Das Geheimnis von Carlisle - Lesley Pearse - E-Book
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Das Geheimnis von Carlisle E-Book

Lesley Pearse

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Beschreibung

"Verzeiht mir" - das sind die einzigen Worte, die Flora ihrer Familie hinterlässt, als sie sich das Leben nimmt. Bis zu diesem schrecklichen Tag war ihre Tochter Eva davon überzeugt, in einer heilen, glücklichen Familie zu leben. Doch als sie erfährt, dass Flora ihr ein Atelier in London vermacht hat, von dem sie nie etwas wusste, wird Eva klar, dass sie ihre Mutter kaum gekannt hat. Sie begibt sich auf Spurensuche - und bringt Geheimnisse ans Tageslicht, die vielleicht besser im Verborgenen geblieben wären ...

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

Danksagung

Über die Autorin

Die gefühlvollen Romane von Lesley Pearse sind in England und vielen weiteren Ländern regelmäßig große Bestseller und haben sich weltweit über fünf Millionen Mal verkauft. Neben dem Schreiben engagiert Lesley Pearse sich intensiv für die Bedürfnisse von Frauen und Kindern und ist Präsidentin des Britischen Kinderschutzbundes. Sie lebt in der Nähe von Bristol, liebt ihren Garten und ist stolze Großmutter.

Lesley Pearse

DAS GEHEIMNIS VON CARLISLE

Roman

Aus dem Englischen von

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe: Copyright © 2013 by Lesley Pearse Titel der englischen Originalausgabe: »Forgive Me« Originalverlag: Michael Joseph, Penguin Books Ltd.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, FriedbergTitelillustration: © Trevillion Images /Nic SkertenUmschlaggestaltung: Jeannine SchmelzerE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2283-5

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für meinen Bruder Dr. Michael Sargent und seine wundervolle Frau Jean. Danke dir, Michael, für all die vielen Male, die ich dich mit Fragen über DNA, Gift und weiß Gott noch alles löchern durfte. Schon als kleines Kind hatte ich den Verdacht, dass du dich eines Tages als nützlich erweisen würdest!

PROLOG

Cheltenham, 29. März 1991

Flora streifte ihre Schuhe ab, zog sich ihr Kleid über den Kopf und schleuderte es aufs Bett. Sie wollte gerade ihre Unterwäsche ausziehen, als ihr Blick in den goldgerahmten Standspiegel fiel und sie unwillkürlich innehielt.

Angezogen hatte sie für eine Frau von achtundvierzig noch eine recht gute Figur, aber nackt sah ihr Körper schlaff, ihre Haut fahl aus. Den Gedanken, jemand könnte sie so sehen, sei es auch als Tote, ertrug sie nicht.

Sie öffnete eine Schublade, nahm den Unterrock aus elfenbeinfarbener Seide heraus, der zu ihrem BH und den French Knickers passte, und zog ihn an. »Schon besser«, murmelte sie.

Nachdem sie das Band gelöst hatte, das ihr Haar zusammenhielt, fuhr sie mit den Fingern durch ihre Mähne, bis sie über ihre bloßen Schultern wallte. Ihr welliges tizianrotes Haar war immer ihr auffallendstes Merkmal gewesen, und selbst jetzt erfüllte sie der Anblick trotz ihrer Verzweiflung mit Stolz.

Das Bad war bereits eingelassen; sie hatte sich mit ein paar Schlaftabletten und Brandy gerüstet, und in den nächsten drei Stunden würde niemand nach Hause kommen. Ihr Entschluss stand seit Langem fest, aber erst jetzt kam ihr der Gedanke, dass es den Kindern gegenüber rücksichtsvoller gewesen wäre, wenn sie sich ein Hotelzimmer genommen hätte und von Fremden gefunden worden wäre.

Nachdenklich betrachtete sie das Schlafzimmer. Es spiegelte von der teuren rotgoldenen Tapete, deretwegen Andrew getobt hatte, über das vergoldete Doppelbett bis hin zu dem weichen, luxuriösen Teppich und den kostbaren Vorhängen ihr wahres Wesen wider – übrigens als einziger Raum im Haus, da Andrew diesen Stil eines »Nobelbordells«, wie er es bezeichnete, verabscheute.

Flora wollte hier in diesem Zimmer sterben, für dessen Planung und Umsetzung sie so sehr gekämpft hatte. In allen anderen Dingen hatte sie sich dem Willen ihres Ehemanns gebeugt, dafür hatte Andrew gesorgt. Er behauptete, sie zu lieben und alles nur für sie getan zu haben, aber in Wirklichkeit hatte er ihre wahre Persönlichkeit und Kreativität so sehr unterdrückt, dass sie sich kaum noch erinnern konnte, wie sie einmal gewesen war.

Mit Anfang zwanzig hatte sie Selbstmörder für Feiglinge gehalten. Sie selbst hatte das Leben so sehr geliebt, dass sie jeden Menschen verachtete, der es nicht ebenso enthusiastisch annahm wie sie selbst. Aber damals wusste sie auch noch nicht, was seelisches Leid bewirken und wie sehr eine falsche Entscheidung in einem Moment der Schwäche den Verlauf eines ganzen Lebens bestimmen konnte.

Für Reue war es jetzt zu spät; sie spürte schon die Wirkung der Schlaftabletten. Da Andrew als Erster nach Hause kam, würde er sie finden. Als sie sich über den Frisiertisch beugte, um einen letzten Blick auf die gerahmten Bilder ihrer Kinder zu werfen, war sie schon sehr unsicher auf den Beinen.

Sophie und Ben, siebzehn beziehungsweise achtzehn Jahre alt, grinsten sie vergnügt an. Das Foto der beiden war am 2. Weihnachtsfeiertag aufgenommen worden, während des geselligen Umtrunks vor dem Lunch, den sie jedes Jahr zu Weihnachten für Freunde und Nachbarn veranstalteten. Die beiden waren einander sehr ähnlich – groß, schlank und dunkelhaarig. Sie hatten Andrews Aussehen geerbt, aber Flora hoffte, dass sie niemals so brutal und herrschsüchtig werden würden wie er.

In einem anderen Rahmen befand sich ein Bild von Eva. Es war ebenfalls am zweiten Weihnachtsfeiertag gemacht worden, aber es war kein sehr schmeichelhaftes Foto. Sie war kleiner als ihre Geschwister und sehr hübsch mit ihren Kurven und den schönen blauen Augen, aber das Lila ihres Kleids war zu kräftig für ihre zarten Farben und ließ sie mollig und eher wie dreißig als wie zwanzig wirken. Flora spürte leise Gewissensbisse.

»Ich hätte ein Kleid für dich aussuchen sollen«, seufzte sie. »Rosa oder hellblau, das hätte dir gestanden. Außerdem hätte ich dir beibringen sollen, nie zu versuchen, so zu sein, wie man glaubt, dass andere uns haben wollen. Ich bin ein gutes Beispiel dafür, wohin das führt. Sei dir selbst treu und vergiss nie, dass ich dich geliebt habe.«

Sie musste sich die Tränen verbeißen, als sie ein Gesicht nach dem anderen küsste. Die Zeit wurde knapp; sie merkte, dass ihr schwindlig wurde, und sie musste noch ein paar Zeilen hinterlassen. Sie griff nach dem Notizblock, den sie auf den Nachttisch gelegt hatte, und einem Stift, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, was sie ihnen hatte mitteilen wollen.

