Dann kann er mir auch gleich erzählen, wie er den falschen Jesus entdeckt hat.«

In der Leitung herrschte Stille.

»Bruder Michael? Sind Sie noch da?«

»Ja, Exzellenz... Ich fürchte, da habe ich mich irgendwie missverständlich ausgedrückt. Pater O’Bannon hat den nackten Mann mit den Wundmalen nicht allein gefunden. Eigentlich ist er sogar erst dem Hausmeister vor die Füße gefallen, als der gerade eine Kirchenbank...«

»Wem?«

»Genau genommen ist Mr Whelan kein richtiger Hausmeister ...«

»Whelan?«, keuchte der Bischof und sog rasch an seiner Zigarette. »Reden wir etwa von Seamus Whelan, dem Moses von Graig?«

»Mir liegen keine Informationen darüber vor, wie dieser Mann noch genannt wird. Doch Pater O’Bannon sagte etwas anderes, das ich zuerst nicht glauben wollte. Ich hatte mehrmals nachgefragt, aber er bestand darauf, dass dieser Mann einhundertdrei Jahre alt sei.«

Begg merkte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Ausgerechnet Whelan! Nach einem weiteren Zug an der Zigarette hatte er sich wieder in der Gewalt und gab eine neue Order aus. »Verschieben Sie das Telefonat mit der Polizei, Bruder Michael, und rufen Sie stattdessen Rom an. Um diese Angelegenheit aus der Welt zu schaffen, gibt es nur einen.«

»Ich nehme an, Sie reden von unserem irischen Wundermacher im Vatikan, von Ihrem Freund Hester McAteer?«

»Ganz genau. Er soll sofort ins nächste Flugzeug steigen und herkommen.«

6.

Vatikanstadt, Vatikan, 9. April 2009, 22.04 Uhr Ortszeit

Es war die Ruhe vor dem Sturm, die Ebbe vor der alljährlichen Springflut von Gläubigen, die schon bald auf den blumengeschmückten Petersplatz strömen würden, um mit dem Papst die nachmittägliche Karfreitagsmesse zu feiern. Stiller noch als zwischen den Kolonnaden Berninis war es in den umliegenden Büros der Kurie. Im Palazzo del Sant’Uffizio dagegen herrschte Krisenstimmung. Dem Hausherrn sah man dies allerdings nicht an.

Angelo Vincent Kardinal Avelada, seines Zeichens Präfekt der Glaubenskongregation, bog in seinem geräumigen, nur von einer Leselampe spärlich beleuchteten Arbeitszimmer mit großer Sorgfalt eine Büroklammer auseinander und schickte sich an, daraus ein Kreuz zu formen. Eine stattliche Anzahl bereits fertiggestellter Drahtkruzifixe lag vor ihm in Reih und Glied auf dem spiegelnden Mahagonischreibtisch. Entfernt erinnerte das Bild an einen Heldenfriedhof für im Dienst gefallene Kurienbeamte. Avelada schätzte derlei schlichte manuelle Betätigungen als wirksame Methode, sich innerlich zu zentrieren, was er unter den gegebenen Umständen auch dringend nötig hatte. Während sich Gedanken und Draht in völliger Harmonie seinem Willen beugten, informierte er den Gast auf der anderen Seite des Schreibtisches über die Gründe des Amtshilfeersuchens.

Bei dem etwas brummigen Besucher handelte es sich um den Päpstlichen Ehrenkaplan Monsignore Hester McAteer. Der gebürtige Ire arbeitete für die »Kongregation für Seligund Heiligsprechungsprozesse«. Wie der Name schon vermuten lässt, obliegt dieser katholischen Institution die Prüfung von Voraussetzungen für Selig- oder Heiligsprechungen.

Man sollte sich vergegenwärtigen, möchte man McAteers Aufgabenbereich verstehen, dass in diesem kirchenrechtlich genau festgelegten Verfahren Wunder ein K.-o.-Kriterium sind. Wessen Anhängerschaft das Konterfei ihres Favoriten auch in tausend Jahren noch auf einer Ikone wissen will, sollte diesbezüglich stichhaltige Beweise vorlegen können. Hat der Betreffende einen Toten auferweckt, einen Sterbenskranken geheilt oder Ägypten mit zehn Plagen überzogen? Dann ist er schon so gut wie selig. Soll ihm auch das Heiligenzertifikat ausgestellt werden, ist mindestens ein weiteres Wunder nachzuweisen.

