Das helle Licht der Sehnsucht - Lesley Pearse - E-Book

Das helle Licht der Sehnsucht E-Book

Lesley Pearse

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Beschreibung

Die Schwestern Dulcie und May sind acht und fünf Jahre alt, als bei einem Streit ihrer Eltern die Mutter auf tragische Weise stirbt. Obwohl ihr Vater unschuldig ist und seine Töchter über alles liebt, kommen die Mädchen ins Waisenhaus. Eine Zeit voller Entbehrungen und Einsamkeit beginnt. Als Dulcie und May Jahre später die Gelegenheit erhalten nach Australien auszuwandern, ergreifen die Mädchen trotz ihrer Jugend die vermeintliche Chance.

Doch bald zeigt sich, dass das Leben auf dem >>neuen Kontinent<< nicht nur aufregend und abenteuerlich ist, sondern auch entbehrungsreich und gefährlich ...

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Seitenzahl: 921

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Inhalt

Über die AutorinTitelImpressumWidmungDanksagungenTeil Eins1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelTeil Zwei12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. KapitelNachwort

Über die Autorin

Lesley Pearse wurde in Rochester, Kent, geboren und lebt seit über 25 Jahren mit ihrer Familie in Bristol. Ihre Romane sind in England stets auf den ersten Plätzen der Bestsellerlisten zu finden.

Lesley Pearse

Das helle Lichtder Sehnsucht

Roman

Aus dem Englischen von Cécil Lecaux

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2006 by Lesley Pearse

Published by Arrangement with Lesley Pearse

Titel der englischen Originalausgabe: »Trust me«

Originalverlag: Michael Joseph, Penguin Books

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2011/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

>Titelbild: Look – Karl Johaentes

Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-8387-1249-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für all die Kinder auf der ganzen Welt, die in Kinderheimen Demütigung und Gewalt erfahren haben. Ich fühle mit ihnen, und ich hoffe, dass diese Geschichte ihrer traurigen Vergangenheit zumindest ansatzweise gerecht wird und ihnen helfen kann, mit dem Erlebten abzuschließen.

Danksagungen

Mein Dank geht an Bruce Blyth in Perth, Australien, für seine Hilfe, sein Wissen, seine Ratschläge und seine Begeisterung. Lieber Bruce, ohne deine Passion und deinen Einsatz hätte ich dieses Buch niemals schreiben können. Seit Jahren setzt du dich für die Überlebenden von Bindoon ein, du unbesungener Held und integrer, mitfühlender Mensch. Dir kann keiner das Wasser reichen, mein Freund und Held.

Dank auch an Ted und Betty Sanderson in Esperance, Westaustralien, die mir gestattet haben, in ihrer Erinnerung herumzustochern, sowie für ihre Beratung auf dem Gebiet der Landwirtschaft. Kommt mich bald in England besuchen!

Vielen Dank Faye und Geoff Sanderson aus Grass Patch, Westaustralien, die so viel Geduld hatten mit einem Grünschnabel wie mir und seinen vielen naiven Fragen. Ich werde meinen Aufenthalt auf eurer Farm immer in schöner Erinnerung behalten und voller Zuneigung daran zurückdenken. Falls mir bei Einzelheiten, die den landwirtschaftlichen Betrieb betreffen, Fehler unterlaufen sind, seht es mir bitte nach. Ich bin eben nur eine Stadtpflanze.

Herzlichen Dank an den Child Migrant Trust in Nottingham, England, für die unbezahlbaren Zeitungsausschnitte und die Empfehlung hilfreicher Bücher für meine Recherchen. Der Child Migrant Trust hat es sich zur Aufgabe gemacht, Verwandte jener Kinder ausfindig zu machen, die nach Australien geschickt wurden, und bezuschusst deren Reisekosten. Der Leiterin Margaret Humphreys ist es zu verdanken, dass viele, viele dieser Kinder mit ihren Verwandten in England zusammengeführt werden konnten. Die Lektüre ihres Buches Empty Cradles kann ich jedem, der mehr über das Kinderverschickungs-Programm erfahren möchte, nur dringend ans Herz legen.

Abschließend möchte ich noch folgenden Personen meinen ganz besonderen Dank aussprechen: Peggie Rush, Mary Eather, John Carvill und Paddy Dorrain. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich euch alle bewundere und wie dankbar ich euch dafür bin, dass ihr mir von eurer schlimmen Vergangenheit erzählt habt. Euer Vertrauen hat es mir überhaupt erst ermöglicht, dieses Buch zu schreiben. Was ihr mir erzählt habt, ist mir lange im Gedächtnis haften geblieben, sodass ich meine Notizen nach meiner Rückkehr nach England kaum gebraucht habe. Ich habe für jeden Einzelnen von euch und für alle anderen Kinder, die diese schlimmen Zeiten durchgemacht haben, geweint. Ich hoffe, dass meine Tränen und auch jene der Leser Leid und Ungerechtigkeit, die euch angetan wurden, ein wenig mildern können.

Teil Eins

1. Kapitel

Mai 1947 Hither Green, South London

Edna Groomes und Iris Brown unterbrachen ihren Plausch, als Anne Taylor die Leahurst Road heraufgetrippelt kam. Ihre hohen Absätze morsten in klapperndem Stakkato die unüberhörbare Nachricht »Seht her, seht mich an«. Und so schauten sie hin und beneideten sie um ihre Schönheit, ihr naturblondes Haar, ihre tadellose Figur und ihre Jugend.

Edna und Iris waren beide erst Anfang dreißig, nur sechs Jahre älter als Anne, aber die Wickelschürzen, die wie Turbane um den Kopf geknoteten Tücher und ihre rundlichen Gestalten mit den hängenden Schultern ließen sie um vieles älter aussehen.

»Wahrscheinlich ist die wieder auf’m Weg zum Friseur«, schnaubte Edna, gab noch etwas Scheuermilch auf den Putzlumpen und fuhr fort, ihren Briefkasten zu wienern. »Hängt die halbe Zeit da rum. Die hat nichts anderes im Kopf als die Frage, wie sie aussieht.«

Iris legte die Hände auf die Hüften und lächelte giftig, als Anne näher kam. »Wie geht es den Kindern?«, fragte sie spitz. »Hocken wohl wie immer in der guten Stube, was?«

»Den Kindern geht es gut, danke der Nachfrage«, entgegnete Anne hocherhobenen Hauptes, ohne den Schritt zu verlangsamen. »Und, ja, sie sind im Haus. Ich erlaube ihnen nicht, auf der Straße zu spielen und die Nachbarn zu belästigen.«

Der brüske Tonfall der kultivierten Stimme und der Seitenhieb auf Ednas und Iris’ Kinder, die weiter unten in der Straße lärmend Kricket spielten, verschlug den beiden älteren Nachbarinnen vorübergehend die Sprache. Als Iris diese wiedergefunden hatte, war Anne bereits in die Manor Lane abgebogen und aus ihrem Blickfeld verschwunden.

»Hochnäsige Ziege«, schimpfte Iris und setzte sich auf das Mäuerchen, das den knappen Meter Vorgarten vor dem zweistöckigen Reihenhaus einfasste. »Spielt die feine Dame und hat seit Monaten eine Affäre mit Tosh aus dem Pub. Ich hätt nicht übel Lust, Reg was zu stecken.«

»Halte dich da lieber raus«, erwiderte Edna, hörte auf zu putzen und setzte sich zu ihrer Freundin auf die Mauer. Sie holte ein Päckchen Turfs aus der Schürzentasche.

Die beiden Frauen steckten sich eine Zigarette an und ließen sich die Frühjahrssonne ins Gesicht scheinen. Es war der erste warme Tag in diesem Jahr. Der Winter neunzehnhundertsiebenundvierzig war der härteste seit Menschengedenken gewesen, und von Januar bis Anfang April hatte Schnee gelegen. Erst jetzt, in der ersten Maiwoche, konnte man endlich ohne warme Jacke vor die Tür gehen.

Abgesehen von der Sonne deutete in der Leahurst Road allerdings nichts weiter auf den Frühling hin, denn in der ganzen Straße gab es keinen einzigen Baum, und die winzigen Vorgärten waren nicht Blumenrabatten, sondern Mülltonnen und Fahrrädern vorbehalten. Nicht einmal Unkraut und Gras unten in der Nähe der Haltestelle Hither Green, wo eine Bombe eine Lücke in die lange Reihe viktorianischer Häuser gerissen hatte, zeigten ein erstes zaghaftes Grün. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich die Lee Manor School, aber es war Samstag, sodass das zweieinhalb Meter hohe Tor geschlossen war und den Blick auf die hübschen gelben Osterglocken in den Kästen an den Fensterbänken verdeckte.

Edna zog noch einmal kräftig an ihrer Zigarette, ehe sie fortfuhr: »Bist du ganz sicher, dass sie was mit Tosh aus dem Pub hat? Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass eine Frau wie sie sich mit so ’nem Widerling einlassen würde. Ich für meinen Teil würde den Kerl nicht mit der Kneifzange anpacken.« Tosh war an die fünfzig und untersetzt, hatte schütteres Haar und eine krumme Nase, ein Andenken an seine vergangene Profiboxer-Laufbahn.