»Verzeiht mir«, begann sie. Mehr fiel ihr nicht ein, und irgendwie schien es ausreichend zu sein.

Sie ließ die Notiz auf dem Nachttisch liegen und ging ins angrenzende Bad. Das neue, scharfe Bastelmesser lag auf dem Wannenrand. Sie stieg ins warme Wasser, lehnte sich einen Moment lang zurück, um sich zu wappnen, und hob das Messer auf.

Sie zögerte. Das stählerne Messer lag kalt und schwer in ihrer Hand. Brachte sie es wirklich fertig? Sie hatte Angst vor den Schmerzen – und davor, nicht tief genug zu schneiden, um die Adern zu treffen.

»Keine Schuldgefühle mehr«, murmelte sie. »Kein So-tun-als-ob mehr. Das alles wird bald für immer vorbei sein.«

Das Messer in der Linken, zog sie die Klinge rasch über ihr rechtes Handgelenk, wechselte dann die Hand und schnitt sich ins linke Gelenk, bevor die Schmerzen sie daran hindern konnten. Zu ihrer Überraschung tat es nicht weh, und daran, wie das Blut stetig zu strömen begann, erkannte sie, dass sie tief genug geschnitten hatte.

Sie ließ ihre Arme ins warme Wasser sinken und beobachtete, wie es sich rötlich färbte.

Es war getan.

KAPITEL 1

Als Bette Midlers From a Distance lief, stellte Eva das Autoradio lauter und sang mit. Es war kalt und es regnete, aber sie war guter Laune, weil Olive, ihre Chefin, allen erlaubt hatte, früher zu gehen, als die Heizung ausfiel. Eva wollte heute Abend mit ein paar Mädchen von der Arbeit auf eine Make-up-Party gehen, und jetzt blieb ihr mehr Zeit, um sich die Haare zu waschen und sich zurechtzumachen.

Sie bog in die Auffahrt, musste aber scharf bremsen, weil das schmiedeeiserne Tor zu ihrer Überraschung geschlossen war. Erst knapp vor dem Tor kam der Wagen zum Stehen. »Verdammt!«, rief sie. Nicht nur, dass sie um Haaresbreite das Tor angefahren hätte, jetzt würde sie auch noch klatschnass werden, weil sie es öffnen musste!

Am Ende der Auffahrt, direkt neben dem Haus, stand der rote Polo ihrer Mutter. Eva starrte das Auto verwirrt an. Wenn ihre Mutter daheim war, warum hatte sie dann das Tor geschlossen?

Obwohl sie verärgert war, weil sie in den Regen hinaus musste, fiel Eva auf, wie fröhlich und farbenfroh die Randbeete mit Narzissen und anderen Frühlingsblumen entlang der weitläufigen Rasenfläche aussahen. So unstet ihre Mutter in mancher Hinsicht sein mochte, ihren Garten pflegte sie liebevoll – wenn es nicht so stark regnen würde, wäre sie jetzt bestimmt draußen beschäftigt.

Eva sprang schnell wieder in ihr Auto, fuhr die Einfahrt hinauf und parkte gleich hinter dem Polo, bevor sie durch den Torbogen hastete, der zu den ehemaligen Stallungen führte. Vor einigen Jahren hatten ihre Eltern den Innenhof begrünt und einen Swimmingpool in das Stallgebäude einbauen lassen. Der Hof war ein schönes, sonniges Plätzchen; die Wände, die ihn umgaben, schirmten ihn vor dem Wind ab, und Anfang März war das Wetter so mild gewesen, dass sie sonntags nach dem Mittagessen ein paar Stunden draußen sitzen konnten.

Die Hintertür war nicht abgesperrt. Eva hängte ihren Mantel auf und ging in die Küche, wo ihre Mutter jetzt vermutlich gerade dabei war, das Abendessen vorzubereiten. Aber Flora war nicht da. Die Küche war blitzblank geputzt und aufgeräumt und sah mit der sorgfältig arrangierten Obstschale und der Vase mit Narzissen auf der Arbeitsfläche aus schwarzem Marmor aus, als würde sie demnächst in einer Ausgabe von Home & Gardens abgebildet.

Das schien eher ungewöhnlich, denn ihre Mutter war von Natur aus nicht besonders ordentlich. Wenn Dad ein paar Tage geschäftlich unterwegs war, ließ sie die Dinge gern schleifen. Manchmal, wenn Eva abends nach Hause kam, war der Frühstückstisch immer noch nicht abgeräumt. Aber Dad war pingelig und hatte es gern, wenn alles gut in Schuss war, deshalb traf Eva beim Heimkommen ihre Mutter fast immer dabei an, wie sie hektisch hin und her sauste, Sachen gerade stellte, putzte und aufräumte, bevor er kam.

Dass heute im Haus alles tipptopp in Ordnung war – nicht einmal benutzte Gläser oder Becher standen herum –, konnte nur bedeuten, dass Dad früher zurückkam oder Besuch erwartet wurde.

»Ich bin da, Mum«, rief Eva. »Wo bist du?«

Als keine Antwort kam, schaute sie ins Wohnzimmer und den Wintergarten und danach in die Bibliothek und das Esszimmer. Ihre Mutter war nirgendwo zu sehen, und die Zimmer waren ebenso makellos wie die Küche. Außerdem war es bedrückend still – normalerweise lief das Radio.

Eva blieb einen Moment lang ratlos am Fuß der Treppe stehen. Ihre Mutter konnte in ihren Stimmungen sehr schwankend sein; an manchen Tagen buk sie mehrere Sorten Kuchen und kochte auf Vorrat Mahlzeiten, um sie einzufrieren, an anderen war sie kaum dazu zu bewegen, einen Dosenöffner zu benutzen. Aber eins blieb stets unverändert – sie hieß ihre Familie beim Heimkommen immer willkommen

Normalerweise reichte es schon, wenn sie Evas oder Dads Auto in der Einfahrt hörte, dass sie alles, was sie gerade tat, stehen und liegen ließ, um ihnen entgegenzulaufen und sie zu begrüßen.

Wie bei vielen georgianischen Häusern war die Eingangshalle groß und imposant, mit einer Treppe aus massiver Eiche, die einen eleganten Bogen beschrieb und wie eine Galerie rund um den ersten Stock verlief. Im Dach befand sich ein Oberlicht, und wenn die Sonne schien, fiel helles Tageslicht auf die Stufen. Heute war der Himmel düster, und Regentropfen prasselten auf das Glas.

Eva lief die Treppe hinauf und rief erneut nach ihrer Mutter. Als immer noch keine Antwort kam, fragte sie sich, ob ihre Mutter wieder an einer ihrer Migräneattacken litt und sich hingelegt hatte. Vielleicht sollte sie lieber nicht rufen, um sie nicht zu stören.

Alle fünf Schlafzimmer und die zwei Badezimmer gingen von der Galerie ab. Als Eva oben war und feststellte, dass die Schlafzimmertür ihrer Eltern offenstand, bezweifelte sie, dass ihre Mutter schlief. Sie spähte hinein. Auf dem Bett lag ein Kleid, was nahelegte, dass Flora sich umgezogen hatte, vielleicht um einen Spaziergang zu machen. Angesichts des strömenden Regens war das allerdings eher unwahrscheinlich.

