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Ein altes Haus mit einer dunklen Vergangenheit: Der mitreißende Roman »Das Geheimnis von Colonsay« von Kaye Dobbie jetzt als eBook bei dotbooks. Australien im Jahr 1901: Nur zwölf Jahre alt ist Alice, als ihre Eltern sie fortschicken, um sich Arbeit zu suchen. Im herrschaftlichen Anwesen Colonsay an der australischen Küste findet sie eine Anstellung – doch sie spürt, dass sich hier eine Tragödie anbahnt ... Colonsay in der Gegenwart: Nur ihrem Mann zuliebe nimmt Rosamund Markov ihr Erbe an, das alte Familienanwesen, das sie vor Jahren hinter sich ließ. Doch als die Renovierungen beginnen, muss sie feststellen, dass etwas Unheimliches in dem Haus vor sich geht. Ein seltsamer Duft, nächtliche Geräusche und schließlich eine Stimme, die Rosamunds Namen zu rufen scheint, beunruhigen sie zutiefst. Welches Geheimnis birgt Colonsay? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Familiengeheimnisroman »Das Geheimnis von Colonsay« von Kaye Dobbie wird Fans der Bestsellerautorinnen Katherine Webb und Emily Gunnis begeistern! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 539
Über dieses Buch:
Australien im Jahr 1901: Nur zwölf Jahre alt ist Alice, als ihre Eltern sie fortschicken, um sich Arbeit zu suchen. Im herrschaftlichen Anwesen Colonsay an der australischen Küste findet sie eine Anstellung – doch sie spürt, dass sich hier eine Tragödie anbahnt... Colonsay in der Gegenwart: Nur ihrem Mann zuliebe nimmt Rosamund Markov ihr Erbe an, das alte Familienanwesen, das sie vor Jahren hinter sich ließ. Doch als die Renovierungen beginnen, muss sie feststellen, dass etwas Unheimliches in dem Haus vor sich geht. Ein seltsamer Duft, nächtliche Geräusche und schließlich eine Stimme, die Rosamunds Namen zu rufen scheint, beunruhigen sie zutiefst. Welches Geheimnis birgt Colonsay?
Über die Autorin:
Kaye Dobbie wurde in Victoria geboren und verbrachte den Großteil ihrer Kindheit in South Wales. Sie arbeitete im Justizministerium von Brisbane und als Regierungsbeamtin, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft für das Schreiben widmete. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Bendigo, Victoria.
Die Website der Autorin: kayedobbie.com/
Die Autorin bei Facebook: facebook.com/KayedobbieAuthor/
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin »Das Geheimnis von Colonsay«.
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eBook-Neuausgabe Februar 2024
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1999 unter dem Originaltitel »Footsteps in an Empty Room« bei Random House Australia Pty Ltd, Sydney. Die deutsche Erstausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Der Fluch von Colonsay« bei Weltbild.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1999 by Lilly Sommers
Published by Arrangement with Kaye Dobbie
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/David Hughes, Australian Camera, Konmac, Sandra Lass, Leah-Anne Thompson, Shuang Li
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98690-709-9
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Kaye Dobbie
Das Geheimnis von Colonsay
Roman
Aus dem Englischen von Claudia Krader
dotbooks.
Für meine Mutter
Der Feuerball der Sonne war hinter dem Horizont versunken. Jenseits der Bucht leuchteten die Wolken orange und rot über den Gipfeln der You-Yang-Berge. Eine Szenerie von fast überirdischer Schönheit. Alice Parkin sah hinüber zur Weide, auf der die Schafe lange Schatten warfen. Sie tat so, als schüttelte sie nur das weiße Damasttischtuch aus, aber eigentlich genoss sie die abendlich kühle Luft vom Wasser her und diesen kurzen Augenblick der Freiheit. Hinter ihr ragte, stets gegenwärtig, das Anwesen von Colonsay empor. Ein großer, drohender, Angst einflößender Schatten. Glücklich war sie nicht in diesem Haus. Und da sie jetzt seit einem Monat dort lebte, wusste sie, dass sie hier auch nie glücklich sein würde.
»Du wirst dich damit abfinden müssen«, hatte ihr Vater mitleidslos gesagt. »Wir können nicht mehr für dich sorgen, Alice. Du musst deinen eigenen Lebensunterhalt verdienen. Schließlich bist du schon zwölf.«
Nur ihre Mutter litt mit ihr. Schließlich war Alice’ Lehrerin mehrmals bei ihr gewesen, um sie auf die überdurchschnittliche Begabung ihrer Tochter hinzuweisen. Aber der Vater meinte nur, Klugheit sei überflüssiger Luxus. Was könnte sie einem Mädchen wie Alice schon nutzen? Kraft und körperliche Ausdauer, das war es, was sie brauchte.
Mira Parkin streckte ihren schmerzenden Rücken und wandte sich mit einem fragenden Gesichtsausdruck ihrer Tochter zu. »Mrs Cunningham ist doch nett. Und die Kinder sind gar nicht so übel. Du weißt ja, wie das so ist, du hast genügend Brüder und Schwestern.«
Ja, Alice wusste, wie das so war. Sie blickte zu ihren Geschwistern hinüber und wünschte sich, immer noch eine von ihnen zu sein. »Ja, Mutter, sie sind nicht übel.« Das war es, was ihre Mutter hören wollte, wusste Alice.
Spürbar fiel die Anspannung von ihrer Mutter ab, als sie tief ein- und ausatmete. Dabei straffte sich die einfache Leinenbluse über ihrer flachen Brust. »Na also«, murmelte sie. »Dann ist das entschieden, Liebes.«
»Tja, damit war es entschieden«, flüsterte Alice jetzt und verspürte einen kleinen Stich in ihrem Inneren. Sie schüttelte das Tuch ein letztes Mal kräftig aus und drehte sich, da sie es nicht mehr hinauszögern konnte, Richtung Haus um.
Colonsay war ein zweistöckiges Gebäude aus solidem Sandstein, mit einem quadratischen Grundriss und einer breiten Vorderveranda. Links und rechts des Weges zur Eingangstür waren geometrische Beete angelegt. Mrs Cunningham legte mehr Wert auf einen gepflegten Zugang zum Haus als frühere Hausherrinnen, und ihr Mann hatte ihr dafür allerlei exotische Pflanzen besorgt. Doch der alte Geißblattstrauch war geblieben, und seine Ranken umschlangen die Verandapfosten und reichten bis hinauf zum Dach. Der erste Cunningham, so hieß es, hatte einen Steckling aus dem fernen China mitgebracht und dort neben den Eingang gepflanzt. Alice liebte den süßen, schweren Duft.
Die Anfänge des Hauses reichten zurück bis ins Jahr 1830. Bauherr war derselbe Cunningham gewesen, der auch das Geißblatt gepflanzt hatte, Cosmo Cunninghams Großvater. Als er sich damals auf der Bellarine-Halbinsel niedergelassen hatte, hatte es dort nichts gegeben außer seinen Schafen. Der Kern des Hauses war seitdem trotz Cosmos umfangreicher Anbauten und Veränderungen unberührt geblieben. Im Keller gab es sogar noch einen alten, steingefassten Brunnen. Manchmal sandte die Köchin, Mrs Gibbons, Alice dort hinunter, um Wasser zu holen. Das Wasser des Brunnens schmeckte nämlich besonders frisch.
Dunkelheit hatte Alice schon immer verstört, und nun schien Colonsay eine ähnliche Wirkung auf sie zu haben. Wäre sie so dumm und fantasielos gewesen, wie ihre Eltern sie sich gewünscht hatten, hätte sie die unterschwellige Bedrohung vielleicht gar nicht wahrgenommen. Sie konnte zwar nicht erklären, was genau sie beunruhigte, aber sie spürte, dass da etwas war.
Das Haus war von Leben erfüllt, mit dem Lärm und der Unruhe, die die häufigen Gäste mit sich brachten. Mr Cunningham befand sich manchmal wochenlang auf Reisen, doch wenn er im Hause weilte, brachte er stets Gäste mit und gab viel Geld für sie aus. Einmal hatte Alice gehört, wie jemand verächtlich sagte, Colonsay sei eher ein Hotel als ein Zuhause. Die aufwendige Bewirtung erschien ihm wohl übertrieben. Als sie dann Mrs Gibbons gefragt hatte, was das bedeuten sollte, hatte sie als Antwort nur eine Kopfnuss und die strenge Anweisung bekommen, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Später hatte sie jedoch über diesen Satz nachgedacht. Hieß das etwa, dass Cosmo gar nicht der überaus beliebte Gastgeber war, für den er sich hielt?
Alice wollte das nicht hoffen. Sie mochte Cosmo Cunningham. Er war groß, kräftig, grauhaarig und hatte eine laute Stimme. Meist roch er nach den Zigarren, deren Rauch er so liebte. Seine Augen unter den gesenkten Lidern blickten freundlich, und er fragte Alice immer nach ihrer Familie, wenn er sie bemerkte. Er vergaß Alice’ Vater niemals die Rettung vor dem sicheren Tod in der eisigen Port Phillips Bay. Die Bucht hatte sich damals nach einem plötzlichen Wettersturz in ein Chaos aus haushohen Wellen und prasselndem Regen verwandelt. Cosmo war in seiner Jugend gern segeln gegangen, und Alice’ Vater, damals selbst noch ein Bub, hatte ihn stets begleitet. Ja, sie mochte Cosmo Cunningham. Was sie von Mrs Cunningham nicht behaupten konnte.