»Aber Kohle hat er«, entgegnete Iris viel sagend. »Die Taylor hält sich für was Besseres und spekuliert wahrscheinlich darauf, dass er sie wo unterbringt, wo’s ihr besser gefällt. Wird er aber nicht. Der rückt nix raus.«

»Warum sollte sie sich einen Kerl wünschen, der sie von hier wegbringt? Reg säuft nicht, und er hat immer Arbeit«, wandte Edna ein.

Iris verdrehte die Augen angesichts der Naivität ihrer Freundin. »Bist du blind und taub?«, rief sie aus. »Jeder weiß, dass die beiden sich ständig in den Haaren liegen. Mrs. Gardener, die unter den Taylors wohnt, sagt, dass bei den beiden fast jeden Abend die Fetzen fliegen. Weil sie die Kinder vernachlässigt«, flüsterte sie in verschwörerischem Tonfall. »Im Winter, als noch Schnee lag, mussten sie mehrmals stundenlang zähneklappernd draußen vor der Tür warten, bis ihre Mutter nach Hause kam. Ich wette, dass die beiden nie eine anständige Mahlzeit bekämen und auch nichts Sauberes zum Anziehen hätten, wenn Reg nicht wäre. Sie gibt alles Geld für Klamotten und Friseur aus, und warum sollte sie das wohl tun, wenn sie nicht drauf aus wär, sich einen anderen zu angeln?«

Edna wusste, dass Iris Recht hatte, was die Kinder betraf. Die beiden kleinen Mädchen hatten des Öfteren nach der Schule bibbernd draußen in der Kälte gestanden; sie selbst hatte sie einige Male zu sich ins Warme geholt. Was das Übrige betraf, fand sie Iris ein wenig gehässig, sodass sie sich nicht weiter dazu äußerte. Sie mochte Reg Taylor; er hatte spontan seine Hilfe angeboten, als es im Winter bei ihr zu Hause einen Rohrbruch gegeben hatte, während Sid noch auf der Arbeit gewesen war.

»O ja, ich weiß, dass Reg ein netter Kerl ist«, fuhr Iris fort, als hätte sie Ednas Gedanken gelesen. »Aber Anne ist mit Vorsicht zu genießen. Sperrt die Kinder den ganzen Tag in der Wohnung ein, während sie sich das Haar machen lässt. Das kann doch nicht angehen.«

Dieser Ansicht waren auch die beiden Taylor-Mädchen, die ihrer Mutter vom Fenster aus nachblickten. Sie sahen sie an Mrs. Groomes und Mrs. Brown vorbeigehen, und sobald sie um die Ecke gebogen war, holten sie sich den Ersatzschlüssel vom Kaminsims und stahlen sich aus dem Haus, wohl wissend, dass ihre Mutter frühestens in zwei Stunden zurück sein würde. Sie machten sich auf nach Manor House Gardens, dem hübschen Park mit dem Teich in der Mitte, der nur zehn Minuten entfernt war. Sie gesellten sich zu einigen anderen Kindern unten am Ufer des River Quaggy, der durch den Park strömte, bis der Parkwächter sie entdeckte.

Alle sechs Kinder, die mit dem Bau eines Staudammes beschäftigt waren, hoben ruckartig den Kopf, als er sie von der etwa zwanzig Meter entfernten Brücke aus ungehalten anrief. Dulcie Taylor wartete nicht ab, was ihre Spielkameraden taten, sondern nahm ihre jüngere Schwester May bei der Hand, zog sie hinter sich her die Böschung hinauf und zwängte sich dann hinter dieser durch die Lücke im Zaun, durch die sie vorhin bereits geschlüpft waren, um ans Wasser zu gelangen.

»Schnell, versteck dich hier drunter«, keuchte Dulcie und schob May unter einen dichten Strauch auf der anderen Wegseite, um sofort hinter ihr herzukriechen.

Sekunden später radelte der Parkwächter in seiner braunen Uniform an ihnen vorbei. Dulcie legte May eine Hand auf den Mund und flüsterte ihr ins Ohr, sie solle sich nicht von der Stelle rühren, bis er außer Sichtweite war. Sie konnten ihn keine dreißig oder vierzig Meter entfernt von ihrem Versteck mit den anderen Kindern schimpfen hören, und so blieben sie, schwer atmend vor Furcht, im Gebüsch hocken.

Dulcie war achteinhalb, und May war zwei Tage zuvor fünf geworden. Die Schwestern sahen sich sehr ähnlich mit ihren blonden Zöpfen, der hellen Haut und den großen blauen Augen. Trotzdem bezeichneten die Nachbarn nur May als »das hübsche kleine Ding«. Nicht, dass Dulcie unscheinbar gewesen wäre, auch wenn sie etwas dünn und schlaksig war, mit zwei neuen Vorderzähnen, die in ihrem schmalen Gesicht noch etwas groß wirkten. Vielmehr lag es daran, dass May sich bei allen beliebt machte, indem sie viel lächelte und sehr mitteilsam war. Auch blickte sie nicht ständig so besorgt drein wie ihre ältere Schwester.

Dulcie war tatsächlich ein Kind, das sich ständig irgendwelche Sorgen machte, und es passte eigentlich gar nicht zu ihr vorzuschlagen, unerlaubterweise in den Park zu gehen, während ihre Mutter außer Haus war, oder etwas so Gefährliches zu tun, wie am Fluss zu spielen. Normalerweise war sie ein schüchternes, gehorsames Mädchen und nahm die Verantwortung für ihre jüngere Schwester sehr ernst. Aber der heutige warme Sonnenschein nach den Monaten nasskalten Wetters hatte dazu geführt, dass der latente leise Groll auf ihre Mutter übergekocht war. Sie sah nicht ein, warum sie und May an einem so schönen Tag im Haus sitzen sollten, während ihre Mutter, die sich nicht einmal die Mühe machte, ihnen etwas zum Abendessen zu kochen, zum Friseur ging.

Dulcie fühlte sich eigentlich anderen gegenüber nicht benachteiligt. Sie wusste, dass während des langen harten Winters alle Entbehrungen hatten erdulden müssen; Tiere waren auf den Feldern erfroren, und alte Menschen, denen der Brennstoff ausgegangen war, waren in ihren unbeheizten Wohnungen ebenfalls Opfer der anhaltenden Kältewelle geworden. Die Lebensmittelrationen waren weiter eingeschränkt worden und inzwischen sogar noch geringer als während der Kriegsjahre. Hinzu kam, dass durch heftige Schneefälle die Auslieferung von Lebensmitteln behindert worden war.

Trotz ihrer Jugend wusste sie zu schätzen, dass ihre Familie das Glück hatte, eine ordentliche Wohnung ihr Eigen nennen zu können, während viele Leute immer noch damit beschäftigt waren, ihre von Bomben beschädigten Häuser wieder in Stand zu setzen, oder sogar in Behelfsunterkünften leben mussten. Dulcie hatte sich daran gewöhnt, dass sie im Winter in der Schule Mantel und Mütze aufbehalten musste; die Lehrerin hatte ihnen erklärt, dass es äußerst schwierig sei, Kohlen für die Öfen zu beschaffen. Es machte ihr auch nichts aus, dass sie und May aus demselben Grund oft gleich nach der Schule zu Bett gehen mussten. Sie hatte sich mit rissiger Haut an den Füßen und Händen abgefunden und gelernt, ihren knurrenden Magen zu ignorieren. Aber was sie weder akzeptieren noch verstehen konnte, war das absolute Desinteresse ihrer Mutter gegenüber ihrer eigenen Familie.

Anne kaufte lieber neue Kleider als Lebensmittel. Sie saß den ganzen Tag herum und lackierte sich die Fingernägel oder las Illustrierte, anstatt sich um den Haushalt zu kümmern. Dulcie konnte gut verstehen, dass Dad ärgerlich wurde, wenn er von der Arbeit nach Hause kam und feststellte, dass es wieder einmal nichts zu essen gab oder er ihre Schuluniformen waschen und bügeln musste, weil Mum es versäumt hatte. Wie er war Dulcie zu dem Schluss gekommen, dass er, May und sie selbst Anne gleichgültig waren, und Abend für Abend, wenn sie den Kopf unter das Kopfkissen stecken musste, um die Wortgefechte der Eltern nicht mit anhören zu müssen, wünschte sie beinahe, Mum würde ihre ständigen Drohungen, sie zu verlassen, endlich wahr machen – dann würden daheim wenigstens wieder Ruhe und Frieden einkehren.

Erst an diesem Morgen hatte Anne sich in Lewisham ein weiteres neues Kleid gekauft. Dulcie hatte darauf hingewiesen, dass ihre und auch Mays Schuhe drückten, aber darauf hatte ihre Mutter nur entgegnet, sie müssten sich noch ein paar Wochen gedulden. Auf dem Heimweg hatte Dulcie gefragt, ob ihre Mutter am Nachmittag mit ihnen in den Park gehen würde, weil in der Schule jemand erzählt hatte, dass bei den Enten auf dem Teich Küken geschlüpft seien. Aber Mum hatte geschimpft, sie fordere immer nur, und im Übrigen habe sie, Anne, einen Termin beim Friseur.