Evas Verwirrung wuchs, als sie in jedes einzelne Schlafzimmer schaute. Ihr fiel ein, dass die Hintertür nicht abgeschlossen gewesen war. Mum würde sie nie offen lassen, nicht einmal, um auf einen Sprung zu den Nachbarn zu gehen.

Eine Tür, hinter der sich eine schlichte Holztreppe verbarg, führte zu drei winzigen Dachkammern. Früher einmal hatten hier die Dienstboten geschlafen, heute waren zwei davon Gästezimmer, die außer zu Weihnachten oder bei anderen besonderen Anlässen, wenn jemand über Nacht blieb, kaum benutzt wurden. Das dritte Zimmer diente als Abstellkammer. Obwohl kaum anzunehmen war, dass sich ihre Mutter da oben aufhielt, schaute Eva sicherheitshalber nach. Aber auch dort war sie nicht.

In den letzten Wochen hatte ihre Mutter sehr in sich gekehrt und entrückt gewirkt. Eva hatte sie mehrmals dabei ertappt, wie sie ins Leere starrte, als wäre sie in ihrer eigenen Welt. Erst vor zwei Tagen hatte Eva mit Ben, ihrem jüngeren Bruder, darüber gesprochen. Er war der Meinung gewesen, dass es an Floras Alter lag, weil er gehört hatte, dass alle Frauen ein bisschen komisch wurden, wenn sie in den Vierzigern waren. Jetzt, da Eva zusehends nervöser wurde, wünschte sie, sie hätte Dad von ihrer Beobachtung erzählt, auch auf das Risiko hin, von ihm verspottet zu werden.

In der Hoffnung, dort einen Hinweis zu finden, betrat Eva das Schlafzimmer ihrer Eltern. Das Kleid, das auf dem Bett lag, hatte ihre Mutter beim Frühstück getragen. Dad hatte sie sarkastisch gefragt, ob sie die Absicht habe, einen Tanztee zu besuchen, weil es ein altes Kleid aus den Vierzigerjahren war, aus smaragdgrünem Wollkrepp mit einem kleinen Anstecksträußchen aus hellgrünen Samtblumen am Oberteil.

Flora liebte Vintage-Kleidung, und ihr Schrank war mit alten Kleidern aus Samt, Chiffon und Crêpe angefüllt. Sie sagte, die Sachen kämen aus einer vornehmeren Epoche, in der Frauen noch wie Frauen ausgesehen hatten. Dad machte sich gern über den Modestil seiner Frau lustig. In seinen Augen waren ihre Vintage-Modelle einfach gebrauchte Klamotten, und er war der Meinung, die Ehefrau des Vertriebsleiters einer der europaweit größten Firmen für Papiererzeugnisse müsste sich ihrer Stellung entsprechend kleiden.

Aber obwohl Dad sonst fast immer seinen Kopf durchsetzte, hatte er in diesem Punkt nachgegeben, weil alle anderen sich einig waren, wie gut Flora die Vintage-Kleider standen. Mit ihren roten Locken, den kurvigen Formen und der hellen Haut erinnerte sie an einige Filmstars der 1940er. Crêpe-Kleider mit zipfeligem Saum, perlenbestickte Boleros und enge Jacken mit Schößchen passten ebenso gut zu ihrer Figur wie zu ihrem Wesen. Die Sachen waren vielleicht nicht besonders praktisch, aber praktisch zu denken war auch nicht unbedingt Flora Pattersons starke Seite.

Als Eva im Schlafzimmer stand, musste sie an den furchtbaren Streit denken, den ihre Eltern gehabt hatten, als Dad von einer Geschäftsreise zurückkam und feststellen musste, dass Mum dieses Zimmer völlig neu eingerichtet hatte. Eva war sich nie ganz sicher gewesen, ob ihr nur der Kontrast zwischen der schlichten Sachlichkeit im übrigen Haus und der grandiosen und dekadenten Pracht dieses in Rot und Gold gehaltenen Zimmers oder die Einrichtung selbst gefiel, aber sie bewunderte ihre Mutter aufrichtig, nicht nur, weil sie die Gestaltung selbst geplant und die Vorhänge, den Teppich und die französischen Nussbaummöbel während Dads Abwesenheit beschafft hatte, sondern auch, weil sie nicht klein beigegeben hatte, als er deshalb einen Wutanfall bekam. Sie habe Anspruch auf ein Zimmer im Haus, das ganz ihr gehörte, hatte sie erklärt.

Obwohl es wenig wahrscheinlich war, dass Mum dem Regen getrotzt hatte, um etwas im Garten oder in der Garage zu erledigen, würde es immerhin erklären, warum sie sich umgezogen hatte. Eva trat ans Fenster und schaute hinaus.

Leute, die an dem gewaltigen Tor und der geschwungenen Einfahrt vorbeigingen, nahmen automatisch an, der Garten hinter dem Haus müsse riesig sein. Das war er auch einmal gewesen, aber als ihre Eltern das Haus kauften, war es in einem so schlechten Zustand, dass sie das Land hinter dem Haus verkauften, um sich die Renovierung leisten zu können. Die Baufirma, die den Grund erworben hatte, hatte darauf eine kleine Anlage exklusiver Einfamilienhäuser errichtet.

Jetzt gab es im hinteren Bereich nur noch einen schmalen Streifen Grün und eine zweieinhalb Meter hohe Mauer, die ihre Privatsphäre schützte. Aber hier, im vorderen Teil des Hauses, konnte man sich immer noch vorstellen, wie The Beeches einmal ausgesehen hatte, als es vor zweihundert Jahren erbaut worden war, weil die Bäume und Sträucher, die entlang des Rasens wuchsen, jeden Blick auf die neueren Nachbarhäuser verhinderten. Eva konnte vom Fenster aus die Garage, die seitlich ans Haus angebaut war, nicht sehen, aber falls die Tür geschlossen und ihre Mutter beschäftigt war, hatte sie Evas Wagen vielleicht nicht gehört.

Aber als sie sich vom Fenster abwandte, fiel ihr auf, dass die Tür des angrenzenden Badezimmers geschlossen war, und das war genauso untypisch wie die auf Hochglanz gereinigte Küche. Abgesehen von den Dienstagen, an denen ihre Putzfrau Rose kam, zog sich oft ein Pfad abgelegter Kleidungsstücke vom Bett zum Bad, und Schranktüren und Schubladen standen weit offen.

»Mum, bist du da drin?«, rief sie.

Niemand antwortete, aber sie ging trotzdem zur Tür und hämmerte energisch an die Füllung. Dann drückte sie auf die Klinke und öffnete die Tür weit genug, um hineinzuspähen.

Zu ihrer Erleichterung konnte sie am Ende der altmodischen Badewanne mit den Klauenfüßen den Kopf ihrer Mutter sehen.

»Ach, da bist du ja! Tut mir leid, dass ich so hereinplatze. Ich hab mir schon Sorgen gemacht …«

Sie brach abrupt ab, als ihr auffiel, dass das Badewasser so rot war wie das Haar ihrer Mutter.