Da solcherlei Machttaten spärlich gesät sind, wurden die Kandidaten zu allen Zeiten mit vielerlei Tricks geschönt. McAteer war Experte auf dem Gebiet. Er kannte sämtliche Betrügereien, mit denen sich Scharlatane im Laufe der Kirchengeschichte als Wundertäter ausgegeben hatten. In der Kongregation amtete er gewöhnlich als Promotor Fidei – als Glaubensanwalt. Da er und seine Kollegen in den Anerkennungsprozessen oft das Zünglein an der Waage waren, nannten manche sie die »Wundermacher« und McAteer im Besonderen »den schärfsten Kettenhund Seiner Heiligkeit« oder schlicht den »Bullterrier«.

»Ich habe Sie wieder einmal wegen Ihres besonderen Rufs als unbestechlicher, scharfsinniger und durch keinen Hokuspokus zu beeindruckender Wunderexperte von unserer Schwesterkongregation ausgeliehen«, erklärte der Kardinal, während das Drahtkreuz unter seinen schlanken Fingern Gestalt annahm. »Aber auch weil Ihre irischen Wurzeln in diesem Fall sehr nützlich sein dürften.«

McAteer beugte sich auf dem Stuhl vor, was dieser mit einem klagenden Knarzen quittierte. Der Mittfünfziger war alles andere als ein Leichtgewicht: einhundertzehn Kilo schwer und gut einen Meter achtzig groß, dazu der muskulöse Hals, die riesigen Hände sowie die raspelkurzen rotblonden Haare. Sollte die Schweizergarde je eine Meuterei anzetteln, wäre er die erste Wahl, um sie im Alleingang zurückzuschlagen. Seine wasserblauen, im Vergleich zum runden Gesicht ziemlich kleinen Augen fixierten den Kardinal, wie sie es sonst nur bei potenziellen Betrügern taten. »Was, bitte schön, Eminenz, hat meine Abstammung damit zu tun?«, fragte er in jenem typischen tiefen, leicht knurrenden Tonfall, dem er maßgeblich die Verleihung des hündischen Spitznamens verdankte.

»Es geht«, sagte Avelada und legte dabei behutsam seine neueste Kreation zu den anderen Kreuzen, »um das Wunder von Graiguenamanagh.«

Die grimmigen Gesichtszüge des Wundermachers entgleisten. »Sagten Sie Graiguenamanagh?«

Der Kardinal lächelte. Seine gutmütige Erscheinung war die eines schwerfälligen Großvaters mit lichtem, weißem Haar und riesigen Ohren, weshalb er oft unterschätzt wurde. Umso mehr bereitete es ihm eine diebische Freude, den gefürchteten Bullterrier derart aus der Fassung gebracht zu haben. »Ganz richtig, mein Guter. Gestern Nachmittag ist in der Duiske Abbey...« Ein zartes Klopfen an der himmelstürmenden Tür des Arbeitszimmers ließ Avelada innehalten. Er lehnte sich mit unwilliger Miene zurück und rief: »Ja?«

Die Tür öffnete sich und ein spärlich behaarter Kopf erschien. Er gehörte dem persönlichen Sekretär des Kardinalpräfekten. »Entschuldigen Sie die Störung, aber Signor Brannock rief eben an. Er sagte, er werde jeden Moment eintreffen. Soll ich ...?«

»Natürlich sollen Sie«, schnitt ihm Avelada ungeduldig das Wort ab. »Bringen Sie ihn rein, Bruder Marco, sobald er hier ist.«

Der Kopf nickte, verschwand und die Tür schloss sich wieder.

»Ich nehme an, Sie kennen Robert Brannock?«, fragte Avelada, während er sich ein weiteres Mal über den erstaunten Gesichtsausdruck seines Gegenübers freute. Ohne die Antwort abzuwarten, nahm er ein neues Kruzifix in Angriff.

