Das Geheimnis von Hope Island - Marilyn Turk - E-Book

Das Geheimnis von Hope Island E-Book

Marilyn Turk

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Beschreibung

Abby Baker zieht nach dem Tod ihres Mannes zurück in ihren Heimatort Hope Harbor. Etwa zur gleichen Zeit lässt sich auch Carson Stevens in dem kleinen Örtchen an der amerikanischen Ostküste nieder, um die vorgelagerte Insel Hope Island mitsamt seinem nostalgischen Leuchtturm zu kaufen und in ein Bed & Breakfast umzubauen. Kurz nach seiner Ankunft lernt er Abby kennen und überredet sie, ihn beim Innenausbau der Gebäude zu unterstützen. Während der Arbeit an diesem Herzensprojekt entdecken sie das alte Logbuch von Abbys Großmutter. Was sie darin finden, stellt Abbys Leben und auch das ihrer Mutter gehörig auf den Kopf. Wie gut, dass sie in diesen aufregenden Zeiten Carson an ihrer Seite hat ...

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Über die Autorin

Marilyn Turk hat sich bereits einen Namen als Autorin historischer Romane mit einem Touch „Cozy Mystery“ gemacht. Als Fan von Leuchttürmen jeder Art integriert sie dieses Motiv in jeden ihrer Romane. Sie lebt mit ihrem Mann in Florida, wo beide das Leben am Wasser genießen.

Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?

Psalm 27,1 (LU 2017)

Hope Harbor, MaineGegenwart

So ziemlich der allerletzte Ort, an dem Abby gerade sein wollte, war ein Friedhof.

Sie schleifte die fünfjährige Emma praktisch den Hügel hinauf zu der Stelle, wo die Zeremonie stattfand. Sie waren wieder einmal zu spät. Ein weiterer Punkt auf der Liste all der Dinge, die sie nicht hinbekam. Sie wich den Blicken der Anwesenden aus, als sie ganz nach vorne ging, sich auf den einzigen noch freien Platz in der ersten Reihe setzte und Emma auf den Schoß nahm. Emma wiederum nahm ihre Wonder Woman-Teddybärin, die sie überall mit hinschleppte, auf den Schoß.

Nachdem sie Platz genommen hatte, ließ Abby ihren Blick über die Menschenmenge schweifen, kannte aber von den Anwesenden nur ein paar Einheimische aus der Stadt. Wer mochten all die anderen Leute sein? Waren es Menschen, die ihre Großeltern gekannt hatten? Sie hatte jedenfalls nicht damit gerechnet, dass die Zeremonie, bei der Gedenktafeln auf dem Grab aufgestellt werden und die Arbeit ihrer Großeltern als Leuchtturmwärter gewürdigt werden sollte, so gut besucht sein würde. Schließlich war ihre Großmutter schon seit über 25 Jahren tot. Abby war erst zehn Jahre alt gewesen, als sie gestorben war, und ihren Großvater hatte sie gar nicht mehr kennengelernt, weil er schon lange vor ihrer Geburt gestorben war.

Ein Senator des Bundesstaates und ein paar weitere Männer warteten hinter dem provisorischen Rednerpult, daneben standen Mitglieder der Küstenwache in ihren blauen Uniformen. Als der Mann mit den vielen Orden an der Brust ans Rednerpult trat, stupste Emma Abby an und fragte: „Wer ist das, Mami?“

Daraufhin beugte Abby sich zu ihr vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich weiß nicht, wie er heißt, aber wir müssen jetzt still sein.“

„Ist er ein Soldat wie Papa? Er hat genau solche Sachen an wie er.“

Bei diesen Worten krampfte sich ganz kurz Abbys Herz zusammen. Obwohl Emma erst drei gewesen war, als Kevin ums Leben kam, erinnerte sich ihre Tochter auch jetzt, zwei Jahre später, noch gut an ihn. Das lag sicher auch an den Fotos von ihm, die bei ihnen in der Wohnung hingen. Jedes Mal, wenn Emma eine Uniform sah, egal um was für eine es sich handelte, erwähnte sie ihren Vater.

War es wirklich erst zwei Jahre her, dass Abby auf einem anderen Friedhof an einer Zeremonie teilgenommen hatte, bei der Kevin für seinen Dienst im Militär geehrt worden war?

Der Offizier begrüßte jetzt alle Anwesenden, ein paar hochrangige Würdenträger auch persönlich und dann noch speziell die Angehörigen des Leuchtturmwärterpaares. Abby warf einen kurzen Blick in die Runde. Gab es denn noch andere Angehörige außer Emma und ihr? Soweit sie wusste, waren sie selbst, ihre Mutter und ihre Tochter die einzigen noch lebenden Verwandten von Abigail und Charles Martin.

Und hätte ihre Mutter sie nicht angefleht, doch an der Zeremonie teilzunehmen, wäre auch Abby nicht dabei gewesen. Da es ihrer Mutter jedoch gesundheitlich nicht gut ging, hatte sie sich bereit erklärt, ihre Familie zu vertreten.

„Bitte, Abby, wäre deine Granny Abigail jetzt hier, würde sie sich sehr freuen, wenn du an der kleinen Feier teilnehmen würdest“, hatte ihre Mutter sie angefleht. „Ich wünschte, ich könnte selbst dabei sein.“

Wenn meine Granny Abigail hier wäre, dann gäbe es diese Zeremonie gar nicht, hätte Abby am liebsten entgegnet, hatte aber schließlich doch ihrer Mutter zuliebe nachgegeben. Und vielleicht auch ihrer Großmutter zuliebe, falls die vom Himmel aus zuschaute.

Als der nächste Würdenträger ans Rednerpult trat, schweiften Abbys Gedanken ab. Ihre Granny Abigail war einer ihrer absoluten Lieblingsmenschen auf dieser Welt gewesen. Abby hatte ihre Geschichten von ihrer Arbeit als Leuchtturmwärterin geliebt, und zwar sowohl aus der Zeit, bevor ihr Mann ertrunken war, als auch aus der danach. Ihre Granny hatte einen unglaublichen Lebenswillen gehabt, trotz all der Nöte, die sie erlebt hatte, und trotz der Tatsache, dass sie ihre Tochter allein hatte großziehen müssen. Woher hatte sie nur die Kraft genommen, das alles zu bewältigen?

Jetzt war Abby selbst auch Witwe und musste ein Kind allein großziehen, aber außer diesen beiden Fakten und ihrem Vornamen gab es keine Gemeinsamkeiten. Ihre Granny hatte in viel schwierigeren Zeiten gelebt und Abbys Leben war im Vergleich mit dem ihrer Großmutter viel einfacher. Trotzdem hatte sie nach Kevins Tod ihr altes Leben in Kalifornien aufgegeben, weil es sich zu schwer angefühlt hatte, es ganz allein zu bewältigen.

Sie war zurück nach Hause geflüchtet, und zwar erstens in der Hoffnung, sich dort selbst wiederzufinden, und zweitens, um sich um ihre Mutter zu kümmern. Anderen zu helfen, gab ihr nämlich das Gefühl, gebraucht zu werden, auch wenn Kevin sie damit ständig aufgezogen hatte. Und abgesehen von dem einen Mal, als … sie seufzte. Warum fühlte sie sich bloß so ausgelaugt? Ach, hätte sie doch nur Grannys Kraft und Lebenswillen geerbt. Woher hatte sie damals bloß die Kraft zum Weitermachen genommen?

Der bedeckte Himmel trug wenig dazu bei, ihre Stimmung zu verbessern, während sie die verwitterten Grabsteine in der unmittelbaren Nähe betrachtete. Sie fröstelte, als ihr eine lebhafte Windbö durchs Haar fuhr, und sie zog Emma fester an sich in der Hoffnung, dass die körperliche Nähe sie beide warm halten würde.