Dulcie wusste, dass es sinnlos war, darum zu bitten, allein in den Park gehen zu dürfen. Dad erlaubte es nicht, und er wollte auch nicht, dass sie draußen auf der Straße spielten. Sie konnte verstehen, warum. Dad war selbst mehr oder weniger auf der Straße groß geworden, und er wollte, dass seine Töchter es besser hatten. Außerdem war er fair; er war nie zu müde, um mit ihnen in den Park oder nach Blackheath zu gehen, wenn er heimkam. Auch wenn er ursprünglich etwas anderes geplant hatte, war er an einem besonders schönen Tag immer bereit, seinen Töchtern zuliebe umzudisponieren.

Und das war auch der Grund, weshalb Dulcie beschlossen hatte, das Verbot ihrer Mutter zu missachten. Es war ein Protest gegen Annes Egoismus, gepaart mit einem Hauch Abenteuerlust und Freiheitsdrang.

Jetzt bereute sie ihren Entschluss. Ihre Schuhe waren völlig durchnässt und voller Schlamm, und May sah sogar noch schlimmer aus: Bei ihr waren auch Rock und Strickjacke schmutzig. Und wenn der Parkwächter sie erwischte, würde es ein Donnerwetter geben, und Mum würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn sie heimkamen.

Endlich sah Dulcie, wie der Parkwächter davonging. Mit einer Hand schob er das Rad, und mit der anderen zog er einen der Jungen neben sich her, mit dem sie vorhin am Wasser gespielt hatten. Als sie sicher waren, dass er zu weit weg war, um sie zu sehen, krochen die Mädchen unter dem Busch hervor. Dulcie eröffnete ihrer Schwester, dass sie nach Hause gehen müssten.

»Aber ich will nicht«, protestierte May trotzig. »Wir haben die Enten noch gar nicht gesehen. Und Mum kommt noch lange nicht zurück.«

»Wir müssen unsere Sachen auswaschen und trocknen, bevor sie heimkommt, sonst merkt sie etwas. Oder Dad.«

Bei dem Gedanken an ihren Dad bekamen sie beide ein wenig Angst. Er war niemals brutal, versohlte sie nicht, wie es die Väter einiger Schulkameraden taten, aber er würde sehr zornig werden, wenn er erfuhr, dass sie trotz seines ausdrücklichen Verbotes im Park gewesen waren.

Dulcie war ein aufmerksames und nachdenkliches Kind, und wenn sie Granny in Deptford besuchten, verstand sie, warum ihr Vater sich für sie und May etwas Besseres wünschte als das, was er selbst in seiner Kindheit gehabt hatte. Deptford war ein armes Viertel mit alten Mietskasernen und schmutzigen Straßen, und die meisten der kleinen Reihenhäuser wie jenes, in dem ihre Großmutter wohnte, teilten sich gleich mehrere Familien. Dad hatte ihr einmal erzählt, dass der Großteil seiner Freunde aus Kindertagen Diebe und Verbrecher geworden seien und er selbst in seiner Jugend so hart gearbeitet habe, weil er um jeden Preis von dort habe wegkommen wollen. Dulcie nahm an, dass er aus demselben Grund ihre Mum geheiratet hatte: weil sie schön war und sich so gewählt ausdrückte.

Allerdings konnte sie auch anders. Mum sagte oft gemeine, verletzende Dinge darüber, wie ungehobelt und ungebildet Dads Familie sei. Dad konterte für gewöhnlich damit, dass ihre Eltern engstirnige Snobs seien und es versäumt hätten, sie auf die Realitäten des Lebens vorzubereiten.

Als sie in die Leahurst Road einbogen, sah Dulcie entsetzt das Fahrrad ihres Vaters vor dem Haus stehen. Entweder war es schon viel später, als sie gedacht hatte, oder aber ihr Vater war früher daheim als gewöhnlich. Er war Bauarbeiter und zurzeit auf einer Baustelle in der Eltham Road beschäftigt, sodass er normalerweise am Samstag nicht vor sechs nach Hause kam. Jetzt steckten sie wirklich in der Klemme. Von Mum hätten sie sich wahrscheinlich nur eine Ohrfeige eingefangen, und Dad hätte sie nichts erzählt, denn sonst wäre er wütend auf sie geworden, weil sie Dulcie und May so lange allein gelassen hatte.

»Dad ist zu Hause«, sagte Dulcie ängstlich zu ihrer Schwester, die das Rad noch nicht bemerkt hatte. »Jetzt sind wir dran.«

May setzte eine Ist-mir-doch-egal-Miene auf. »Ich habe keine Schuld. Es war deine Idee, in den Park zu gehen.«

Dulcie hätte sie am liebsten geschüttelt. Es stimmte zwar, dass es nicht Mays Idee gewesen war, aber es war wieder einmal typisch für sie, dass sie jemand anders den schwarzen Peter zuspielte. »Verrate wenigstens nicht, dass wir am Fluss waren«, schärfte Dulcie ihr ein. »Wir behaupten, wir wären auf schlammigem Rasen hingefallen.«

May blieb abrupt stehen. »Aber das wäre eine Lüge!«, rief sie aus und riss die blauen Augen weit auf. »Das müsstest du beichten!«

Dulcie war schon zur Kommunion gegangen und hatte May unvorsichtigerweise erzählt, dass sie fortan dem Pfarrer all ihre Sünden beichten musste.

»Aber nur eine ganz kleine«, entgegnete Dulcie. »Und es ist eine Notlüge. Ich möchte nur nicht, dass Dad sich im Nachhinein noch Sorgen macht, weil wir an einer gefährlichen Stelle gespielt haben. Ich werde in der Kirche beichten, aber verpetz mich ja nicht!«

May musterte sie nachdenklich. »Ich sage nichts, wenn du mir die Hälfte von deinen Süßigkeiten gibst.«

Dulcie seufzte. Wenn sie sich nicht darauf einließ, würde May alles tun, um sie in größte Schwierigkeiten zu bringen. Dad brachte ihnen samstags immer etwas Süßes mit, aber heute Abend würden sie sowieso nichts bekommen, weil er sie sofort ins Bett schicken würde, und die Hälfte von nichts war nichts, oder? »Okay«, antwortete sie. »Aber komm ja nicht zu mir, wenn du einmal Hilfe brauchst.«

Sie gingen weiter. Dulcie schlug vor Furcht das Herz bis zum Hals. Dad hatte sie zwar bisher noch nie ernsthaft geschlagen, aber in Anbetracht der Schwere ihres Vergehens war sie auf alles gefasst.

Dulcie schloss die Tür nicht mit dem Ersatzschlüssel auf. Dad würde es sicher noch verwerflicher finden, wenn er wüsste, dass sie ihn an sich genommen hatte. Also läutete sie, und einige Sekunden später hörte sie drinnen bereits Schritte auf der Treppe.

»Wir brauchen nichts, danke«, sagte er, als er die Tür öffnete und sie auf der Schwelle stehen sah. Er schloss die Tür wieder.

Das war einer seiner kleinen Scherze, so zu tun, als kenne er sie nicht. Offenbar war er bester Laune und dachte, sie wären mit ihrer Mutter unterwegs gewesen. Normalerweise rief Dulcie, wenn er sie so empfing: »Lass mich rein, Schweinchen Schlau«, und er antwortete: »O nein, böser Wolf, niemals, nicht bei allen Borsten an meinem Rüssel. Dich lasse ich nicht rein.« Aber Dulcie war nicht in Stimmung für dieses Spiel.

Sie holte tief Luft und hob die Klappe des Briefkastens an. »Lass uns rein, Daddy, wir waren unartig. Wir sind im Park gewesen, obwohl Mummy uns aufgetragen hat, im Haus zu bleiben.«

Sofort wurde die Tür wieder geöffnet, und ihr Vater blickte mit strenger Miene auf sie herab.

Reg Taylor war sehr groß, fast einen Meter neunzig, mit Schultern wie ein Kleiderschrank. Er strahlte eine Kraft aus, die andere Männer nervös machte und davon abhielt, sich mit ihm anzulegen. Dazu hatte er raspelkurzes Haar, eisblaue Augen und eine kräftige, eckige Kieferpartie. Er sah aus wie ein Schläger – bis er lächelte und die ganze Wärme seines wahren Charakters zu Tage trat. Aber jeder, seine Kinder eingeschlossen, wich eingeschüchtert zurück, wenn er so böse dreinblickte wie jetzt.

»Es tut mir Leid«, murmelte Dulcie leise. »Aber es war so schön draußen, und wir wollten nur die Entenküken sehen.«

Reg musterte die beiden vom Scheitel bis zur Sohle und registrierte den Matsch an ihren Kleidern und Schuhen. Er erkannte sofort, dass sie am Flussufer gewesen waren. »Kommt rein«, meinte er. »Zieht die Schuhe aus und lasst sie im Flur stehen, ich mache sie später sauber.«

Er ging zur Treppe, während sie im Hauseingang ihre Schuhe auszogen. Dann blieb er unvermittelt stehen und blickte zurück. »Wo ist eure Mutter?«

Dulcie schluckte. Wenn ihr Dad »Mutter« sagte anstatt »Mum«, war das ein sicheres Zeichen dafür, dass er ärgerlich auf sie war. »Beim Friseur«, antwortete sie.