Cosmo liebte seine junge Frau und war stolz auf ihre Schönheit. Jeder wusste das. Man konnte es ihm ansehen, wenn er sie anblickte. Sie sah mit dem dunklen, hochgesteckten Haar und den Familiensmaragden an ihrem schlanken Hals auch wirklich bezaubernd aus. In ihrem Besitz befanden sich so viele Kleider und Schuhe, dass Alice sich gar nicht alle merken konnte. Es dauerte immer ewig, bis sie sich angekleidet hatte. Selbst ihr Name war wundervoll: Ambrosine. Cosmo nannte sie allerdings zärtlich Rosie.
Mrs Gibbons liebte Ambrosine ebenfalls und verwöhnte sie mit appetitanregenden Leckereien, denn um die Gesundheit der Hausherrin stand es nicht zum Besten. Empfindsam, so nannte Mrs Gibbons sie. Alice hörte das alles mit Verwunderung. Es war doch seltsam, dachte sie, dass Ambrosine immer dann krank wurde, wenn Cosmo missliebige Gäste ins Haus brachte. Für gewöhnlich handelte es sich dabei um seine Parteifreunde. Aber seit der Kopfnuss behielt Alice ihre Gedanken lieber für sich.
Das Paar hatte einen Sohn und eine Tochter. Es gab ein Kindermädchen für die kleine Ada und eine Gouvernante für beide Kinder. Bernie, der Sohn, würde bald aufs Internat gehen – er war schon zehn. Alice würde ihn vermissen, sie hatten sich angefreundet.
Bertie Cunningham war ein netter, freundlicher Junge, und sie fragte sich, wie es ihm wohl im Internat ergehen würde. Cosmo Cunningham hielt diesen Schritt jedoch für unabdingbar, um aus seinem Sohn einen Mann zu machen. Und seine Mutter schien das Ganze wenig zu kümmern, wenn sie überhaupt darüber nachdachte. Armer Bertie, er wollte nicht zu Fremden abgeschoben werden. Vielleicht, dachte Alice, vielleicht sind Bertie und ich gar nicht so verschieden.
»Alice! Alice Parkin.«
Alice sah nach oben. Da war Bertie und grinste durch eine der rautenförmigen Dachluken. Er hatte dort sein Geheimversteck, in dem er alle seine Schätze aufbewahrte. Sie winkte und schritt in ihren strapazierfähigen Stiefeln weiter Richtung Haus. Die Stiefel hatten ihren Vater fünf Schillinge gekostet und mussten mindestens zwei Jahre halten. Alice traute sich nicht, ihm zu sagen, dass sie ihr bereits wieder zu klein waren. Sie drückten so, dass ihr nachts die Füße schmerzten. Sie träumte von weichen, glänzenden Pantöffelchen, wie Mrs Cunningham welche besaß. Aber sie konnte nur davon träumen, das wusste sie. Es half ihr aber trotzdem, schließlich war sie erst zwölf.
»Alice«, zischte Meggy warnend, als sie durch den Seiteneingang in die Küche schlüpfte. Es dampfte aus einem Topf auf dem großen schwarzen Herd, der die Küche ordentlich aufheizte. Mrs Gibbons stand mit roten Augen und einem verärgerten Gesichtsausdruck am Küchentisch und hackte Zwiebeln. Cosmo war im Parlament des Staatenbunds in Melbourne gewesen und wurde für heute Abend zurückerwartet. Mit Gästen natürlich.
»Wo hast du gesteckt, Mädchen?«, wollte Mrs Gibbons wissen. »Schau, dass du dich bewegst. Sonst ist es Zeit fürs Abendessen, und nichts ist fertig.«
Meggy zog eine Grimasse und setzte sich in ihre Ecke, wo sie Kartoffeln schälte. Alice folgte ihr.
»Der Madam geht es nicht gut«, sagte Mrs Gibbons, seufzte und schüttelte den Kopf. »So eine reizende, empfindsame Dame. Ich bete jeden Sonntag für sie. Alice, du kannst ihr ein bisschen Brühe nach oben bringen. Pass auf, dass du nichts davon verschüttest.«
Alice stand auf und trocknete sich die Hände nervös an ihrer Schürze ab.
»Mach dich zurecht. Dein Haar ist so verstrubbelt wie das einer Aborigine«, fügte Mrs Gibbons unfreundlich hinzu.
Meggy verhielt sich ruhig. Selbst ein Aborigine-Halbblut, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich in Mrs Gibbons Gegenwart ab und an taub zu stellen.
Alice ordnete die beanstandete Haarpracht und steckte das weiße Häubchen wieder fest. Während die Köchin ordentlich und flink ein Tablett zurechtmachte, stand sie wartend neben dem Tisch.
»Nimm das und pass auf mit der Treppe«, wies die ältere Frau sie an und trocknete ihre tränenden Augen mit den Schürzenzipfeln. Die Zwiebeln waren erst zur Hälfte gehackt, aber Mr Cunningham liebte sie so, wie Mrs Gibbons sie machte, und lobte sie stets dafür. In einem Anflug von Rebellion fragte sich Alice, ob er sie ebenso schätzen würde, müsste er sie selbst hacken.
Manchmal wurde das Mädchen von ihren eigenen Gedanken überrascht. Sie kamen unerwartet, und ihr Inhalt entsprach so gar nicht den Vorstellungen, mit denen sie erzogen worden war. Ab und zu erschienen sie ihr sogar so fremd, als hätte ein anderer sie erdacht.
Die Hintertreppe führte vom Gang vor der Küchentür und neben der Spülküche nach oben. Alice stieg vorsichtig die Stufen hinauf, sorgfältig auf das Tablett achtend. Die Tritte waren glatt, das Holzgeländer rau und die Wände nachgedunkelt. Da die Treppe nur den Dienstboten als Aufgang diente, wurde auf solche Dinge nicht geachtet.
Oben angekommen, fand sich Alice in einer Welt mit weichen Teppichen und extravaganten Tapeten wieder. Das Glasfenster am anderen Ende des Korridors erstrahlte im Abendlicht in einem Kaleidoskop aus Grün, Rosa und Blau – die Farben unwirklich wie in einem Märchenbuch. Alice richtete das Tablett wieder richtig aus und warf einen kurzen Blick auf das Fenster, das erst letzten Monat vollendet worden war. Es zeigte eine Frau inmitten eines Wasserwirbels, leicht geschürzt mit etwas, das Alice an den dunkelbraunen Seetang erinnerte, der sich nach jedem Sturm am Strand sammelte.
Hier im Ostflügel des Hauses lagen die besten Schlafzimmer, die den erwachsenen Familienmitgliedern und ihren Gästen vorbehalten waren. Die Kinder schliefen im Westflügel. Ambrosine Cunninghams Schlafzimmer lag an der Front des Hauses, war groß und sehr feminin eingerichtet. In diesem Zimmer verbrachte Madam den größten Teil ihrer Zeit, wenn sie sich nicht in ihrem Empfangszimmer in Erdgeschoss aufhielt. Schön, elegant und mit ausgezeichneten Umgangsformen, schien sie die perfekte Gattin für einen Mann wie Cosmo zu sein. Doch was verbarg sich hinter ihrem stets ruhigen Lächeln?
Eine große, weite Leere, dachte Alice. Sie hielt Berties Mutter für eine selbstsüchtige, verwöhnte Frau.
Sie klopfte und öffnete die Schlafzimmertür. Blinzelnd stellte sie fest, dass es drinnen durch die zugezogenen Vorhänge dunkler war als auf der Hintertreppe. Überall im Zimmer standen kleine Beistelltischchen und allerlei Zierrat herum. Orientalische Teppiche bedeckten den Boden, die Stühle waren mit üppigen Hussen verhüllt und von dicken Kissen gekrönt. Der Einfluss und der Reichtum der Cunninghams spiegelte sich in allen Details der Einrichtung wider. Alice bekam kaum Luft angesichts der Fülle. Wäre das ihr Zimmer, dann würde jetzt die kühle Abendluft durch weit geöffnete Fenster ins Zimmer strömen und die dunklen Schatten vertreiben.
»Wer ist da?« Die sanfte Stimme klang fragend. Rosie Cunningham hob den Kopf von der Ottomane und beschattete die Augen mit der Hand, als ob sie das fahle Licht vom Gang kaum ertragen könnte. Auch der Hund neben ihr, ein kleines Knäuel aus cremefarbenem langem Haar, richtete den Kopf mit dem blauen Satinband auf und kläffte entrüstet.
»Ach, Alice. Bringst du Brühe? Komm her damit, bitte.«
Alice tat, wie ihr geheißen, und stellte das Tablett auf ein Tischchen neben der Ottomane. Dabei versuchte sie, weder die Vase mit den weißen Rosen noch die Fotos im Goldrahmen, die Riechsalzfläschchen oder die Wasserkanne mit dem Silberdeckel zu verrutschen oder hinunterzustoßen. Mrs Cunningham sah ihr mit halb geschlossenen Lidern zu und streichelte dabei abwesend den Hund. Krank sah sie für Alice nicht aus.
Früher an diesem Nachmittag hatte Mrs Cunningham Modell für ein Porträt gesessen, das ihr Mann in Auftrag gegeben hatte. Da war es ihr anscheinend noch gut gegangen. Aber der Maler, Mr Marling, sah auch besser aus und schien interessanter zu sein als Cosmos Gäste. Von ihren eigenen Gedanken überrascht, zuckte Alice unwillkürlich zurück, als könnte die andere sehen, was in ihrem Kopf vorging.