„Jahrelanger Einsatz …“ Die Worte gingen Abby durch den Kopf und lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Redner. Was Granny wohl davon gehalten hätte, für ihre Arbeit geehrt zu werden? Ein Lächeln ging über Abbys Gesicht, als sie sich die Reaktion ihrer Großmutter vorstellte.

„Dummes Zeug! Warum sollte jemand dafür geehrt werden, dass er einfach nur seine Arbeit ordentlich macht?“ Das hätte Granny Abigail gesagt. Sie war gerne Leuchtturmwärterin gewesen, auch wenn es eine anspruchsvolle und sehr anstrengende Aufgabe gewesen war. Aber stolz? Mit Stolz sprach sie über ihren verstorbenen Mann, so als wäre seine Position auf dem Leuchtturm wichtiger gewesen als ihre, und das, obwohl sie nach seinem Tod seine gesamten Aufgaben und Pflichten übernommen hatte. Aber ihre Geschichten waren fantastischer gewesen als alle, die Abby je gehört hatte.

Der ältere Mann, der neben Abby saß, reichte ihr jetzt einen Flyer mit dem Ablauf der Zeremonie, und als sie sich ihm zuwandte, um sich zu bedanken, zeigte er auf einen Mann, der fast am Ende der Reihe stand. Abby nahm Blickkontakt mit dem Fremden auf, der daraufhin nickte, und zwischen seinem Oberlippenbart und dem gestutzten Vollbart bemerkte sie ein kaum wahrnehmbares Lächeln. Sie wurde rot bei dem Gedanken, dass er sie lange genug angeschaut haben musste, um zu bemerken, dass sie kein Programm hatte. Wie peinlich! Da saß sie als einzige noch lebende Angehörige der Geehrten, mal von Emma abgesehen, und war nicht einmal über den Ablauf der Zeremonie informiert.

Sie bedankte sich mit einem angedeuteten Nicken und versuchte zurückzulächeln, bevor sie den Flyer anschaute. Obwohl sie dem Mann nur einen ganz kurzen Blick zugeworfen hatte, war ihr aufgefallen, wie gut er aussah. Sein schwarzes Haar ringelte sich über den Kragen seines braunen Lederblousons und umrahmte ein Gesicht mit hellen Augen. Sie betrachtete ihn unauffällig von der Seite. Er trug dunkelblaue Jeans und Wanderstiefel. Ob er vielleicht ein entfernter Verwandter war, von dem sie nichts wusste? Jedenfalls hatte er ihre Großeltern mit Sicherheit nicht persönlich gekannt, denn dem Anschein nach war er etwa in ihrem Alter.

„Kann ich das lesen, Mami?“

Abby signalisierte Emma, still zu sein, und hielt ihrer Tochter das aufgeschlagene Programm hin. Sie selbst schaute ebenfalls hinein und versuchte, sich auf die Reihenfolge der Beiträge zu konzentrieren. Einer der Würdenträger ging jetzt zu den beiden Grabsteinen neben dem Rednerpult und legte vor jedem einen Kranz nieder. Als Nächstes wurde ein Mann namens Timothy Harrison vorgestellt, Herausgeber der Zeitschrift Lighthouse Digest*. Er trat hinter das Pult und erklärte die Bedeutung der Gedenktafel. Alle Mitglieder des Militärs bekämen eine solche Tafel mit Angaben über die Art ihres Dienstes und seit Kurzem stehe eine solche Ehrung auch den Leuchtturmwärtern der Küstenwache zu.

Dann enthüllte er eine Bronzetafel, die neben dem Grabstein aufgestellt worden war, und ein Gardist der Küstenwache steckte eine amerikanische Fahne in die dafür vorgesehene Öffnung an der Tafel. Als der Offizier vor der Fahne salutierte, salutierte die Fahne – mithilfe einer leichten Windböe – zurück. Abby musste ihre Tränen unterdrücken, als sie in diesem Augenblick an die militärische Zeremonie bei Kevins Begräbnis dachte. Wenigstens blieb ihr hier der Anblick eines mit der amerikanischen Flagge bedeckten Sarges erspart.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit jetzt wieder ganz auf den Redner, der gerade hervorhob, dass zwar viele Leuchtturmwärter bei ihrer Arbeit von ihrer Ehefrau unterstützt würden, aber nur ein paar wenige Witwen von Leuchtturmwärtern nach dem Tod ihres Ehemannes den Rang einer Haupt-Leuchtturmwärterin bekommen hätten. Dabei hob er hervor, dass Granny übergangslos da weitergemacht habe, wo ihr Mann aufgehört hätte – eine große Aufgabe für eine junge Mutter.

Abbys Herz schwoll vor Stolz, als sie der Ehrung ihrer Großeltern folgte. Sie waren wirklich besondere Menschen gewesen. Warum nur hatte sie ihre noblen Eigenschaften nicht geerbt? Sie schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an.

Die Zeremonie ging jetzt langsam zu Ende, und die anwesenden Gäste wurden gebeten, sich von ihren Plätzen zu erheben, während die Ehrenwache abtrat. Abby nahm Emma vom Schoß, stand auf, und dann standen sie stramm, bis die Zeremonie beendet war. Danach verlangte es die Höflichkeit, dass Abby sich noch kurz den Verantwortlichen vorstellte.

Sie ging zu dem Herausgeber der Zeitschrift, gab ihm die Hand und sagte: „Ich bin Abigail Baker, die Enkelin von Charles und Abigail Martin. Vielen Dank, dass Sie die beiden auf so wundervolle Art ehren.“

Mr Harrison strahlte, als er ihren Händedruck erwiderte. „Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mrs Baker. Ich habe Ihre Großmutter persönlich gekannt, eine wirklich bemerkenswerte Frau.“

Abby nickte. „Ja, das war sie. Ich wünschte, ich hätte sie noch länger erlebt, aber sie ist gestorben, als ich noch ein Kind war.“

„Und ich bin Emma“, war jetzt von ihrer gar nicht schüchternen Tochter zu hören, die dabei ihre Hand hochstreckte.

Mr Harrison beugte sich hinunter, ergriff die kleine Hand mit beiden Händen und entgegnete: „Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Emma. Dann bist du also die Urenkelin.“

Mit fragendem Blick sah Emma daraufhin zu Abby hinauf.

„Ja, Emma ist meine Tochter“, erklärte sie.

Der Mann sah Abby mit nachdenklich gerunzelter Stirn an und fragte. „Ist Ihre Mutter …“

„Meine Mutter wäre gerne dabei gewesen“, beeilte sich Abby zu versichern, „aber sie leidet an COPD und der Fußweg hierher wäre zu anstrengend für sie gewesen.“

„Das tut mir leid. Bitte grüßen Sie sie doch. Ich habe sie vor Jahren, noch zu Lebzeiten Ihrer Großmutter, einmal kennengelernt.“

„Das mache ich. Danke nochmals.“ Als sie sich abwandte, um zu gehen, bemerkte sie ein paar Schritte entfernt wieder den Mann, der ihr den Flyer gereicht hatte. Ob er auch mit Mr Harrison sprechen wollte?

