Der Kreis der Dämmerung – Teil 2: Der Wahrheitsfinder - Ralf Isau - E-Book

Der Kreis der Dämmerung – Teil 2: Der Wahrheitsfinder E-Book

Ralf Isau

0,0

Beschreibung

Nach dem Sieg über Toyama Mitsuru, Mitglied des Kreises der Dämmerung, beginnt David in Paris mithilfe seiner Frau Rebekka und Professor Leopardi mit dem Aufbau eines Agentennetzwerks. Doch immer wieder spüren ihn die Mitglieder des Kreises auf. Seine Flucht führt ihn durch ganz Europa nach Deutschland, das von den Nationalsozialisten beherrscht wird. Schließlich verschwindet Rebekka spurlos ...Band 2 der Fantasy-Reihe "Der Kreis der Dämmerung".-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 944

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ralf Isau

Der Kreis der Dämmerung – Teil 2: Der Wahrheitsfinder

 

Saga

Der Kreis der Dämmerung – Teil 2: Der Wahrheitsfinder

 

Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany

(www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 2000 im Thienemann Verlag erschienen

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2000, 2022 Ralf Isau und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728390375

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Geräusch,

aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So

ist jeder, der aus dem Geist geboren worden ist.

Jesus Christus

VIERTES BUCH

Jahre der Finsternis

Es ist das Los des Menschen, dass die Wahrheit keiner hat;

sie haben sie alle, aber verteilt, und wer nur bei einem lernt,

der vernimmt nie, was die andern wissen.

Johann Heinrich Pestalozzi

Schattenbotschaft

Das Meer war zu einem lebendigen Wesen geworden. Zu einer riesigen Kreatur, die furchtbare Schmerzen litt. Wie sonst hätte man ihr stetes Sichaufbäumen erklären können? Doch keine Schaumkämme konnte David im hellen Mondlicht erkennen, keine Brecher, die gierigen Klauen gleich nach dem kleinen Fischerboot schlugen, vielmehr glich die See einer endlosen Wasserwüste, einer höchst ungestümen allerdings: Unablässig hoben und senkten sich ihre gewaltigen Dünen wie in Geburtswehen. Welches Unheil würde der sich windende Leib wohl gebären?

Davids Hände umklammerten die Reling am Bug der Taifun. Mal blickte er in schier bodenlose Täler hinab, dann wieder zu hohen Gipfeln empor. Kapitän Wangs Schiff war nicht mehr als ein kleiner Käfer, der sich auf der glänzenden schwarzgrauen Haut des Seeungetüms festklammerte, sich mit ihr hob und senkte, in einem Moment emporgerissen wurde, um gleich darauf wieder in die Tiefe zu stürzen. Niemand außer David schien diesen wahnsinnigen Ritt zu verfolgen. Abgesehen von ihm war das Oberdeck des Fischkutters menschenleer. Und dennoch spürte er eine bedrohliche Gegenwart. Jemand – oder etwas – war da draußen.

Mit gerecktem Hals, breitbeinig um festen Stand bemüht, suchte David die nähere Umgebung ab. Die nächtlichen Himmelslichter spiegelten sich auf der bewegten See. Doch keiner dieser flimmernden Punkte ließ sich in der gewaltigen Dünung fixieren. Hin und wieder schienen silbrige Gestalten über die Meeresoberfläche zu tanzen, aber die unbeständigen Feenleiber waren nur Trugbilder, Wasserschleier, mit denen der Wind sich die Zeit vertrieb. Meist lösten sie sich schon auf, bevor noch ein neuer Wasserberg David die Sicht nahm. Aber dann entdeckte er die Ursache für seine Unruhe.

Von achtern her näherte sich dem Schiff eine dunkle Gestalt. Sie lief tatsächlich über das Wasser wie über festen Grund. Trotz des Seegangs beugte sich David weit über die Reling, um den Weg des Wellenwanderers zu verfolgen. Die Gestalt war in schwarzes Tuch gekleidet. Der wallende Umhang schien sie zu einem dunklen Bruder jener rastlosen Meeresfeen zu machen. Und doch glaubte David die Kopfbedeckung des Schemens zu erkennen: ein Hut mit auffällig breiter Krempe.

Negromanus! David erschauerte. Es musste Negromanus sein! Kein anderer konnte einen solchen Eiseshauch verströmen. Und niemand bewegte sich so merkwürdig fließend, schwebte förmlich über dem Grund. Unweigerlich kam David ein ähnliches Erlebnis in den Sinn, das er vor beinahe einem Dutzend Jahren gehabt hatte. Der Schemen war damals durch die Morgennebel an der Westfront bei Ypres geglitten. Einige Stunden später fiel Davids Freund, Nicolas J. Seymour.

Die erneute Begegnung mit seinem unheimlichen Gegner ließ ihn erstarren. Negromanus kam näher. Ohne Eile, aber zielstrebig. David starrte auf die schwarze Gestalt, ihren wallenden Umhang, den Armstumpf – und konnte sich nicht bewegen.

Der Schemen wanderte durch ein Tal, das sich wie ein Wadi durch die Wasserwüste zog. Und die Taifun schien in dieser Rinne festzustecken, wie gestrandet. Während sich die Dünen ringsum weiter hoben und senkten, herrschte hier eine fast gespenstische Stille. Das Schiff war Negromanus hilflos ausgeliefert. Entsetzen befiel David. Er hatte nicht einmal seine Schwerter dabei.

Noch immer starr vor Schrecken sah er, wie der Schemen das Boot einholte. Sollte das wirklich das Ende sein? David musste an seine Eltern denken, an die vielen Freunde, die mit grässlich verkrümmtem Rücken tot aufgefunden worden waren – alle Opfer dieses in jeder Hinsicht unmenschlichen Wesens. Würde der Urian nun auch ihn niederstrecken?

Atemlos verfolgte David jeden von Negromanus’ Schritten längsseits des Schiffes. Das fahle Antlitz des Schemen hatte schon seinem Vater das Fürchten gelehrt – jetzt blickte es nur stur geradeaus. War dieses merkwürdige Verhalten vielleicht Teil von Negromanus’ grausamem Spiel?

Mit Schaudern erinnerte sich David an die phosphoreszierenden Augen des Schemens, in die er damals, auf Blair Castle, gesehen hatte. War es vielleicht dieser Blick, der die Menschen tötete? Bald würde Negromanus gleichauf mit dem Bug der Taifun sein. Und dann? Wenn David jetzt starb, konnte niemand mehr den Kreis der Dämmerung aufhalten. Der Geheimbund würde seinen Jahrhundertplan in die Tat umsetzen und die Menschheit schon bald in den Untergang treiben. Alles in David bäumte sich gegen diese furchtbare Erkenntnis auf, doch sein Körper blieb an die Reling gebannt stehen wie gefesselt mit gefrorener Gischt, mit einem Leichentuch aus Eis, das Negromanus für ihn gewoben hatte.

Als der Schemen sich auf gleicher Höhe befand, wollte David schreien. Seine Brust verkrampfte sich, er konnte weder Luft holen noch einen einzigen Laut hervorbringen.

Jeden Augenblick musste Negromanus sich umwenden. David machte sich auf das Unvermeidliche gefasst ...

Doch das Schattenwesen ging vorüber.

Ungläubig blickte David ihm nach. Und allmählich löste sich die Erstarrung, schwand langsam auch die Kälte aus seinen Gliedern. In gierigen Zügen atmete er die laue Nachtluft ein. Endlich brach die ganze Furcht und Verzweiflung aus ihm heraus und er schrie ...

 

»... hörst du mich? Du sollst endlich aufwachen!«

David öffnete blinzelnd die Augen. Für einen Moment sah er nur den Mond und die funkelnden Sterne, aber dann erschien ein engelsgleiches Gesicht vor seinen Augen.

»Rebekka! W-was ...? Wo ...?«

»Du hast einen bösen Traum gehabt und wie am Spieß geschrien. Aber jetzt ist alles gut.«

David setzte sich ruckartig auf. Sein Kopf hatte in Rebekkas Schoß gelegen. Er erinnerte sich wieder an das Gespräch, das sie hier oben, an Deck der Taifun, über die gemeinsame Zukunft geführt hatten. Erst vor wenigen Stunden waren sie den Flammen in Toyamas Felsenpalast entkommen. Mit ihm hatte der Kreis der Dämmerung einen seiner mächtigsten Bundesgenossen verloren. Der Großmeister des Geheimzirkels, Lord Belial, würde bittere Tränen vergießen – wenn er zu solch einer menschlichen Regung überhaupt fähig war.

»Dein Traum muss furchtbar gewesen sein«, begann Rebekka nun, weil David noch benommen schwieg. »Du hast dich im Schlaf aufgebäumt wie ... Ich hatte schreckliche Angst um dich.«

»Aufgebäumt?«, fragte David.

»Ja, gekrümmt hast du dich. Richtig zum Fürchten war das.« Rebekka schüttelte sich.

David bedachte sie mit einem argwöhnischen Blick, erwiderte jedoch nichts. Stattdessen wandte er sich dem Bug der Taifun zu. Der Fischkutter lief schon seit Stunden auf Nordkurs. In dieser Himmelsrichtung war auch Negromanus entschwunden. Alles nur ein Traum, sagte sich David. Ein Alptraum zwar, aber nicht mehr. Und dennoch: Vielleicht wollten die Bilder aus seinem Unterbewusstsein ihm etwas sagen? Warum hatte der Wellenwanderer nicht innegehalten und seinen Feind mit einem Blick getötet? Was trieb Negromanus zu solcher Eile an? Davids Hand wanderte zu dem Ring an seiner Halskette.