»Wie man auch andere prominente Leute kennt, die einem auf Empfängen oder sonstigen offiziellen Anlässen alle Jubeljahre über den Weg laufen«, erwiderte McAteer. »Mit fünfundsiebzig leitet er sein Unternehmen immer noch selbst. Er besitzt in Irland so viele Zeitungen, Sender und andere Medienfirmen wie die EU-Kartellbehörde erlaubt und man erzählt sich, er sei auf Einkaufstour durch den Kontinent, um sein Imperium für den globalen Wettbewerb zu rüsten.« Und er ist schwul, fügte er in Gedanken hinzu, aber dieses Thema wollte er gegenüber dem Präfekten der Glaubenskongregation nicht weiter vertiefen.

»Ihr breit gefächertes Wissen kann ich nur bewundern. Mir wurde Mr Brannock übrigens vor sechs Jahren vorgestellt. 16. Oktober 2003. Erinnern Sie sich?«

»Das silberne Pontifikatsjubiläum von Johannes Paul II.«, antwortete McAteer wie aus der Pistole geschossen.

»Richtig. Brannock hatte gerade die irischen Sende- und Publikationsrechte für das Ereignis erworben. Ich persönlich fand das von Andrea Sarto ausgerichtete Spektakel ja etwas ... oversized, wie man bei Ihnen zu Hause wohl sagt, aber dem Heiligen Vater hat es trotz oder gerade wegen seiner Krankheit eher genützt als geschadet.«

»Er war eben ein Medienprofi. Bis zuletzt. Apropos Medien – ist es ein Zufall, dass Robert Brannock gerade jetzt hier aufkreuzt, oder haben Sie ihn extra zu dieser Besprechung eingeladen?«

»Mr Brannock und seine Leute sind von der schnellen Truppe, wie es so schön heißt. Sie waren mit die Ersten am Ort des angeblichen Wunders. Und er hat mich persönlich darüber informiert, ehe überhaupt die zuständige Diözese sich bei uns meldete. Derzeit weiß vermutlich niemand so viel über die Geschehnisse in Graiguenamanagh wie der BMC-Mitarbeiterstab.«

»Ich würde Sie bei der Aufklärung des Falls gerne unterstützen«, sagte von der Tür her eine wohlklingende Stimme, die einem Operntenor gut zu Gesicht gestanden hätte. Sogleich wandte sich die Aufmerksamkeit der beiden Geistlichen ihm zu. Brannock grinste. »Wenn man vom Teufel spricht...«

»O bitte, Signor!«, rief Avelada und warf die Hände in die Höhe. »Man macht über den Fürsten der Finsternis keine Scherze. Nicht in diesem Haus. Aber treten Sie doch näher. Wir haben Sie tatsächlich schon erwartet.«

»Bitte sehen Sie mir meine Flapsigkeit nach, Eminenz. In meiner Branche... Ihr Sekretär hatte übrigens angeklopft, bevor er die Tür öffnete.«

»Ja, ja. Im Haus scherzt man, wenn Bruder Marco dereinst an der Himmelspforte stehe, lasse ihn keiner hinein, weil er sich nicht bemerkbar machen könne. Und nun Schluss mit den Entschuldigungen. Kommen Sie nur herein.«

Robert Brannock betrat das Büro. Sein Alter sah man ihm nicht an. Von Gebrechlichkeit keine Spur. Vielmehr bewegte er sich so elegant wie ein Tänzer auf den wuchtigen Schreibtisch zu. Er war etwa so groß wie McAteer, aber deutlich schlanker und mit welligem, braunem Haar gesegnet. Seinen taillierten schwarzen Maßanzug trug er mit der Nonchalance eines Fotomodells. Und das schmal geschnittene Gesicht hätte trotz der leichten Hakennase genauso gut in einen Katalog für Designermode gepasst – einen für Senioren versteht sich. Es wirkte so frisch wie das eines gut erhaltenen Endfünfzigers, hatte sogar etwas Knabenhaftes; vor allem durch den fast immer lächelnden Mund und die großen dunklen Augen weckte es bei den meisten Menschen auf Anhieb Sympathie.