»Danke, Alice.«
»Darf ich Ihnen Tee einschenken?« Das schlechte Gewissen zwang Alice zu einer Beflissenheit, die ihr sonst eher fremd war.
Rosie Cunningham hob die Lider und richtete ihren Blick auf Alice, überrascht und auch ein wenig amüsiert. »Das ist nicht nötig. Danke, Alice.«
Alice machte einen Schritt zurück und beförderte dabei versehentlich einen kleinen Gegenstand unter die Ottomane. Mrs Cunningham hatte einen feinen Seidenschal mit einem Muster aus Blumen und Früchten übergeworfen, der in großzügigen Falten bis auf den Boden hinabreichte. Alice bückte sich, fühlte durch die rutschigen Seidenbahnen, bis sich ihre Hand um etwas Hartes schloss. Ein Elfenbeinknopf in Form einer Blume. Einer Rose.
Alice erkannte ihn sofort. Er gehörte zu Mr Marlings dunkelblauer Weste. Sie hatte die Knöpfe schon häufiger bewundert, wenn sie ihm an der Tür Hut und Stock reichte oder ihn die Treppen hinauf zu dem Zimmer am Ende des Gangs brachte, das er als Studio nutzte. Mr Marling zufolge war das Licht dort besser als in Ambrosines Empfangszimmer im Erdgeschoss. Und er führte an, dass Störungen durch Kinder oder Dienstboten dort weniger häufig seien. Es waren nur wenige Schritte von dort bis zu Madams Schlafzimmer, zu ihrer Ottomane. Der Knopf hatte dort eigentlich nichts verloren.
Der Hund sprang auf einmal von der Liegestatt herunter und bellte sie an. »Sei still, Cleo. Was machst du da, Alice?« Mrs Cunninghams Stimme klang verdrossen, und etwas in ihrem verschleierten Blick mahnte Alice zur Vorsicht. Ihre Finger schlossen sich fest um den Knopf, sodass die Rose sich in ihre Haut drückte.
»Mein Absatz hatte sich in Ihrem Schal verfangen, Madam. Ich habe ihn gelöst.«
Mrs Cunningham sah ihr direkt ins Gesicht. »Ah so«, sagte sie leise. »Das ist alles für den Augenblick, Alice.«
Alice verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ihre Knie zitterten. Sie betrachtete den Knopf in ihrer Hand. Die Rose war voll erblüht und üppig, wie die Rosen in Madams Garten. Alice schob den Knopf in ihre Tasche und machte sich wieder auf den Weg nach unten.
»Was ist los?«, fragte Meggy. »Du bist die ganze Zeit so ruhig.«
Jenseits der Tür erklang das volltönende Gelächter des Hausherrn, das von den Parteifreunden erwidert wurde, die er aus Melbourne mitgebracht hatte. Lange Jahre waren sie alle an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt gewesen, die die alte Queen letztes Jahr kurz vor ihrem Tod unterschrieben hatte. Und nun gehörten die Männer zur ersten Regierung Australiens, das am 1. Januar 1901 ein Staatenbund geworden war.
Cosmo Cunningham hatte Alice eines Morgens davon erzählt. Sie war mit einem Eimer Küchenabfälle zu den Hühnern unterwegs gewesen, als er sie hinter dem Haus aus Versehen fast über den Haufen geritten hatte. Er erklärte ihr, was ein Staatenbund war, dass sich die Einzelstaaten der Kolonie Australien zusammengeschlossen hatten und nun fester miteinander verbunden waren als Mrs Gibbons Korsettstangen. Obwohl immer noch der britischen Krone zugehörig, war Australien jetzt selbstständig und stark. Jeder wusste, dass es den deutschen und französischen Großmachtgelüsten etwas entgegensetzen musste. Eine große Armee unter einer gemeinsamen Führung war der erste Schritt dazu. Es gab noch andere Gründe für den Zusammenschluss, doch Cosmo war hauptsächlich mit den militärischen Belangen beschäftigt. Kein Wunder, befand sich doch sein Schwager mit einer Einheit der Australian Lighthorse Kavallerie in Südafrika, um den Kampf gegen die Buren zu unterstützen.
Erst letzten Monat hatte der erste Generalgouverneur, Lord Hopetoun, die Feierlichkeiten zur Gründung des Staatenbunds geleitet, die mit Paraden und Aufmärschen unter großer Anteilnahme der begeisterten Bevölkerung begangen wurden. Lord Hopetoun beauftragte Mr Edmund Barton mit der Bildung der Übergangsregierung, die bis zu den Wahlen im März im Amt bleiben sollte. Cosmo Cunningham gehörte zu den Kabinettsmitgliedern.
»Bei diesen Wahlen werden die Wähler ihre Vertreter im Parlament bestimmen. Sie können so festlegen, wem sie den Aufbau ihres Landes anvertrauen. Männern mit Erfahrung und Charakterstärke, die einen Kurs berechnen und ihn einhalten können, sollte ihnen auch der Wind ins Gesicht blasen«, erklärte Cosmo Alice.
»Wäre ich ein Mann, würde ich Ihnen meine Stimme geben, Sir«, war es Alice herausgerutscht. Er lachte volltönend und seine Augen blitzten. Warum sollte Cosmo denn nicht Premierminister werden? Alice fände das nur angemessen.
»Alice?« Meggys Stimme durchdrang ihre Gedanken. »Alice, was ist denn?«
»Nichts«, antwortete Alice schließlich. »Ich bin nur müde, und mir tun die Füße weh.« Sie zog einen Flunsch und streckte die Füße unter dem schweren Rock hervor. Meggy gab einen Laut des Mitgefühls von sich. »Triffst du dich heute Abend mit Jonah?«, fragte Alice und sah ihre Freundin von der Seite an.
»Vielleicht.« Meggy zuckte mit den Schultern. Jonah war Meggys Halbbruder. Er hatte früher als Viehtreiber auf dem Land der Cunninghams jenseits des Murray River gearbeitet. Dort zog sich das flache Land endlos hin, bis zum Horizont, und die Sonne brannte heiß vom wolkenlosen Himmel. Cosmo war letztes Jahr im Juni dort gewesen, um die Auswirkungen der Dürre zu begutachten, die man allgemein die Staatenbund-Dürre nannte. Er hatte Jonah nach Colonsay mitgebracht.
Meggy und Jonah hatten dieselbe Aborigine-Mutter, aber nicht denselben Weißen zum Vater. Sie ähnelten sich nicht sehr, nur die Form ihrer Augen und ihr Lächeln glichen einander. Jonah hatte eine Missionsschule besucht und sprach wie ein vornehmer Herr, wohingegen Meggy in der Küche der Viehstation gearbeitet hatte.
Alice liebte Meggy, aber in Jonahs Gegenwart sträubten sich ihr die Nackenhaare. Ähnlich wie bei Cleo, wenn sie eine Maus roch. Er bewegte sich so geräuschlos, dass sie misstrauisch wurde. Und manchmal, wenn sie etwas erzählte, schien er sich über ihre Geschichten zu amüsieren. Das fand sie anmaßend. Schließlich hatte ein Halbblut-Viehtreiber wohl kaum einen Grund zur Überheblichkeit, oder?
»Bertie ist nur noch zwei Wochen hier«, sagte Alice auf einmal zusammenhanglos.
Meggy kicherte nur.
»Ich werde ihn vermissen. Er ist wie ein Bruder für mich.«
»Warte nur ab, in ein paar Jahren schaut er auf dich runter wie auf einen Haufen Hundekacke. So wie alle anderen auch.«
»Meggy, du solltest solche Ausdrücke nicht benutzen.«
»Ist doch wahr.«
Aber Alice konnte nicht glauben, dass Bertie Cunningham jemals auf sie herabsehen würde. Sie waren Freunde und vertrauten einander. Nein, Bertie blieb ihr Kumpel – egal, was passierte. Er hatte versprochen, ihr zu schreiben. Das wäre zwar nicht dasselbe wie ein Gespräch, aber wenigstens ein Lichtblick.
Cosmo ging mit seinen Gästen endlich in die Bibliothek hinüber. Die Mädchen räumten das Esszimmer auf, trugen schmutziges Geschirr und Besteck in die Spülküche. Mrs Gibbons überließ ihnen die ganze Arbeit und begab sich gähnend zu Bett, als ob sie todmüde sei. Doch später, als die Mädchen in der ruhigen Wärme der Küche noch beieinandersaßen, hörten sie, wie die Tür des Nebeneingangs leise geöffnet und wieder geschlossen wurde.
Meggy grinste. »Ein kleiner Ausflug?«, flüsterte sie. Sie riss ihre haselnussbraunen Augen weit auf, um ihre Verwunderung auszudrücken. Eine Angewohnheit, die sie von Jonah übernommen hatte.
Alice schürzte die Lippen und antwortete nicht. Es war eine Sache, etwas zu denken, aber eine ganz andere, es auch auszusprechen. Mrs Gibbons könnte ja einfach spazieren gegangen sein, weil sie nicht schlafen konnte. Und wenn sie ihr Weg genau zu dem Stück Sumpfland führte, wo der alte Harry Simmons seine Hütte hatte – was war denn schon dabei?
Es war wie mit dem Rosenknopf, den sie in Ambrosines Schlafzimmer gefunden hatte und der zu Mr Marlings Weste gehörte. Manche Gedanken fasste man besser nicht in Worte.