Rebekka deutete die Geste auf ihre Weise. Sie legte den Arm um David, schmiegte sich an ihn und fragte: »Hast du von Negromanus geträumt?«

Er nickte langsam, ohne den Blick vom Bug des Kutters zu nehmen. »Er kam über das Meer. Ich war wie gelähmt, dachte, er würde auch mich töten wie Vater, Mutter und all die anderen, aber er hat die Taifun nicht einmal angesehen. Negromanus ist einfach an ihr vorübergegangen.«

»Am besten denkst du nicht mehr daran.« Rebekka klang nun bestimmt. »Die Jagd auf den Kreis der Dämmerung hat dir in letzter Zeit keine Ruhe gelassen. Und dann der Anblick Toyamas inmitten der Flammen! Kein Wunder, dass du schlechte Träume hast.«

David wandte sich wieder ihr zu. Er blickte eine Zeit lang schweigend in ihre jettschwarzen Augen, dann begann er langsam den Kopf zu schütteln. »Damals, als meine Eltern von Negromanus ermordet wurden, hatte ich auch von ihm geträumt. Ich glaube, dieser Alptraum eben war eine Warnung.«

Wie zum Widerspruch öffnete Rebekka rasch den Mund und holte tief Luft – brachte aber keinen Laut hervor.

David spürte, wie erregt sie war. Gerade erst hatten sie über eine friedlichere Zeit gesprochen, über Kinder, die Rebekka sich so sehr wünschte. Wie nur sollte er ihr beibringen, dass an Sicherheit noch lange nicht zu denken war? Er wollte sie beruhigen. Doch mit dem, was er ihr sagen musste, würde er eher das Gegenteil erreichen.

»Ich glaube, Negromanus ist uns nach Tokyo vorausgeeilt. Er weiß, dass wir dort noch etwas zu erledigen haben.«

»Du meinst ...?«

David nickte bedeutungsvoll. »Yoshis Trauerfeier. Er war mein ältester Freund. Toyama muss davon gewusst und es auch Negromanus, vielleicht sogar Belial mitgeteilt haben. Jetzt wird während Yoshis Beisetzung irgendwo ein todbringender Schatten auf uns lauern. Ich glaube, dir ist klar, was das bedeutet.«

Rebekka zögerte. Als sie dann endlich antwortete, klang sie betroffen: »Willst du damit sagen, dass wir an Yoshiharus Trauerfeier nicht teilnehmen können?«

David schüttelte langsam den Kopf. »Du wirst in einem sicheren Versteck bleiben. Ich gehe allein hin.« Sein Blick wanderte wieder nach Nordosten, bevor er leise hinzufügte: »Nicht ganz allein: Ich werde mein Schwert bei mir haben.«

 

Anfangs hatte Rebekka noch wie ein Rohrspatz geschimpft. Die Nähe dieses gefährlichen Meuchelmörders auch noch zu suchen sei beispielloser Leichtsinn. Was würde aus ihr werden, wenn David erst mit abartig verformtem Rücken im Grab lag? Als dann Momoko, von dem Lärm angelockt, auf dem Oberdeck erschien und sich höflich erkundigte, ob das Paar irgendetwas benötige, brach Rebekkas Empörung wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Sie begann haltlos zu weinen.

Nachdem David die Enkelin des alten Ohei Ozaki wieder in ihre Koje geschickt hatte, machte er sich an die schwierige Aufgabe, seine verzweifelte Ehefrau zu trösten. So behutsam wie möglich erinnerte er sie an seine Bestimmung. Er sei nun einmal das Jahrhundertkind. Nur ihm seien die Gaben geschenkt, mit denen der Kreis der Dämmerung zerschlagen werden konnte. Spätestens seit dem Tag, da er ihr in London auf der Victoria Station einen Heiratsantrag gemacht habe, wisse sie von dieser schweren Bürde.

Natürlich erzählte er Rebekka damit nichts Neues. Während sie in seinen Armen lag und nur noch leise schluchzte, kämpfte sie gegen die Enttäuschung an, die der eigentliche Grund für ihren Ausbruch war. Sie wünschte sich so sehr ein Kind von ihm! Es sollte ohne die Furcht aufwachsen, die schon immer ihr Begleiter gewesen war – erst im Großen Krieg und nun an Davids Seite. Aber dieser Traum würde sich wohl nie erfüllen.

Als Davids Lippen die ihren fanden, kehrte auch neuer Mut in sie zurück. Rebekka war stärker, als man von ihrem zierlichen Äußeren her vermuten konnte.

»Ich werde auf dich warten, wo immer du auch bist«, sagte sie leise.

Er nickte und schenkte ihr ein trauriges Lächeln. »Ich habe nicht vergessen, was du mir damals auf dem Schiff versprochen hast, während wir in den Hafen von Yokohama einliefen. Und dafür liebe ich dich, Bekka. Für alle Zeit!« Und über den Tod hinaus, fügte er in Gedanken hinzu.

 

Gegen Mittag legte die Taifun an einer Mole in Sodegaura an. David hatte sich kurzfristig für eine Änderung des ursprünglichen Reiseplans entschieden. Er rechnete zwar nicht damit, dass Negromanus ihm schon im Hafen von Yokohama auflauerte, aber wer konnte schon wissen, was im Kopf eines Schattens vorging?

Sodegaura lag in der Bucht von Tokyo, direkt gegenüber der japanischen Hauptstadt. Mit einer Fähre konnten er und Rebekka fast bis ins Herz der riesigen Metropole gelangen. David kannte das Gebiet rund um den Kaiserpalast wie seine Westentasche. Ihn und Rebekka hier aufzuspüren, würde wohl selbst für Negromanus so gut wie unmöglich sein.

Der Abschied von der fünfköpfigen Mannschaft des Fischkutters fiel kurz, aber herzlich aus. Nachdem David den Kapitän und dessen Männer ausbezahlt hatte, überschüttete Wang das Ehepaar mit einer Vielzahl teils bizarrer Glücks- und Segenswünsche, deren Einlösung sämtliche chinesischen Götter mindestens eine Woche lang in Atem halten würde. Während die Fischer dann schon ihren Kutter für die Rückreise nach Kochi vorbereiteten, verabschiedete sich das englische Paar noch von den Ozakis.

»Willst du weiter als Ryutaro Kawamura in Iyo-Saijo leben?«, fragte David den fast neunzigjährigen Greis.

Ohei machte ein angewidertes Gesicht. »Bin ich denn von allen guten Geistern verlassen? Ich werde wieder meinen richtigen Namen annehmen. Und wenn mich noch einer Ryutaro nennt, schneide ich ihm die Zunge ab.«

Rebekka sah betroffen in das finstere Gesicht des rüstigen Alten.

David konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er legte seiner Frau beruhigend die Hand auf den Arm und sagte: »Ryutaro bedeutet ›Drachensohn‹. Das mag ja zutreffend gewesen sein, als Ohei noch Leibkoch Toyamas war, aber die Gesellschaft des Schwarzen Drachen wird ohne ihren Kopf wohl bald der Vergangenheit angehören.«

»Das will ich meinen«, pflichtete ihm Ohei bei. »Ich will mit diesem stinkenden Wurm nichts mehr zu tun haben.«

Momoko war in dieser Angelegenheit weniger zuversichtlich als ihr Großvater. »Trotzdem sollten wir überlegen, ob es nicht für dich sicherer wäre, mit einem ganz neuen Namen irgendwo anders ...«

»Papperlapapp!«, fiel Ohei seiner Enkelin ins Wort. »Hast du vergessen, wie alt ich bin, Momo? Ich wäre längst verrottet, bevor ihr ein sicheres Versteck für mich gefunden hättet. Nein, ich habe dem Tenno einen großen Dienst erwiesen, als ich David-kun zu Toyama führte. Jetzt kann ich in Ruhe sterben.«

»Gewiss, Großvater«, antwortete Momoko und verbeugte sich ehrerbietig, aber David konnte aus ihren Augen etwas anderes lesen: Darüber unterhalten wir uns noch ein andermal, alter Mann.

Wiederum wurden Glücks- und Segenswünsche ausgetauscht. David bat Ohei gut auf sich aufzupassen und der Greis wünschte dem Paar ein Haus voller Kinder. Als David und Rebekka dann endlich zur Anlegestelle der Fähre aufbrachen, war es ihnen schwer ums Herz. Vermutlich würden sie den kratzbürstigen Greis und seine geduldige Enkelin niemals wieder sehen.

Etwa zwei Stunden später betraten sie ein hölzernes Haus im Tokyoter Stadtteil Shinagawa-ku, das wiederum in einem Viertel lag, das genauso hieß wie Toyamas einstiger Koch: Ozaki. Bei der gedanklichen Suche nach einem sicheren Unterschlupf hatte diese Übereinstimmung Davids Augenmerk auf den Wohnort eines alten Bekannten gelenkt, der ihm noch einen Gefallen schuldete.

Graf Takeo Yonai gehörte zu Kidos Geheimdienst, der David bei der Suche nach Toyamas Verstecken wertvolle Dienste geleistet hatte. Bei mehreren Besprechungen hatte David den jungen Offizier der kaiserlichen Leibwache kennen und schätzen gelernt. Yonai stammte aus einer angesehenen Familie und war finanziell unabhängig. Den schmalen Sold nahm er nur deshalb an, weil es für ihn einer Beleidigung gleichgekommen wäre, eine Gabe des Tennos zurückzuweisen. Yonai diente dem Gottkaiser allein um der Ehre willen.

Und gerade diese Einstellung hatte ihn vor gut einem Jahr in ernste Schwierigkeiten gebracht. Takeo Yonai war damals verlobt. Seine Braut hatte ihn wegen des plötzlichen Todes ihres Vaters um einen außerplanmäßigen Besuch gebeten. Zur selben Zeit sollte der Offizier aber auf Befehl des Kaisers eines von Toyamas Häusern observieren. (In Wirklichkeit stammte die Anweisung aber nur von Kido.) Natürlich hatte für Yonai die Order des Tennos Vorrang, dennoch stattete er aus Mitgefühl der trauernden Braut wenigstens einen kurzen Besuch ab. Der gespendete Trost kostete ihn dann allerdings fast das Leben.