»Mum!«, schrie sie und stürzte ins Bad. »Mum! Was ist denn los?«

Aber als sie das bleiche Gesicht ihrer Mutter und ihre weit offenen und doch blicklosen Augen sah, wusste Eva, dass sie tot war, und das blutbeschmierte Messer, das neben der Wanne auf dem Boden lag, verriet ihr, wie es passiert war.

Nichts in Evas Leben hatte sie auf einen derart schockierenden Anblick vorbereitet. Sie stieß einen Schrei aus und stürzte aus dem Zimmer.

Es dauerte eine Weile, bis sie sich aufraffen konnte, ins Schlafzimmer zurückzugehen, zum Telefon zu greifen und 999 zu wählen. Sowie sie stammelnd hervorgebracht hatte, was sie im Haus vorgefunden hatte, lief sie in den Flur zurück und sank auf dem Boden in sich zusammen, zu erschüttert und entsetzt über das, was sie gerade gesehen hatte, um nach unten zu gehen.

Das Warten schien endlos zu dauern. Alles, was sie hörte, waren die Regentropfen, die auf das Oberlicht prasselten, und ihr Herzschlag, der viel zu schnell ging. Sie schlang beide Arme um ihre Knie und schluchzte.

Nichts war an diesem Morgen geschehen, was Eva auf die Vermutung gebracht hätte, irgendetwas könnte nicht in Ordnung sein. Das Frühstück war völlig normal verlaufen, und abgesehen von Dads sarkastischer Bemerkung über Floras Kleid war nichts Ungewöhnliches gesagt worden. Mum hatte wie üblich eine Kanne Tee gemacht und eine Tasse getrunken; Sophie und Ben hatten Cornflakes gegessen. Flora war wie immer gewesen, hatte Sophie gefragt, ob sie ihre Turnsachen dabei hatte, und Ben ermahnt, zu Mittag etwas Anständiges zu essen, nicht nur eine Tüte Chips. Sie hatte jedem von ihnen einen Kuss gegeben, als sie das Haus verließen, und Dad sogar noch gebeten, seinen besten Anzug von der Reinigung abzuholen. Wusste sie in diesem Moment bereits, was sie tun würde? Und warum hatte sie das ganze Haus geputzt? Glaubte sie, ihr Tod wäre für ihre Familie weniger tragisch, wenn ihr Zuhause tadellos in Ordnung war?

Als Eva in der Ferne die Sirene hörte, war sie außerstande sich zu rühren. Noch viel weniger konnte sie sich vorstellen, mit der Polizei oder den Sanitätern zu sprechen.

Plötzlich wurde die Stille durch das Geräusch von Reifen auf Kies und laute Männerstimmen unterbrochen. Die ihres Vaters war auch dabei; er musste gleichzeitig mit dem Rettungsdienst eingetroffen sein. Eva, die wusste, dass er Ben und Sophie bei sich haben würde, hatte das Gefühl, ihre Geschwister vor dem, was sie selbst gesehen hatte, bewahren zu müssen, und rappelte sich hoch.

Aber noch bevor sie bei der Treppe war, konnte sie Dad in der Eingangshalle reden hören. Anscheinend hatte er die Vordertür aufgesperrt, um die Polizei ins Haus zu lassen.

»Da muss ein Irrtum vorliegen«, sagte er verärgert. »Sind Sie sicher, dass es kein dummer Scherz war? Ja, das ist das Auto unserer älteren Tochter, aber hat sich die Anruferin mit dem Namen Eva Patterson gemeldet?«

»Daddy!«, rief Eva und klammerte sich ans Treppengeländer. »Ich habe angerufen. Lass Ben und Sophie nicht hier rein!«

Auf einmal schien es, als würde ein Dutzend Menschen durcheinanderreden. Schwere Schritte waren zu hören, und Sophie schrie: »Was ist denn los?«

Eva fühlte sich, als würde sie sich mitten in einem schlimmen Albtraum befinden. Aber sie wusste, dass sie nicht aufwachen und feststellen würde, dass alles nur ein Traum war. Sie hatte wirklich Badewasser gesehen, das rot von Blut war. Sie hatte wirklich Mums Arm angehoben und den Schnitt an ihrem Handgelenk gesehen. Und sie hatte sich das blutbefleckte Messer, das auf dem Fußboden lag, nicht eingebildet.

Als die Sanitäter die Treppe hinaufgeeilt kamen, drehte sie sich um und zeigte auf das Schlafzimmer ihrer Eltern. Der dunkelrote Teppich, der dort den Boden bedeckte, sah wie eine Blutlache aus, und ihr Magen rebellierte. Unten konnte sie Sophie kreischen hören, und auch Ben, dessen Stimme schrill vor Angst war, und dann Dad, der ihnen befahl, Ruhe zu geben. Eva spürte, wie sich alles um sie drehte. Sie musste in Ohnmacht gefallen sein, denn das Nächste, was sie mitbekam, war, dass sie auf dem Boden lag und eine Polizistin neben ihr kniete.

»Na, na«, sagte sie beruhigend. »Sie haben einen furchtbaren Schock erlitten. Kommen Sie, gehen wir nach unten, dann mache ich Ihnen eine Tasse Tee.«

Constable Sandra Markham war achtunddreißig und seit zwölf Jahren beim Polizeirevier Cheltenham. Sie stand in dem Ruf, ein gutes Gespür dafür zu haben, bei häuslichen Auseinandersetzungen die Lage einzuschätzen – zu erfassen, welcher von zwei streitenden Eheleuten der Gewalttätige, der Lügner, der Despot war. Ihre Meinung galt viel, weil sie eine gute Beobachterin war, Körpersprache zu deuten vermochte und sich außerdem gut darauf verstand, Menschen zum Reden zu bringen.

Hunderte Male war sie dabei gewesen, wenn es galt, Angehörigen die Nachricht von einem Todesfall oder schweren Unfall zu überbringen. Die Reaktionen fielen jedes Mal anders aus. Manche Menschen wollten es einfach nicht glauben, während andere bereits ahnten, was kommen würde, sowie sie Polizisten in Uniform vor sich sahen. Manche vergossen keine Träne und blieben stumm, andere schluchzten und schrien, und zwischen diesen beiden Extremen gab es alle möglichen Varianten. Aber in keinem Fall, wo ein Kind Vater oder Mutter verloren hatte, hatte sie jemals erlebt, dass der verbliebene Elternteil, egal wie groß Kummer und Schock waren, nicht die Kraft aufgebracht hätte, das Kind zu trösten.

In den drei Stunden, die Constable Markham sich jetzt im Haus der Familie Patterson aufhielt, war ihr nicht aufgefallen, dass Andrew Patterson auch nur ein einziges Mal den Versuch gemacht hätte, seiner Tochter Eva beizustehen.

Andrew Patterson war mit seinen beiden jüngeren Kindern gleichzeitig mit der Polizei eingetroffen. Er war direkt hinter den beiden Polizeibeamten die Treppe hinaufgegangen, und Sandra Markham war ihm gefolgt. Seiner älteren Tochter, die wie ein Häufchen Elend auf dem Treppenabsatz kauerte, hatte er nicht einmal einen Blick gegönnt, als er ins Schlafzimmer stürzte.