»Du bist ein nettes Mädchen«, sagte Meggy in diesem Moment, als ob sie ihre Gedanken lesen könnte. »Aber du darfst deine Augen nicht verschließen. In diesem Haus gehen böse Dinge vor sich, von denen du dich besser fernhältst. Böse Dinge, hast du gehört?«
Später, kurz vor dem Zubettgehen, lehnte sich Alice aus ihrem Fenster und sah hinauf zum Mond, der über den Weideflächen stand. Er war riesig in dieser Nacht, ein gigantischer leuchtender Wackelpudding. Alice hatte gehört, dass es einen verrückt machen sollte, wenn man direkt in den Vollmond sah. Doch sie glaubte solche Märchen nicht und fühlte sich fast körperlich angezogen von dem Erdtrabanten. Über ihr, im Zimmer der Gouvernante, knarrten die Dielen und murmelte eine Stimme. Dann war es plötzlich wieder still. Jenseits des Weidezauns sah Alice eine gedrungene Gestalt mit wehendem Rock auf das Haus zukommen – Mrs Gibbons. Sie steuerte auf den Nebeneingang zu und musste dazu direkt unter Alice’ Fenster vorbei. Als die Köchin näher kam, hörte Alice sie ein wenig atemlos singen. After the ball ist over ... Vorsichtig zog sie den Kopf etwas zurück und hielt den Atem an, als Mrs Gibbons schwankend vorüberstolperte. Zurück blieb ein Hauch von Rum, der noch eine Weile in der Luft hing.
Böse Dinge, hatte Meggy gesagt. Böse Dinge.
Alice lief ein Schauder über den Rücken, und sie schloss mit einem Knall das Fenster.
Das Licht schmerzte in ihren Augen.
Rosamund drehte sich um und bedeckte ihr Gesicht aufstöhnend mit den Armen. Draußen fuhr ein Lieferwagen vor, die Türen knallten. Ein Hund kläffte und erinnerte sie daran, dass der Morgen schon lange vorbei war. Es gab kein Entrinnen; sie musste aufstehen.
Sie hob ihren Kopf und sah sich im Zimmer um, das sich im Ostflügel befand. Es handelte sich um eines der großen Schlafzimmer an der Front des Hauses; früher einmal war es von Großmutter Ada bewohnt worden. Warum hatte sie sich ausgerechnet dieses Zimmer ausgesucht? Sie mochte Großmutter Ada eigentlich nicht besonders. Außerdem hatte ihr Mark ein gutes Hotelzimmer gebucht. Warum hatte sie die Buchung bloß im letzten Moment storniert und damit auf jede Bequemlichkeit verzichtet? Normalerweise war sie gar nicht der Typ dafür. Deswegen hatte sie doch auf ihre Gesangskarriere verzichtet und Mark geheiratet, oder etwa nicht?
Das Zimmer befand sich in einem schlechten Zustand, sah aber nicht ganz so schlimm aus wie die anderen. In einer Ecke war der Putz von der Decke gebröckelt und bildete weiße Wölkchen auf den dunklen Dielen. Es roch muffig, aber als Rosamund die Nase rümpfte, drang der Duft von Geißblatt, das draußen irgendwo blühen musste, durch das Fenster zu ihr herein. Der Geruch war kräftig, fast aufdringlich, fand Rosamund und setzte sich auf.
Sie hatte Kopfschmerzen. Das kam wohl von der Flasche, die sie gestern wider besseres Wissen geleert hatte. Wäre Mark da, würde er ziemlich böse schauen. Oder eher sorgenvoll. Auf jeden Fall missbilligend und enttäuscht. Deswegen war sie auf die Halbinsel Bellarine gekommen, um die Renovierung des Hauses zu überwachen. Sie musste zu sich selbst finden.
»Wir brauchen eine Pause«, hatte Mark gemeint. Er sah aus, als wäre er direkt einer Anzeige für teure Herrenbekleidung entstiegen. Zuvor war er bei einer Besprechung gewesen. Zumindest hatte er ihr das erzählt. Mark war ein guter Lügner, er konnte ihr alles erzählen, und sie glaubte es. Erst nachdem er gegangen war, hatten sich leise Zweifel geregt. Gab es eine andere? Nicht unwahrscheinlich. Mark sah sehr gut aus.
Draußen hörte sie Stimmen. Rosamund schleppte sich zum Fenster, sah hinaus und erwartete den Anblick des chaotischen Bauplatzes. Sie hatte ganz vergessen, dass sie sich im Obergeschoss des Hauses befand. Der Ausblick war überwältigend. Ihr Blick schweifte über den verwilderten Garten zu den Kiefern, die ihn begrenzten. Dahinter glänzte das Wasser der Bucht wie geschmolzenes Silber. Auf der anderen Seite hoben sich die runden Gipfel der You-Yang-Berge gegen den wolkenlos blauen Himmel ab. Es war ein wunderschöner Tag.
Rosamund fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die dringend eine Wäsche brauchten, und atmete tief ein. Bin ich die Erste, die diese Luft atmet?, fragte sie sich.
Gelächter klang herauf. Unten entluden Arbeiter einen Transporter. Sie hielten in ihrer Tätigkeit inne und sahen amüsiert zu ihr hoch. Stirnrunzelnd blickte Rosamund hinunter und trat vom Fenster weg, als ihr der Grund der Erheiterung klar wurde.
»Scheibenkleister.« Sie sah an sich hinunter. Die wundervolle Aussicht und die Nachwirkungen der letzten Nacht hatten sie vergessen lassen, dass sie nichts anhatte. Ihr erster Impuls war, nach unten zu rasen, ins Auto zu springen und den Ort ihrer Schande zu verlassen. Aber sie wusste, dass das nicht ging.
»Reiß dich zusammen, Mädel.«
Ihr Blick fiel auf die Zigarettenschachtel auf dem Tisch, doch sie widerstand der Versuchung. Sie wollte weniger rauchen. Also griff sie nach ihren Jeans und dem Pulli und machte sich auf den Weg ins Bad.
Gott sei Dank war das Wasser wenigstens heiß. Sie stand lange unter dem dünnen Strahl, wusch ihre Haare und seifte sich ab. Schon immer war sie groß und kräftig gewesen, aber in letzter Zeit hatte sie sich gehen lassen. Die Kurven waren abgeflacht, dafür traten unerwünschte Rundungen deutlicher hervor. Sie störte das nicht, zumindest nicht genug, um etwas daran ändern zu wollen. Mark hatte ihre Nachlässigkeit natürlich bemerkt, aber nichts dazu gesagt.
»Zu viel Arbeit. Immer zu viel verdammte Arbeit.« Rosamund griff nach dem Handtuch. Der Spiegel war angelaufen, und sie konnte nur vage Umrisse erkennen. Das letzte Mal, als sie in diesem Badezimmer gestanden hatte, war sie ein junges Mädchen gewesen, hatte Mark noch nicht gekannt, ihn noch nicht geliebt. Hatte eigentlich noch nichts gewusst vom Leben.
Dass sie mit Mark zusammengekommen war, überraschte und verwunderte sie bis heute. Er war eigentlich gar nicht ihr Typ, kam aus einer anderen Welt und jagte hoch gesteckten Zielen nach. Während Rosamund in den letzten Jahren viele Gelegenheiten verpasst oder ausgeschlagen hatte, führte sein Weg steil nach oben. Er kam aus ärmlichen Verhältnissen und hatte seine Baufirma an die Spitze geführt. Alles, was er anpackte, brachte ihm Geld ein – viel Geld. Vor zwei Jahren hatte er die Herausforderung angenommen und war um das Amt des Premierministers ins Rennen gegangen. Er war der Favorit bei den Vorwahlen im nächsten Monat, die nur ein kleines Hindernis auf seinem Weg zum Ruhm darstellten.
Mark hatte Kontakte in die Politik, seit er alt genug gewesen war, um zur Wahlurne zu gehen. Er beriet die Regierung auf verschiedenen Gebieten. In seinem fest gesponnenen Netz nützlicher Kontakte wusste er stets die richtigen Fäden zu ziehen. Ob Zeitungsverleger oder Betreiber von Fernsehsendern, ob Minister, Transportunternehmer oder Gewerkschaftsbosse – Mark kannte sie alle. Und jetzt wollte er endlich an den Entscheidungen beteiligt werden, die die Zukunft Australiens bestimmten.
Aber es war nicht immer nur harte Arbeit gewesen, jedenfalls nicht zu Anfang. Es hatte Zeiten gegeben, da schloss sich die Tür hinter Mark und Rosamund, und die Welt blieb draußen. Rosamund hatte Marks Leidenschaft und seinen unumstößlichen Glauben an sich selbst stets bewundert. Sogar dann noch, als sie ihn von ihr weggetrieben hatten.
Markovic Hoch- und Tiefbau – der Name seiner Firma stand in fetten schwarzen Lettern auf all seinen Geschäftspapieren. Rosamund fand, dass das durchaus etwas über den Mann hinter der Firma aussagte. Er hatte immer behauptet, zu Höherem berufen zu sein. Und nun ging er seinen Weg.
Rosamund wischte ein Stück des beschlagenen Spiegels blank und betrachtete sich. Der Dampf wirkte wie ein Weichzeichner, glättete Falten und eingekerbte Linien. So spiegelte sich auf dem Glas das Mädchen wider, das sie einmal gewesen war, mit allen Hoffnungen und Träumen. Sie fragte sich, ob sie alles noch einmal genauso machen würde, bekäme sie eine Chance, ihr Leben ein zweites Mal zu leben.