Als er mit geringer Verspätung beim Beobachtungsposten eintraf, begrüßte ihn sein Untergebener, ein gewisser Matsudaira, mit bleichem Gesicht: Gerade eben habe Toyama in Begleitung seiner Leibwache das Haus verlassen. Den unerfahrenen Hilfsspion Matsudaira hatte diese wichtige Entdeckung regelrecht überwältigt. Von Angst gepackt, irgendetwas falsch zu machen, tat er einfach nichts. Bis Takeo Yonai kam.

Tags darauf erstattete der Offizier seinem Vorgesetzten ordnungsgemäß Bericht und versprach alsbald die Konsequenzen aus seiner schändlichen Pflichtverletzung zu ziehen. Glücklicherweise war David bei der Lagebesprechung anwesend und verstand Yonais Ansinnen nur zu genau. Dieser wollte sich im rituellen seppuku den Bauch aufschlitzen. Während Kido die Selbstentleibung seines Untergebenen zwar mit Bedauern, aber gleichwohl verständnisvoll akzeptiert hätte, setzte David alle Hebel in Bewegung, um das Leben des jungen Mannes zu retten. Als er Hirohito persönlich von dem Missgeschick Yonais berichtete und meinte, dessen Verlobte habe nun bald neben dem Vater auch den Bräutigam zu betrauern, trat der Kaiser höchstselbst auf den Plan. In einer Privataudienz gelang es dem Tenno, seinem Untertan glaubhaft zu versichern, dass er sich von diesem im Stich gelassen fühlen werde, sollte sich Yonai seiner wichtigen Aufgabe durch seppuku entziehen. Damit war Takeo Yonai gerettet.

Nach seiner Rehabilitation verehrte Yonai den ihm nur als Francis J. Murray bekannten Kaiservertrauten wie einen alten Weisen. Tatsächlich betrug der Altersvorsprung Davids gerade einmal fünf Jahre.

Als David nun am Nachmittag dieses 30. Juli 1929 an die Tür von Yonais Haus klopfte und um vorübergehende Unterbringung bat, willigte der Offizier sofort ein. Er war hocherfreut, sich endlich für die ihm einst erwiesene Wohltat revanchieren zu können.

Inzwischen hatten Takeo Yonai und seine Braut Yachiyoko längst geheiratet. Die zwei passten gut zueinander. Beide waren lebhaft, gertenschlank und reichten David gerade bis zur Brust. Gemeinsam überschütteten sie den unverhofften Besuch geradezu mit ihrer Gastfreundschaft. Man werde den Murrays selbstredend das Haus zur Verfügung stellen, solange sie es benötigten, wiederholte Takeo Yonai beinahe jede Viertelstunde. Er und Yachiyoko würden mit ihrem Personal währenddessen in das Anwesen des Schwagers ziehen, der ganz in der Nähe wohne. Alles kein Problem. Zunächst einmal wolle man am Abend aber einen Festschmaus einnehmen. Yonai kenne da ein gemütliches Restaurant ...

An dieser Stelle unterbrach David seinen Gastgeber.

Im Land der aufgehenden Sonne war es unüblich, Gäste in den eigenen vier Wänden zu bewirten. Oftmals fehlte hierzu schlicht der Platz. In jedem Fall zählte das Zuhause zu den intimsten Rückzugsgebieten eines Japaners. Deshalb kam er seiner Gastgeberrolle lieber in einem Restaurant nach. David war sich dieses Brauchs durchaus bewusst, aber da Takeo Yonai ihn ohnehin schon in sein Haus aufgenommen hatte, wagte er darüber hinaus noch die Bitte um ein stilles Abendessen in der Verschwiegenheit ihrer Unterkunft.

»Aber ich verdanke Ihnen mein Leben, Murray-san!«, protestierte Yonai.

»Ich glaube«, erwiderte David müde, »Ihr Leben ist mehr wert als eine Mahlzeit aus rohem Fisch.«

Yonai gab sich gekränkt. »Bei einer einzigen Beköstigung hätte ich es auch nicht belassen.«

»Ich weiß das sehr zu schätzen, mein Freund, aber ich habe heute noch eine Menge zu tun. Ich will gleich nach Koji-machi fahren und mein Postfach leeren. Außerdem steckt mir der plötzliche Tod von Yoshiharu Ito noch in den Knochen. Ich muss unbedingt herausfinden, ob die feierliche Verbrennung des Leichnams bereits erfolgt ist und wann die Urnenbeisetzung stattfinden wird. Mir fehlt einfach die Muße ...«

Yonai wusste um die enge Freundschaft zwischen Francis Murray – also David – und dem Grafen Ito. Daher änderte er nun seine Taktik. »Dann werde ich dafür sorgen, dass Sie heute Abend im Haus speisen können, und wenn Sie möchten, fahre ich für Sie nach Koji-machi und hole Ihre Post ab. Für die anderen Erkundigungen steht Ihnen selbstverständlich mein Telefon zur Verfügung.«

David seufzte. Er würde Yonai beleidigen, wenn er sich jetzt quer stellte. Während früherer Reisen Davids hatte immer Yoshi sein Postfach gelehrt. Vielleicht war es sogar besser, nicht ausgerechnet jetzt persönlich in dem kleinen Postamt aufzukreuzen. Die Spione der Amur-Gesellschaft würden es vielleicht unter Beobachtung halten.

»Also gut«, willigte David ein. »Sie kümmern sich um meine Post und ich telefoniere mit Yoshis Verwandtschaft.« In knappen Worten fasste er für Yonai den Stand der Dinge zusammen: Er habe nun doch Toyamas Schlupfwinkel aufgespürt und den Kopf des Schwarzen Drachen zur Strecke gebracht; dennoch müsse er um seine und um Rebekkas Sicherheit fürchten; Yonai solle auf keinen Fall das Postamt in Koji-machi betreten, wenn er nur den leisesten Verdacht hege, dass es observiert werde.

Yonai nickte diensteifrig. In Kidos Geheimdienst habe er gelernt, wie man derartige Situationen meistere. Er werde sich vorsehen.

»Noch etwas: Sollten Sie eine schwarz gekleidete Gestalt mit Schlapphut sehen, dann rufen Sie mich bitte sofort an.«

Yonai stutzte. »Sie denken an jemand Bestimmten? Einen Japaner oder einen Europäer?«

»Weder noch, Yonai-san. Eher an ein Ungeheuer.«

 

Obwohl die Yonais ein eigenes Telefon besaßen, suchte David ein Postamt in der Nähe des Hauses auf. Er hatte zwar keine Ahnung, ob Toyamas Leute oder gar Negromanus einen Anruf zurückverfolgen konnten, aber er wollte kein Risiko eingehen. Zu viele Menschen, die ihm einmal geholfen hatten, waren allein deshalb ermordet worden. Lord Belial duldete keine Gegenspieler.

Die Neuigkeiten aus dem Ito-Clan waren deprimierend. Die Polizei habe den Leichnam Yoshis schon nach einem Tag zur Bestattung freigegeben, berichtete ein Cousin des Hingeschiedenen am Telefon. Für sie handele es sich bei dem Fall eindeutig um Selbstmord zur Ehrenrettung. Welche unehrenhafte Tat Yoshi allerdings begangen haben sollte, wusste niemand. Jedenfalls hatte man die sterblichen Überreste von Davids Freund nach der traditionellen fünfzigstündigen Totenwache eingeäschert.

David schloss die Augen und kämpfte gegen die Tränen an. Nicht einmal diesen letzten Dienst hatte er seinem besten Freund erweisen können. Er lehnte an der Rückwand einer stickigen Kabine, die von der Schalterhalle durch eine Glastür abgetrennt war. Am liebsten hätte er den Hörer fallen lassen und wäre ins Freie gestürmt – Yoshis tragischer Tod schnürte ihm die Kehle zu, er konnte kaum noch atmen. Die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt hörte er eine Zeit lang kaum, was Saionji, der Vetter seines verblichenen Freundes, ihm erzählte. Als David endlich wieder aufblickte, sah er einen kleinen schwarzhaarigen Jungen, der gerade seine Nase an der Glastür der Telefonkabine platt drückte. Bei jeder anderen Gelegenheit hätte David den Zwerg angelächelt. Jetzt drehte er sich einfach nur weg.

»Und die Urnenbeisetzung?«, fragte er mit brüchiger Stimme. »Wann wird die sein, Saionji-kun?«

»Morgen um drei«, antwortete Yoshis Cousin.

»Schon so bald ...?« David hielt den Atem an. Er musste unweigerlich wieder an den finsteren Schemen denken.

»Wirst du Yoshiharu die letzte Ehre erweisen, David-kun?«

Der schluckte. »Natürlich. Es könnte allerdings sein, dass ich erst spät komme. Aber ich werde da sein.«

 

Als David in das Haus der Yonais zurückkehrte, war nur Rebekka da. Sie begrüßte ihn mit sichtlicher Erleichterung.

»David, endlich bist du wieder zurück! Ich habe die ganze Zeit wie auf glühenden Kohlen gesessen.«

»Ich war doch kaum eine halbe Stunde fort.«

»Zeit genug für dieses Scheusal, dir etwas anzutun.«

David bemerkte den fast schon hysterischen Unterton in Rebekkas Stimme. Er nahm sie in den Arm und streichelte ihr beruhigend den Rücken. »Jetzt bin ich ja wieder bei dir, Liebes. So schnell wird Negromanus uns hier nicht aufspüren. Wo sind denn Yachiyoko und die Dienstboten?«

»Sie wollte mit ihrer Köchin noch ein paar Zutaten für das Abendessen besorgen, der Kammerdiener scheint ganz Tokyo auf den Kopf zu stellen, um ein Trauergewand für einen Riesen aufzutreiben, und Takeo ist auch noch nicht zurück.« Rebekkas Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe mich gefürchtet, David, so ganz allein in diesem fremden Haus!«

»Das brauchst du nicht, Schatz.« Hoffentlich, fügte er in Gedanken hinzu.