Auf dem Weg zu ihrem Auto holte er sie ein und sagte: „Entschuldigen Sie bitte, ich möchte wirklich nicht aufdringlich sein, aber ich würde Sie gerne kennenlernen.“

Erschrocken wäre Abby beinahe gestolpert. „Mich?“

„Ja, ich habe gerade gehört, wie Sie gesagt haben, dass Sie die Enkelin der Martins sind.“

„Ja, das stimmt. Ich bin Abby Baker.“

„Mein Name ist Carson Stevens, und ich habe vor Kurzem den Leuchtturm gekauft, in dem Ihre Großeltern gearbeitet haben.“

Abby blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen. „Sie haben den Leuchtturm gekauft?“

„Also eigentlich habe ich Hope Island gekauft und dazu gehören auch die gesamten sechs Hektar Land und das Leuchtturmwärterhaus.“

„Ach.“ Abby versuchte sich die Insel vorzustellen. Es war viele Jahre her, dass sie das letzte Mal dort gewesen war. „Warum haben Sie sie gekauft? Wollen Sie dort wohnen?“

„Ja, irgendwann schon. Ich renoviere das Leuchtturmwärterhaus und habe vor, daraus ein Bed & Breakfast zu machen.“

Das Haus ihrer Großmutter ein Bed & Breakfast? „Ist es dazu denn groß genug?“

„Ja sicher. Wenn alles fertig ist, wird es vier Zimmer zum Vermieten haben.“

„Ich muss aufs Klo, Mami“, war in dem Moment Emmas piepsige Stimme zu hören.

Abby schaute hinunter zu Emma und bemerkte sofort das verräterische Trippeln, ein sicheres Zeichen, dass es höchste Zeit wurde, bevor ein Malheur passierte.

Sie wurde rot, als sie Carson wieder ansah, und sagte: „Tut mir leid, aber wir müssen uns jetzt beeilen.“ Mit diesen Worten nahm Abby Emma auf den Arm und rannte mit ihr den Hügel hinunter.

Carson rannte neben ihnen her und sagte schließlich: „Hätten Sie vielleicht Lust, sich den Leuchtturm irgendwann einmal anzuschauen?“

„Ich weiß nicht, wann ich Zeit habe, aber … rufen Sie mich doch einfach an“, rief Abby ihm noch zu, rannte aber schnaufend weiter und überquerte dann die Straße, um in dem Café an der Ecke die Toiletten zu suchen.

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So viel also dazu, dass er unbedingt einen tollen ersten Eindruck hatte machen wollen.

Carson schüttelte den Kopf, als er Abby nachsah, die sich beinah rennend und mit wehenden Haaren immer weiter von ihm entfernte.

Bildete er es sich nur ein oder war sie tatsächlich kurz angebunden gewesen? Klar war das dringende Bedürfnis des kleinen Mädchens wichtiger, als mit ihm zu plaudern, aber es fühlte sich trotzdem so an, als hatte Abby ihn gar nicht schnell genug loswerden können.

Das lag bestimmt an seiner fehlenden Übung im Umgang mit Menschen, denn er hatte bis vor Kurzem den ganzen Tag in einem Großraumbüro am Computer gesessen und anschließend abends zu Hause Leuchttürme angeschaut. Deshalb war nicht viel Zeit für gesellige Kontakte übrig gewesen. Nicht dass er sich das nicht gewünscht hätte, nachdem Jennifer die Verlobung mit ihm gelöst hatte, aber in dem Jahr, das seitdem vergangen war, musste er im Umgang mit Menschen völlig eingerostet sein. Trotzdem hatte er gehofft, die Nachkommen der Martins kennenzulernen, und er war sehr erfreut gewesen, als er erfahren hatte, dass Abby deren Enkelin war. Vielleicht war er einfach zu forsch und direkt gewesen. Dabei hatte er eigentlich nur mehr über die ehemaligen Leuchtturmwärter auf seiner Insel erfahren wollen, und dass sie so attraktiv war, war auch kein Nachteil. Er musste nur erst wieder lernen, wie man Frauen ansprach.

Carson ging zu seinem Truck, den er um die Ecke geparkt hatte. Sie hatte gesagt, er solle sie einfach anrufen, hatte ihm aber nicht ihre Nummer gegeben. Wie sollte er sie also finden? Er holte sein Handy hervor und googelte Abby Baker – ohne Ergebnis. Er wusste nicht einmal, ob sie in der Gegend lebte. Nachdem er in seinen Truck gestiegen war, saß er einen Moment lang einfach nur da, bevor er den Motor zündete.

Denk nach, Carson. Es muss eine Möglichkeit geben, es herauszufinden, sagte er zu sich selbst. Er schlug einmal heftig aufs Lenkrad. Hatte er seine Chance vertan?

Das Bild, wie Abby mit ihrer kleinen Tochter auf dem Arm den Hügel hinuntergerannt war, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Was hatte das kleine Mädchen eigentlich in der Hand gehabt? Einen Teddybären in Kleidern? Er hatte nicht nur von Frauen keine Ahnung, sondern mit Kindern kannte er sich noch weniger aus. Obwohl ihn das kleine Mädchen an seine jüngere Schwester Dana erinnerte, als sie noch klein gewesen war. Bei der Erinnerung musste Carson lächeln und schüttelte dann den Kopf. Kaum zu glauben, dass Dana jetzt schon selbst Kinder hatte. Zwei Jungen und ein drittes Kind war unterwegs. Er musste wirklich versuchen, sie häufiger zu sehen, aber es kam immer wieder etwas dazwischen, das dringender war, und außerdem lebten sie in Colorado, also sehr weit von Maine entfernt.

Carson schaute auf die Uhr und zuckte richtig zusammen, als er sah, wie spät es schon war. In ein paar Minuten hatte er einen Termin mit dem Bauunternehmer, um mit ihm die Renovierungen auf Hope Island zu besprechen. Die Arbeiten am Bau eines Bootsanlegers mussten eigentlich mittlerweile abgeschlossen sein. Wie es jemals jemand geschafft hatte, ohne Anleger lebendig auf die Insel zu gelangen, war ihm schleierhaft, denn Hope Island hatte den Ruf, dass es fast unmöglich war, dort zu landen. Carson staunte immer wieder darüber, wie die Menschen früher ohne moderne Technik ihre Probleme gelöst hatten. Der schwimmende Anleger, den er jetzt hatte bauen lassen, würde haltbarer und vor allem funktionaler sein als die früheren festen Stege, die meist irgendwann von den Wellen weggerissen worden waren. Wenn der Anleger erst einmal fertig war, konnte endlich auch Material für die Bauarbeiten hinüber auf die Insel geschafft werden.

Carson hielt vor Mo’s, dem örtlichen Coffeeshop, und wurde beim Betreten des Lokals vom Duft frisch aufgebrühten Kaffees begrüßt. Als er sich in dem Gastraum umsah, winkte ihm ein Mann zu, der auf einem der Sofas saß und dann aufstand. Carson ging zu ihm hinüber und gab ihm die Hand.

„Sie müssen Nick sein. Ich bin Carson.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen. Holen Sie sich doch erst mal einen Kaffee, dann können wir das hier durchgehen.“ Dabei zeigte er auf eine Bauzeichnung auf dem Tisch.

Am Tresen ging Carson die fantasievollen Bezeichnungen der unterschiedlichen Kaffeekreationen auf der Tafel dahinter durch. „Haben Sie auch ganz normalen Kaffee?“, fragte er schließlich.

„Ja, klar. Das ist der Mo’s Joe.“ Der vollbärtige Typ mit einem Männerdutt zeigte auf den Namen an der Tafel. „Welche Größe? Einen Little Joe, einen Big Joe oder einen Most Joe?“

Carson zeigte auf einen Becher und hoffte, dass er sich nicht merken musste, welcher der Joes das war, doch der Barista nickte, nahm den Becher und füllte ihn mit Kaffee. Carson griff in die Tasche. „Wie viel macht das?“

Doch der Mann schüttelte den Kopf und winkte ab. „Sie sind neu in der Stadt und der erste Mo geht immer aufs Haus. Wenn Sie dann aber mehr Mo’s Joes wollen, müssen Sie bezahlen.“

Carson nahm den Becher, fragte sich kurz, auf welchem Planeten er hier eigentlich gerade gelandet war, ging dann zurück zu dem Tisch, an dem Nick saß, und setzte sich neben ihn.