Das war angesichts der Umstände vielleicht verständlich. Aber als er einige Minuten später aus dem Zimmer kam und Markham gerade versuchte, Eva aufzuhelfen und sie nach unten zu bringen, rief seine Tochter nach ihm, und er ignorierte sie.

Nachdem Markham Eva in die Küche gebracht hatte, stellte sie ihr ein paar Fragen, um die Schritte des Mädchens vom Zeitpunkt ihres Kommens bis zu dem Moment, als sie ihre Mutter fand, zu rekonstruieren.

Die eigene Mutter tot in einer Wanne voll Blut vorzufinden, musste eines der schlimmsten Dinge sein, die einem Menschen zustoßen konnten, insbesondere, wenn man so jung war. Aber Patterson kam nicht ein einziges Mal auf die Idee, einen Arm um Eva zu legen oder auch nur das leiseste Anzeichen von Sorge um sie zu zeigen.

Manchmal wirkten Menschen in Fällen wie diesen zu benommen vom Schock, um wirklich zu erfassen, was um sie herum vorging. Aber Patterson hörte aufmerksam zu, und als Eva erwähnte, dass die Küche wie ein Ausstellungsraum ausgesehen habe, unterbrach er sie mit der schroffen Frage, warum sie das ungewöhnlich fand, als wollte er unterstellen, dass sie dummes Zeug redete.

Das Haus war makellos sauber und ordentlich und machte auf Markham den Eindruck, als würde es immer so aussehen. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Eva es extra erwähnt hätte, wenn das der Fall wäre. Versuchte Patterson, etwaige Unzulänglichkeiten seiner Frau zu vertuschen? Konnte es sich hier um einen Reibungspunkt handeln, der Flora Patterson bewogen hatte, sich das Leben zu nehmen?

Andrew Patterson war fraglos ein sehr attraktiver und offensichtlich auch erfolgreicher Mann: Eins achtzig groß, athletischer Körperbau, dunkles Haar mit einer Andeutung von Grau an den Schläfen, gute Zähne und sehr dunkle Augen. Sein Schock und sein Entsetzen über den Tod seiner Frau wirkten echt, aber der Mangel an Mitgefühl für seine ältere Tochter war verdächtig.

Zwischen Ben und Sophie, den beiden jüngeren Kindern, bestand nur ein Jahr Altersunterschied, und so ähnlich, wie sie sich waren – beide groß, schlank und mit den dunklen Augen und Haaren ihres Vaters –, hätten sie durchaus Zwillinge sein können. Markham hatte die Mutter nicht gesehen, aber sie nahm an, dass Eva nach ihr schlug, da sie viel kleiner war und blaue Augen und hellbraunes Haar hatte.

Da Patterson sie während des Verhörs mehrfach unterbrach und auch weil Sophie jammernd und heulend herumlief, setzte sich Markham mit Eva ins Wohnzimmer.

So verstört sie auch war, es bestand kein Zweifel, dass Eva Patterson ein warmherziges, vernünftiges Mädchen war. Sie schaffte es, klar und deutlich zu berichten, was geschehen war, und schien ängstlich besorgt um ihre Geschwister. Auch wenn sie keine auffallende Schönheit wie ihre Schwester war, hatte sie ein anziehendes Gesicht, und irgendetwas an ihr weckte in Markham den Wunsch, sie in die Arme zu nehmen und an sich zu drücken.

Zum Teil lag es daran, dass Eva ein bisschen altmodisch und brav wirkte. Ihr Haar war im Nacken zusammengebunden, und ihr marineblaues Kostüm mit der weißen Bluse und den schlichten Pumps war für ein Mädchen von knapp einundzwanzig Jahren viel zu bieder. Trotzdem hatte Markham das Gefühl, dass sie wesentlich weltgewandter war, als ihr Äußeres vermuten ließ.

Normalerweise waren junge Mädchen, wenn Markham sie nach einem Unglücksfall befragte, nicht in der Lage, ihre Gefühle zu beherrschen. Eva hingegen berichtete halbwegs gefasst, wie verärgert sie gewesen war, als sie das Tor zur Einfahrt geschlossen vorfand, wie verwirrt, weil die Hintertür nicht abgesperrt und kein Zeichen von ihrer Mutter zu sehen war. Aber als sie den Augenblick beschrieb, in dem sie ihre Mutter fand, war sie einem Zusammenbruch so nahe, dass Markham daran dachte, das Verhör zu beenden. Doch Eva riss sich sichtlich zusammen, und ihre Sorge galt nicht in erster Linie der eigenen Person, sondern der Frage, was ihre Mutter zu dieser Tat getrieben haben könnte.

»Würden Sie sagen, dass Ihre Eltern eine gute Ehe geführt haben?«, fragte Markham behutsam. Das Haus war schön und luxuriös, und es war schwer vorstellbar, warum eine Frau hier nicht glücklich sein sollte. Aber sie wusste aus Erfahrung, dass der Schein trügen konnte.

Eva nickte mit Tränen in den Augen. »Ich glaube schon, auch wenn sie vom Wesen her sehr verschieden waren. Dad ist ruhig und sehr organisiert, und er mag es, wenn alles andere genauso ist. Mum konnte ziemlich chaotisch sein.«

»Ist Ihnen in letzter Zeit eine Veränderung, sei sie auch noch so geringfügig, an ihr aufgefallen? Wirkte sie besorgt oder nervös? War sie krank?«

»Eigentlich nicht. Sie war ein bisschen in sich gekehrt, aber so war sie immer wieder mal.«

An dieser Stelle hob Markham den Kopf und bemerkte, dass Patterson in der Tür stand und zuhörte. Sein Gesichtsausdruck verriet keine Sorge um Eva, sondern eher um das, was sie sagte. Markham fragte sich nicht nur, warum ihm das so wichtig war, sondern auch, warum ihre Kollegen nicht dafür gesorgt hatten, dass er bei den beiden anderen Kindern in der Küche blieb.

Es gab keinen Anhaltspunkt, etwas an Floras Tod verdächtig zu finden. Die Art, wie sie lag, das Fehlen jeglicher Anzeichen für einen Kampf und das Messer, das vom Badewannenrand gefallen war, lieferten den eindeutigen Beweis, dass es sich um Selbstmord handelte. Zudem wies die feine Unterwäsche aus cremefarbener Seide ebenso wie die lapidare Mitteilung »Verzeiht mir«, die sie im Schlafzimmer hinterlegt hatte, darauf hin, dass sie die Tat im Voraus geplant hatte.

Dennoch, es musste einen Grund geben, warum eine Frau, die alles zu haben schien – ein schönes Zuhause, drei Kinder, finanzielle Sicherheit –, beschloss, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Heimliche Schulden, eine tödliche Krankheit, eine unglückliche Ehe oder eine Affäre, das alles waren mögliche Gründe, und vielleicht würden später noch andere Dinge ans Tageslicht kommen. Constable Markham war überzeugt, dass Andrew Patterson den Grund bereits kannte oder wenigstens ahnte, aber er war nicht der Typ Mann, der etwas preisgeben würde, was ein schlechtes Licht auf ihn werfen könnte.