»Was hast du über Yoshis Beisetzung erfahren?«

»Wie ich es mir gedacht hatte, sind wir zu spät gekommen. Man hat Yoshis Leichnam bereits gestern verbrannt.« David spürte, wie Rebekkas Leib in seinen Armen erzitterte. »Was ist?«

Sie legte ihr Ohr an seine Brust, um ihr Gesicht vor ihm zu verbergen. »Schon gut. Es ist nichts.«

»Komm schon, Bekka! Du weißt doch: Dem Jahrhundertkind kann man nichts vormachen. Also, warum bist du so durcheinander?«

»Ich musste gerade an Toyamas Feuertod denken. Hätte man in Yoshis Fall nicht besser eine andere Art der Bestattung gewählt? Irgendwie finde ich es unpassend, wenn dem Opfer dasselbe widerfährt wie seinem Mörder.«

»Ich kann verstehen, dass dein Gefühl dagegen rebelliert, aber die Einäscherung ist in Japan nun einmal die gebräuchliche Methode, einen Verstorbenen auf seine letzte Ruhe vorzubereiten. Komm mit mir nach oben in unser Zimmer, dann erkläre ich dir alles. Je mehr du von diesem Volk weißt, desto leichter wird es dir fallen, seine Bräuche zu verstehen.«

Die beiden stiegen zum ersten Stock des Hauses hinauf. Das den Gästen vorbehaltene Tatami-Zimmer war traditionell karg eingerichtet – außer einem flachen Tisch gab es keine Möbel. David betrat die Reisstrohmatten auf Strümpfen. Auch Rebekka hatte ihre Hausschuhe ausgezogen und nahm nun barfüßig neben ihm Platz.

David fasste kurz zusammen, was er in dem Telefonat mit Saionji erfahren hatte, und kam zum Schluss noch einmal auf die landesüblichen Bestattungsriten zu sprechen. »In Japan werden neun von zehn Hingeschiedenen nach buddhistischem Brauch verbrannt. Diese Tradition ist mehr als zwölfhundert Jahre alt. Um Epidemien vorzubeugen, wurde Ende des letzten Jahrhunderts sogar ein entsprechendes Gesetz erlassen. Ich glaube allerdings kaum, dass irgendjemand mit Toyamas Knochen derart liebevoll umgehen wird, wie es Yoshis Verwandte ohne Frage mit den seinen getan haben.«

Rebekka sah ihn verblüfft an. »Sie behandeln Totengebeine liebevoll? Was meinst du damit?«

»Nun, ›rücksichtsvoll‹ oder ›ehrerbietig‹ wäre vielleicht passender. Im Anschluss an die Verbrennung werden die Knochen des Verstorbenen nach einer streng festgelegten Reihenfolge in der Urne abgelegt: Man beginnt bei den Beinen und arbeitet sich dann langsam bis zum Schädel hoch. Die Knochen werden aus einem Gefühl der Achtung heraus nicht mit den bloßen Händen, sondern mit zwei unterschiedlichen Stäbchen umgebettet, eines besteht aus Holz und das andere aus Bambus.«

»Stäbchen? Etwa dieselben wie beim Essen?«

»Nicht ganz.« David musste schmunzeln. »Dazu fällt mir aber eine amüsante Begebenheit aus meiner Kindheit ein. Vater hatte mich zu einem besonderen Empfang mitgenommen, der vom japanischen Außenministerium veranstaltet wurde. Dazu gehörte auch ein pompöses Diner im japanischen Stil. Ein ahnungsloser amerikanischer Möchtegerndiplomat, der gerade erst aus Texas eingetroffen war, wollte seine Geschicklichkeit im Umgang mit den Essstäbchen vorführen und hielt dabei die Speisen auf dieselbe Art wie die Japaner die Knochen ihrer Verstorbenen anlässlich der Totenfeier. In dem Bankettsaal herrschte betretenes Schweigen. Ich erinnere mich noch, wie Vater mir zuraunte, ja nicht laut zu kichern. Die Japaner fühlten sich brüskiert. ›Ein Fauxpas sondergleichen!‹, beschwerte sich später einer der Gastgeber beim amerikanischen Botschafter. Soweit ich weiß, hat man den texanischen Neuzugang dann später nie mehr zu Gesicht bekommen.«

Rebekka schüttelte ungläubig den Kopf und meinte verschmitzt: »Hätte ich von Anfang an gewusst, in wie viele Fettnäpfchen man hier in Japan treten kann, wäre ich vermutlich in New York geblieben.«

David freute sich, sie endlich wieder lächeln zu sehen. Die Lage war zwar zu ernst für ausgelassenes Scherzen und Necken, wie es Rebekka sonst so liebte, doch hatte die Unterhaltung immerhin für einige kostbare Minuten Kurs in ruhigeres Fahrwasser genommen. Sie würde schon noch früh genug fragen, wie er sich seine Rolle bei Yoshis Urnenbeisetzung am nächsten Tag vorstellte.

Bald darauf kehrte Yachiyoko mit ihrer Haushälterin vom Einkauf zurück. Eine halbe Stunde später traf auch der Hausherr ein.

»Keine Spione«, berichtete er aufgeregt. »Dafür habe ich eine Nachricht für Sie, Murray-san.« Seine Hände zitterten vor Aufregung, als er David einen länglichen Umschlag reichte.

Auf der Briefhülle prangte der Stempel der japanischen Post. Es handelte sich um ein Telegramm.

Stirnrunzelnd blickte David von dem Kuvert zu Takeo Yonai. Die Augen des jungen Grafen klebten wie gebannt an der Nachricht.

»Würden Sie mich bitte für einen Moment mit meiner Gemahlin allein lassen, Yonai-san?«

Der Graf zuckte zusammen wie ein Junge, den man beim Naschen ertappt hatte. »Entschuldigen Sie, Murray-san. Selbstverständlich lasse ich Sie allein. Sie brauchen nur zu rufen, wenn Sie irgendetwas benötigen.«

»Vielen Dank, Yonai-san.«

Widerwillig entfernte sich der Gastgeber. Endlich ungestört, öffnete David den Umschlag.

»Das Telegramm kommt aus New York.«

Rebekka bemerkte sofort den Ernst in seiner Stimme. »Ist es von Brit?«

David schüttelte den Kopf. »Von Henry. Er schreibt, sein Partner sei ernstlich an einer Infektion erkrankt. Weil er wisse, wie eng das Verhältnis zwischen Brit und uns sei, legt er uns nahe, umgehend in die Vereinigten Staaten zurückzukommen.«

Rebekka stieß einen kleinen Schrei aus. »Soll das etwa heißen ...?«

Auch David war wie benommen.

Wollen denn diese Hiobsbotschaften überhaupt kein Ende mehr nehmen? Um Rebekka nicht unnötig zu beunruhigen, rang er sich einen zuversichtlichen Ton ab, als er erwiderte: »Das muss nicht unbedingt das Schlimmste bedeuten. Überleg doch einmal: Läge Brit wirklich schon im Sterben, bräuchten wir uns gar nicht erst auf den weiten Weg zu machen. Vielleicht ist er einfach nur schwer mitgenommen und Henry möchte, dass ich ihn aufmuntere.«

Rebekka nahm Davids Hand und drückte sie an ihre Brust. »Du bist lieb, weißt du das? Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, welche Sorgen du dir machst, und trotzdem versuchst du noch mich zu trösten. Eigentlich bin ich ganz froh, von hier für eine Weile wegzukommen. Je eher, desto besser.«

David schenkte ihr ein ziemlich misslungenes Lächeln. Vor der Abreise musste er noch etwas erledigen. Der Gedanke daran duldete keinen anderen neben sich. Er wird mich erwarten. Morgen. Während der Beisetzungsfeier. Aber wenn ich nicht hingehe, wird er mir an irgendeinem anderen Ort auflauern, und genau dann, wenn ich es am allerwenigsten erwarte. Ich muss einfach hingehen und mich Negromanus stellen.

 

David fand in dieser Nacht wenig Schlaf. Als Bettstatt diente den beiden eine baumwollgefütterte Matratze, die so durchgelegen war, dass er glaubte, selbst die Struktur der darunter liegenden Tatami-Matte noch erfühlen zu können. Unbegreiflicherweise schlummerte Rebekka neben ihm tief und fest.

Natürlich war es das bevorstehende Zusammentreffen mit dem todbringenden Schemen, das David keine Ruhe finden ließ. Immer wieder zogen die Bilder des Alptraumes auf der Taifun an ihm vorüber. Warum hatte ihn Negromanus nicht angeblickt? Weshalb zog er einfach an ihm vorbei? War dieses ganze Traumerlebnis nur ein Mummenschanz seines geplagten Geistes? Oder steckte doch mehr dahinter?

Während er sich auf seinem futon hin und her warf, feilte er am Schlachtplan für den nächsten Tag. Er durfte die Zeremonie nicht mit dem Anblick eines Langschwertes stören. Abgesehen davon war das Tragen eines solchen in der Öffentlichkeit ohnehin verboten. Das katana musste also zu Hause bleiben. David gedachte, der Feier in einem weißen Kimono beizuwohnen, wie es der Tradition entsprach. Takeo Yonais Kammerdiener hatte einige Mühe gehabt, ein für den unjapanisch großen Murray-san passendes Trauergewand zu finden. Eine solche Bekleidung war ungewöhnlich für einen Europäer, aber Yoshis Familie wusste um Davids enge Bindung an Japan. Man würde seine Ausstattung als Geste der Ehrerbietung gegenüber einem alten Freund begreifen. Dass sich ein rasiermesserscharfes wakizashi samt Lackscheide trefflich unter dem weiten Gewand verbergen ließ, hielt David für einen nützlichen Nebeneffekt.