»Mrs Markovic?«
Die Stimme klang eher neugierig als zaghaft. Kerry Scott kannte sie schon lange, aus den Tagen, als sie noch Rose Cunningham gewesen war. Kerry hatte sich damals um Großmutter Ada gekümmert und wusste alles über die Familiengeschichte der Cunninghams. Ihre Beziehung entsprach nicht dem klassischen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis, war aber auch keine Freundschaft im engeren Sinne. Kerry überschritt niemals die unsichtbaren Grenzlinien. Wenn sie Mitleid mit dem Kind empfand, das Rosamund einmal gewesen war, zeigte sie das jedenfalls nicht. Rosamund konnte sich nicht erinnern, dass Kerry sie je in die Arme genommen hätte. Großmutter Ada hatte es bestimmt nicht getan. Ihre Kindheit war eine ziemlich lieblose Zeit gewesen.
»Ja?« Rosamund zog sich die Kleidung über und öffnete die Tür. Dampf quoll in den Gang. Noch einmal rubbelte sie ihre Haare durch, die ihr dicht und dunkel auf den Schultern lagen und Spuren von Feuchtigkeit auf ihrem dunkelroten Pulli hinterließen. Sie war barfuß.
Kerry Scott betrachtete sie belustigt. »Der Bauunternehmer ist gekommen. Mr Markovic hat ihn geschickt, um alles mit Ihnen zu besprechen. Ich habe ihn unten in die Bibliothek gesetzt.«
»Gut. Ich komme gleich runter.«
Kerry lächelte und wandte sich zum Gehen. Sie hatte sich nicht sehr verändert. Ihr Haar war schon immer grau gewesen; vielleicht ging sie ein wenig gebeugter und langsamer. Sie musste inzwischen fast sechzig sein, war seit vierzig Jahren Witwe und hatte Ada Cunningham dreißig Jahre lang Gesellschaft geleistet. So lange saß kein Mensch im Gefängnis, doch Kerry schien das nicht so zu empfinden. Sie hielt ihre Lebenszeit nicht für verschwendet.
Rosamund fand ihre Stimme wieder. »Danke, dass Sie sich wieder um das Haus kümmern, Kerry. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«
Kerry drehte sich wieder um und sah überrascht aus. »Kein Problem! Ihr Mann hat mich angestellt, damit während der Bauarbeiten jemand in der Nähe ist.«
»Sie sind doch zu Ihrer Schwester gezogen, nachdem meine Großmutter starb?«
Kerry blickte zur Seite, verzog das Gesicht. Rosamund spürte, dass sie für die Stelle als Colonsays Hauswirtschafterin während der Renovierung dankbarer war, als sie zugeben wollte.
»Meine Schwester lebt gern allein«, sagte Kerry schließlich. »Und ich kümmere mich lieber um Leute. Sind Sie sicher, dass Ihnen das recht ist, Mrs Markovic?«
»Bitte sagen Sie doch Rosamund zu mir. Und wissen Sie was? Ich glaube, mir ist das alles sehr recht.«
»Es hat mir wirklich wehgetan, dass das Haus so heruntergekommen ist. Aber Mrs Ada wollte es auf keinen Fall verkaufen. Deswegen bin ich sehr froh darüber, dass Sie und Mr Markovic hier leben werden.«
Rosamund blickte an ihr vorbei und fuhr sich noch einmal halbherzig durchs Haar. Der Flur befand sich in einem desolaten Zustand. Die Tapeten lösten sich, überall waren Flecken, über deren Herkunft man lieber nicht nachdachte. Der Läufer sah so abgetreten aus, dass die blanken Bodendielen durchschienen. Bei dem Buntglasfenster am Ende des Gangs waren einige Scheiben zerbrochen, und es hatte hereingeregnet.
»Wie lange bin ich eigentlich nicht mehr hier gewesen?« Die Frage hatte sich Rosamund eher selbst gestellt. Trotzdem antwortete Kerry sofort.
»Achtzehn Jahre.«
Rosamund ignorierte den leisen Vorwurf, der in der Antwort mitschwang. Ihre Gedanken wanderten zurück zu jenem Tag vor achtzehn Jahren, an dem sie Colonsay verlassen hatte. Wie alt war sie damals gewesen? Siebzehn, fast achtzehn? Sie hatte gerade angefangen, ihr eigenes Leben zu leben und sich eine Karriere aufzubauen, aber Ada Cunningham hatte sich geweigert, das zur Kenntnis zu nehmen. Sie hatten heftig gestritten, mit unwiderruflichem Ausgang. Das war Rosamunds einziger Akt der Rebellion gewesen, bis zum heutigen Tag hatte sie kein zweites Mal den Mut dazu gefunden. Nach dem Streit hatte sie Colonsay endgültig verlassen.
Ada war allein mit Kerry zurückgeblieben. Körper und Geist wurden mit der Zeit schwächer, und schließlich bewohnte sie nur noch ein paar Zimmer im Ostflügel. Der Rest des Hauses wurde nicht mehr genutzt. Als sie letztes Jahr gestorben war, war Ada 102 Jahre alt gewesen und hatte Rosamund das Haus vererbt.
Als sie von dem Erbe erfahren hatte, war Rosamund zuerst nicht sicher gewesen, ob sie sich ärgern oder freuen sollte. Ihr war klar, dass Ada sie am liebsten enterbt hätte. Doch es waren die Blutsbande, die zählten. Rosamund war die letzte Cunningham. Das Haus, beziehungsweise das, was davon noch übrig war, gehörte ihr. Zusätzliches Vermögen für Unterhalt oder Restauration gab es nicht.
»Verkauf es oder mach es platt! Mir ist es egal«, war Rosamunds erste Reaktion gewesen.
Doch Mark reagierte total entsetzt. Eine natürliche Regung für einen Mann, der aus armen Verhältnissen kam und kostbare Anschaffungen hütete wie die spanischen Eroberer das Gold der Inka. Er fuhr also los, um sich Colonsay anzusehen. Rosamund hatte sich glattweg geweigert, ihn zu begleiten.
Sie traf sich an jenem Freitagabend lieber mit alten Freunden auf einer Party. Es gab viel zu erzählen, und es war Sonntag, als sie wieder nach Hause kam. Mark wartete auf sie, ruhig und präsent wie immer. Manchmal machte er ihr Angst.
»Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst, Rose.« Es gab deutliche Warnsignale in seinem Tonfall und seinem Gesichtsausdruck. Diesmal war sie anscheinend zu weit gegangen. Die Aussicht erschreckte und erfreute sie gleichzeitig. Fast schien es ihr, als würde sie auf etwas warten, und wüsste nicht, was das sein könnte.
Mark hatte ihr klipp und klar erklärt, dass er Colonsay behalten wollte. Es erfüllte seinen Traum von dem Familiensitz, den er nie gehabt hatte: nicht irgendein Gebäude, sondern ein Herrenhaus mit langer Tradition und Geschichte. Die Cunninghams hatten als Erste die Halbinsel Bellarine besiedelt und später an der Bildung des australischen Staatenbunds mitgewirkt. Und er, Mark Markovic, war der neue Herr von Colonsay.
Rosamund hatte nicht die Kraft gehabt, ihm ins Gesicht zu lachen. Abgesehen davon, verstand sie ihn auch. Als er ihr die Aufsicht über die Bau- und Restaurierungsarbeiten übertragen hatte, hatte sie nur mit dem Kopf genickt. Und dann hatte er es gesagt.
»Wir brauchen eine Pause.«
Sie hatte sich wie ein Luftballon gefühlt, der vom Wind aus einer sicheren Hand in unsichere Höhen gerissen wurde, seiner eigenen Zerstörung entgegen.
»Der Bauunternehmer, Mrs Markovic – Rosamund.« Kerry schaute sie verwundert an.
Rosamund blinzelte und riss sich zusammen, zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. »Ja, natürlich. Ich brauche noch fünf Minuten. Vielleicht könnten Sie ihm Kaffee oder so etwas anbieten.«
»Selbstverständlich.« Kerry ging nun endlich wieder hinunter.
Der Flur lag still, das Klopfen und Hämmern von draußen mischte sich in der Ferne mit Vogelgesang und Flugzeugbrummen. Die Stille wog schwer und duftete wie überreifes Obst. Da war er wieder, der Duft nach Geißblatt.
Rosamund atmete tief durch und blickte auf das Buntglasfenster. Die Nymphe starrte sie aus den Falten des Stoffes heraus an. Das Haar schlang sich lianengleich um ihren Körper. Ein Auge fehlte, und ein Riss zog sich über ihre linke Brust. Auf einmal fühlte sich Rosamund traurig und deprimiert. Der Drang nach einem Schluck aus der Flasche, bevor sie nach unten ging, war fast übermächtig. Doch sie bezwang ihn und ging in ihr Zimmer, um sich anzukleiden.