Was Eva anging, so bewies ihre völlige Fassungslosigkeit, dass sie nichts wusste. Markham konnte nur hoffen, dass die Autopsie oder die amtliche Untersuchung den drei Kindern Antworten liefern würde. Sich den Rest des Lebens zu fragen, warum ihre Mutter das getan hatte, wäre reine Folter.

Viel später am selben Abend, nachdem Floras Leichnam in die Gerichtsmedizin gebracht worden war und die Polizei das Haus verlassen hatte, saß Eva mit ihrem Tee, der längst kalt geworden war, am Küchentisch. Sie fühlte sich wie betäubt.

Ben, der immer noch seinen marineblauen Schulblazer anhatte, saß mit geröteten, verschwollenen Augen neben ihr. Er schien sich genauso zu fühlen wie sie, sagte kein Wort, nahm nur gelegentlich stumm ihre Hand in seine. Ihr Vater saß ihnen gegenüber am Tisch, trank grimmig Whiskey und stieß hin und wieder fragende Worte hervor, die keine Antwort zu erfordern schienen.

Sophie war die Einzige, die nicht einen Moment Ruhe gegeben hatte. Sie war in der Küche auf und ab gelaufen, einen Moment lang lauthals schluchzend, im anderen voller Zorn auf ihre Mutter, die ihnen so etwas angetan hatte. Als niemand von ihrer Familie reagierte, stürzte sie hinaus und hängte sich ans Telefon, um sich bei einer Freundin auszuweinen.

Irgendwann sah Eva auf die Uhr und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass es erst halb zwölf war. Ihr kam es so vor, als hätte sie die ganze Nacht hier gesessen. Sie wollte auf ihr Zimmer gehen, nicht um zu schlafen – sie bezweifelte, dass sie dazu imstande wäre –, sondern einfach nur, um der beklemmenden Atmosphäre zu entkommen.

Die Geschehnisse der vergangenen Stunden verwischten sich zu wirren, unscharfen Bildern. Es hatte ein ständiges Kommen und Gehen geherrscht, unendlich viel Lärm und Durcheinander. Sie erinnerte sich, dass jemand, wahrscheinlich ein Arzt, gesagt hatte, Flora wäre ungefähr zwei Stunden tot gewesen, als Eva sie fand. Sie fragte sich, warum sie sich daran erinnerte, wenn alles andere verschwommen blieb.

Irgendwann hatte Dad geweint. Sie hatte versucht, ihn zu trösten, aber er stieß sie weg, fast als gäbe er ihr die Schuld. Ein weiterer furchtbarer Moment war es gewesen, als Mums Leichnam auf einer Bahre die Treppe hinuntergetragen wurde. Sophie schrie wie eine Wahnsinnige: »Nein, nein, bringt sie nicht weg!«, und als Eva versuchte, sie zu beruhigen, und ihr erklärte, die Polizei müsse sie mitnehmen, hatte Sophie ihr an den Kopf geworfen: »Dich lässt das wohl alles kalt!«

Constable Markham war sehr nett zu ihr gewesen. Sie hatte gesagt, dass Menschen in derartigen Situationen oft verletzende Dinge sagten und dass sie es sich nicht zu Herzen nehmen solle. Eva fand es seltsam, dass vieles von dem, was passiert war, allmählich verblasste; das Einzige, was sie noch glasklar vor sich sah, war das weiße Gesicht ihrer Mutter über dem blutigen Badewasser. Dieses Bild stand ihr ständig vor Augen.

Stimmte es, dass die Polizei eine Nachricht gefunden hatte, auf der nicht mehr als »Verzeiht mir« stand?

Wie konnte Mum sich von ihnen verabschieden, ihrem Mann und jedem ihrer Kinder einen Kuss geben, anschließend das Haus von oben bis unten putzen und dann so etwas tun?

Warum? Was war so schrecklich in ihrem Leben gewesen, dass sie es keine Minute länger ertragen konnte?

Früher am Tag hatte sie gehört, wie Dad mit einem der Polizeibeamten sprach. »Ich habe Flora alles gegeben, was sie sich wünschte«, sagte er. »Dieses Haus, Urlaube, sie konnte sich kaufen, was sie wollte, tun und lassen, was ihr gefiel. Sie hat ihre Kinder geliebt. Wie konnte sie uns das antun?«

»Es gibt nicht immer eine Erklärung für eine solche Tat«, hatte der Polizist geantwortet.

Aber genau das brauchten sie: eine Erklärung; sie waren alle verstört und fassungslos. Falls Mum eine tödliche Krankheit hatte, falls sie den Verstand verloren oder heimlich ungeheure Schulden angehäuft hatte, würde das Ganze wenigstens irgendeinen Sinn ergeben.

Noch nie hatte Eva sich so hilflos gefühlt wie jetzt. Als Älteste war immer sie es gewesen, die Streitereien zwischen Sophie und Ben geschlichtet hatte. Wenn sie mit Mum oder Dad Ärger hatten, war sie für ihre Geschwister eingetreten. Jetzt hätte sie gern versucht, die beiden zu trösten, ihnen zu versichern, dass sie das alles durchstehen würden. Aber sie konnte es nicht; ihr fehlten nicht nur die Worte, sondern auch der Wille. Dad, Ben, Sophie – sie alle schienen Fremde zu sein, nicht ihre Familie.

Sie hatte ihren Vater in keiner Lage jemals anders als selbstbewusst, ruhig und entschlossen erlebt. Ihre Freundinnen behaupteten, er sähe aus wie Pierce Brosnan und wäre für einen Mann in mittleren Jahren ziemlich attraktiv, aber für Eva war er einfach ihr Dad: tatkräftig und autoritär, nicht besonders humorvoll, aber stets verlässlich. Weder neigte er dazu, seine Gefühle zur Schau zu stellen, noch war er der warmherzige Typ, dem man sich anvertrauen konnte. Mum hatte ihm oft vorgeworfen, gefühllos zu sein.

Aber als sie jetzt beobachtete, wie er noch ein großes Glas Whiskey trank und immer wieder »Verzeiht mir« vor sich hin murmelte, ähnelte er in nichts mehr dem Mann, der immer so beherrscht und unerschütterlich wie ein Fels gewesen war.

Sophie und Ben schlugen beide nach ihm. Bens Haar war so, wie das von Dad einmal gewesen war, und fiel ihm in dichten, dunklen Wellen in die Stirn. Mit achtzehn war er so dünn wie eine Bohnenstange, und obwohl ihm jeder versicherte, er würde schon noch zulegen, verzweifelte er manchmal an der Frage, ob er je so muskulös gebaut sein würde wie einige seiner Freunde.

Sophie war siebzehn und bildhübsch – eins zweiundsiebzig groß mit endlos langen, schlanken Beinen, schimmerndem dunklem Haar und einer perfekten Figur. Sie hatte kürzlich beschlossen, Schauspielerin zu werden, und Eva hatte in einem Moment der Gereiztheit zu ihr gesagt, dass sie ohnehin schon eine Drama-Queen wäre.

Heute Abend hatte sie sich auf jeden Fall so aufgeführt: Sie hatte geschrien, geheult und lauthals verkündet, sie würde sich am liebsten auch umbringen – sogar als die Polizei noch im Haus war. Und immer wieder kaute sie durch, was passiert war, fast als hätte sie dieses häusliche Drama in eine Art Raserei versetzt. Sie hatte sogar ein paar Schulfreundinnen angerufen, um ihnen alles brühwarm zu berichten.