Nachdem Brannock den Ring des Kardinals geküsst und die obligatorische Frage nach dem Getränkewunsch abschlägig beschieden hatte, nahmen alle Platz. McAteer wollte endlich dem neben ihm sitzenden Landsmann auf den Zahn fühlen.

»Worum geht es eigentlich bei diesem Wunder von Graiguenamanagh, Mr Brannock?«

»Kennen Sie Seamus Whelan?«, kam Avelada der Antwort des Medienmoguls zuvor. Die Frage war an McAteer gerichtet, der sichtlich erschrak.

»Ich weiß nicht, ob kennen der richtige Ausdruck ist«, knurrte er.

»Zumindest scheint der Name Ihnen nicht ganz fremd zu sein«, deutete der Präfekt die ausweichende Antwort. Er warf einen verdrossenen Blick auf sein neuestes Kruzifix, legte es zu den anderen auf den Schreibtisch und griff nach einer weiteren Büroklammer. »Ausgerechnet vor diesem Greis soll der Herr vom Kreuz gestiegen sein, ja, sich vor ihm förmlich in den Staub geworfen haben.« Der Kardinal schilderte den Vorfall im Telegrammstil, gestaltete unterdessen eine weitere Skulptur und resümierte, ein Skandal bahne sich an, weil besagter Seamus Whelan nach den Maßstäben der Kirche alles andere als ein frommer Diener Gottes sei.

»Was Sie nicht sagen!«, brummte McAteer.

Avelada nickte gewichtig. »Whelan war früher Priester, ein Bruder der Ordensgemeinschaft der Spiritaner. Angeblich hat er sogar eine Anzahl von Wunderheilungen vollbracht. Inzwischen ist er über hundert Jahre alt. Sie nennen ihn den Moses von Graig, weil er mit einem Hirtenstab herumläuft und immer wieder im Mittelpunkt seltsamer Phänomene gestanden haben soll. Die Leute verehren ihn.«

McAteer schnaubte. »Klingt doch fast nach einem Kandidaten für einen neuen irischen Heiligen.« Sein Einwurf troff vor Zynismus.

»Eher nicht. Whelans langes Leben ist voller Höhen und Tiefen. Letztere haben dem Klerus nicht gerade zum Ruhme gereicht.« Avelada erwartete eine Reaktion von seinem bärbeißigen Glaubensbruder, vielleicht fragend hochgezogene Augenbrauen, doch der Bullterrier verzog keine Miene. Um die beiden Iren auf der anderen Seite des Schreibtisches an seiner Empörung Anteil nehmen zu lassen, gewährte er ihnen einen exemplarischen Einblick ins Sündenregister des Alten.

Seamus Whelan habe mit dem exkommunizierten Erzbischof Marcel Lefebvre sympathisiert. Obendrein verdankten ihm zwei uneheliche Kinder das Leben, und er betrete die Duiske Abbey schon seit Jahrzehnten ausschließlich mit Hammer oder Säge oder anderen Werkzeugen zur Verrichtung profaner Arbeiten, aber nie zur Beichte, geschweige denn zum Gottesdienst. Eine derartige Vita sei für einen Heiligen natürlich völlig inakzeptabel.

McAteer nickte zustimmend. »Innerlich ist er zur heiligen Mutter Kirche schon kurz nach dem Tod seines Erstgeborenen auf Distanz gegangen – er war Fremdenlegionär und ist 1954 in Vietnam gefallen. Als dann 1963 die Geliebte des alten Hurenbocks starb, hat er die Abkehr auch äußerlich vollzogen.«

»Mäßigen Sie sich, mein Freund. Ich denke, Sie kennen den Mann nicht«, sagte Avelada überrascht.