Nick legte seine Hände auf die Knie, sah Carson an und sagte: „Folgende Situation: Ihnen ist schon klar, dass das Gebäude in einem ziemlich schlechten Zustand ist, oder? Es muss völlig entkernt werden, und das Einzige, was noch genutzt werden kann, sind das Fundament und die Außenmauern. Die scheinen stabil zu sein. Wir haben ein paar Fallen aufgestellt, um die Schädlinge zu fangen und dann die Höhlen und Gänge zu verschließen, durch die sie hineinkommen.“

„Schädlinge?“ Carson wusste nicht so genau, was er darunter zu verstehen hatte.

„Na ja, Sie wissen schon – Mäuse, Eichhörnchen und so, die das Haus jetzt schon eine ganze Weile für sich gehabt haben. Die müssen jetzt raus da, denn solch ein Getier kann ein Haus komplett zerstören. Und der Garten ist voller Wühlmäuse, Sie wissen schon, diese Nager, die die Wurzeln von Pflanzen abfressen und den ganzen Garten mit unterirdischen Gängen durchziehen.“

Carson nickte und stellte sich das Haus vor, wie es von Nagern überrannt wurde. Keine besonders angenehme Vorstellung im Zusammenhang mit einem Bed & Breakfast.

„Wenn die Schädlinge dann raus sind, müssen wir das Dach erneuern. Es bringt ja nichts, drinnen zu arbeiten, wenn es durchs Dach tropft, und ich bin sicher, dass das der Fall ist.“

„Wie lange wird es denn dauern, das Dach zu erneuern?“

„Damit müssten wir eigentlich bis nächste Woche fertig werden, vorausgesetzt das Wetter hält.“

Nick trank einen großen Schluck von seinem Joe.

„Und dann müssen wir das gesamte Haus entkernen, bevor wir neue Wände einziehen, Estrich gießen und die Wasser- und Elektroleitungen verlegen können.“

Carson tanzten Dollarzeichen im Kopf herum. Er deutete auf den gelben Notizblock mit Zahlenkolonnen darauf und fragte: „Ist das die Aufstellung der gesamten Sanierungskosten?“

Nick nahm den Block und hielt ihn Carson hin, damit er die Zahlen besser sehen konnte. Der verschluckte sich und hätte beinah seinen letzten Schluck Kaffee wieder ausgespuckt.

„Wow. Das ist mehr als ich gedacht habe. Gibt es irgendeine Möglichkeit, die Kosten noch zu senken?“

„Ja klar“, antwortete Nick, legte den Block wieder hin und sah Carson an. „Je mehr Sie selbst mit Hand anlegen, desto weniger Männer muss ich für die Arbeit bezahlen. Haben Sie denn schon mal auf dem Bau gearbeitet?“

„Nein, aber ich bin sicher, dass ich es lernen kann.“

Er würde alles tun, was in seiner Macht stand, um sein Ziel zu erreichen, und wenn Gott es wollte, würde er die Zweifler zum Schweigen bringen.

* dt. Leuchtturm-Magazin

Nach der Gedenkfeier auf dem Friedhof schaute Abby noch bei ihrer Mutter vorbei und wurde von Herkules, der Katze ihrer Mutter, begrüßt, als sie mit Emma in die Küche kam. Ihre Mutter saß am Tisch vor einer aufgeschlagenen Bibel. Abby warf ihre Schlüssel und ihre Handtasche hin, während Emma zu ihrer Großmutter rannte und sie umarmte.

„Wonder Woman musst du aber auch umarmen!“, sagte die Kleine und hielt ihrer Oma die Bärin hin.

Die willigte mit einem breiten Lächeln ein und fragte dann interessiert: „Und, wie war es? Hast du jemanden getroffen, den du kanntest?“

Abby schüttelte den Kopf. „Vielleicht hättest du dort mehr Leute gekannt als ich, aber ich habe mit jemandem gesprochen, der dich kennt. Timothy Harrison.“

„Ach ja. Das ist der Mann, der mir den Brief mit der Einladung zu der Gedenkfeier geschickt hat. Seine Zeitschrift hat vor einiger Zeit einen Artikel über deine Granny gebracht.“ Suchend sah sie sich in der Küche um. „Irgendwo muss das Exemplar hier herumliegen, aber ich weiß nicht mehr, wo ich es hingelegt habe.“

Abby schaute zum Küchentresen hinüber. „Hast du noch Kaffee für mich?“ Sie ging zur Kaffeemaschine, nahm die Glaskanne mit einem Kaffeerest heraus, schnupperte daran und stellte sie dann wieder zurück. „Du musst dir wirklich mal so einen Kaffeeautomaten kaufen, der immer nur einzelne Tassen aufbrüht. Du trinkst alleine doch gar nicht genug Kaffee, um immer eine ganze Kanne warm zu halten.“

Doch ihre Mutter winkte ab. „Ich brauche nichts Neues zum Kaffeekochen. Die Kaffeemaschine reicht für mich völlig aus. Wenn du willst, kannst du dir gerne eine frische Kanne voll kochen.“

Abby schüttelte den Kopf. „So viel brauche ich nicht. Ich kann auch einfach Wasser trinken.“ Sie nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte es an der Spüle und setzte sich dann ihrer Mutter gegenüber an den Tisch.

„Hast du heute schon etwas gegessen? Ich habe noch Aufschnitt, falls du ein Sandwich willst“, sagte ihre Mutter.

Mit gerunzelter Stirn dachte Abby über den Vorschlag nach und sagte dann: „Nein danke. Ich hole mir später rasch irgendwo etwas.“

„Aber du musst doch etwas essen. Du wirst zu dünn.“

Abby zog eine Grimasse. Nicht schon wieder dieses Thema. „Ich esse genug, Mama. Ich arbeite es nur alles wieder ab.“

„Möchtest du einen Cookie, Emma? In der Keksdose sind frisch gebackene Chocolate-Chip-Cookies.“

„Darf ich, Mami?“

„Ja, aber nur einen.“ Abby ging zum Küchentresen, nahm den Deckel von der Keksdose ab und der Duft von Zucker und Schoko-Chips kam ihr entgegen. Als sie Emma die Dose hinhielt, erinnerte sich Abby noch einmal, dass sie nicht vergessen durfte, auf dem Heimweg noch für sie beide etwas zu essen zu besorgen. Wenn Emma nicht wäre, hätte sie nämlich glatt vergessen, überhaupt zu essen. Komisch, dabei hatte es Zeiten gegeben, in denen sie erst eine Handvoll Cookies gefuttert hatte, bevor sie etwas Gesundes aß. Jetzt ging sie mit der Dose zu ihrer Mutter, die sich auch einen Cookie herausnahm, brachte die Dose dann zurück zum Tresen und setzte sich wieder an den Tisch.

Emma kletterte auf einen der Stühle an dem runden Esstisch und tat so, als würde sie ihre Bärin von dem Cookie abbeißen lassen.

„Und, hast du noch mit jemand anderem außer Mr Harrison gesprochen?“, fragte ihre Mutter und biss immer wieder winzige Bissen von ihrem Cookie ab.

Abby nickte und erstarrte dann. „Doch, ich habe noch jemanden getroffen. Wusstest du eigentlich, dass jemand den Leuchtturm gekauft hat? Und nicht nur den, sondern die ganze Insel? Er hat sich als Carson Stevens vorgestellt.“

„Ach, wirklich? Ich habe darüber vor einiger Zeit irgendetwas in der Zeitung gelesen. Was er wohl damit vorhat?“

Das Gedächtnis ihrer Mutter war hervorragend wie eh und je, aber Abby war ziemlich fassungslos, dass ihre Mutter ihr nichts vom Verkauf des Leuchtturms erzählt hatte.