»Um es ganz ehrlich zu sagen, Mrs Markovic ...« Der Bauunternehmer Frederick Swann blickte ihr direkt in die Augen. Rosamund schlug die Beine übereinander und wartete ab. »Es gibt Probleme im Westflügel. Wie ich gehört habe, wurde er viele Jahre nicht genutzt. Sorgen machen mir vor allen die Wandrisse im rückwärtigen Bereich. Aufsteigende Feuchtigkeit ist nicht der Grund dafür, denn der Keller scheint in gutem Zustand zu sein. Aber der Dachstuhl ist teilweise zusammengekracht. Keine Sorge, das hört sich schlimmer an, als es ist. Die Substanz von Colonsay ist gut. Mit Geld lässt sich das alles beheben.«
»Mein Mann hat genug davon.«
Er lachte. »Tja, wenn er es für Colonsay ausgeben will, werde ich ihn nicht daran hindern. Die Arbeit kann ich gut gebrauchen. Ihr Mann ist doch auch in der Baubranche?«
»Er beschäftigt sich mehr mit Abbruchgrundstücken und Neubauprojekten. Renovierungen interessieren ihn nicht besonders.«
»Ah ja.«
»Was muss am Haus alles gemacht werden? Sie sagten, die Substanz sei im Prinzip gut. Für mich schaut das alles eher hoffnungslos heruntergekommen aus.«
»Also, lassen wir mal die Außengebäude wie Ställe, Scheunen und Hütten beiseite und schauen wir nur auf das Herrenhaus: Wandputz, Decken, Bodendielen, Türen, Türrahmen und ein paar Treppenstufen müssen erneuert oder ausgetauscht werden. Dazu kommen neue Elektroleitungen und natürlich neue Wasser- und Abwasserrohre.«
»Das scheint mir eine ganze Menge Arbeit zu sein, Mr Swann.«
Er runzelte die Stirn. In seinen blauen Augen leuchtete kurz ein Hauch von Missbilligung auf. Vielleicht hatte er von ihrer Fenstervorstellung vorhin gehört. Rosamund kniff die Lippen zusammen. »Sie wohnen im Ort?«
Überrascht schüttelte Rosamund den Kopf. »Nein, ich wohne in Colonsay und werde das auch weiterhin tun.«
»Das kann ziemlich unbequem werden, Mrs Markovic. Vielleicht ist Ihnen nicht klar, welche Unannehmlichkeiten all diese Baumaßnahmen mit sich bringen.«
»Wenn es mir zu viel wird, kann ich immer noch ausziehen. Und nennen Sie mich bitte Rosamund. Schließlich werden wir beide zusammenarbeiten, Fred, oder?«
»Frederick, bitte.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich habe gehört, dass unter der Dachschräge noch Möbel sind. Die müssen Sie runterräumen, bevor wir da oben anfangen können.«
»Meine Großmutter nannte das den Dachboden. Aber Sie haben recht, es ist eigentlich mehr ein Kriechboden. Der Himmel weiß, was dort oben verstaut ist.«
Nachdem die alte Dame gestorben war, hatte Rosamund Kerry Scott mit dem Ordnen des persönlichen Besitzes beauftragt. Zwei Stücke aus dem Nachlass waren verkauft worden: ein Gemälde des Landschaftsmalers Arthur Streeton und ein Tisch des schottischen Kunsthandwerkers Charles Rennie Mackintosh. Was mit dem Rest geschah, war Rosamund ziemlich egal gewesen.
»Soll ich meinen Männern sagen, dass sie alles ausräumen? Wir könnten das ganze Zeug in die Zimmer unten stellen, damit es aus dem Weg ist. Dort können Sie dann in Ruhe entscheiden, was wegsoll.«
»Ja, das wäre gut.«
Sie ging mit ihm nach draußen. Die Erde war durch die Lieferwagen und Baufahrzeuge ziemlich platt gedrückt und unter einer dünnen Oberfläche aus Schlamm hart wie Beton. Nur ein paar versunkene Gehwegplatten und ein zerbrochener Blumentopf wiesen auf den Garten hin, der sich früher dort befunden hatte. Rosamund sah außerdem überall die Pfotenabdrücke eines Hundes, der über das Grundstück gelaufen war.
»Ich bin fast zwanzig Jahre nicht mehr hier gewesen«, sagte sie wie zu sich selbst. »Ich hatte keine Ahnung, in was für einem Zustand sich das Anwesen befindet.«
Kein Wunder, dass Mark ärgerlich gewesen war.
»Um solche alten Gebäude muss man sich laufend kümmern.« Frederick Swann klang ziemlich steif. »Ich hörte, Ihre Großmutter hat die unbenutzten Zimmer einfach verschlossen. Es wäre besser gewesen, sie hätte die Sorge dafür der Historischen Gesellschaft oder einer anderen Denkmalpflegeorganisation übergeben. Aber dazu ist es jetzt natürlich zu spät.«
»Ach, sie hätte sowieso nie verkauft«, sagte Rosamund. »Die Familie ging ihr über alles. Ihr Vater spielte eine bedeutende Rolle bei der Schaffung der australischen Verfassung und war Mitglied des ersten Staatenbundparlaments.« Sie hatte diese Geschichten vom Ruhm der Cunninghams in ihrer Kindheit mindestens tausendmal gehört. »Doch das Unglück konnte niemand verhindern.«
»Ich habe davon gehört.«
»Ich kenne eigentlich niemanden, der nicht davon gehört hätte.«
Die allseits bewunderte und überaus schöne Ambrosine Cunningham war von der Grippe dahingerafft worden. Sie hatte ihr Leben in den Armen ihres liebevollen Ehemanns ausgehaucht, der kurz darauf Colonsay verließ und nie wieder gesehen wurde. Mit seinem Boot segelte er hinaus, ertränkte seine Trauer und sich selbst im weiten Ozean.
»Die Geschichte sollte sogar verfilmt werden, doch davon wollte meine Großmutter nichts hören.«
»Ich kann mir schon vorstellen, warum.«
Rosamund hatte das damals überhaupt nicht verstanden. Heute war ihr allerdings klar, dass eine so zurückgezogen lebende Person wie Ada bis zum letzten Atemzug gegen einen Film kämpfen würde. Das traurige Familienschicksal als bittersüße Schmonzette auf die große Leinwand zu bringen, musste für sie eine unerträgliche Vorstellung gewesen sein. Trotz des vielen Geldes, das dafür geboten worden war.
»Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät dafür.«
Frederick Swann ging auf ihre Bemerkung nicht ein. »Ich komme morgen früh wieder. Wir fangen dann mit dem Dach an.« Er zögerte. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch lieber ausziehen wollen?«
»Ganz sicher.«
Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, drehte sich um und ging Richtung Haus, das strafend auf sie herniederzublicken schien. Dass einhundertsiebzig Jahre Cunningham’sche Familiengeschichte ausgerechnet mit dieser Nachfahrin enden mussten! Sie konnte förmlich sehen, wie Cosmo und der Rest der Ahnen ihr mit der Faust drohten.
Mehrere Fenster im ersten Stock des Westflügels waren mit Brettern vernagelt. Ein Teil des Daches war zusammengesackt, der zugehörige Kamin eingestürzt. Die Fenster des Dachbodens sahen noch einigermaßen gut aus, aber die Rautenscheiben waren so schmutzig, dass sie ganz stumpf erschienen. Die Veranda im Erdgeschoss hatte man schon zu einem früheren Zeitpunkt abgerissen. Nur Markierungen auf den Ziegelmauern kündeten von ihrer früheren Existenz. Ohne die Veranda sah die Eingangstür richtiggehend nackt aus.
Im Gegensatz zu dem platt gedrückten, matschigen Vorgarten war der westliche Teil des Grundstücks mit Buschwerk und Unkraut überwuchert, unwillkommene Eindringlinge, deren Samen der Wind herangetragen hatte. An einer Stelle standen ein Dutzend oder mehr große Pflanzen mit purpurroten Quasten in einer engen Gruppe zusammen. Als Rosamund sah, wie sie im Wind hin und her schwangen, musste sie an eine Gruppe Klatschweiber denken. Langsam ging sie nahe an der Hausmauer um den Westflügel herum. Alte Scheunen und Ställe lehnten dahinter aneinander, die Dächer lugten gerade noch aus dem Gebüsch. Eine verfallene Hütte war wohl als Rumpelkammer genutzt worden, und die Reste eines Zauns lehnten an einer verwilderten Boxdornhecke. Ein Vogel flatterte auf, als sie sich näherte, und zeterte verärgert von der rostigen Dachrinne herunter. Rosamund drückte das Gesicht an die Fensterscheiben der Hütte und beschirmte die Augen mit den Händen. Harken, Rechen, ein verrosteter Handrasenmäher und ein verrottetes Tennisnetz – mehr gab es nicht zu sehen. In einem Spinnennetz in der Ecke zappelte eine Motte.
Was auch immer Frederick Swann behaupten mochte, die Renovierung war eine Sisyphosaufgabe. Eigentlich müsste sie vollkommen niedergeschlagen sein. Doch das war sie nicht, vielmehr regten sich in ihr lange verschüttete Gefühle, und sie kam sich eher aufgekratzt vor.
Rosamund ging zurück zur Eingangstür. Sie stand offen, wie sie sie beim Hinausgehen gelassen hatte, ein dunkles Rechteck. Als sie ihren Fuß auf die Schwelle setzte, fühlte sie sich mit einem Mal benommen. Sie schwankte, griff nach dem Türknauf, verschätzte sich aber in der Entfernung und stieß stattdessen heftig mit der Schulter gegen den Türstock. Vor Schmerz fluchte sie laut und schloss die Augen. Eine erstickende Schwärze erfüllte ihr Hirn.
Rosie. Die Stimme eines Mannes direkt neben ihrem Ohr.