Er gab eine Art Grunzen von sich und ging ohne ein weiteres Wort nach oben. Die Mädchen stellten ihre Schuhe ordentlich auf die Matte und folgten ihm dann nach oben, wobei sie sich nervös bei der Hand hielten.

Die Wohnung umfasste drei Zimmer, ein Bad und eine Küche. Als sie vor achtzehn Monaten aus einer viel kleineren Zwei-Zimmer-Wohnung in New Cross hierher umgezogen waren, war ihnen das neue Zuhause vorgekommen wie das Paradies. In New Cross waren Herd und Spüle auf dem Gang gewesen. Außerdem hatten sie sich das Klohäuschen mit mehreren anderen Familien teilen und das öffentliche Badehaus benutzen müssen. Es war furchtbar aufregend gewesen zuzusehen, wie Dad tapezierte und strich und die düstere Wohnung in ein richtiges Heim verwandelte, mit ihm zusammen Möbel zu kaufen und Mum Vorhänge und Kissenbezüge nähen zu sehen. Es machte nichts aus, dass die Möbel aus zweiter Hand waren und der Teppich im Treppenhaus fehlte. Dad sagte immer wieder, dass sie auf dem aufsteigenden Ast seien.

Damals war Dulcie noch alles perfekt erschienen. Dad hatte sich zu Beginn des Krieges freiwillig gemeldet und war die ersten Jahre ihres Lebens fort gewesen, aber nun war er wieder daheim, arbeitete auf dem Bau und kam jeden Abend nach Hause. Die Lee Manor School befand sich gleich gegenüber ihrer Wohnung, ein Stück weiter die Straße hinunter, im Umfeld der Haltestelle Hither Green gab es hübsche Geschäfte, und bis zum Park und zur Bücherei war es nur ein Katzensprung. Das Schönste aber war gewesen, dass Mum so richtig glücklich war, dass sie einen wahren Freudentanz aufführte, sang, lachte und Dad drückte. Dulcie hatte geglaubt, es würde immer so bleiben.

Tatsächlich war die Freude nur von kurzer Dauer gewesen. Schon bald hörte Mum auf zu lachen und zu singen, lag in ihrem Morgenmantel auf dem Sofa und rauchte eine Zigarette nach der anderen, so wie sie es während des Krieges oft getan hatte. Sie vernachlässigte die Hausarbeit, Schmutz- und Bügelwäsche stapelten sich, und sie schien sich für nichts anderes mehr zu interessieren als dafür, wie sie aussah, wenn sie das Haus verließ.

»Kommt rein«, rief Dad, als sie den Treppenabsatz draußen vor dem Wohnzimmer erreicht hatten.

Zögernd traten sie ein. Ihr Vater saß auf der Couch. Das Wohnzimmer war sehr groß, und es gab ein Erkerfenster mit Blick auf die Straße. Abends, wenn die Vorhänge zugezogen waren, die Tischlampe brannte und ein Feuer im Kamin prasselte, wirkte die cremefarbene Tapete mit den goldenen Schnörkeln richtig edel. Auch morgens, wenn die Sonne hereinschien, sah es hübsch aus, aber jetzt fiel kein Sonnenstrahl durch das Fenster, und der Raum wirkte so trist und traurig wie der Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters.

Dulcie erkannte sofort, dass er schon länger zu Hause war. Er hatte seinen Arbeits-Overall gegen graue Hosen und ein sauberes Hemd getauscht, und er hatte auch schon die kalte Asche vom Vorabend entfernt und im Kamin neues Holz aufgeschichtet, das nur noch angezündet werden musste, wenn es zu kalt wurde.

»Ich werde nicht fragen, warum ihr nicht auf eure Mutter gehört habt«, begann er und musterte sie streng. »Ich weiß schon, warum. Aber verratet mir doch bitte, was passiert wäre, wenn ihr von einem Auto überfahren worden oder in den Fluss gefallen wärt.«

Beide Mädchen standen mit hängendem Kopf da.

»Das ist der Grund, weshalb ich euch verboten habe, allein aus dem Haus zu gehen«, fuhr Reg fort. »Seht ihr, falls etwas Schlimmes passieren würde, wüsste ich nicht, wo ihr seid. Könnt ihr euch vorstellen, welche Sorgen eure Mutter und ich uns machen würden, wenn ihr nicht nach Hause kämt? Wo sollte ich euch suchen? Manchmal werden kleine Mädchen von bösen Männern mitgenommen, darum ist es so wichtig, dass wir immer wissen, wo ihr gerade seid.«

Er breitete die Arme aus, und als den Mädchen aufging, dass er sie entgegen ihrer Erwartung doch nicht bestrafen würde, liefen sie erleichtert zu ihm hin. Er zog sie auf seine Knie und drückte sie fest an sich.

»Ihr dürft so etwas nie wieder tun«, sagte er mit seltsam brüchiger Stimme, seine kratzigen Wangen an ihren samtweichen Gesichtern. »Ihr beide seid mir das Kostbarste auf der Welt, und ich bin nur deshalb so streng mit euch, weil ich nicht möchte, dass euch etwas zustößt.«

»Wirst du uns bestrafen oder ohne Abendessen ins Bett schicken?«, fragte May mit zitternder Stimme.

»Diesmal nicht«, entgegnete er, und Dulcie hörte eine Spur von Belustigung aus seiner Stimme heraus. »Aber wenn ihr so etwas noch einmal macht, lege ich euch übers Knie, darauf könnt ihr euch verlassen. Übrigens bin ich schon über eine Stunde zu Hause. Wärt ihr hier gewesen, wäre ich mit euch in den Park gegangen, und vielleicht hätten wir sogar ein Eis gegessen. Aber jetzt gibt es zur Strafe weder Eis noch Süßigkeiten.«

Er schickte sie auf ihr Zimmer, damit sie sich saubere Kleider und trockene Strümpfe anzogen. Als sie das Zimmer verließen, sah Dulcie, wie er zum Tisch ging und die Fläschchen Nagellack und andere Kosmetikartikel an sich nahm, die ihre Mutter am Morgen dort hatte liegen lassen.

Ein langer, schmaler Flur führte vom Wohnzimmer aus am Treppenhaus, dem Elternschlafzimmer, Küche und Bad vorbei bis zum Kinderzimmer auf der Rückseite des Hauses. Die Mädchen liebten ihr Zimmer, auch wenn das Doppelbett, in dem sie zusammen schliefen, fast den ganzen Platz beanspruchte. Die hübsche Tapete war mit rosafarbenen Rosen bedruckt, und auf dem Bett lag eine rosafarbene Daunendecke. Sie konnten in den Garten hinabsehen, der zur Erdgeschosswohnung gehörte, und ihr Zimmer war so weit entfernt vom Wohnzimmer, dass sie beim Spielen auch einigen Lärm machen konnten, ohne dass ihre Eltern sich beschwerten. Am Nachmittag fiel Sonne durch das Fenster herein, und es war immer wärmer als im Wohnzimmer, da die alte Mrs. Gardener, die die Wohnung einen Stock tiefer bewohnte, das darunter liegende Zimmer durchgehend beheizte.

Nachdem sie Röcke, Strickjacken und Strümpfe gewechselt hatten, blieben sie zum Spielen in ihrem Zimmer und kletterten mit ihren Puppen auf das Bett. May wirkte völlig unbeschwert und plapperte mit ihrer Puppe Belinda, die sie vorgab, mit einem Spielzeugfläschchen zu füttern. Dulcie hingegen war immer noch sehr angespannt, weil sie wusste, dass ein Streit zwischen den Eltern unausweichlich war, sobald Mum heimkam. Sie schämte sich, dass diesmal niemand anders als sie selbst Auslöser der Auseinandersetzung sein würde.

Sie brauchte nicht lange zu warten. Kurz nachdem die Uhr im Wohnzimmer vier Uhr dreißig geläutet hatte, kam Mum mit klappernden Absätzen die lackierte Treppe herauf.

»Ich bin zurück, Mädchen«, rief sie.

May wollte vom Bett springen und zu ihr laufen, aber Dulcie hielt sie zurück. »Warte, bis Daddy mit ihr gesprochen hat«, flüsterte sie.

Sie hörten, wie Dad eine sarkastische Bemerkung über Mums Haar machte. Anschließend mussten die Eltern ins Wohnzimmer gegangen sein und die Tür hinter sich geschlossen haben, da die Mädchen ihre Stimmen nicht mehr hören konnten.

Dulcie entspannte sich nach und nach, als das Geschrei ausblieb, mit dem sie fest gerechnet hatte. Sie holte sich das Buch von Enid Blyton, das sie aus der Bücherei ausgeliehen hatte, legte sich neben May auf das Bett und fing an zu lesen.