Nur mit dem Kurzschwert gegen einen so mächtigen Gegner wie Negromanus antreten zu müssen, war eine nicht eben angenehme Vorstellung. Doch zuletzt würde wohl weniger die größere Reichweite über den Erfolg oder Misserfolg des Jahrhundertkinds entscheiden als vielmehr dessen außergewöhnliche Gaben. Mit dieser Erklärung machte sich David wieder Mut. Er war ein Sekundenprophet, konnte sich bewegende Gegenstände oder Lebewesen durch eine Dehnung der Zeit verlangsamen oder ihnen einfach eine neue Farbe geben. Ein Gefühl des Zweifels den praktischen Nutzen seiner Begabungen betreffend versuchte David wohlweislich zu ignorieren.

Die Trauerfeier sollte am Nachmittag um drei Uhr beginnen. Der dafür vorgesehene Tempel befand sich im Stadtteil Taito-ku. David machte sich bereits um zwölf auf den Weg. Er wollte der erste der Trauergäste sein.

Abgesehen von einem gemeinsamen Morgenmahl mit den Yonais waren David und Rebekka den ganzen Vormittag über für sich geblieben. David brauchte die Zeit, um seiner besorgten Frau Zuversicht und Mut einzuflößen. Nicht einmal vor dem Betreten von Toyamas Felsenpalast hatte sie solche Angst um ihn gehabt wie an diesem Morgen. Je näher die Stunde des Abschieds rückte, desto fester schien Rebekka an ihm zu hängen. Nur unter massivem Einsatz von Küssen und guten Worten konnte er sich schließlich von ihr lösen.

Der Weg zum Tempel führte quer durch die Stadt. Yonais Kammerdiener hatte auf Davids Bitte hin ein ungewöhnliches Verkehrsmittel besorgt: ein Schiff. So würde Negromanus nicht ohne weiteres die Spur bis zu Rebekka zurückverfolgen können. Diese Vorsichtsmaßnahme fußte auf einem unbestimmten Gefühl. Jedenfalls wollte David kein Risiko eingehen.

Der Seedrache erwartete ihn an einer der Brücken, die zum Kita-Shinagawa-Viertel hinüberführten. Die zweiköpfige Besatzung des Kajütbootes kam David wie die asiatische Antwort auf das Komikerpaar Stan und Ollie vor. Allerdings führte hier der »Doofe« eindeutig das Kommando, während dem »Dicken« die Knochenarbeit oblag.

Das Schiff tuckerte einen schmalen Kanal hinab, der in den Hafen von Tokyo mündete. Hier schlug der Seedrache zunächst einen nördlichen Kurs ein, bis er die Mündung des Sumida erreichte. Auf dem Fluss ging es dann weiter in nordöstlicher Richtung. Im Viertel Tobu-Asakusa gab es eine Anlegestelle der öffentlichen Fährlinie, die in unmittelbarer Nähe zum Tempel lag. David beglich den Fahrpreis und bat den Kapitän, ihn gegen fünf Uhr wieder aufzunehmen. Mit einem kleinen Vorschuss überzeugte er ihn zudem, notfalls bis sechs zu warten. Sei er dann noch nicht gekommen, könnten die Männer mit der Anzahlung tun, was immer ihnen beliebte. Während das ungleiche Paar wortreich über die Verwendung des Geldes zu debattieren begann, machte sich David auf den Weg zum Tempel.

Das Areal des Heiligtums betrat man durch ein rotes torii. Neben diesem schlichten Holztor standen zwei Tempelwächter, Furcht erregende Statuen, deren Anblick böse Geister abschrecken sollte, aber auch so manch ängstliches Kleinkind in die Arme der Mutter fliehen ließ. David schritt langsam über einen mit quadratischen Steinen ausgelegten Pfad. Der Park bot ein friedliches Bild – kiesbestreute Plätze, liebevoll gepflegte Bäume –, aber David traute dem schönen Schein nicht. Er wusste, dass er sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen hatte. Irgendwo in den Schatten zwischen den Gebäuden, Büschen und Bäumen lauerte ein Jäger. Und er, David, war das Wild.

Natürlich hoffte er, Lord Belials Henkersknecht würde sich noch versteckt halten. Die Beisetzungsfeier sollte erst in gut anderthalb Stunden beginnen. Für eine so auffällige Gestalt wie Negromanus konnte es nur verräterisch sein, einfach hier herumzuspazieren. Diese große finstere, ja, geradezu bedrohliche Erscheinung musste jedem unwillkürlich ins Auge springen. David setzte auf die Vorsicht des Schemens, während er nun selbst nach einem passenden Versteck Ausschau hielt.

Sein Plan war denkbar einfach. Er wollte heimlich den Eingang der Knochenhalle beobachten, in dem die Zeremonie stattfand. Irgendwann musste sich Negromanus zeigen, wenn er gegen ihn vorgehen wollte. Dann würde er die Klinge des wakizashi zu spüren bekommen. David hatte sich fest vorgenommen, diesmal abzuwarten und seinen Feind nicht vorschnell zu attackieren wie auf dem schottischen Schloss Blair, als er ihm nur eine Hand abschlagen konnte.

Die Knochenhalle war ein lang gestrecktes Gebäude hinter dem Tempel. Fachwerkrahmen aus dicken braunen Holzbohlen, deren Zwischenräume mit weiß gestrichenem Füllmaterial verschlossen waren, bildeten die Wände. Oben glitzerten die graublau glasierten Ziegel des weich geschwungenen Spitzdaches in der Mittagssonne. Über einen gut einsehbaren Kiesplatz gelangte man zum Haupteingang an der Stirnseite der Halle. Trotz oder gerade wegen seiner Schlichtheit betonte das Tor die Bedeutung des Baus. Die Sockel der dunklen Holzpfosten waren in ziseliertes Goldblech gefasst. Über dem Sturz konnte David Schnitzwerk erkennen.

Ohne der anmutigen Architektur weiter Beachtung zu schenken, entschloss er sich zunächst zu einer Erkundung des Terrains. Eine genaue Kenntnis der Örtlichkeiten konnte für ihn lebenswichtig sein. Er steuerte auf einen schmalen Weg zu, der an der Längsseite des Gebäudes entlangführte.

Je weiter er sich vom Haupteingang der Knochenhalle entfernte, desto stiller wurde es. Anscheinend verlief sich nur selten ein Besucher in diesen versteckten Winkel des Tempelgeländes. Bald hörte David nur noch das Zwitschern von Vögeln, das gelegentliche Summen eines vorüberfliegenden Insekts und das Rascheln von Blättern im Wind. Der schmale Plattenweg neben dem Gebäude war von Schilfstauden, japanischen Kirschbäumen, strauchförmigen Bunge- oder Tempelkiefern und anderen Gewächsen umsäumt. Hier wucherte nichts. Das hätte dem japanischen, auf Weglassung alles Überflüssigen beruhenden Harmonieverständnis widersprochen. Aber trotzdem entdeckte Davids wachsames Auge noch genügend Dickichte, die ihn zu größter Vorsicht mahnten. Seine Hand tastete unwillkürlich zum Griff des Kurzschwertes, das er an seiner linken Seite unter dem weiten Kimono trug. Mehr noch als auf die Geräusche der Umgebung lauschte er in sein Inneres. Aber die Gabe der Sekundenprophetie meldete sich nicht. Plötzlich raschelte das Schilfgras zu seiner Rechten. David schreckte zusammen. Sein Schwert sprang förmlich aus der Scheide. Im nächsten Moment sah er eine Bewegung ...

Er musste lächeln, als er das fliehende Eichhörnchen entdeckte. In seinem Maul trug es einen eiförmigen, gelbpurpurnen Zapfen einer Tanyosho Nana, einer japanischen Rotkiefer. Er entspannte sich wieder. Kein Wunder, dass die Sekundenprophetie ihn nicht gewarnt hatte. Er war ganz auf mögliche Gefahren fixiert und eine solche ging von dem pelzigen Zapfensammler nun wirklich nicht aus.

Erleichtert, aber unvermindert wachsam setzte David seine Erkundung fort. An der Rückseite der Knochenhalle entdeckte er einen unscheinbaren Hintereingang. Er überprüfte die hölzerne Tür. Sie war unverschlossen. Ein Blick in das Gebäude zeigte ihm ein Nebenzimmer, von dem aus man unmittelbar in den großen Hauptsaal gelangte. Leise trat er ein. Der Raum war nicht sehr groß. Man konnte ihn mit vier Schritten durchmessen. In die gegenüberliegende Tür war ein Holzgitter eingelassen, durch das David die eigentliche Knochenhalle sehen konnte.

Kurz entschlossen änderte er seinen Plan. Dieser Ort war wie geschaffen zum unauffälligen Beobachten der Zeremonie. Und für einen hinterhältigen Angriff. Sollte Negromanus ihn wirklich in der Halle stellen wollen, würde er kaum durch den Haupteingang spazieren. Von hier jedoch konnte er überraschend zuschlagen und anschließend auch wieder unauffällig verschwinden. Wenn man ihn ließ.

Das zu verhindern war Davids vordringlichstes Ziel.

Zunächst unterzog er den Raum einer genauen Untersuchung. In einer Ecke stapelten sich mehrere kleinere Kisten. David hob einen Deckel an und erblickte gebündelte Räucherstäbchen. Da es ansonsten nur wenige andere Gegenstände gab, war die Erkundung schnell erledigt.