»Mrs Markovic?« Kerry Scott stand vor ihr und beäugte sie misstrauisch. Sie rümpfte verstohlen die Nase. Rosamund merkte zu ihrem Schrecken, dass Kerry versuchte herauszufinden, ob Rosamund betrunken sei.
Rosamund riss sich zusammen und stellte fest, dass die Benommenheit ebenso schnell verschwand, wie sie aufgetaucht war. »Ich bin müde«, sagte sie ruhig. »Ich denke, ich gehe lieber nach oben und lege mich ein bisschen hin.«
Es kümmerte sie nicht, dass Kerry ihr beim Treppensteigen zusah. Wenn sie schon in nüchternem Zustand Stimmen hörte, steckte sie bis über beide Ohren in Schwierigkeiten.
Mark hatte recht. Sie musste sich endlich zusammennehmen.
»Kannst du das bitte nehmen?« Meggy streckte ihr die Schüssel entgegen. Alice nahm sie und stützte das Gewicht auf der Hüfte ab, während Meggy sich vernehmlich mit einem schmuddeligen Taschentuch aus ihrer Schürzentasche die Nase schnäuzte. Sie behauptete, eine Erkältung zu haben, doch Alice meinte, Tränen zu sehen.
Die Masse in der Schüssel roch gut nach Butter, Zucker und Eiern. Alice schüttete vorsichtig das Mehl dazu, von dem ein wenig danebenging. Sie konzentrierte sich auf die Zutaten, gab zuerst Korinthen zum Teig und dann Mrs Gibbons gemahlene Gewürze – Zimt und Muskatnuss. Mrs Gibbons behauptete, die Gewürze würden der gewöhnlichen Mischung den gewissen Pfiff verleihen. »Ein bisschen Abwechslung muss sein«, fügte sie hinzu und schürzte genießerisch die Lippen. Alice fragte sich, ob sie dabei an Harry Simmons dachte.
»Ist das für uns?«
Die trotz der kindlichen Anmutung herrische Stimme ertönte von der Küchentür her. Alice blickte über ihre Schulter. »Nein, Miss Ada. Weiß die Gouvernante, dass Sie unten in der Küche sind?«
»Ich will das haben.«
Meggy murmelte vor sich hin, wischte sich schnell über die Augen und ließ das Taschentuch wieder dort verschwinden, wo es hergekommen war. Alice rührte gelassen weiter. »Das geht nicht. Es ist noch nicht gebacken.«
Ada kam in die Küche. Das hübsche blonde Mädchen mit den kirschroten Lippen trug winzige Knöpfstiefeletten, ein spitzenbesetztes Schürzchen und ein Seidenband im Haar. Doch sie war ganz und gar nicht das brave Kind, das sie in Gegenwart ihrer Eltern immer vorgab zu sein. Alice hatte schon häufig ihre spitze Zunge und die bohrenden Finger zu spüren bekommen.
»Bertie will bestimmt auch etwas«, sagte Ada und stieß mit der großen Zehe gegen das Tischbein. Ihre Finger zeichneten ein Muster im verschütteten Mehl. »Er weint«, fügte sie hinzu und linste dabei in Alice’ Richtung. »Oben auf dem Dachboden. Du kannst ihm etwas bringen, wenn du willst. Ich verrate nichts. Jedenfalls nicht, wenn ich etwas abbekomme.«
Meggy schnaubte vernehmlich und beugte sich hinunter, um nach dem Feuer zu sehen. In der Küche war es wärmer als draußen, wo der Wind eisig von der Bucht heraufblies und der Regen wie Hagelkörner herunterprasselte. Die kalte Feuchtigkeit ging auf die Knochen. Mrs Gibbons, die zu Rheuma neigte, hatte etwas von ihrer speziellen Medizin eingenommen und sich hingelegt. Sie würde vor dem Abendessen wieder in der Küche erscheinen, aber im Augenblick kamen die Mädchen ohne ihre Anleitung zurecht.
»Warum weint Bertie denn?« Alice wusste, dass Ada auf diese Frage wartete.
»Weil er weggeschickt wird, wegen der Schule«, entgegnete Ada verächtlich. »Ich würde deswegen niemals weinen, sondern wäre froh darüber. Aber ich muss hierbleiben und gutes Benehmen üben.« Schmollend schob sie die Unterlippe vor.
»Na, dann geh doch und übe.« Meggy half Alice, mit dem Löffel Teigkleckse auf das Backblech zu geben.
»Wenn ich groß bin, schicke ich euch beide weg«, informierte Ada die beiden Mädchen. »Dann verhungert ihr hoffentlich.«
Meggy zog zischend die Luft ein, als Ada gegangen war. »Ich hoffe, dass ich dann nicht mehr da bin.«
»Du wirst mit Jonah wieder auf der Viehstation am Murray River sein«, entgegnete Alice und ließ den Löffel sinken.
Meggys Gesicht verdüsterte sich. »Nicht sehr wahrscheinlich«, brummte sie und schob das Blech mit den Keksen in den Ofen. »Die brauchen nur eine Minute. Du willst doch wohl Master Bertie keine davon bringen? Oder doch?«
»Warum denn nicht? Vielleicht bekommt er auf der Schule, in die sie ihn schicken, solche Leckereien nicht mehr.«
»Sein Vater bezahlt ein Vermögen für seine Ausbildung. Da werden sie ihn schon nicht verhungern lassen, Alice.«
Vielleicht wird er keinen Mangel in Bezug auf Essen leiden, dachte Alice. Aber in anderer Hinsicht ...
Sobald die Kekse fertig waren, wickelte Alice trotzig ein halbes Dutzend in eine Serviette und wich dabei Meggys zynischem Blick aus. Dann stieg sie über die Hintertreppe nach oben. Dort war um diese Tageszeit keine Menschenseele zugegen, und so schlüpfte sie schnell in den Westflügel und zu der Tür, hinter der sich die Dachstiege verbarg. Obwohl es dort dunkel und eng war, wurde der Aufgang von Bertie oft benutzt.
Unterm Dach war die Luft wärmer als im Rest des Hauses, angereichert von den Ausdünstungen der ausrangierten Gegenstände. Das Licht aus den Rautenfenstern war trüb, aber ausreichend für Alice, die sich ihren Weg durch alte Kisten und mit staubigen Laken bedeckte Möbel bahnte. Sie war klein genug, um aufrecht stehen zu können. Ein Erwachsener hätte sich bücken müssen, wollte er sich nicht den Kopf an den Dachbalken stoßen.
»Bertie?«, flüsterte sie. Ein ausgestopfter Pfau, der Cosmos Mutter gehörte, starrte sie aus trüben Glasaugen an. Dort, hinter einen Stapel vergilbter Notenblätter und einem eingerollten Teppich, hatte sich Bertie versteckt. Sie sah keine Tränenspuren auf seinem Gesicht, aber als er ihr antwortete, klang seine Stimme belegt. Die warmen Kekse dufteten, als Alice die Serviette auf den Boden legte. Bertie lächelte.
»Danke, Alice«, sagte er und stopfte sich gleich einen Keks in den Mund. Unaufgefordert setzte sie sich neben ihn. Schließlich waren sie Freunde.
»Was machst du hier oben?«
»Alte Briefe lesen.« Bertie zog eine offene Schachtel zu sich her. Sie roch nach den Mäusen, die sich im Papier ein Nest gebaut hatten.
Alice besah sich die Umschläge. Sie waren dick, aus teurem Papier und an Ambrosine McKay of The Meadows adressiert.
»Vater hat sie vor der Hochzeit an meine Mutter geschrieben. Er war sehr in sie verliebt.«
Alice interessierte sich eigentlich nicht für die Romanze zwischen Cosmo und Ambrosine, aber sie knabberte an einem Keks und tat so, als hörte sie aufmerksam zu.
»Sie waren Nachbarn. Mein Vater und mein Großvater, Mr McKay, haben die Heirat ausgehandelt.«
»Sind die Briefe interessant?«
Bertie zog einen Flunsch. »Er nennt sie seine bezaubernde Antipode.« Peinlich berührt lächelten sie einander an. »Wir könnten zusammen weglaufen.«
Obwohl das sehr leise herausgekommen war, hatte Alice Bertie genau verstanden. Sie blickte ihn aufmerksam an und versuchte herauszubekommen, ob er sie auf den Arm nahm. Doch er sah Richtung Fenster.
»Dein Vater würde uns finden und zurückbringen«, antwortete sie schließlich. »Du würdest trotzdem weggeschickt auf diese Schule, und ich müsste zurück nach Hause. Mein Vater würde mich bestimmt verprügeln.«
»Ich weiß. Tut mir leid.«
»Manchmal träume ich ...« Sie kniff die Lippen zusammen.
Träume waren Schäume, zumindest für Alice Parkin. Eine Welle der Verzweiflung schlug über ihr zusammen. Sie fragte sich, ob diese Gefühle ihrem eigenen Schicksal galten, dem von Bertie oder vielleicht beiden zu gleichen Teilen.
Seine Hand schob sich verstohlen in Richtung der ihren und seine Finger schlossen sich darum. Sie waren weich, die Nägel kurz und sauber. Ihre eigenen dagegen waren rot und rau von der harten Arbeit.
»Wirst du mir schreiben, Bertie?«, flüsterte sie. »Versprich’s mir.«
»Ich verspreche es.«
Danach hörte man nur noch das Trommeln der Regentropfen auf den Dachfenstern.