»Lefebvre kenne ich auch nicht, weiß aber trotzdem, dass er während des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Beraterstab des Heiligen Vaters gehörte. Und Seamus Whelan war sein Privatsekretär. Ausgerechnet am 4. Dezember 1963, als das Konzil Sacrosanctum Concilium verabschieden wollte,« – McAteer sah Brannock an – »das ist die neue Konstitution über die Liturgie,« – und wandte sich wieder dem Kardinal zu – »da lässt er alles stehen und liegen und reist zur Beerdigung der Mutter seiner Kinder.«

Avelada teilte McAteers Verachtung für diesen in jeder Beziehung unheiligen Mann. Mit zum Himmel gewandten Blick klagte er: »Warum sollte sich Gott ausgerechnet einem solchen Menschen durch ein Wunder offenbaren?«

»Ich kann mich noch gut an die schwebenden Madonnen Mitte der Achtzigerjahre erinnern«, bemerkte Brannock. »Die haben sich auch nicht immer die Frömmsten der Frommen für ihre Auftritte ausgesucht.«

McAteer nickte grimmig. »In Irland ticken die Uhren anders als sonst wo. Nicht nur für Katholiken gehören Wunder dort zum täglichen Leben.«

»Ich«, betonte Avelada, »kann nur für die Gläubigen sprechen, die zum Heiligen Vater aufblicken, und die werden sich fragen, wieso sich das höchste Wesen ausgerechnet einem so rebellischen Greis wie Seamus Whelan durch ein derartiges Wunder offenbart. Unsere Schäfchen werden der Mutter Kirche Versäumnisse vorwerfen. Sie werden das angebliche Wunder als einen Rüffel von ganz oben ansehen, nach der Devise: Seht her. Das ist ein rechter Mann nach meinem Herzen. Ihn habe ich ausgewählt, um die Wiederkunft meines Sohnes zu bezeugen.«

»Die erste Zeugin für Jesu Auferstehung war eine Frau. Selbst Petrus hatte das nicht fassen können«, gab McAteer zu bedenken.

Und Brannock haute in dieselbe Kerbe. »Pater Pio ist von der Kirchenführung anfangs auch nicht gerade geliebt worden, Eminenz. Ich sehe da manche Parallele zwischen ihm und dem Moses von Graig. Seamus Whelan soll Menschen geheilt, Ereignisse vorausgesehen und Gegenstände zum Schweben gebracht haben. Früher hat der Vatikan seine Verdienste um die heilige Mutter Kirche ja durchaus zu schätzen gewusst, bis er...«

»Das ist jetzt nicht hilfreich«, fiel ihm Avelada ins Wort.

»Dann sagen Sie mir, wie ich Ihnen nützlich sein kann«, konterte der Medienmogul.

Der Kardinal schmunzelte. »Ich wüsste da schon etwas. Vorhin am Telefon sagten Sie doch, Sie seien mit Ihrem Privatjet nach Rom gekommen.«

Brannock nickte.

»Zu Ostern dürfte es fast unmöglich sein, kurzfristig einen Linienflug nach Dublin zu bekommen. Wären Sie so freundlich, auf dem Rückweg einen Sonderbeauftragten des Heiligen Vaters mitzunehmen, damit er unverzüglich mit den Ermittlungen in dieser leidigen Sache beginnen kann?«

»Gerne.«

Avelada rieb sich die Hände. Allmählich gewann er die Zuversicht, das Problem in den Griff zu bekommen. »Gut. Dann möchte ich gerne noch mit Monsignore McAteer einige Dinge unter vier Augen besprechen. Würde es Ihnen etwas ausmachen...?« Er ließ aus Gründen der Höflichkeit den Rest des Rauswurfs unausgesprochen.

Brannock fuhr von seinem Stuhl hoch. »Ja, natürlich. Rufen Sie mich einfach an, Eminenz. Ich helfe, wo ich kann.«

Nachdem der Präfekt den Gast verabschiedet hatte, wandte er sich wieder McAteer zu. »Diese unangenehme Sache darf auf keinen Fall außer Kontrolle geraten. Ich möchte, dass Sie sich ihr persönlich annehmen. Fliegen Sie nach Irland und bereinigen Sie die Angelegenheit schnell und schmerzlos.«

McAteers Miene war wie versteinert. »Das Ergebnis der Untersuchung steht doch von vornherein fest. Erstens darf das Wunder nicht anerkannt werden. Zweitens hat es gar kein unerklärliches Phänomen gegeben. Und drittens ist Seamus Whelan ein Betrüger. Wozu brauchen Sie dann noch mich?«