Hinter einer weiteren Tür entdeckte er eine kleine Rumpelkammer. Hier lagerten Spaten, Harken, eine Trommel, Weihrauchgefäße, eingestaubte Meditationskissen und sogar einige Urnen. Während sich David mit gezücktem Kurzschwert zwischen Geräten und Gerümpel hindurchschlängelte, hatte er Mühe, seinen weißen Seidenkimono nicht zu beschmutzen. Sein Kontrollgang war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Er glaubte nicht wirklich, Negromanus hier aufzustöbern – dessen Gegenwart hätte er zweifellos längst gefühlt.

Und genau das war auch der Punkt, der ihm Kopfzerbrechen bereitete. Auf dem Schloss seines Adoptivvaters, des Duke of Atholl, hatte David das Nahen des Schemens schon früh gespürt. Aber hier empfand er nichts dergleichen. In seinem Geist stieg einmal mehr das Bild aus seinem Alptraum auf: Negromanus war an ihm vorübergezogen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Dafür musste es irgendeinen tieferen Grund geben, aber er kam einfach nicht dahinter, welchen. David wurde immer unruhiger. Ihn beschlich das Gefühl, gerade einen schweren Fehler zu machen.

Voll unguter Ahnung bezog er Stellung hinter dem Türgitter, das ihm einen freien Blick in die Knochenhalle gewährte, während er zugleich den Ausgang im Auge behalten konnte.

David wartete. Ab und zu kamen Besucher zu den Nischen, in denen die Urnen ihrer verblichenen Angehörigen untergebracht waren. Manche brachten den Ahnen auch ein Schälchen Reis mit, andere sprachen mit ihnen. Der Tod zwang eine »abgeschiedene Seele« zur Ruhelosigkeit. Folglich musste diese nach shintoistischem Glauben einen Prozess der Läuterung erfahren, der sie von jedem Willen zur boshaften Einmischung in das Leben der Hinterbliebenen befreite, bis nur noch ein friedlicher, wohlwollender Charakter verblieb. Eine derart gereinigte Ahnenseele konnte dann als Beschützer der Familie fungieren. Kein Wunder, dass die Hinterbliebenen regelmäßig nach dem Wohlbefinden ihrer Ahnen »sahen«, sie über aktuelle Entwicklungen der Sippe auf dem Laufenden hielten und gelegentlich um Hilfe und Beistand baten.

Allmählich trafen die ersten Trauergäste ein. Der Zweig des Ito-Clans, dem Yoshi angehört hatte, verfügte in der Knochenhalle über ein eigenes Wandsegment, das als Familiengrabstätte diente. In pietätvollem Schweigen gruppierte man sich um die offene Nische, die Yoshis Asche aufnehmen sollte.

Weil die Itos eine sehr traditionsbewusste Familie waren, kamen die meisten Gäste in Weiß. Yoshiharu Ito hatte im Auswärtigen Amt eine wichtige Position innegehabt, weswegen auch einige ausländische Diplomaten erschienen. Unter den schwarz gekleideten Besuchern war jedoch niemand, der Negromanus auch nur annähernd glich: auffallend groß, gehüllt in einen wallenden Umhang, das fahle Gesicht unter einer breiten Hutkrempe verborgen und eine beinahe körperlich spürbare Kälte ausstrahlend.

David blickte zwischen Gitter und Hinterausgang hin und her. Bisher hatte keiner seiner außergewöhnlichen Sinne Alarm geschlagen. Wo blieb Negromanus nur?

Ein Priester betrat nun die Halle, gefolgt von zwei Helfern, welche die Urne auf einer Art Tablett hinter ihm hertrugen. Kurz darauf begann der Beisetzungsritus. David bemerkte, wie Saionji unter dem Singsang des Priesters immer wieder den Hals reckte und zum Eingang der Halle blickte. Er konnte sich denken, wen der Vetter Yoshis erwartete. David hatte ihm ja versprochen, dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen, auch wenn er sich möglicherweise verspätete.

Während die Zeremonie ihren Lauf nahm, wurde David immer unruhiger. Etwas stimmte nicht. Negromanus war nicht hier. Er konnte zwar nicht sagen, woher er diese Gewissheit nahm, aber sein Gefühl hatte ihn noch nie im Stich gelassen. In der Westminster Abbey, beim Tod seiner Eltern, auf dem Schlachtfeld in Frankreich, in der Hochzeitsnacht auf Blair Castle – jedes Mal hatte es David gespürt, wenn Negromanus seinen Weg kreuzte ...

Er erschrak, ein furchtbarer Verdacht keimte in ihm. Er warf einen letzten Blick auf den Hinterausgang, dann schlich er sich in die Knochenhalle.

Die Zeremonie erreichte gerade ihren Höhepunkt – im wahrsten Sinne des Wortes. Die beiden Helfer des Priesters hatten das Tablett mit der Urne hoch über ihre Köpfe gehoben. Alle Trauergäste konnten den silbernen Behälter mit Yoshis Asche sehen. Gleich würde dieser in einer der Nischen verschwinden, die hier zu hunderten die Wände perforierten. Mit einem Mal geschah das Unfassbare: Einer der Urnenträger stolperte.

Der Behälter rutschte zur Seite, kippte über den Rand der Platte und stürzte zu Boden. Dutzende von entsetzten Augenpaaren verfolgten den merkwürdig trägen Fall der Urne. Sie schlug kopfüber auf. Mit lautem Scheppern sprang der Deckel zur Seite. Ein vielstimmiges Stöhnen hallte durch den Saal.

Verzeih mir diesen Frevel, Yoshi. David öffnete wieder die Augen. Er hatte den Schritt eines der Träger verzögert, ebenso wie den Sturz der Urne, sich dann aber doch den Anblick seiner Tat ersparen wollen. Jetzt jedoch wurden seine schlimmsten Befürchtungen sogar noch übertroffen. Mehr als das Fehlen der Asche schockierte die Trauergemeinde ein aus der Urne geschleuderter Gegenstand: Auf dem steinernen Fußboden lag eine mattschwarze Hand.

»Negromanus!«, hauchte David entsetzt. Erst in diesem Moment war ihm die eigentliche Bedeutung des Namens richtig bewusst geworden: »schwarze Hand«. Die Nachbildung einer auf den ersten Blick menschlich anmutenden Hand war allerdings nur etwa halb so groß, wie es ihr wahres Vorbild gewesen sein mochte. Zwischen den Fingern steckte ein graues Kärtchen. Es handelte sich um eine linke Hand – David erschauerte –, wie jene, die er Negromanus in Schottland abgeschlagen hatte. Weil der makabre Scherzartikel unmittelbar vor seinen Füßen liegen geblieben war, bückte er sich danach und hob ihn auf.

Die künstliche Hand bestand aus einem schwarzen Material, das sich kalt und hart anfühlte, vielleicht Lavagestein. Mit Unbehagen registrierte David die ungewöhnliche Haltung der sechs schmalen Finger: Alle, auch der Daumen, waren so stark gestreckt, dass sie sich weit über den Handrücken zurückbogen. Davids Gedanken arbeiteten fieberhaft. Genauso wie das Rückgrat der vielen Menschen, die von der schwarzen Hand getötet wurden. Was hat das zu bedeuten?

Er sah kurz zu den umstehenden Trauergästen auf. In den blassen Gesichtern lag ein erwartungsvoller Ausdruck, als könne er ihnen jeden Moment die Lösung dieses beklemmenden Mysteriums verkünden. Aber David senkte nur wieder den Blick und betrachtete erneut die zurückgebogenen Finger. Ob Negromanus mit dieser beschwörenden Geste seine Opfer tötete?

Er drehte die Steinhand langsam herum, bis er die lateinischen Buchstaben auf dem Kärtchen entziffern konnte. Da stand nur ein einziges Wort: Verpasst!

Ein Scheppern durchschnitt das gespannte Schweigen in der Knochenhalle. David hatte die Hand zu Boden geschmettert, wo sie in tausend Splitter zerborsten war.

»Verdammt soll er sein!«, schrie er voller Zorn. Saionji, der ganz in Davids Nähe stand, riss entsetzt die Augen auf. Einige Gäste stießen sogar leise Schreie aus. »Nicht Yoshiharu«, rief David, als er schon zum Ausgang stürzte. »Sein Mörder hat uns alle reingelegt ...«

Während nun in der Knochenhalle eine lebhafte Diskussion darüber entbrannte, was all diese bizarren Geschehnisse wohl zu bedeuten hätten, fegte der europäische Trauergast wie kamikaze, der »göttliche Sturm«, durch den Tempelpark. Die andächtig gestimmten Besucher des Areals blickten ihm entgeistert nach.

Die Erkenntnis war auf David mit der brutalen Heftigkeit eines Henkerbeils niedergefahren. Erst die hämische Botschaft des Schattens hatte ihm die Augen geöffnet. Verpasst!

David schrie vor Verzweiflung und Zorn über die eigene Dummheit. Negromanus’ Anschlag galt gar nicht ihm. Er wollte Rebekka haben.

Verwirrspiel

Noch nie hatte David im Stadtgebiet Tokyos eine so weite Strecke in so kurzer Zeit zurückgelegt. Vor seinem geistigen Auge sah er Rebekka bereits ermordet im Tatami-Zimmer liegen – der Blick gebrochen, der Rücken auf groteske Weise verkrümmt. Immer wieder schrie er verzweifelt auf. Der Rikschaläufer vor ihm zuckte jedes Mal zusammen und mobilisierte weitere Reserven.

Als David ein Taxi entdeckte, sprang er aus dem zweirädrigen Wagen, steckte dem verängstigen Mann an den Griffstangen einen Geldschein in die Tasche und warf sich vor die Droschke. Mit quietschenden Rädern kam der Wagen unmittelbar vor ihm zum Stillstand.

»Sind Sie verrückt?«, rief der schwitzende Fahrer aus dem heruntergekurbelten Fenster.