Eva fand, in diesem Moment hätte Dad sich zusammenreißen und Sophie verbieten müssen, etwas derart Persönliches auszuplaudern. Jetzt würde es sich bis morgen in ganz Cheltenham herumsprechen. Doch er schien gar nicht zu registrieren, was Sophie tat. Aber was Eva am meisten aufbrachte, war, dass ihre Schwester nur daran dachte, inwieweit diese Tragödie sie selbst betraf.

»Was werden die Leute von mir denken?«, hatte sie gesagt, kurz bevor sie die Geschichte selbst weitererzählte. »Wie konnte Mum nur so egoistisch sein? Gerade jetzt hätte ich sie so dringend gebraucht! Sie sollte sich doch über Schauspielschulen schlau machen«, sagte sie später, anscheinend ohne zu merken, wie unglaublich egozentrisch ihre Bemerkung war.

Eva liebte Sophie, aber sie war von klein auf ein verzogenes Gör gewesen. Was sie sich auch wünschte, sie bekam es. Mit sieben wollte sie Ballettstunden nehmen. Sie hatte noch kein halbes Jahr den Unterricht besucht, als sie einen Wutanfall bekam, weil sie für eine Aufführung nicht ausgewählt worden war. Dad versuchte, vernünftig mit ihr zu reden und ihr zu erklären, dass sie dafür noch nicht gut genug wäre und im nächsten Jahr bestimmt auf der Bühne stehen würde, aber sie wollte nichts davon hören und weigerte sich, weiter Stunden zu nehmen.

Als Nächstes wünschte sie sich ein Pony, und sie redete von nichts anderem, bis sie eins bekam –Pepper. Schon nach zwei Monaten weigerte sie sich, das Tier auch nur zu füttern, geschweige denn zu reiten. Sie behauptete, Pepper würde schlecht riechen.

Auch Eva hätte gern ein Pony gehabt, und sie fragte, ob sie sich um Pepper kümmern dürfe. Sie hatte nie Reitstunden gehabt wie Sophie, traute sich aber zu, es schnell zu lernen.

»Ich habe nicht vor, noch mehr Geld zum Fenster rauszuwerfen«, sagte Dad mit dieser Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Pepper wird verkauft, basta!«

Eva sah ihrer Mutter an, wie ungerecht sie das fand. »Gib Eva eine Chance. Sie ist viel zuverlässiger als Sophie«, hielt sie ihm vor. »Außerdem sollten alle unsere Kinder lernen, dass es eine große Verantwortung bedeutet, für ein Tier zu sorgen.«

Dad durchbohrte Flora mit einem vernichtenden Blick, als wäre es ihre Schuld, dass Sophie jedes Interesse an dem Pony verloren hatte. »Mein Entschluss steht fest. Pepper kommt weg, Ende der Debatte.«

Bis zum heutigen Tag konnte Eva sich an Sophies hämisches Grinsen erinnern. Sie selbst hatte Pepper nicht mehr gewollt, aber ihre ältere Schwester sollte das Pony auch nicht haben.

Eva war nicht nachtragend, aber als Sophie jetzt behauptete, es wäre Evas Schuld, dass ihre Mutter Selbstmord begangen hatte, war sie drauf und dran, ihrer Schwester eine Ohrfeige zu geben.

»Wieso meine Schuld?«, fragte sie. »Ich bin die Einzige, die ihr jemals bei der Hausarbeit geholfen hat. Ich habe nie etwas von ihr verlangt.«

»Hast du doch! Ständig hast du davon geredet, dass du zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag eine Party geben willst«, entgegnete Sophie.

Evas Geburtstag war am 26. April, in einem knappen Monat, und da sie ihn kaum jemals erwähnt hatte, traute sie ihren Ohren nicht. Hilfesuchend sah sie Ben und ihren Vater an. Aber die beiden saßen einfach da und sagten nichts.

»Der Vorschlag kam von Dad«, machte Eva ihre Schwester aufmerksam. »Falls du dich erinnerst, habe ich gesagt, dass ich keine Party will.«

»Du hast Mum zugesetzt, ein Festzelt im Garten aufstellen zu lassen!«

Eva schnappte nach Luft. »Das war Mums Idee. Sag es ihr, Dad!«

Er antwortete nicht, sondern schluckte nur den Rest seines Drinks herunter und füllte sein Glas nach.

Es war Ben, der den Streit beendete. Er hieb mit der Faust auf den Tisch: »Wie könnt ihr in so einem Moment bloß zanken?«

Er hatte natürlich recht, und so gern Eva auch darauf hingewiesen hätte, dass gerade Sophie ihrer Mutter tagtäglich wegen irgendetwas zugesetzt hatte, wusste sie, dass das jetzt wirklich nicht angebracht war, und verfiel in Schweigen.

Als die Uhr im Esszimmer Mitternacht schlug, hatte Eva das Gefühl, dass irgendjemand die Initiative ergreifen sollte. »Es bringt nichts, weiter hier herumzusitzen«, sagte sie, während sie aufstand, und sah Ben und Sophie an. »Vielleicht solltet ihr zwei auch lieber versuchen, ein bisschen Schlaf zu bekommen.«

»Ich lasse Dad nicht allein.« Sophie schob ihre Unterlippe vor. »Er braucht mich.«

Eva zuckte mit den Schultern. Ihr Vater befand sich in seiner eigenen Welt, und sie bezweifelte, dass er Sophies Gerede und Hysterie brauchte. »Falls mich einer von euch braucht, ihr wisst ja, wo ihr mich findet.«

Oben in ihrem Schlafzimmer warf Eva sich auf ihr Bett und schluchzte. Sie sehnte sich verzweifelt nach jemandem, der sie in die Arme nahm und ihr versicherte, dass der Schmerz, den sie im Moment empfand, irgendwann nachlassen würde. Auch wenn sie wusste, wie schrecklich es für alle war, hatte sie den größten Schock von allen erlitten, als sie Mum fand, und sie war es gewesen, der man die meisten Fragen gestellt hatte. Hätte Dad seine eigenen Gefühle nicht kurz beiseiteschieben und an sie denken können? Ben und Sophie hatte er umarmt und sie sogar daran erinnert, dass sie immer noch ihn hatten, aber sie hatte er ignoriert.

Eigentlich wollte sie nicht ausgerechnet jetzt darüber nachdenken, aber tatsächlich war immer sie diejenige, die von Dad ignoriert wurde. Schon früher, als sie erst sieben oder acht Jahre alt gewesen war, hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihm nur an Ben und Sophie etwas lag und sie selbst buchstäblich unsichtbar war. Sogar bei Granny und Grandpa, Dads Eltern, war es so gewesen. Sie hatten sich mit ihr unterhalten und ihr Geschenke gemacht, aber immer hatten die beiden Kleinen den Löwenanteil ihrer Zuwendung bekommen.

Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich nicht so hübsch wie Sophie oder so intelligent wie Ben bin, dachte Eva sich meistens. Sophie wollte ständig im Mittelpunkt stehen und schaffte es praktisch immer; Ben hatte Charme und brachte die Leute zum Lachen.