»Warum kannst du nicht zum Friseur gehen, wenn die Mädchen in der Schule sind?«, fragte Reg seine Frau, als er ihr eine Tasse Tee reichte und sich ihr gegenüber in einen Lehnsessel setzte. Er wollte nicht schon wieder mit ihr streiten, aber als er ihr vom Ungehorsam der Mädchen erzählt hatte, hatte sie nur gelacht, als wäre das Ganze völlig unwichtig. »Es war nicht fair, von ihnen zu erwarten, an einem so schönen, sonnigen Tag im Haus zu bleiben.«

»Du bist doch derjenige, der nicht will, dass sie draußen spielen«, entgegnete sie von oben herab und zündete sich eine Zigarette an. »Außerdem musste ich mir das Haar machen lassen, weil ich heute Abend arbeite.«

Reg runzelte bei dieser Eröffnung ärgerlich die Stirn. Allein die Art, wie sie dasaß, so gelassen und elegant, mit übergeschlagenen Beinen, ein Schuh lose von ihrem Fuß baumelnd, reizte ihn ungemein. Aber bei allem Zorn war er wie immer auch fasziniert von ihrem klassisch-ovalen Gesicht, den Zügen so makellos wie die einer Porzellanpuppe, den großen kornblumenblauen Augen und dem weichen sinnlichen Mund.

Als sie sich im Dezember neunzehnhundertsiebenunddreißig bei einer Tanzveranstaltung im »Empire« am Leicester Square kennen gelernt hatten, war sie nur hübsch gewesen. Siebzehn Jahre jung mit riesigen Augen und seidigem blonden Haar. Sie hatte ihn an ein Rehkitz erinnert, und er war sich neben ihr so grobschlächtig und hässlich vorgekommen. Und sogar jetzt, da er um ihre Herzlosigkeit und ihren Egoismus wusste, war er immer wieder von neuem von ihrer Schönheit überwältigt.

So viele junge Mütter hatten im Krieg ihr gutes Aussehen eingebüßt; Entbehrungen, Gefahr, Sorge und der ständige Mangel an nahrhaften Lebensmitteln hatten sie in unscheinbare, verbrauchte, vorzeitig gealterte Frauen verwandelt. Nicht so Anne. Sie war heute sogar noch fraulicher, ihr seidiges Haar war gestylt wie das einer Hollywood-Diva, die hübschen, aber wenig ausdrucksvollen Züge waren zu atemberaubender Schönheit ausgereift, und in ihren Augen lag ein betörender, herausfordernder Ausdruck. Obwohl es ihn ärgerte, dass sie so viel Geld für neue Kleider, Kosmetika und den Friseur ausgab, war er andererseits stolz darauf, dass sie auf sich achtete und noch so gut aussah.

»Du arbeitest heute Abend!«, rief er aus. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich am Abend mit euch ins Kino gehe!«

Sie zuckte nur die Schultern und paffte weiter. »Das können wir doch verschieben. Du hast den Mädchen doch noch gar nichts erzählt.«

»Hätte es denn einen Unterschied gemacht, wenn ich es ihnen erzählt hätte?«, fragte Reg wütend und hob die Stimme. »Als ob es dir auch nur das Geringste ausmachen würde, sie zu enttäuschen. Ich habe eingewilligt, dass du in der Mittagszeit im Pub arbeiten kannst. Aber doch nicht samstagabends, verdammt noch mal.«

»Tosh braucht mich, und ich brauche das Geld«, entgegnete sie, jetzt in der Defensive.

»Ach so, Tosh braucht dich, ja?«, spottete Reg. »Gemessen daran ist es natürlich unwichtig, dass dein Mann und deine Kinder den Abend allein verbringen müssen. Und es ist ja auch so schrecklich vernünftig, den Lohn eines ganzen Abends für einen einzigen Friseurbesuch auszugeben. Darf ich fragen, was es heute zum Abendessen gibt? Oder sollen wir mit knurrendem Magen schlafen gehen, nur weil du hinter der Bar stehen musst?«

Ihr ausweichender Blick verriet ihm, dass er ins Schwarze getroffen hatte, und da verlor er den letzten Rest seiner Geduld. »Du hättest besser etwas zu essen gekauft, Anne!«

»Reg dich nicht künstlich auf, Reg«, meinte sie herablassend und stand vom Sofa auf. »Ich hatte einfach keine Zeit, etwas zum Abendessen einzukaufen. Ich schicke Dulcie Fisch mit Pommes holen.«

Etwas an der Art, wie sie nach ihrer Handtasche griff, weckte seinen Argwohn. Er sprang auf und schnappte sie sich noch vor ihr. Reg nahm ihre Geldbörse heraus und leerte den Inhalt auf den Tisch. Sie enthielt nur zwei halbe Kronen, eine Zwei-Schilling-Münze, ein Six-Pence-Stück und ein paar Kupfermünzen.

»Ich habe dir gestern Abend acht Pfund gegeben«, sagte er aufgebracht. »Wofür hast du das ganze Geld ausgegeben?«

Als er von der Arbeit gekommen war, war er in die Küche gegangen, um sich ein Brot zu schmieren, hatte aber nur einen Laib altbackenes Brot, ein Ei, ein winziges Stück Käse, Milch und Margarine gefunden.

»Ich habe für morgen Rindfleisch gekauft«, antwortete sie trotzig.

Reg zog sie hinter sich her in die Küche, damit sie ihm das Fleisch zeigte. Im Fleischfach befand sich tatsächlich ein kleines Stück Rindfleisch, aber Reg erkannte an der gräulichen Farbe, dass es vom Markt stammte und so zäh sein würde wie Schuhsohlen. »Und was sollen wir dazu essen?«, fragte er.

»Ich hole morgen Gemüse«, entgegnete sie und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. »Die Kinder haben so gequengelt, dass ich das Gemüse vergessen habe.«

»Zeig mir, was du dir gekauft hast«, brummte er und zog sie am Arm ins Schlafzimmer.

»O Reg, sei doch nicht so«, bettelte sie und fing an zu weinen. »Ich habe ein neues Kleid gebraucht. Ich ersetze das Haushaltsgeld von meinem Lohn und kaufe mir nichts Neues mehr, versprochen.«

»Zeig es mir!«, knurrte er und schob sie auf den Kleiderschrank zu.

Sie nahm ein blaues Kleid heraus, und obwohl Reg von Mode nicht viel Ahnung hatte, erkannte er an der aufwändigen Stickerei am Oberteil und auf der Vorderseite des Rockes, dass es sehr teuer gewesen war.

Das war zu viel. Er wusste, dass beide Mädchen dringend neue Schuhe brauchten, und auch ihre Unterwäsche fiel bald auseinander. Er verlor die Beherrschung und wurde zum ersten Mal handgreiflich. Er schlug Anne ins Gesicht.

»Du eitles, selbstsüchtiges Ding«, schimpfte er. »Du lässt deine eigenen Kinder in zu kleinen Schuhen herumlaufen und hungrig zu Bett gehen, nur damit du im Pub eine Schau abziehen kannst.«

Sie blickte schweigend zu ihm auf, die blauen Augen weit aufgerissen und sichtlich schockiert, dass er die Hand gegen sie erhoben hatte, und plötzlich kam er sich ganz schäbig vor.

»Ich wollte dich nicht schlagen«, fuhr er hastig fort. »Aber bei Gott, du hast es verdient, Anne! Bleib nur hier und wirf dich in Schale für diesen schmierigen Tosh, der hat in etwa dein Niveau. Ich kaufe den Kindern etwas zu essen und gehe dann allein mit ihnen ins Kino.«

Er machte auf dem Absatz kehrt, verließ das Zimmer und knallte die Schlafzimmertür hinter sich zu.

Nachdem Reg mit den Kindern die Wohnung verlassen hatte, stand Anne auf, ließ sich ein Bad ein und kühlte ihre Wange mit einem nassen Waschlappen.

»Ich bin erst siebenundzwanzig«, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild. »Mir steht doch sicher mehr zu als das hier?« Als Anne Reg kennen gelernt hatte, war sie siebzehn gewesen und hatte aus der spießigen, kleinbürgerlichen Welt ihrer Eltern ausbrechen wollen. Sie war als Einzelkind so behütet aufgewachsen, dass sie sich magisch angezogen gefühlt hatte von dem zehn Jahre älteren Reg.

Er war Bauarbeiter und sprach mit schwerem Südlondoner Akzent, trug einen handgenähten Anzug von der Sorte, wie sie Schwarzhändler trugen, und sein Gesicht sah aus, als wäre es von Fäusten modelliert worden. Als er im »Empire« beim Tanzen die Arme um sie legte, spürte sie zum ersten Mal in ihrem Leben, was Verlangen war. Er hatte etwas ungeheuer Männliches an sich, eine Ausstrahlung, von der sie ganz weiche Knie bekam, und obwohl eine ihrer Freundinnen sie später beiseite nahm und warnte, dass er zu alt für sie und vermutlich sogar gefährlich sei, hörte sie nicht auf sie.

Sie und Reg hatten sich wieder verabredet, waren sich näher gekommen, und nach einiger Zeit war sie dann schwanger geworden.