„Er hat gesagt, dass er aus dem Leuchtturmwärterhaus ein Bed & Breakfast machen will.“

Ihre Mutter lachte. „In dem alten Gemäuer? Ich kann mir nicht vorstellen, dass da jemand freiwillig übernachten will.“

„Er muss bestimmt eine ganze Menge an dem Gebäude machen, wenn er es als Unterkunft für Gäste vermieten will.“

„Ich war seit über 15 Jahren nicht mehr drüben. Dein Vater und ich sind manchmal mit dem Boot an der Insel vorbeigefahren, und der Leuchtturm sah trostlos aus, wie er so leer und allein dastand.“

Die wehmütige Miene ihrer Mutter rührte Abby. Das Leben hatte sich seit damals so sehr verändert. Ob ihre Mutter sich genauso trostlos und verlassen fühlte, wie sie den Leuchtturm beschrieb?

„Er hat mich gefragt, ob ich mir alles einmal anschauen möchte.“

„Wer?“, fragte ihre Mutter nach, deren Aufmerksamkeit offenbar abgeschweift war, wahrscheinlich zu der Leuchtturminsel.

„Na, Carson Stevens, der Mann, der das ganze Anwesen gekauft hat.“

„Das ist ja lieb von ihm. Das Angebot solltest du annehmen. Ist er denn nett?“

„Ich hatte nicht viel Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, aber ja, er kam mir ganz sympathisch vor. Ach du liebe Güte!“, sagte sie dann erschrocken. „Ich habe ihm gesagt, dass er mich anrufen soll, aber ihm dann gar nicht mehr meine Nummer gegeben.“

Ihre Mutter hustete ein paar Mal, bevor ihre Stimme wieder da war. „Hm. Wir können ja morgen nach dem Gottesdienst mal in der Gemeinde herumfragen. Vielleicht weiß dort jemand, wie man ihn erreichen kann.“

Irgendjemand wusste es mit Sicherheit, denn zu den Vorteilen, in einer Kleinstadt zu leben, gehörte unter anderem, dass jeder jeden kannte. Das war allerdings auch gleichzeitig einer der Nachteile, in einer Kleinstadt zu leben, und einer der Gründe, weshalb sie nach dem College nach Kalifornien gezogen war.

Komisch, wie sich ihre Sichtweise verändert hatte, denn jetzt bewirkte die Vorstellung, dass hier jeder jeden kannte, eher, dass ihr Hope Harbor wie ein sicherer Hafen vorkam.

„Ja, das mache ich“, sagte Abby zu ihrer Mutter und schob ihren Stuhl zurück. „Wir müssen jetzt aber los. Ich muss noch ein paar Sachen einkaufen und eine Ladung Wäsche wartet auch noch auf mich. Soll ich dir irgendwas aus dem Supermarkt mitbringen?“

Ihre Mutter zeigte auf eine Liste auf dem Kühlschrank. „Ja, wenn es dir nichts ausmacht, gerne. Ich brauche tatsächlich ein paar Sachen.“

Abby nahm die Einkaufsliste entgegen und hielt dann ihrer Tochter die Hand hin. „Komm jetzt, Emma.“

„Drückst du mich noch mal, bevor ihr geht?“, fragte ihre Mutter und wartete mit offenen Armen auf Emma, die sich gerne von ihrer Oma umarmen ließ.

Bevor sie ging, drehte Abby sich noch einmal um und sagte: „Ich bringe die Sachen dann morgen mit, wenn ich dich zur Kirche abhole, ja? Oder brauchst du schon vorher etwas davon?“

Ihre Mutter nickte. „Nein, morgen reicht. Ich versuche, fertig zu sein, wenn du kommst. Es wäre alles viel einfacher, wenn du noch hier wohnen würdest.“

Einfacher für wen?, dachte Abby. Sie würde sich nicht wieder auf dieses Thema einlassen. Die ersten drei Monate, nachdem sie wieder nach Hope Harbor gezogen war, hatte sie bei ihrer Mutter gewohnt, sich aber die ganze Zeit nach ihren eigenen vier Wänden gesehnt. Ihrer Mutter ging es nicht so schlecht, dass ständig jemand bei ihr sein musste, und obwohl Grace ihre Tochter natürlich gerne um sich haben wollte, hoffte Abby, dass ein Besuch am Tag genügen würde. Sie war nach Maine zurückgekommen, um ihre Mutter zu unterstützen, und tat, was sie konnte, aber wichtig war, dass sie selbst wieder auf eigenen Beinen stand und allein zurechtkam, egal, ob das einfach war oder nicht.

Sie beugte sich jetzt vor, gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und sagte: „Ich bin morgen um neun hier, ja? Hab dich lieb.“

Auf dem Weg zum Supermarkt kam Abby am Mo’s vorbei und fand, dass ein Becher mit starkem Kaffee jetzt eine richtig gute Idee war.

„Ich hab Hunger, Mami“, quengelte Emma.

Abby seufzte. Im Mo’s gab es nichts für Kinder, also entschied sie sich, auf den Kaffee zu verzichten. Wahrscheinlich war es sowieso nicht besonders vernünftig, um diese Tageszeit noch Kaffee zu trinken. Sie würde also einfach nach Hause fahren und für Emma und sich einen Salat zubereiten.

Am nächsten Morgen war Abby ein paar Minuten früher als vereinbart bei ihrer Mutter, weil sie damit rechnete, dass es Verzögerungen geben würde. Ihre Mutter bewegte sich nur noch sehr langsam und war rasch außer Atem, sodass schon allein das Anziehen eine Tortur war. Und natürlich ließ es sich ihre Mutter nicht nehmen, sich für den Kirchgang richtig fein zu machen. Die lässige Kleidung der meisten Gemeindemitglieder war ihr ein Dorn im Auge, ganz besonders wenn Teenager in Jeans kamen. Zum Glück hatte Abby ein paar locker sitzende Kleider, die sie mit einer Strickjacke oder einem Schal darüber trug und die der strengen Überprüfung durch ihre Mutter standhielten.

Auch Emma ging gerne in die Kirche und sie machte sich genauso gerne schick wie ihre Großmutter. Wenn man bedachte, dass die Kleine erst fünf war, hatte sie schon sehr klare und ganz eigene Vorstellungen davon, was sie anziehen wollte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie – im Unterschied zu Abby – jeden Tag Kleider getragen. An diesem Tag war es ein pink und grün gestreiftes mit einer pinkfarbenen Rüsche am Saum und einer passenden Schleife in den dunklen Locken.

„Meine Wonder Woman-Bärin braucht auch schöne Sachen für die Kirche“, sagte sie.

„Aber dann würde sie ja gar nicht mehr wie Wonder Woman aussehen“, wandte Abby ein. Wenn die Bärin noch mehr Kleidung bekäme, hätte sie demnächst mehr als Abby.

„Das ist dann ein Geheimnis. So wie bei Superman, der versteckt ja auch sein S unter seinen Kleidern.“

Abby lächelte. Wie kam sie nur zu einem so schlauen Kind?

Emma bestand darauf, in der Kirche zwischen Abby und ihrer Großmutter zu sitzen, statt in die Kinderkirche zu gehen. Während der Predigt malte sie, und wenn die Gemeinde sang, stimmte sie mit ihrer winzigen Stimme ein, auch wenn sie den Text nicht kannte. Den erfand sie, sehr zur Erheiterung von Abby und ihrer Mutter, und die beiden Frauen ließen die kleine Lobpreiserin einfach gewähren.

Als sie nach dem Gottesdienst aufstanden, um zu gehen, zeigte Emma in den hinteren Bereich der Kirche und sagte: „Guck mal, Mama, da ist wieder der Mann von gestern.“

Abbys Blick ging in die Richtung, in die ihre Tochter zeigte, und tatsächlich, da war Carson Stevens auf dem Weg zum Ausgang und er sah noch besser aus als am Vortag. Vielleicht war das die Gelegenheit, ihm ihre Nummer zu geben. Aber wie sollte sie das anstellen? Hinter ihm herrennen und seinen Namen rufen? Außerdem musste sie ihrer Mutter zum Auto helfen, und sie fragte sich darüber hinaus, ob er sie überhaupt bemerkt hatte.