»Ja, bringen Sie mich sofort nach Ozaki!«

»Einen Dreck werde ich tun. Ihr Gaijin glaubt wohl, ihr könnt euch alles erlauben.«

»Ich kaufe Ihr Taxi.«

»Es gehört mir nicht.«

»Nennen Sie mich ›Barbar‹ oder wie immer Sie wollen, aber bitte bringen Sie mich nach Ozaki. Es geht um Leben und Tod.«

»Das sagen die Langnasen immer.«

David sprang unvermittelt auf das Trittbrett des Wagens und hielt dem Fahrer sein wakizashi unter die Nase. »Hören Sie, ich habe keine Zeit, mit Ihnen über den Preis zu verhandeln. Fahren Sie mich einfach, wohin ich möchte, anstatt sich unnötig Ihr langes, glückliches Leben zu verkürzen.«

Der beinahe kahle Japaner lächelte eingeschüchtert. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Steigen Sie ein.«

In halsbrecherischem Tempo raste das Taxi durch Tokyos Straßen. David tat es Leid, dem Fahrer einen solchen Schrecken eingejagt zu haben, aber er hatte sich einfach nicht anders zu helfen gewusst. Während er dem Mann das Ziel genau beschrieb – der Stadt fehlten immer noch die Straßennamen –, entschuldigte er sich vielmals für sein aufbrausendes Wesen. Es handele sich wirklich um einen ernsten Notfall, das müsse der Fahrer ihm glauben.

Er glaubte es nicht. Immerhin zeigte er sich einsichtig, als David ihm beim Aussteigen ein Bündel Geldscheine in die Hand drückte.

»Betrachten Sie das als kleine Entschädigung für die Aufregung, die ich Ihnen zugemutet habe. Auf Wiedersehen. Und danke!«

Mit der stattlichen Summe in der Tasche würde der Taxifahrer vermutlich auf eine Anzeige verzichten, hoffte David. Er verschwendete keinen weiteren Gedanken an den Mann. Alles, was ihn jetzt interessierte, war Rebekka. Sie lebte noch. Wäre es anders, hätte er es gespürt, so wie damals bei seinen Eltern. Oder war er einfach zu aufgeregt, um seine innere Stimme wahrzunehmen? Machte er sich nur etwas vor?

David stürzte ins Haus der Yonais. Die beiden befanden sich zufällig im Eingangsbereich und sahen den gehetzten Mann entgeistert an.

»Wo ist sie?«, stieß er hervor.

Zwei Paar Augen wandten sich der Treppe zum oberen Stockwerk zu. David rannte hinauf, ohne sich die Schuhe auszuziehen, ein Sakrileg, das die ahnungslosen Yonais vor Entsetzen erstarren ließ.

Vor dem Tatami-Zimmer stand ein Paar Hausschuhe. David riss die Schiebetür auf.

»Rebekka!«

Seine Frau blickte von ihrem Buch auf. Sie wirkte überrascht und besorgt zugleich. »David! Gott sei Dank! Du bist zurück.«

Er lief zu ihr. Sie erhob sich von ihrem Sitzkissen. Beide fielen sich in die Arme.

»Du bist ja völlig aufgelöst«, meinte Rebekka. Sie schob ihren Mann auf Armeslänge von sich, um in seine Augen zu blicken. »Was ist denn geschehen? Hast du Negromanus ...?«

David schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt, Bekka. Lass uns zuerst das Haus verlassen.«

»Aber ...«

»Später, Liebes. Komm!«

David zog seine Frau eilig hinter sich her. Sie hatte nicht einmal Gelegenheit in ihre Hausschuhe zu schlüpfen. Im Entree warteten die verstörten Gastgeber und hefteten ihre Blicke auf seine Füße.

»Schnell, rufen Sie Ihr Personal zusammen. Wir müssen alle das Haus verlassen«, drängte David, noch während er die Treppe hinunterstürzte.

Takeo und Yachiyoko sahen sich verwundert an, machten sonst aber keine Anstalten, der Aufforderung ihres Gastes nachzukommen. In aller Kürze setzte David den Hausherrn über den Ernst der Lage in Kenntnis: Er habe berechtigten Grund zu der Annahme, dass jeden Moment ein skrupelloser Mörder hier aufkreuzen und sie alle umbringen könne. Daher halte er es für ratsam, das Anwesen umgehend zu evakuieren.

Diese ebenso kurze wie eindrucksvolle Mitteilung brachte die Gastgeber endlich zum Handeln. Eilig rief Takeo seinen Kammerdiener und Yachiyoko ihre Köchin und gemeinsam verließ man das Haus, um sich zu sechst in die Limousine der Herrschaften zu zwängen und in Richtung Kita-Shinagawa aufzubrechen. Hier, bei nahen Verwandten der Yonais, sei man fürs Erste in Sicherheit.

David rief gleich nach der Ankunft den Vorgesetzten des jungen Grafen an und bat um Hilfe. Kido zeigte sich überrascht, den Vertrauten des Kaisers wieder in Japan zu wissen. Nach Davids spektakulärem Auftritt während der Krönungszeremonie waren die Murrays Hals über Kopf in die Vereinigten Staaten abgereist.

»Ich werde sofort ein paar Männer zu Yonais Haus senden, Murray-san«, versprach der Sekretär des kaiserlichen Geheimsiegelbewahrers.

Es vergingen Stunden bangen Wartens.

Bei nächstbester Gelegenheit erzählte David seiner Frau unter vier Augen, was in der Knochenhalle vorgefallen war.

»Verpasst?«, wiederholte Rebekka die Botschaft des Schattens.

»Ich habe völlig den Kopf verloren«, gestand David. »Mir war mit einem Mal klar, dass er nur sein Spiel mit mir treiben wollte. In Wirklichkeit ging es ihm darum, ungestört über dich herfallen zu können.«

»Aber das hat er doch gar nicht getan!«, widersprach Rebekka. »Bis jetzt haben Kidos Männer auch noch nichts Verdächtiges entdeckt, sonst hättest du es bestimmt schon erfahren.«

David sah sie verwirrt an. »Du hast Recht.«

»Außerdem, wieso sollte Negromanus mich töten, wenn er in der Knochenhalle doch dich, seinen größten Feind, hätte stellen können?«

»Was glaubst du, wie oft ich mir in den letzten Stunden diese Frage gestellt habe! Im Traum ist der Schemen einfach achtlos an mir vorübergegangen, als ob ... Ach, ich weiß auch nicht, was das zu bedeuten hat.«

»Vielleicht kann er dir gar nichts antun.«

Davids Augen wurden groß. »Wie meinst du das?«

Obwohl die Lage alles andere als entspannt war, musste Rebekka beim Anblick ihres dümmlich glotzenden Gemahls lächeln. »Na, bist du nun das seiki no ko oder bist du es nicht? Du hast dich immer gefragt, was dir deine sonderbaren Gaben im Kampf gegen den Kreis der Dämmerung nützen sollen, aber vielleicht hast du dabei deinen wichtigsten Vorteil ganz übersehen.«

»Du meinst ...?«

Rebekka nickte mit Nachdruck. »Es wäre immerhin möglich, dass Negromanus dir gar nichts anhaben kann. Überleg doch einmal: Du hast ihm eine Hand abgetrennt. Und was macht er? Er flieht. Der Schemen hat deine Eltern umgebracht, deinen Großonkel, viele deiner Freunde; er ist um dich herumgeschlichen wie eine Katze um den heißen Brei ... Aber er hat dich nie persönlich angegriffen.«

»Das stimmt«, flüsterte David. »Vielleicht hast du wirklich Recht. Wenn ich ihm tatsächlich ebenbürtig oder sogar überlegen bin, dann könnte ich meine anderen Gaben viel wirkungsvoller gegen ihn einsetzen.«

»Und mit Lord Belial mag es sich ähnlich verhalten. Ich habe selbst gelesen, was im schriftlichen Vermächtnis deines Vaters über die beiden steht: Getrennt sind sie kaum mehr als gewöhnliche Menschen. Nur wenn sie ihre Wesen wieder vereinten, könnten sie unbesiegbar sein. Seit Belial den Siegelring von seinem Finger gezogen hat, versuchen er und sein Schatten vergeblich diese Macht zu erlangen ...«

»Weil mein Vater ihnen den Ring gestohlen hat«, murmelte David.

»Und du ihn nun am Hals trägst«, fügte Rebekka hinzu.

»Vielleicht ist es ja auch der Ring, der mir Negromanus vom Leibe hält. Ich weiß noch, wie bestürzt er mich ansah, als er ihn auf Blair Castle an meinem Hals entdeckte.«

David lächelte still in sich hinein. Es war eine verlockende Vorstellung, endlich eine Waffe gegen seine mächtigen Gegner in der Hand zu halten. Aber da wich auch schon der erregende Gedanke einer anderen bestürzenden Erkenntnis.

»Deshalb will er dich umbringen, Bekka! Jetzt wird mir seine Taktik klar. Nach dem Tod meiner Eltern wollte auch ich nicht mehr leben. Als Nick fiel, ging es mir ähnlich. Und jetzt du. Negromanus muss wissen, dass mir deine Rettung damals neuen Mut eingeflößt hat. Du bist für mich der wichtigste Mensch im Leben. Wenn er dir etwas antäte ...« Davids Stimme erstarb.