Anne stieg in die Wanne und lehnte sich entspannt zurück, ein Tuch um das Haar geschlungen, damit es nicht nass wurde. Nachdenklich blickte sie an ihrem nackten Körper hinab. Kein einziger Schwangerschaftsstreifen, und die Brüste waren noch ebenso fest wie mit siebzehn.

»Warum musste ich auch schwanger werden?«, murmelte sie.

Reg hatte sie damals nicht etwa gedrängt, mit ihm zu schlafen, nein, sie selbst hatte die Initiative ergriffen. Er hatte warten wollen, bis sie heiraten konnten, aber Küssen und Streicheln war Anne nicht genug gewesen, ebenso wenig wie ihre geheimen Treffen. Vielleicht verhielt es sich ja tatsächlich so, wie ihre Mutter später behauptet hatte; vielleicht hatte sie schon damals gewusst, dass ihre Eltern ihn nur dann tolerieren würden, wenn sie Schande über sich brachte und heiraten musste.

Anne verzog schmerzlich das Gesicht bei der Erinnerung an die hässliche Szene an jenem Frühsommerabend neunzehnhundertachtunddreißig. Reg hatte sie nach Hause begleitet, um die unangenehme Pflicht mit ihr zu teilen, ihren Eltern die unerfreuliche Nachricht beizubringen.

Ihr Vater war die ganze Zeit mit dem Rücken zum Kamin stehen geblieben, die Lippen in seiner Missbilligung zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

»Sie bekommt ein Baby von Ihnen!«, rief er aus. »Sie müssen sie vergewaltigt haben. Niemals würde meine Tochter einem Kerl wie Ihnen gestatten, sie anzurühren. Nicht freiwillig.«

Ihre Mutter war noch schlimmer. Sie saß völlig niedergeschlagen auf der Couch und schluchzte so laut, als stünde der Weltuntergang bevor.

Reg seinerseits war wunderbar. Er blieb völlig ruhig und bestand darauf, dass sie ihn bis zuletzt anhörten.

»Ich weiß, dass Sie mich ablehnen, weil ich zehn Jahre älter als Anne und ein einfacher Bauarbeiter aus Deptford bin, während Sie sich mindestens einen Rechtsanwalt oder Arzt für Ihre Tochter gewünscht haben. Aber ich liebe sie, und sie liebt mich, und wir wollen sofort heiraten.«

Ihr Vater zeterte; ihre Mutter weinte sich die Augen aus und beleidigte Reg, indem sie ihn einen gewöhnlichen Emporkömmling schimpfte. Aber Reg ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Geben Sie mir eine Chance, mich zu beweisen«, bat er. »Ich werde für Anne und unser Baby sorgen. Es wird ihnen an nichts mangeln. Ich bitte Sie lediglich, Anne zu erlauben, mich zu heiraten, wenn Sie der ganzen Familie die Schande eines unehelichen Kindes ersparen wollen.«

Natürlich hatten ihre Eltern eingewilligt. Wie Reg ganz richtig erkannt hatte, wollten sie den Makel eines unehelichen Kindes abwenden. Aber sie versuchten nicht einmal, Reg zu mögen, rümpften die Nase über ihre kleine Wohnung in Lee Green und weigerten sich, sie dort zu besuchen. Als im Dezember jenes Jahres Dulcie auf die Welt kam, war von Krieg die Rede, es folgte die Mobilmachung, und Anne konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Eltern ihre Hoffnung darauf setzten, dass Reg das Leben ließ, weil ihre Tochter dann zu ihnen zurückkehren würde, nach Hause, wo sie ihrer Meinung nach hingehörte.

Aber Reg überlebte den Krieg. Es war ihre Mutter, die im Blitzkrieg bei einem Luftangriff ums Leben kam, als sie, bei einem Einkaufsbummel in Lewisham von den Bombern überrascht, zum nächsten Luftschutzbunker hastete.

»O Mummy, du warst in deinen Ansichten so engstirnig, dass du nicht einmal versuchen wolltest, das Gute in Reg zu sehen«, seufzte Anne und stand auf, um sich einzuseifen. »Wenn ihr mir verziehen hättet, wäre vielleicht alles anders gekommen.«

Anne ließ sich wieder ins Badewasser sinken und dachte zurück an den Tod ihrer Mutter. Als Dulcie sieben Monate alt gewesen war, war sie evakuiert und zusammen mit drei anderen jungen Müttern in einem großen Landhaus bei Hastings untergebracht worden. Mit den anderen Müttern zur Gesellschaft und älteren Frauen aus dem Dorf, die ihnen mit Rat und Tat zur Seite standen, fühlte sie sich sicher und war glücklich, und zum ersten Mal in ihrem Leben traf sie eigenständig Entscheidungen und lernte, auf eigenen Füßen zu stehen. Als Reg sie dort besuchte, bevor er mit seiner Einheit aufs Festland geschickt wurde, sprachen sie davon, sich nach dem Krieg dauerhaft in Sussex niederzulassen. Aber das Glück, das sie dort gefunden hatte, hatte ein jähes Endes, als ihre Mutter im August neunzehnhundertvierzig im Bombenhagel umkam.

Ihr Vater konnte das Alleinsein nicht ertragen und verlangte von Anne, heimzukommen und ihm den Haushalt zu führen, ungeachtet dessen, dass er seine Tochter und Enkeltochter damit in Gefahr brachte. Er weinte die ganze Zeit und erwartete von Anne, dass sie ihn bediente, so wie ihre Mutter es getan hatte, wobei er sich ständig über Dulcie beklagte und beleidigend über Reg äußerte. Derweil ging ein wahrer Bombenhagel auf London nieder und verwandelte die Stadt jede Nacht von neuem in ein Chaos aus schrillen Sirenen, ohrenbetäubenden Detonationen und Feuer.

Das Zusammenleben mit ihm zermürbte Anne. Sie wollte zurück nach Sussex, aber aus Pflichtgefühl suchte sie sich eine Bleibe in seiner Nähe und mietete schließlich die kleine Wohnung in New Cross. Als ihr Vater dann drei Jahre später starb, zeigte sich, wie wenig ihre Opfer und ihre Zukunft ihm bedeutet hatten, denn er hinterließ alles, Haus und Ersparnisse, seinem jüngeren Bruder. Anne und die Kinder gingen leer aus.

Als Anne aus der Wanne stieg, schwammen ihre Augen in Tränen. Reg hatte ihr schon dutzende Male gesagt, sie solle die Vergangenheit loslassen, und sie wünschte auch, sie könnte es. Das Problem war nur, dass die Vergangenheit sie nicht losließ. Stattdessen wirkte sie wie ein schleichendes Gift, das Anne in einen Menschen verwandelte, der sie gar nicht sein wollte.

Bevor sie sich anzog, holte sie den Gin aus ihrem Versteck hinten im Kleiderschrank und genehmigte sich einen Schluck direkt aus der Flasche. Der Schnaps brannte in ihrer Kehle und trieb ihr Tränen in die Augen, aber sofort breitete sich wohlige Wärme in ihr aus und verdrängte die bedrückende Leere.

Zwei Stunden später, um acht, stand sie im »Station Hotel«, zapfte Bier und lächelte dabei, als wäre sie die glücklichste Frau auf der Welt. In der schicken Bar war wie jeden Samstagabend ebenso viel los wie in der angrenzenden einfacheren Kneipe, und im Festsaal im rückwärtigen Teil des Hotels feierte ausgelassen eine geschlossene Gesellschaft.

Tosh, der Hotelier, stand in einer Ecke der Bar, in der einen Hand einen großen Whiskey und in der anderen eine Zigarre. Er beobachtete Anne aufmerksam. Es gefiel ihm, wie sie sich bewegte, nein, ihre knackige Figur unter dem eng anliegenden Kleid war nicht zu verachten. Aber ganz besonders gefiel ihm die Gewissheit, dass sie ihm wieder gehören würde, noch bevor die Nacht vorbei war.

Niemand, am allerwenigsten Tosh selbst, wusste, wie er zu diesem Spitznamen gekommen war; sein richtiger Name war Albert Bright. Er war im Jahr neunzehnhundert in Stepney geboren und hatte den Spitznamen aus Kindheitstagen beibehalten, als er Profiboxer geworden war. Obwohl er es in der Boxwelt nie nach ganz oben geschafft hatte, hatte er doch genug Geld gemacht, um sich einen kleinen Pub in Mile End zu kaufen, und nachdem er während des Krieges kräftig auf dem Schwarzmarkt mitgemischt hatte, hatte er schließlich genug beisammen gehabt, um das Hotel zu erwerben.

Das imposante edwardianische Gebäude Ecke Leahurst Road, gleich gegenüber der Bahnhaltestelle Hither Green, war die reinste Goldgrube. In der unmittelbaren Umgebung waren Kneipen rar, und Handlungsreisende betrachteten die Zimmer in den Obergeschossen als strategisch günstig gelegene Basis für Besuche in der Innenstadt und im West End. Darüber hinaus verfügte das Hotel über zwei Festsäle, die für Hochzeiten und andere Anlässe vermietet wurden.