Als sie nach draußen kamen, ließ Abby ihren Blick über den Parkplatz schweifen, konnte Carson Stevens aber nirgends entdecken. Vielleicht sollte sie die Sache lieber einfach auf sich beruhen lassen. Sie hatte zwischen ihrer Arbeit, den Abholzeiten in der Kita und den Terminen ihrer Mutter sowieso keine Zeit, mit ihm hinüber zur Leuchtturminsel zu fahren.

Als sie bei ihrem Auto angekommen waren, sagte ihre Mutter: „Lass uns doch noch irgendwo ein Hummerbrötchen essen gehen. Darauf hätte ich jetzt richtig Appetit.“

„Das klingt gut. Im Rick’s?“

„Da gibt es zwar die besten Hummerbrötchen, aber jetzt nach dem Gottesdienst müssen wir da bestimmt eine Weile warten.“

„Also wenn es dir nichts ausmacht zu warten … mir ist es recht. Wenigstens gibt es da einen Spielplatz, auf dem Emma sich austoben kann, und auch ein paar Sitzgelegenheiten im Freien.“

„Dann also auf ins Rick’s“, sagte ihre Mutter und Abby gab Gas und fuhr los.

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Carson drehte seine Runden auf dem Parkplatz von Rick’s Lobster Pound und suchte nach einer freien Lücke. Es war voll. Vielleicht war heute kein besonders günstiger Tag, um das Lokal auszuprobieren. Er wollte schon gerade wieder fahren, als er Abby neben einer älteren Frau an einem der Picknicktische im Außenbereich sitzen sah. Vielleicht war das ihre Mutter. Ob sie auch auf der Leuchtturminsel gelebt hatte?

Das hier war seine Chance, Abbys Nummer zu bekommen. Aber vielleicht war es ja unhöflich, danach zu fragen? Jetzt reiß dich aber mal zusammen, Carson. Frag einfach. Was konnte denn schlimmstenfalls passieren? Er bat sie ja schließlich nicht um ein Date.

In dem Moment fuhr direkt vor ihm ein Wagen aus einer Parklücke, vor der noch niemand wartete. Das musste ein Zeichen sein, dass er bleiben sollte. Danke, Gott. Er parkte den Wagen und ging die 500 Meter zu der Stelle, wo Abbi saß. Sie und die andere Frau saßen mit dem Rücken zu ihm und schauten in Richtung des Spielplatzes neben dem Restaurant, wo er Abbys kleine Tochter entdeckte.

Er räusperte sich und sagte dann: „So trifft man sich wieder.“ Ob das wohl so lahm klang, wie es sich für ihn selbst anhörte?

Abby drehte sich mit einem Ruck um, und ihre Wangen wurden rot, als er in ihrem Blick sah, dass sie ihn wiedererkannte. „Ach, hallo.“

Sie tippte die ältere Frau an, die ihn schon mit leicht zusammengekniffenen Augen musterte, als versuchte sie, darauf zu kommen, wer er wohl war. „Mama, das ist der Mann, von dem ich dir erzählt habe. Carson, richtig?“

„Ja, Carson Stevens.“ Wenigstens erinnerte sie sich noch an seinen Vornamen. Er gab ihr die Hand.

Die ältere Frau sah immer noch verwirrt aus. „Erinnerst du dich, Mama? Das ist der Mann, der Hope Island gekauft hat.“

Da machte Abbys Mutter große Augen und nickte. „Doch, davon habe ich gehört. Dann sind Sie das also, der das alte Anwesen wieder auf Vordermann bringen will?“

„Ja, Ma’am. Ich habe vor, ein Bed & Breakfast daraus zu machen.“

Lächelnd und mit einem Kopfschütteln entgegnete die Frau darauf: „Man stelle sich das vor. Ich würde ja zu gerne sehen, wie Sie das anstellen.“

„Na, mit viel Arbeit. Ich habe mich neulich mit einem Bauunternehmer getroffen, der mir gesagt hat, was dort alles zu tun ist, aber es wird bestimmt sehr schön, wenn es erst mal fertig ist. Dann müssen Sie kommen und es sich anschauen.“

„Ich habe so viele Erinnerungen daran“, erklärte sie daraufhin, und ihr Blick schweifte ab, als erlebte sie ein paar davon gerade noch einmal.

„Dann haben Sie also dort gelebt, als Ihre Eltern Leuchtturmwärter waren? Darüber würde ich gerne irgendwann mehr erfahren“, sagte Carson und versuchte damit, die Aufmerksamkeit der Frauen zurückzugewinnen.

„Sie können mich jederzeit gerne zu Hause besuchen“, erklärte Abbys Mutter und musste dann husten. Sie zeigte vom Restaurant weg und fuhr fort: „Ich wohne in der Cedar Street, nur ein Stück die Straße hinunter.“

„Danke. Vielleicht nehme ich Sie beim Wort.“

„Ach Mama, Mr Stevens hat bestimmt mit den Bauarbeiten auf der Insel alle Hände voll zu tun.“

War das etwa gerade ein Versuch, ihn abzuwimmeln? „Das stimmt zwar, aber für die Dauer der Bauarbeiten lebe ich hier in der Stadt“, erklärte er deshalb rasch.

In dem Moment wurde im Lokal die Nummer ihres Tisches ausgerufen, der frei geworden war, und Abby verkündete: „Das ist unser Tisch. Dann gehe ich mal und hole Emma.“

„Das ist anscheinend ein sehr beliebtes Lokal, dann muss das Essen wohl gut sein“, sagte Carson, als Abby davonhuschte.

„Hier gibt es die besten Hummerbrötchen und auch der Blaubeerkuchen ist himmlisch“, bestätigte Abbys Mutter und unterstrich das mit einem Nicken. „Setzen Sie sich doch zu uns. Oder sind Sie verabredet?“

Carson schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin allein.“ Wie immer, dachte er. „Ich nehme Ihr Angebot also gerne an.“ Hoffentlich hatte Abby nichts dagegen. „Entschuldigen Sie, aber wie war noch gleich Ihr Name?“

„Ach, wie unhöflich von mir. Ich bin Grace Pearson.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Pearson.“

„Sie können gerne Grace sagen.“

Carson lächelte. „Meine Eltern haben mir beigebracht, ältere Menschen immer mit Mr oder Mrs anzusprechen. Ich weiß also nicht so genau, ob das mit dem Vornamen klappt.“

„Ganz wie Sie möchten, aber ich werde eigentlich von allen nur Grace genannt.“

In dem Moment kam auch schon Abby mit Emma zurück und sagte: „Komm, lass uns an unseren Tisch gehen, ja?“ Verwundert schaute sie dann zu, wie Carson ihrer Mutter aufhalf.

„Carson isst mit uns“, erklärte diese nur, woraufhin Abby kurz überrascht aussah, dann aber mit einem Schulterzucken nach dem Arm ihrer Mutter griff. Doch sie sagte mit einem Lächeln in Carsons Richtung: „Geh du doch schon mal mit Emma vor. Carson hilft mir mit der Treppe.“

Zumindest Abbys Mutter hatte er also ein wenig beeindruckt.

Nachdem sie von der Kellnerin an ihren Tisch geführt worden waren und ihre Bestellung aufgegeben hatten, meldete sich Emma zu Wort.

„Ich hab dich heute in der Kirche gesehen“, verkündete sie.

„Ach wirklich? Wo warst du denn?“

„Natürlich auch in der Kirche, ist doch klar.“ Dabei konzentrierte sie sich ganz auf die Seite ihres Malbuches, das ihr die Kellnerin zusammen mit ein paar Buntstiften geschenkt hatte.