Vielleicht war das der Grund, warum Eva mit vierzehn Jahren zu rebellieren begann. Sie schwänzte die Schule, hing mit Halbstarken aus den Sozialbauten ab, ließ sich dazu verleiten, jede Menge Mist zu bauen und sich wie ein Grufti anzuziehen. Obwohl ihr klar war, wie sehr sie sich ihren Eltern durch ihr Verhalten entfremdete, hatte sie – wenigstens wenn sie nicht daheim war – das Gefühl, endlich jemand zu sein. Sie wurde von ihren neuen Freunden sogar bewundert, weil sie anders war als die »feinen Pinkel«, die sie kannten.

Leider erschwerte ihre Aufmachung ihren weiteren Weg, als sie die Schule verließ. Die einzigen Jobs, die sie bekommen konnte, waren in Fast-Food-Lokalen, und das erzürnte ihre Eltern noch mehr.

Ein schlimmer Vorfall, der sich ereignete, als sie fast achtzehn war, brachte sie schließlich zur Besinnung. Aber obwohl sie ihre Eltern für ihr Verhalten in den letzten paar Jahren um Entschuldigung bat, hatte Dad sie nie dafür gelobt, dass sie sich irgendwann geändert hatte. Selbst als sie ihren jetzigen guten Job im Versandhaus bekam, die Grufti-Klamotten ablegte, die schwarz und lila gefärbten Streifen aus ihrem Haar herauswachsen ließ und dazu überging, Kostüme und schicke Kleider zu tragen, benahm er sich immer noch so, als wäre sie ein Stein des Anstoßes.

Vor Kurzem war sie zur Leiterin der Abteilung Kundendienst befördert worden, was noch dazu mit einer dicken Gehaltserhöhung verbunden war, aber Dad hatte nicht ein einziges Mal wissen wollen, was zu ihrem Aufgabenbereich gehörte, oder Interesse an den Leuten gezeigt, mit denen sie arbeitete.

Und eine Party zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag hatte sie sich wirklich nie gewünscht. Die Leute, mit denen sie gern gefeiert hätte, waren ihre Kollegen, und die hätten sich bei der noblen Veranstaltung, die Mum und Dad vorschwebte, nicht wohlgefühlt.

Was würde jetzt aus der Familie werden? Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es ohne Mum weitergehen sollte. Flora mochte sprunghaft und unorganisiert und zeitweise zerstreut gewesen sein, aber sie war der Mittelpunkt ihres Familienlebens gewesen.

War sie tatsächlich depressiv gewesen, ohne dass es einer von ihnen erkannt hätte?

Eva wusste nicht besonders viel über Depressionen, aber in einer Zeitschrift hatte sie gelesen, dass vor allem sensible Menschen und Künstler anfällig für diese Krankheit waren. Flora war künstlerisch begabt; sie hatte eine Kunstschule besucht, als sie jung war, und Eva erinnerte sich an die Bilder, die sie für alle drei Kinder gezeichnet hatte, als sie klein waren, und an Floras hübsche Weihnachtsdekorationen und Grußkarten. Sie war ständig gebeten worden, Plakate für Schulveranstaltungen zu entwerfen. Sogar ihre Vintage-Kleidung war Teil dieser Kreativität. War sie möglicherweise depressiv geworden, weil sie diese Seite ihrer Persönlichkeit nie hatte ausleben können?

Erst jetzt wurde Eva bewusst, dass sie im Grunde nicht viel über ihre Mutter wusste. Flora sprach selten über ihre Jugend – welche Ziele sie gehabt hatte, wer ihre Freunde gewesen waren – oder auch nur über ihre Gefühle und Gedanken. Eva fielen alle möglichen Kleinigkeiten ein – dass sie lieber einen Riegel Cadbury-Schokolade aß als eine teure Schachtel Pralinen, dass Grün ihre Lieblingsfarbe war und Pfingstrosen ihre Lieblingsblumen –, aber nichts, was tatsächlich von Bedeutung war, zum Beispiel, was sie wirklich wütend machte oder wovor sie am meisten Angst hatte.

Wenn sie darüber nachdachte, hatten sie nie wirklich miteinander geredet, so wie sich Eva mit ihren Kolleginnen unterhielt. Sie erzählten Eva Geschichten aus ihrer Jugend, von ihren Familien, und manchmal sprachen sie auch über die Fehler, die sie im Lauf ihres Lebens gemacht hatten. Jedes kleine Eingeständnis stärkte ihre Freundschaft, aber Mum hatte nie etwas von sich preisgegeben. Es war, als hätte sie einen unsichtbaren Schild vor sich gehalten, damit niemand ihr nahekam.

Eins stand fest: Irgendetwas oder jemand hatte sie so unglücklich gemacht, dass sie sich zu diesem endgültigen Schritt entschlossen hatte.

Aber solche Dinge passierten nicht von heute auf morgen. Warum nur hatte sie niemandem erzählt, was sie belastete?

KAPITEL 2

Olive Oakley stützte ihren Kopf auf ihre Hände. Eva Pattersons Anruf hatte sie so sehr erschüttert, dass sie nicht einmal sicher war, ob sie es geschafft hatte, dem Mädchen ihr Beileid auszusprechen.

Olive war Teilhaberin bei Oakley und Smithson, einem rasch expandierenden Modeversandhaus, und Eva war eine ihrer vielversprechendsten Angestellten. Olive, eine üppige, auffallende Blondine in den Vierzigern, hatte sich in der Textilindustrie vom Maschinennähen bis zur Leitung ihrer eigenen Firma hochgearbeitet, und zwar durch reine Zähigkeit und Willenskraft. Jemand in der Branche hatte sie einmal als »die Art Frau, die ihre eigenen Jungen verspeist« bezeichnet. Olive hatte sich darüber amüsiert und entgegnet, das wäre der Grund, warum sie nie Kinder bekommen hatte.

Aber so dickköpfig sie auch sein konnte, für die junge Eva hatte sie eine Schwäche. Das Mädchen gab sich ruhig und selbstsicher, aber Olive wusste, dass ihr Auftreten nur ein Panzer war, hinter dem sie sich versteckte und der verbergen sollte, wie verletzlich und unsicher sie in Wirklichkeit war. Nichts konnte schlimmer sein, als als Erster am Schauplatz eines Selbstmords einzutreffen; und wenn es dabei noch um die eigene Mutter ging, konnte man sich nur schwer vorstellen, wie jemand sich von einem derartigen Trauma erholen sollte.

Es war fast drei Jahre her, seit Eva zu ihrem Vorstellungsgespräch erschienen war, aber Olive erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern gewesen.

Auf dem Weg in ihr Büro, wo sie sich auf die Vorstellungsgespräche jenes Tags vorbereiten wollte, hatte sie einen Blick auf die drei Mädchen geworfen, die beim Empfang warteten, und zu ihrem Entsetzen festgestellt, dass eine von ihnen ein Grufti-Albtraum war. Ihre Augen waren tiefschwarz geschminkt, ihr schwarz und lila gefärbtes Haar sah aus wie ein Mäusenest, und sie trug ein schäbiges langes schwarzes Kleid und Doc Martens-Stiefel.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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