Tosh war verheiratet gewesen, aber seine Frau war vor zwölf Jahren mit einem Seemann durchgebrannt. Er hatte sie nicht vermisst, nur sein Stolz hatte gelitten, aber seitdem begegnete er Frauen mit Argwohn. Tosh wusste, dass er nicht besonders attraktiv war: Er war untersetzt und stämmig, hatte eine Halbglatze, und seine Nase hatte auch ein paar Haken zu viel abbekommen. Trotzdem machten die Frauen ihm schöne Augen. Sie behaupteten, dass er ihnen gefiel, weil er Stil habe und sie zum Lachen bringe, aber er wusste nur zu gut, dass sie es allein auf sein Geld abgesehen hatten.

Anne Taylor war da keine Ausnahme. Sie suchte nach einem Ausweg aus einer Ehe, die sie langweilte. Allerdings war sie da bei ihm an der falschen Adresse. Sie mochte die umwerfendste Braut sein, die er je gehabt hatte, schön wie ein Frühlingsmorgen und richtig damenhaft, aber er hatte nicht die Absicht, sich zwei fremde Kinder aufzuhalsen und sich noch dazu mit einem Kerl wie Reg anzulegen.

Allerdings hatte er nichts dagegen, noch eine Weile mitzuspielen. Allein bei dem Gedanken daran, mit ihr zu schlafen, jagte ihm ein heißkalter Schauer den Rücken hinunter, und in einem ruhigen Moment winkte er sie zu sich herüber.

»Möchtest du mal Pause machen?«, fragte er. »Janet kann aus der Kneipe rüberkommen und dich ablösen. Wir könnten nach oben gehen und was trinken.«

Anne stöhnte innerlich, da sie sehr genau wusste, was Tosh wirklich von ihr wollte. Nicht zum ersten Mal bereute sie, sich auf eine Affäre mit ihm eingelassen zu haben. Sie hatte im vergangenen Dezember angefangen, mittags im Pub zu arbeiten, und Tosh hatte sich mit Komplimenten bei ihr eingeschmeichelt. Schon bald blieb sie nach der Schließung des Pubs am frühen Nachmittag, und bei ein oder zwei Drinks erzählte Tosh ihr von seiner Zeit als Boxprofi, von den eleganten Nachtclubs und den berühmten Leuten, mit denen er damals verkehrt hatte. Sie spürte, dass er diesen glamourösen Zeiten immer noch nachtrauerte, und dachte bei sich, dass er mit der richtigen Frau an seiner Seite zu dem alten Lebensstil zurückkehren könnte. Von da an musste sie ständig an ihn denken, stellte sich vor, sie wäre diese Frau, die in einem umwerfenden Abendkleid und einem sündhaft teuren Nerzmantel von ihm in die angesagtesten Clubs der Stadt ausgeführt würde.

Weihnachten wurde es bitterkalt, und dann fing es an zu schneien. In der Wohnung war es so eisig, dass sich sogar auf der Innenseite der Fensterscheiben Eis bildete, und es war eine Qual, sich auszuziehen und zu baden, ganz zu schweigen davon, Wäsche zu waschen und zu trocknen und die Geschäfte abzuklappern nach etwas, woraus sich eine halbwegs ordentliche Mahlzeit zubereiten ließ. Reg schien die Kälte nichts auszumachen, und er verstand nicht, dass sie so viel Aufhebens darum machte. Zum Glück hatte sie den Job als Bedienung im Pub gehabt, denn dort war es angenehm warm, und ein paar Drinks und Schmeicheleien milderten ihre Verzweiflung.

Tosh war so aufmerksam und besorgt um sie. Er gab ihr oft ein paar Koteletts oder Hackfleisch mit nach Hause, wenn sie ihre Fleischration aufgebraucht hatte, und manchmal steckte er ihr eine Pfundnote zu und schickte sie zum Friseur. Und so führte nicht Verlangen, sondern die Anerkennung, die er ihr zollte, dazu, dass sie sich auf ein paar harmlose Küsse und Zärtlichkeiten mit ihm einließ.

Mitte Februar gestattete sie ihm dann das erste Mal, mit ihr zu schlafen. Auch dazu kam es eigentlich nur, weil daheim die Wasserrohre zugefroren waren und er ihr ein Bad oben in seiner Privatwohnung angeboten hatte. Sein Bad war ein Traum. Ein großer Radiator sorgte für wohlige Wärme, das Wasser kam heiß aus dem Hahn, und die zwei großen Gin, die sie sich vor dem Bad genehmigt hatte, versetzten sie in einen Zustand der Glückseligkeit, in dem ihr vorübergehend alles andere gleichgültig war. Sie lag seit fast einer Stunde in der Wanne, als Tosh hereinkam, in der einen Hand ein vorgewärmtes flauschiges Handtuch für sie und in der anderen einen großzügigen Drink. Er wickelte sie in das Handtuch und trug sie in sein Schlafzimmer. Und auch wenn er kein so berauschender Liebhaber war, sorgten der Reiz des Verbotenen, die Sinnlichkeit von Wärme und Komfort und nicht zuletzt der Gin dafür, dass das Zwischenspiel zu einer reizvollen Angelegenheit wurde.

Anne war froh, dass sie nicht katholisch war wie Reg, weil sie sonst ihren Ehebruch hätte beichten müssen. Aber sie büßte auch so für ihre Untreue, da sie jeden Nachmittag, nachdem sie mit Tosh geschlafen hatte – und es war nie wieder so schön wie beim ersten Mal –, den Mädchen und vor allem Reg unter die Augen treten musste. Anne wusste, dass sie ihre Familie vernachlässigte, indem sie nicht kochte und auch die Wohnung nicht in Ordnung hielt, aber anstatt sie dazu anzuspornen, sich zu bessern, bewirkten die Schuldgefühle bei ihr das genaue Gegenteil: Je mehr Reg sich beklagte, desto weniger tat sie, und jeden Abend, wenn sie zu Bett ging, träumte sie von einem Leben im Luxus, sah sich in erlesenen Kleidern aus Samt und Seide und mit einem funkelnden Diamantenkollier um den Hals am Arm eines Mannes, der auf die schöne Frau an seiner Seite stolz war.

Sie wusste, dass es herzlos und gemein war, aber manchmal stellte sie sich sogar vor, Reg würde sterben. Nicht, dass sie seinen Tod gewollt hätte; sie sehnte sich nur nach Freiheit, so wie in ihrer Kindheit. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie ihn so oft bis zur Weißglut reizte, indem sie sich neue Kleider kaufte. Sie hatte nie bewusst darüber nachgedacht, wollte einfach nur umwerfend aussehen, aber möglicherweise versuchte sie damit unbewusst zu erreichen, dass er irgendwann genug von ihr hatte und sie verließ.

»Komm!«, sagte Tosh ungeduldig und wiederholte seinen Vorschlag, nach oben zu gehen und gemeinsam etwas zu trinken.

Anne zwang sich zu einem Lächeln. »Eine Pause wäre nicht schlecht«, meinte sie, obwohl sie an diesem Abend nicht die geringste Lust hatte, mit ihm zu sprechen oder gar zu schlafen. Aber sie musste ihn bei Laune halten, für den Fall, dass Reg tatsächlich Nägel mit Köpfen machte und sie hinauswarf.

Oben in seinem Wohnzimmer schenkte Tosh ihr einen großen Gin-Tonic ein. Früher einmal war Anne tief beeindruckt gewesen von seiner Wohnung mit der edlen Textiltapete, der Bar, der Musiktruhe und den edlen Sofas, aber an diesem Abend erschien sie ihr ebenso vulgär wie er selbst. Gleich nachdem er ihr den Drink eingeschenkt hatte, knöpfte er seine Hose auf.

»Ich bin heute Abend nicht in Stimmung«, erklärte sie und wandte den Blick ab. »Reg und ich hatten Streit. Zu Hause wird es immer schlimmer. Er hat mich sogar geschlagen.«

Sie hatte erwartet, dass Tosh seine Hose wieder zuknöpfen, sich zu ihr setzen und ihr versichern würde, dass er sich, falls nötig, um sie kümmern werde, aber weit gefehlt. Stattdessen trat er direkt vor sie, legte ihr eine Hand auf den Hinterkopf und dirigierte ihren Mund zu seinem Penis.

Es war entwürdigend – keine Zärtlichkeit, kein liebes Wort, kein Gedanke an sie, nur pure animalische Lust.

Als Tosh sich schließlich neben ihr auf das Sofa fallen ließ und versuchte, den Arm um sie zu legen, schüttelte Anne diesen ab. Tränen der Erniedrigung traten ihr in die Augen.

»Wag es ja nicht, noch einmal so mit mir umzugehen«, weinte sie. »Ich bin keine Hure.«

»Tut mir Leid, Schätzchen«, entgegnete er, aber sie konnte keinen Hauch von Reue auf seinen Zügen erkennen. »Ich habe die Kontrolle verloren. Ich revanchiere mich später.«

»Ich kann nicht länger bleiben«, erwiderte sie und wünschte, sie könnte jetzt gleich gehen. »Ich sagte ja bereits, dass es zu Hause nicht zum Besten steht. Ich fürchte, Reg könnte sogar so weit gehen, mich rauszuwerfen.«

»Na ja, die eine oder andere Nacht kannst du mir gern das Bett wärmen«, gab er grinsend zurück, als wäre das Ganze nur ein Scherz.