„Tut mir leid, Emma, ich habe dich gar nicht gesehen. Sonst hätte ich dir bestimmt Hallo gesagt.“

„Du warst ganz hinten und bist schon vor uns rausgegangen.“

Was für ein süßes und aufgewecktes kleines Mädchen. Ob Abby ihn wohl auch schon nach dem Gottesdienst in der Kirche gesehen hatte?

Grace zog die Augenbrauen hoch und fragte: „Waren Sie heute zum ersten Mal in unserer Kirche?“

„Ja, ich habe gedacht, dass ich mir einfach einmal ein paar Gemeinden in der Stadt anschaue und mich dann entscheide, wo ich bleibe.“

„Die Auswahl ist hier nicht besonders groß, denn es gibt nur vier Gemeinden. Sie werden also für den Überblick nicht lange brauchen.“ Und dann deutete Grace mit dem Finger auf ihn und fuhr fort: „Wenn Sie das nächste Mal in unsere Gemeinde kommen, dürfen Sie sich gerne zu uns setzen.“

„Vielen Dank. Das mache ich“, antwortete er und schaute dabei zu Abby, die die Einladung ihrer Mutter allem Anschein nach mit Erstaunen zur Kenntnis nahm – ganz offensichtlich also ein guter Moment, um das Thema zu wechseln.

„Mrs Pearson, äh, Grace, wann sind Sie denn das letzte Mal auf Hope Island gewesen?“, fragte er deshalb und sie bekam auf der Stelle einen verträumten Blick.

„Ach, damals lebte mein Mann noch. Wir waren oft mit dem Boot unterwegs und sind dabei ein paar Mal ganz nah an der Insel vorbeigefahren. Wir haben aber nie haltgemacht, weil es ziemlich schwierig ist, dort mit einem Boot anzulegen. Außerdem wollten wir nicht einfach so unbefugt fremden Grund und Boden betreten.“

„Die Insel war jahrelang im Besitz der Regierung, bis sie dann dieses Jahr zum Verkauf angeboten wurde“, berichtete Carson. „Für den Leuchtturm war die Küstenwache zuständig, seitdem Ihre Mutter dort weggegangen ist, aber um die Gebäude und das Grundstück hat sich seitdem niemand mehr gekümmert.“

„Das ist wirklich ein Jammer, denn früher war es wirklich schön dort. Meine Mutter war immer sehr stolz darauf, wie gut sie alles in Schuss gehalten hat. Sie hat erzählt, dass es damals, als noch der US-Leuchtturm-Service und nicht die Küstenwache für alle Leuchttürme zuständig war, immer wieder Inspektionen gab, bei denen besonders darauf geachtet wurde, dass alles sauber und ordentlich war. Sogar die privaten Räume der Leuchtturmwärter wurden dabei begutachtet. Sie hat diese Inspektionen jedenfalls immer mit Bravour bestanden.“

„Dann waren Sie also schon sehr lange nicht mehr dort, oder?“, fragte Carson.

„Nein, das ist bestimmt 15 oder sogar 20 Jahren her. Ich glaube sogar, das letzte Mal, als ich da war, war Abby dabei.“ Sie sah zu ihrer Tochter hin und fragte: „Wie alt warst du da, Abby?“

„Ich war in der Highschool.“

„Dann müssen Sie es sich unbedingt wieder mal anschauen.“

Grace schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich es schaffe, in ein Boot und wieder herauszusteigen, und schon gar nicht, den Hügel zum Leuchtturm hinaufzukraxeln. Aber Abby könnte doch hinfahren.“

„Ich möchte auch mit!“, sagte Emma und hielt im Malen inne.

„Vielleicht kannst du mitkommen – wenn alles fertig ist“, sagte er, sah dann Abby wieder an und fuhr fort: „Was sagen Sie, Abby? Es gibt inzwischen schon einen nagelneuen Anlegesteg, sodass es kein Problem mehr ist, auf die Insel zu gelangen. Möchten Sie den Leuchtturm und das Leuchtturmwärterhaus noch einmal sehen, bevor es saniert wird? Wie wäre es mit nächster Woche?“

Abby warf einen Blick zu ihrer Mutter hinüber und dann zu Emma. „Tagsüber arbeite ich in Emmas Kita. Ich kann Ihnen also nicht genau sagen, wann ich Zeit hätte.“

„Wie wäre es denn mit Samstag? Haben Sie nächsten Samstag frei?“ So leicht gab er nicht auf, und sein Bauchgefühl sagte ihm, dass sie mitkommen würde.

Grace berührte Abby am Arm und schlug vor: „Emma könnte doch den Tag bei mir verbringen, Abby.“ Dann sah sie an Abby vorbei zu Emma und fragte: „Was hältst du davon, wenn wir nächstes Wochenende einen Kuchen oder Cookies backen?“

Emma bekam große Augen. „Können wir einen Schokoladenkuchen machen?“

„Na klar können wir das.“

Jetzt tat Carson Abby schon fast ein bisschen leid, weil Grace sie um ihre Ausrede gebracht hatte, also setzte er seinen schönsten Hundeblick auf und hoffte, dass sie einwilligen würde.

„Also gut, einverstanden, dann komme ich mit. Ich würde den Leuchtturm und das Haus auf der Insel wirklich gerne noch einmal sehen.“

Da schlug Carson mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte: „Großartig! Dann ist das also abgemacht. Ach ja, und es wäre bestimmt gut, wenn ich Ihre Nummer hätte, damit ich Ihnen Ende der Woche sagen kann, wann ich Sie abhole.“

Er holte sein Handy aus der Tasche und war bereit, die Nummer einzugeben.

Als Abby ihre Mutter nach dem Mittagessen wieder zu Hause abgeliefert hatte, zog sie ihre Laufshorts, ein T-Shirt und Laufschuhe an. Nach dem schweren Essen musste sie sich unbedingt bewegen und, was noch wichtiger war, sie brauchte ein bisschen Zeit für sich allein.

„Wir spielen Candyland“, sagte Emma vom Wohnzimmer aus, wo sie schon ihr Lieblingsspiel unter dem Couchtisch ihrer Großmutter hervorholte.

„Bist du ganz sicher, dass du nicht zu müde bist, um dich um Emma zu kümmern, Mama?“

Ihre Mutter war gerade dabei, am Küchentresen die Kaffeemaschine mit einer frischen Kanne Kaffee aufzusetzen, und winkte ab mit den Worten: „Wir kommen prima zurecht und werden unseren Spaß haben, nicht wahr, Emma?“

„Ja“, hörten sie Emma unverzüglich antworten, die im selben Moment auch schon mit dem Spiel am Küchentisch auftauchte, den Deckel von der bunten Schachtel nahm und anfing, es aufzubauen.

„Ich bin die Eistüte! Was willst du sein, Oma?“

„Hm, dann bin ich der Marshmallow.“ Grace schenkte sich einen Becher Kaffee ein, kam dann wieder zum Tisch und setzte sich.

„Jetzt lauf schon los, Abby“, sagte sie. „Genieße die Zeit.“

„Also gut. In spätestens anderthalb Stunden müsste ich zurück sein.“

„Du brauchst dich nicht zu beeilen. Wir sind ja hier“, sagte ihre Mutter, gefolgt von einem erneuten Hustenanfall, der Abby wieder an deren gesundheitliche Probleme erinnerte. War es egoistisch von ihr, Emma einfach bei ihr zu lassen, um ein bisschen Zeit für sich zu haben? Aber andererseits wollte ihre Mutter auch nicht wie ein Mensch mit Behinderung behandelt werden, und es machte ihr immer solche Freude, Zeit mit ihrem einzigen Enkelkind zu verbringen.