»Ich denke, das wissen Sie besser als ich.« Avelada schürzte die Lippen. »Vielleicht ist der Alte ja Opfer einer okkulten Sekte geworden. So etwas kommt leider immer wieder vor.«

Im Gesicht des Iren war nach wie vor noch keine Regung zu erkennen. »Da wäre nur noch eine Sache. Nach geltendem Recht hat Rom sich nicht in die Untersuchungen des zuständigen Bischofs einzumischen.«

»Sehr richtig. Deshalb arbeiten Sie offiziell als Berater für die theologische Untersuchungskommission des Bischofs von Kildare und Leighlin.« Avelada schob die Drahtkreuze auf seinem Tisch zu einem ansehnlichen Häuflein zusammen, griff sich nach sorgfältigem Abwägen ein Exemplar heraus und betrachtete es mit finsterer Miene. »Das leere Kruzifix in der Duiske Abbey könnte für uns zu einem Albtraum werden. Denken Sie nur an die Häme, mit der man den Heiligen Vater überschüttete, nachdem er im Januar die Exkommunikation von vier Bischöfen der Priesterbruderschaft des heiligen Pius X. zurückgenommen hat. Und alles nur, weil er einen von Lefebvres Anhängern falsch einschätzte.«

»Sie meinen Richard Williamson? Bei allem Respekt, aber der Vergleich hinkt, Eminenz. Dieser Piusbruder macht seit Jahren durch antisemitische und gegen den Islam gerichtete Hetztiraden von sich reden. Sie können Seamus Whelan kaum mit solchen Leuten in einen Topf werfen. Er hat sich von Lefevbre getrennt, lange bevor der die Priesterbruderschaft St. Pius X. gründete.«

»Das wissen Sie und ich. Aber die Medien scheren sich wenig um Wahrheit und Seelenheil. Sie gieren nach hohen Auflagen und Einschaltquoten. Nichts käme ihnen gelegener, als das von ihnen erfolgreich etablierte Schreckgespenst der Piusbruderschaft erneut als Keule gegen uns zu schwingen. Je mehr Menschen an das angebliche Wunder von Graiguenamanagh glauben, desto größer das Interesse, wenn sich eine annähernd glaubhafte Verbindung zwischen diesem sogenannten Moses und Lefevbres rechten Priesterbrüdern konstruieren ließe. Der Heilige Vater ist bei dem jüngsten Eklat so eben mit einem blauen Auge davongekommen, aber ein neuer Skandal könnte sein Amt und sein Ansehen irreparabel beschädigen. Ich halte Sie für den Besten, um uns davor zu bewahren. Sehen Sie das genauso?«

Offenbar wollte McAteer darauf nichts erwidern. Sein Blick schweifte nur zu den aufgetürmten Drahtkreuzen, die jetzt nicht mehr wie ein Heldenfriedhof, sondern wie das Modell eines Scheiterhaufens aussahen.

Um das beklemmende Schweigen zu beenden, streckte ihm der Präfekt das zuvor ausgewählte Miniaturkreuz entgegen und sagte in beschwörendem Ton: »Der Vorfall darf kein Politikum werden. Deshalb habe ich dafür gesorgt – übrigens mit beifälliger Zustimmung des Bischofs ‒, dass Sie bei der Besetzung seiner Kommission vorrangig berücksichtigt werden: Sie, mein Guter, werden die Ermittlungen ganz offiziell leiten.«

McAteer sah alles andere als begeistert aus, doch er beugte sich vor und nahm das Drahtkruzifix aus der Hand des Kardinals entgegen.

7.

Außerhalb von Graiguenamanagh, County Kilkenny, Irland, 10. April 2009, 0.01 Uhr Ortszeit

Die Geisterstunde hatte Raghnall Judge nie jenen wohligen Schauer beschert, der Unerschrockene zu Gruselgeschichten greifen lässt. Ihn hätte solche Lektüre eher umgebracht. Wenn die Zeit das Niemandsland zwischen Vergangenem und Zukünftigem durchschritt, rührte sich seine abergläubische Natur.