Rebekka küsste ihn zärtlich auf den Mund, bevor sie mit sanfter Stimme sagte: »Wir haben uns einmal geschworen, unsere Liebe würde selbst der Tod nicht bezwingen. Was immer auch geschieht, bleib deiner Berufung treu. Sollte der Kreis der Dämmerung mir jemals etwas antun, dann darfst du nicht aufgeben, hörst du, David? Das bist du nicht nur deiner Bestimmung schuldig, sondern auch mir. Vergiss das bitte nie, hast du verstanden?«

David schluckte einen dicken Kloß hinunter. Er zwang sich zu einem Lächeln, nahm Rebekkas Gesicht in beide Hände und erwiderte ihren Kuss. Dann nickte er und versprach mit fester Stimme: »Ich lasse mich nicht unterkriegen. Und außerdem wird dir Negromanus nichts tun. Beim nächsten Mal schneide ich ihm nämlich ein paar lebenswichtige Körperteile ab.«

 

Zwischen zehn und elf Uhr nachts kehrten David und Rebekka ins Haus der Yonais zurück. Kidos Geheimdienstleute hatten das Anwesen des Grafen gründlich untersucht und auch die nähere Umgebung durchkämmt. Von einem lebendigen Schatten gab es weit und breit keine Spur.

»Entschuldigen Sie meinen etwas hysterischen Auftritt von vorhin«, bat David den Hausherrn. Rebekka drückte seine Hand, sagte jedoch nichts. Yachiyoko blickte verlegen zu Boden.

Takeo Yonai dagegen lächelte befreit. Er schien richtig glücklich zu sein, dass er seinem Gast einen Dienst hatte erweisen können – und wenn es auch nur ein unbedeutender gewesen war. »Es ist nicht der Rede wert, Murray-san. Sie haben immerhin Ihren besten Freund verloren. Außerdem war, wie der heutige Vorfall in der Knochenhalle zeigt, Ihre Sorge ja auch nicht ganz unberechtigt. Eine Sorge, wie ich dankbar anmerken muss, die ja auch meine Hausgemeinschaft mit einschloss. So gesehen stehe ich eigentlich in Ihrer Schuld, Murray-san.«

David schüttelte lächelnd den Kopf. »Obwohl ich in diesem Land geboren bin, sind mir die Kinder Nippons in mancher Hinsicht bis heute ein Rätsel geblieben. Wie auch immer, als der Ältere von uns beiden möchte ich Sie und Yachiyoko bitten, Rebekka und mich mit Vornamen anzureden.«

Takeo Yonai erschrak. »Wieso, Murray-san? Habe ich Sie etwa beleidigt?«

David machte eine beschwichtigende Geste. Selbst im engsten Familienkreis sprachen sich Japaner nicht mit Vornamen an, sondern verwendeten Titel wie »Großmutter«, »Vater« oder »kleine Schwester«.

»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch«, sagte er rasch. »Für mich wäre es eine große Ehre, auf diese Weise meine Verbundenheit zu Ihnen und Ihrer Frau ausdrücken zu dürfen.«

Der Hausherr schien noch mit sich zu kämpfen. Vielleicht hatte er seinen Gast ja doch irgendwie brüskiert. Aber der lachte nur und fügte kopfschüttelnd hinzu: »Anscheinend sind wir Engländer in dieser Hinsicht manchmal etwas zu freizügig. Verzeihen Sie mir bitte, Yonai-san. Ich will es Ihnen überlassen, wie Sie mich und Rebekka nennen möchten. Was im Übrigen Ihren Chef betrifft, brauchen Sie sich nicht zu sorgen – er wird von unserer etwaigen Vertraulichkeit nichts erfahren.«

Ein verschwörerisches Lächeln stahl sich auf Takeos Gesicht. Davids letzte Äußerung schien ihm zu gefallen. Er legte seinen Arm um Yachiyokos Schulter und nickte entschlossen. »Also gut, David-kun. Unser Respekt euch gegenüber wird nicht darunter leiden.«

»Dessen bin ich mir sicher, Takeo-kun.«

Zu viert nahm man ein spätes Nachtmahl ein, das in beinahe schon lockerer Atmosphäre stattfand. Wehmütig erinnerte sich David an einen Abend Anfang des Jahres 1913. Er war mit seinen Eltern bei den Itos zu Gast gewesen. Damals hatte er sein katana geschenkt bekommen.

David erzählte, dass er und Rebekka Japan schon bald verlassen würden. Ein kranker Freund in New York erwarte ihren Besuch. Das kleine Paar reagierte auf diese Ankündigung mit echtem Bedauern. Einen Vertrauten des Tennos zu beherbergen sei für sie eine außerordentliche Ehre. Ihr Haus stünde den Murrays jederzeit offen. Gegen zwei Uhr morgens ging man dann endlich zu Bett.

Die Luft im Schlafzimmer war unangenehm stickig. Obgleich zutiefst erschöpft, fand David keinen Schlaf. Rebekka schien dieses Problem überhaupt nicht zu kennen. Ihr Kopf ruhte auf seinem Oberarm und sie atmete tief und gleichmäßig. David spürte die Finger taub werden, veränderte aber seine Haltung nicht, er blieb ruhig auf der Schlafmatte liegen und starrte in die Dunkelheit.

Die Ereignisse des vergangenen Tages ließen ihn nicht los. Negromanus hatte sein Spiel mit ihm getrieben – aber zu welchem Zweck?

David spürte, dass Rebekkas Vermutungen in die richtige Richtung zielten. Doch warum hatte der Schemen nicht einmal versucht sie anzugreifen? In der Zeit, die David von der Knochenhalle nach Hause gebraucht hatte, hätte er doch längst ...

Wie vom Katapult geschnellt fuhr David vom futon hoch. Dadurch wurde auch Rebekka auf unsanfte Weise geweckt.

»Was ist denn los?«, brummte sie unwillig.

»Ich bin ein Narr!« David versuchte verzweifelt Leben in seinen tauben Arm zu bekommen.

»Was?«

»Ein Hohlkopf, ein Dämlack, ein Rhinozeros, ein ...«

»David, hörst du wohl auf! Was ist denn mit einem Mal in dich gefahren?«

»Ich habe ihn erst zu dir geführt.«

»Wen?«

»Na, wen schon? Negromanus! Wir haben uns hier versteckt, weil wir uns sicher fühlten. Das waren wir auch! Bis ich heute Nachmittag ohne jede Vorsicht zu dir zurückgestürmt bin. Ich verdammter ...« Endlich begann es im Arm zu kribbeln. David massierte weiter.

Rebekka legte beruhigend ihre Hand auf seine Brust. »Deine Nerven liegen blank, Liebster. Du bildest dir das alles bestimmt nur ein. Wenn wir erst ...«

»Still!«

Etwas in Davids Stimme alarmierte sie. Erschrocken zog sie die Hand zurück. Ihre Frage war nur mehr ein Hauch: »Was ist?«

»Ich habe so ein ungutes Gefühl.«

»Aber ich kann gar nichts hören.«

»Das ist es ja, was mich beunruhigt. Ich höre auch nichts.«

»Ich habe Angst, David.«

»Bleib ganz dicht bei mir. So bist du am sichersten.«

David erhob sich schnell von der Matratze und lief zu der Reisetasche, in der er seine beiden Schwerter aufbewahrte. Als er wieder bei Rebekka war, flüsterte er: »Halt dich an meinem Hosenbund fest. Nur wenn ich kämpfen muss, gibst du mir Raum, ansonsten lässt du keinesfalls los, verstanden?«

Sie nickte hinter ihm.

»Rebekka?«

»Ich habe verstanden.«

»Dann komm.«

Wie sie waren – er nur mit einer kurzen Pyjamahose, sie mit einem Nachthemd bekleidet –, schlichen sie sich auf den Flur hinaus. Das alles erinnerte David fatal an die Nacht in Blair Castle. Damals hatte Negromanus zwei Unschuldige getötet.

»Wir müssen zum Schlafzimmer von Takeo und Yachiyoko«, raunte er.

»Du denkst an die armen Smails?«

Er antwortete nicht.

Barfüßig schlichen die beiden durch das Haus. Der Mond schüttete sein Licht in die umliegenden Räume und ließ die verschiebbaren Reispapierwände matt erglühen. Die Gastgeber schliefen auf demselben Stockwerk, ganz am Ende des Flurs. Der Durchgang zu ihrem Zimmer stand offen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. David überprüfte noch einmal den Sitz seiner Wakizashi-Scheide. Notfalls konnte er das Kurzschwert in einer einzigen Bewegung herausschnellen lassen. Die Klinge des Langschwerts hielt er aufrecht vor sich. Als er über die Schwelle des Schlafzimmers trat, stellten sich seine Nackenhaare auf. Was er sah, war noch grauenvoller als befürchtet.

Am Boden krümmten sich Takeo und Yachiyoko Yonai auf ihren Schlafmatten. Vor ihnen stand ein dunkler Schemen mit hoch erhobenen Armen. Im Mondlicht konnte David deutlich den Stumpf am linken Arm erkennen. Die Finger der rechten Hand waren aneinander gepresst und wie ein Bogen gespannt. Auf Gesichtshöhe der Gestalt glommen zwei phosphoreszierende Punkte.

»Halt ein, Negromanus!«, schrie David aus vollem Hals. »Lass diese Menschen in Frieden. Dein Feind steht hier.«

Mit diesen Worten wollte er sich auf den Schemen stürzen, um das seiner Frau am Nachmittag gegebene Versprechen einzulösen. Doch etwas hinderte ihn daran. Er hörte eine Naht platzen.

»Lass meinen Hosenbund los, Bekka, schnell!«

Er konnte nicht mit dem Schemen kämpfen, wenn er keine Bewegungsfreiheit hatte. Schon wandte sich Negromanus ihm zu. Wieder hob er die Arme, die er bei Davids Aufschrei hatte sinken lassen. In seinen Augen loderte kaltes grünes Feuer, das Davids Willen zu verzehren drohte. Oder galt Negromanus’ Aufmerksamkeit nun doch Rebekka?

Mit aller Kraft riss sich David von seiner Frau los und stolperte vorwärts. »Komm, gib mir deine andere Hand«, forderte er den Schemen auf, der nun respektvoll zurückwich, »und dann kümmern wir uns um deinen Kopf.«