***
Rosamund steckte ihren Kopf durch die Küchentür. Kerry Scott werkelte am Herd. Er war weiß und modern, ein ziemlicher Gegensatz zu den geschwärzten Steinen der gemauerten Feuerstelle. Außerdem gab es in der Küche einen neuen Kühlschrank und einen Geschirrspüler. Mark hatte die Geräte installieren lassen, nachdem Kerry zugestimmt hatte, sich um Colonsay zu kümmern. Rosamund fragte sich, ob er geahnt hatte, dass die Renovierung so aufwendig und kostspielig werden würde. Was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass sie während der Bauarbeiten in Colonsay wohnte? Aber vielleicht war es ihm egal, solange sie sich im Hintergrund hielt und seiner Karriere keinen Schaden zufügte.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Kerry drehte sich um und sah überrascht aus. Die Tür zum Garten stand offen, und der Geruch nach zertrampeltem Gras vermischte sich mit dem von frisch gesägtem Holz und würziger Tomatensoße.
»Die Arbeiter haben Feierabend gemacht«, sagte sie, als wäre das eine Antwort. »Sie haben literweise Tee getrunken, sodass ich dachte, sie müssten irgendwann auslaufen. Ich fürchte, das geht morgen so weiter.«
»Fred Swann sollte Mark Rabatt geben, wenn Sie seine Männer mit Trinken und Essen versorgen.«
Kerry wandte sich wieder ihrer Soße zu, die in einem großen Topf vor sich hin köchelte. »Ich dachte, wir essen heute Abend Nudeln mit Soße.« Flink schaltete sie beide Herdplatten aus, nahm Geschirr aus dem Schrank und deckte den Tisch.
»Die Küche schaut eigentlich gar nicht schlecht aus«, meinte Rosamund und sah sich um. Die Einrichtung bestand aus einem wilden Stilmix, nichts passte richtig zusammen. Aber im Vergleich zum Rest von Colonsay war es ein gemütlicher Aufenthaltsort.
»Hat Frederick Swann Ihnen etwa erlaubt, ihn Fred zu nennen?« In der Frage schwang leise Kritik mit.
Rosamund zuckte mit den Schultern. »Passt doch zu ihm.«
Sie ging zur Außentür hinüber und sah nach draußen auf das, was vom ehemaligen Gemüsegarten übrig geblieben war. Wild wucherte das Unkraut an den Stangen empor, die einst Bohnen-, Erbsen- und Tomatenpflanzen gestützt hatten. Auch hier gab es die purpurroten Quasten, die durch den Wildwuchs leuchteten. Rosamund hätte eigentlich ihren Namen kennen sollen, doch er fiel ihr im Augenblick nicht ein.
Die Hütte hinter der Boxdornhecke war von dieser Stelle aus bis auf den oberen Rand des Kamins nicht zu sehen. Die Kiefern hinter den alten Stallmauern aus Ziegelsteinen bildeten einen Windschutz zur Bucht, aber Rosamund konnte Straßenlärm hören. Dort, wo es früher nur Weideflächen, Schafe und Stille gegeben hatte, verlief heute eine Straße, auf der gerade die Pendler zu ihren Familien heimkehrten.
»Das Dach muss ausgebessert werden«, sagte sie. »Sie müssen vorher den Dachboden ausräumen.«
Klappernd fiel Kerry der Löffel aus der Hand. »Um Himmels willen! Wissen Sie, wie voll das da oben ist? Da wurde seit Jahrzehnten nicht mehr ausgemistet.«
»Dann wird es höchste Zeit. Wer weiß, vielleicht entdecken wir ungeahnte Schätze.«
Kerry lachte ungläubig auf. »Sollten Sie auf ein zweites Streeton-Gemälde hoffen, werden Sie mit Sicherheit eine Enttäuschung erleben. Da oben ist nur Schmutz und Staub. Nach Cosmos Tod wurden sämtliche Wertsachen verkauft. Mrs Ada behielt nur, was sie für sich selbst haben wollte. Sie war eine sparsame alte Dame.«
»Tja, zu sparsam vielleicht«, brummte Rosamund. Kerry gab darauf keine Antwort. »Denken Sie, dass es falsch von mir war, sie nicht zu besuchen?«
Jetzt war es heraus. Rosamund war fast erleichtert darüber. Nicht, dass es sie wirklich gekümmert hätte, was Kerry darüber dachte.
»Sie hatten zweifellos Ihre Gründe dafür, Mrs Markovic.«
Soll heißen, ich bin eine selbstsüchtige Zicke, interpretierte Rosamund die Antwort. Kerry Scott hatte sich dreißig lange Jahre um Großmutter Ada gekümmert, und Rosamund hatte sich nach ihrem Auszug nicht einmal mehr zu einem kurzen Besuch sehen lassen. Obwohl sie die einzige lebende Verwandte war. Vielleicht hätte Kerry Colonsay bekommen sollen, nicht sie. Als Entlohnung für ihre hingebungsvollen Dienste.
Ein Flötenvogel ließ sich auf den Resten eines alten Gewächshauses nieder. Er reckte den Hals und begann eine Melodie in die Abendluft zu trällern. Der Duft nach Geißblatt wurde auf einmal wieder stärker.
Rosie.
Rosamund fuhr herum. »Was haben Sie gesagt?«
Kerry verteilte gerade die Nudeln auf zwei Teller. Sie blickte sie durch den Dampf des heißen Gerichts an. »Nichts. Ich habe nichts gesagt, Mrs Markovic.«
Rosamund runzelte die Stirn. »Ich habe Sie aber doch gehört. Was haben Sie gesagt?«
Die ältere Frau sah ziemlich irritiert und irgendwie betroffen drein. »Mrs Markovic, ich habe kein Wort gesagt, ganz bestimmt nicht.«
»Nennen Sie mich doch bitte Rosamund.«
Kerry starrte sie für einen Augenblick an und senkte dann den Blick. »Also gut, Rosamund. Ich habe nichts gesagt. Vielleicht war es jemand da draußen, einer der Arbeiter hat eventuell etwas vergessen.«
Es war dumm, auf der Angelegenheit zu beharren. Die Stimme war sehr deutlich gewesen und ähnelte Kerrys überhaupt nicht. Rosamund hatte sofort gewusst, dass es nicht Kerry gewesen war, hatte es aber gehofft.
»Ja«, sagte sie schließlich. »Tut mir leid. Ich dachte, jemand hätte Rosie zu mir gesagt. Das ist mir heute schon zum zweiten Mal passiert. Ich muss mich wohl verhört haben.« Kerrys Gesicht schien sich schmerzhaft zu verziehen. »Ich bin hungrig. Können wir essen?«
»Ich habe das Esszimmer noch nicht hergerichtet«, entgegnete Kerry lebhaft.
»Ach, bleiben wir doch einfach hier. Ich will sowieso nicht im Esszimmer essen. Es erinnert mich zu sehr an Ada.«
Kerrys Lippen wurden ganz schmal, aber sie sagte nichts.
Während des Essens klingelte das Telefon. Kerry ging in die Diele und hob ab. Nach wenigen Augenblicken stand sie wieder in der Küche. »Mr Markovic möchte mit Ihnen sprechen.«
Marks Stimme tröpfelte sanft und ölig durch den Hörer wie alter Portwein. »Rose, ich dachte, du würdest im Ort übernachten.«
»Ich habe meine Meinung geändert.«
»Ist das nicht zu unbequem? Kerry sagte, das Haus sei in einem schrecklichen Zustand.«
»Das stimmt. Warum rufst du an? Willst du mich kontrollieren? Kerrys Rapport entgegennehmen? Wenn du wissen möchtest, was ich vorhabe, frag mich lieber selbst.«
Eine Pause entstand. »Gut, das werde ich tun. Was hast du vor?«
Sie fühlte sich versucht, ihm von der Flasche zu erzählen, von ihrem nackten Körper im Fenster, brachte aber den Mut nicht auf. »Der Bauunternehmer war da«, berichtete sie stattdessen. »Es muss eine ganze Menge gemacht werden. Ist dir klar, auf was du dich da eingelassen hast?«
»Es ist mir egal, was es kostet.«
Sie verspürte den Drang, ihm zu sagen, wie dumm er sich benahm, wie lächerlich es war, anzunehmen, der Besitz eines solchen Hauses würde ihn zum Nachfahren der Gründerväter machen.
»Hast du mich deswegen geheiratet?«, hörte sie sich sagen. »Wegen meiner Abstammung? Hast du eine Ehefrau mit Herkunft gesucht, mit einem guten Stammbaum? Die gut zu teuren Anzügen und wichtigen Freunden passt? Dann musst du inzwischen ziemlich enttäuscht sein.«
Niemals zuvor waren ihr diese Gedanken über die Lippen gekommen. Sie spürte, wie die Gefühle in ihrem Inneren regelrecht aufwallten. Marks Schweigen schien mehr zu sagen als tausend Worte. Als er endlich etwas erwiderte, klang seine Stimme ruhig, kühl, gewählt.
»Du weißt, dass das nicht wahr ist.«
»Ist es doch. Ich selbst, meine Person, ich bedeute dir nichts, Mark. Gib es ruhig zu.«
»Du machst dich lächerlich. Wir sprechen später darüber, wenn ich meinen Besuch mache. Ich muss los.«
»Wohin gehst du noch? Ich halte das nicht aus. Ich halte dieses Leben einfach nicht mehr aus!«
»Rose, hast du getrunken?«
Zorn erfüllte sie, bis sie explodierte. »Nein, das habe ich nicht, verdammt noch mal!«