In Anne kochte Wut hoch. »Bedeute ich dir denn gar nichts?«, fragte sie gereizt. »Ich habe dir erzählt, dass Reg mich heute geschlagen hat. Ich fühle mich mies und habe Angst, und du hast alles nur noch schlimmer gemacht. Ich wünschte, ich hätte nie angefangen, für dich zu arbeiten. Seitdem habe ich nichts als Ärger.«

»Komm schon, Babe«, meinte er, zog sie in die Arme und küsste sie. »Du weißt doch, dass ich große Stücke auf dich halte, ich bin nur nicht gut im Umgang mit Herzschmerz und so. Ich sage nur eins: Du musst dich unbedingt wieder mit deinem Alten vertragen. Du musst an die Kinder denken. Und jetzt bleib hier sitzen, trink etwas und rauch eine, bis du dich beruhigt hast. Ich muss zurück in die Bar.«

Anne gehorchte, aber Toshs Worte und seine Haltung hatten nicht eben dazu beigetragen, sie zu beruhigen. Im Gegenteil: Sein Benehmen hatte ihr nur noch mehr schlechte Erinnerungen beschert und ihre Wut weiter angefacht.

Reg hielt seine beiden Töchter an der Hand, als sie durch die schwach erleuchtete Unterführung unter der Haltestelle Hither Green gingen. Sie hatten in einem Café Eier mit Pommes gegessen und waren anschließend im Park-Kino gewesen. Das schon recht alte Lichtspielhaus zeigte nur selten neue Filme, lockte sein Publikum aber mit Doppelvorstellungen beliebter Klassiker. An diesem Abend war erst Dumbo und anschließend Daddy Long Legs mit Shirley Temple gespielt worden. Während der ersten Vorführung, Dumbo, hatten die Mädchen wie gebannt auf die Leinwand gestarrt, aber während des zweiten Films war May so unruhig geworden, dass Reg nichts anderes übrig geblieben war, als zu gehen. Den ganzen Weg den Hügel hinunter hatte Dulcie sich darüber beklagt, dass May ihnen den Abend verdorben hätte.

»Das reicht jetzt, Dulcie«, wies Reg sie zurecht. »May ist erst fünf und kann sich eben noch nicht so lange konzentrieren. Wir werden uns Daddy Long Legs irgendwann noch mal ansehen.«

»Können wir Mummy besuchen gehen?«, fragte May, als sie die Unterführung verließen. Sie waren nur selten nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs, und das hell erleuchtete »Station Hotel« sah nicht nur einladend aus, sondern klang auch so mit der Musik, die durch die Türen bis auf die Straße drang.

»Natürlich nicht«, entgegnete Reg. »Kindern ist das Betreten von Bars verboten.«

»Aber ich habe sie noch gar nicht in ihrem neuen Kleid gesehen!«

Dulcie warf ihrer Schwester einen eindringlichen Blick zu; manchmal hätte sie schwören können, dass May geistig zurückgeblieben war. Sie musste doch wissen, dass das neue Kleid der Anlass für den heutigen Streit zwischen Mum und Dad gewesen war. Gleich würde sie auch noch erzählen, dass der Parkwächter sie fast erwischt hätte.

»Sie zieht es ganz sicher morgen wieder an«, sagte Reg und klang dabei zu Dulcies Verwunderung gar nicht böse. Vielleicht hatte er Mum ja inzwischen verziehen. Sie fand, dass ihre Eltern sich manchmal ganz schön komisch benahmen. Granny hatte auch mehr als einmal gesagt, sie seien verschieden wie Tag und Nacht. Wenn sie nicht stritten, turtelten sie wie frisch Verliebte, küssten und drückten sich unablässig. Dieses Getue war ihr ebenso peinlich, wie die Streiterei sie beunruhigte. Sie wünschte, ihre Eltern könnten so sein wie Mary Abbotts Eltern, die nur ein paar Häuser weiter wohnten. Sie gingen immer freundlich miteinander um, weder übertrieben liebevoll noch gemein. Allerdings war Mr. Abbott sehr klein und schmächtig, und seine Frau war groß, dick und unansehnlich. Vielleicht war das ja der Grund?

»Jetzt aber ab ins Bett«, forderte Reg, als sie die Wohnung betraten. »Während ihr euch auszieht, bereite ich euch noch eine warme Milch zu.«

Als er in der Küche vor dem Herd darauf wartete, dass die Milch warm wurde, schaute Reg sich um und verzog seufzend das Gesicht. Die Wände waren voller Fettspritzer, der Linoleumboden war Wochen nicht mehr gewischt worden, und Tischdecke und Gardinen hätten dringend gewaschen werden müssen. Als sie vor achtzehn Monaten eingezogen waren, hatte er den Raum ganz weiß angestrichen und den Küchenschrank und den Fensterrahmen leuchtend gelb lackiert. Anne war so begeistert gewesen, dass sie aus gelbem Baumwollstoff Tischtuch und Vorhänge genäht und sogar ein paar Topfpflanzen für das Fensterbrett besorgt hatte. Warum hatte sie alles so verkommen lassen? Sah sie den Schmutz nicht, oder war ihr inzwischen alles egal?

Er liebte sie immer noch so sehr wie am Tag ihrer Hochzeit, und auch seine Träume waren noch dieselben. In ein paar Jahren wollte er sein eigenes Bauunternehmen gründen und ihnen ein hübsches kleines Häuschen in einem Londoner Vorort kaufen. Vielleicht würde Anne wieder die Alte werden, wenn sie dort lebte, wo sie hingehörte.

Reg war eins von acht Kindern. Seine Kindheit und Jugend war überschattet worden von Hunger, Armut und einem ewig betrunkenen, gewalttätigen Vater. Trotzdem hatte Reg schon als sieben- oder achtjähriges Kind gespürt, dass es einen Weg in eine bessere Welt geben musste, und den hatte er dann gesucht. Während seine Geschwister sich damit begnügt hatten, leere Büchsen durch die Straßen zu kicken oder am Flussufer Schlammkuchen zu backen, hatte er lange Spaziergänge durch den Greenwich Park unternommen, um sich die eleganten Häuser in Blackheath anzusehen und ihre wunderschönen Gärten zu bewundern.

Seine Mutter schien zu verstehen, was er empfand, und als er vierzehn war, überredete sie einen Maurermeister, ihn zu seinem Lehrling zu machen, obwohl sie sich selbst das Leben damit noch schwerer machte, als es ohnehin schon war. Während Regs Freunde nach und nach auf die schiefe Bahn gerieten, hielt er sich eisern an seine Arbeit. Und auch nach zwölf Stunden kräftezehrenden Betonmischens und Steineschleppens auf der Baustelle besuchte er noch die Abendschule. Er gab sich nicht mit Kenntnissen im Mauern zufrieden, sondern lernte auch Putzer, Schreiner und Installateur, was ihm auch in den schweren Jahren der Depression Arbeit sicherte, sodass er seine inzwischen verwitwete Mutter und die jüngeren Geschwister finanziell unterstützen konnte.

Er war siebenundzwanzig, als er Anne kennen lernte, und obgleich er vor ihr schon viele Freundinnen gehabt hatte, war es ihm mit keiner Beziehung wirklich ernst gewesen. Anne mit dem duftenden Haar, den feinen Manieren und der gepflegten Ausdrucksweise vermittelte ihm dasselbe Gefühl wie die Prachtbauten in Blackheath, die er als Kind bestaunt hatte. Er errötete wie ein Schuljunge, sein Puls raste, und er hing an ihren Lippen. Und ihr ging es nicht anders. Sie nahm den Zug oder den Bus, um sich mit ihm zu treffen, schickte ihm Liebesbriefe, wenn er außerhalb von London arbeitete, umgab ihn mit der Art lieblicher Romantik, von der er bislang geglaubt hatte, es gäbe sie nur in Groschenromanen. Schon nach wenigen Wochen machte er ihr einen Antrag, noch bevor sie das erste Mal miteinander schliefen, weil er überzeugt davon war, dass sie füreinander bestimmt waren.

Sie hatten es schwer gehabt, das ließ sich nicht leugnen. Die Ablehnung ihrer Eltern, dann die Trennung im Krieg, der tragische Tod ihrer Mutter und das Theater mit ihrem Vater, und das alles als junge Mutter mit zwei kleinen Kindern. Andererseits hatten alle Frauen es im Krieg schwer gehabt, und inzwischen war das Schlimmste überstanden, und sie hatten sogar ein anständiges Zuhause. Die Mädchen waren klug und gesund. Warum also hatte sie das Interesse an ihnen allen verloren?

Die Milch war jetzt warm genug. Reg verteilte sie auf zwei Tassen, rührte in jede einen Teelöffel Zucker und brachte sie dann den Mädchen auf ihr Zimmer. Sie saßen im Bett und warteten schon auf ihn. Er musste lächeln. Sie sahen aus wie zwei Engel in ihren weißen Nachthemden und mit dem ordentlich gebürsteten Haar, das ihnen seidig über die Schultern fiel.