Abby beugte sich vor und gab Emma noch einen Kuss. „Und du bist lieb zu Oma, ja?“

Emma nickte, war aber völlig damit beschäftigt, die Spielfiguren miteinander tanzen zu lassen.

„Danke, Mama“, sagte Abby, gab auch ihrer Mutter noch einen Kuss, verließ das Haus, lief die Straße entlang in Richtung Stadt und löste dadurch das Gebell sämtlicher Hunde in der Nachbarschaft aus.

Sie hoffte, dass sie alle entweder angeleint oder sicher hinter Zäunen verwahrt waren und ihr nicht hinterherrennen würden. Als sie um die nächste Ecke bog, erblickte sie das Meer und hatte plötzlich dieses Gefühl von Freiheit, das sie so sehr liebte. Es war, als liefe sie vor dem Leben davon, aber nicht wirklich. Sie war schon immer gerne gerannt, und das Laufen war eine Leidenschaft gewesen, die Kevin und sie geteilt hatten.

Sie überquerte die Straße, bevor sie die Läden mit ihren bunten Markisen an der Hauptstraße erreichte. Sonntags waren die Läden alle geschlossen, aber das würde sich ändern, sobald wieder Touristen kamen. Während der Saison war der Sonntag hier ein ganz normaler Werktag, um das zusätzliche Geschäft mit den Tagestouristen mitzunehmen. Abby ging in Richtung des Uferpfades, vorbei an der großen gusseisernen Howard-Uhr, die über den Marktplatz wachte.

Dort lief sie auf dem felsigen Weg bergauf und bergab. Das Laufen war seit ihrer Rückkehr nach Maine ihre Lieblingsbeschäftigung geworden, denn es gab ihr Kraft. Ein kühler Frühlingswind kitzelte ihre Haut und sie atmete tief den Duft der salzigen Meeresluft ein. Hier konnten die sanften Wellen, die sich an der Wasserkante brachen, dafür sorgen, dass ihre Gedanken ausgeblendet wurden.

Abby genoss das Alleinsein, nachdem sie ein paar Spaziergänger auf dem Pfad überholt hatte. Im Unterschied zu den Menschen in ihrer alten Heimat Kalifornien waren die Einwohner von Hope Harbor keine Läufer und ihr Lebenstempo war insgesamt viel behäbiger. Aber es machte Abby nichts aus, die einzige Läuferin in der Stadt und damit anders zu sein als alle anderen.

Sie lief ein paar Kilometer, bevor sie zum steilsten Abschnitt ihrer Laufstrecke kam. Sie atmete den Duft der Fichten ein und folgte dabei dem Pfad, der sich jetzt zwischen den Bäumen hindurchschlängelte, bevor er am höchsten Punkt wieder herausführte. Ihre Beinmuskeln brannten, als sie die anspruchsvolle Anhöhe erklomm. Am höchsten Punkt entspannte sie sich und nahm den atemberaubenden Blick aufs Meer wahr, der sich vor ihr auftat.

Ein großer Felsen bot ihr eine Sitzgelegenheit und die Chance, mit der friedvollen Umgebung zu verschmelzen. Hier oben war es ruhig, und sie glaubte, die Nähe Gottes zu spüren. Wäre sie eine eifrige Beterin gewesen, hätte sich diese Stelle besonders gut dafür geeignet, aber Gott wusste bestimmt auch so, wie dankbar sie für diese Kulisse war.

Sie konnte von hier aus kilometerweit sehen. Ein paar Segelbote außerhalb des Hafens sahen aus wie Tupfer auf dem Wasser und im Hafen selbst lagen die Hummerboote. Jenseits der Boote lagen kleine Inseln wie hingestreut, so als hätte Gott eine Handvoll Steine in eine Pfütze geworfen.

Eine dieser Inseln war Hope Island, aber von ihrem Standort hoch über dem Wasser konnte sie nicht so genau erkennen, welche es war. Sie konnte auch weder den Leuchtturm noch das Leuchtturmwärterhaus sehen, weil die Gebäude auf der vom Festland abgewandten Seite mit Blick aufs Meer standen und von Bäumen umgeben waren, die den Blick vom Festland auf die Gebäude versperrten.

Von dort aus, wo Abby jetzt saß, schienen die Inseln gar nicht so weit entfernt zu sein, obwohl manche von ihnen mehrere Kilometer weit draußen im Meer lagen. Mit Booten konnte man schnell auf die Inseln gelangen, die meist nur in den Sommermonaten bewohnt waren, wenn dort die Ferienhäuser vermietet wurden. Wenn die See ruhig war, paddelten auch Kajaksportler gerne hinüber, aber bei rauer See wagten nicht einmal Motorboote die Fahrt. Wie es wohl gewesen sein mochte, auf der Insel zu leben? Ihr eigener Großvater war ertrunken, als sein kleines Boot auf der Überfahrt gekentert war.

Einmal abgesehen von der unberechenbaren See fand sie die Vorstellung, von der Zivilisation abgeschnitten zu sein, gar nicht so abschreckend. Weil sie als Einzelkind aufgewachsen war, kannte Abby es, allein zu sein, was wahrscheinlich auch der Grund gewesen war, weshalb sie mit Kevins Auslandseinsätzen besser fertiggeworden war als manch andere Ehefrau eines Soldaten. Aber im Unterschied zu Granny Abigail, die allein für einen Leuchtturm und zusätzlich für ein kleines Kind verantwortlich gewesen war, hatte sie in Kalifornien immer die Möglichkeit gehabt, Menschen zu treffen, wenn sie es gewollt oder gebraucht hatte.

Für Abby war es unvorstellbar, eine so gewaltige Verantwortung allein auf einer entlegenen Insel zu bewältigen. Besonders nachdem Granny ihren Mann verloren hatte, der zuvor alle Tätigkeiten übernommen hatte, die mit dem Leuchtturm zu tun hatten. Wie hatte ihre Granny das nur geschafft? Wie hatte sie ohne ihn weitermachen können? Ach, könnte Abby doch nur mit ihr darüber reden und sie fragen.

Seitdem sie wieder in Hope Harbor war, hatte sie keinen Gedanken daran gehabt, auf die Insel zu fahren, weil dieser Ort nur in ihrer Vergangenheit existierte und deshalb gar nicht mehr richtig in ihrem Bewusstsein gewesen war. Doch jetzt hatte Carson Stevens ihr angeboten, mit hinüberzufahren, damit sie sich alles noch einmal anschauen konnte. Das Gefühl, etwas zu verpassen, kam in ihr hoch und drängte sie, Carsons Angebot anzunehmen.

Sie wollte wirklich gerne zur Insel hinüberfahren und selbst erleben, wie es dort war, genau wie es ihre Großeltern und ihre Mutter erlebt hatten. Ob sie überrascht oder sogar erschrocken sein würde, wie es sich anfühlte, dort zu sein? Die vielen Jahre, in denen die Gebäude leer gestanden hatten, waren bestimmt nicht spurlos an ihnen vorübergegangen. Aber was sie dort hinzog, war mehr als der Wunsch, alles dort zu sehen.

Auf irgendeine Weise fühlte sie sich mit der Insel verbunden, als wäre sie eine Verwandte. Sie selbst hatte zwar nie dort gelebt, aber ihre Vorfahren, und vielleicht würde sie die Verbindung zu ihnen und die Kraft der Großmutter dort drüben spüren.

Warum Carson sie wohl dorthin eingeladen hatte? Er kannte sie doch gar nicht und sie konnte ganz sicher nichts zu seinem Projekt dort beitragen. Im Unterschied zu ihrer Mutter hatte sie nie dort gelebt und konnte ihm deshalb auch gar nichts über den Leuchtturm und das Leuchtturmwärterhaus erzählen, es sei denn, sie erinnerte sich an eine von Grannys Geschichten. Ihre Mutter war natürlich nur zu gerne bereit, ihm ihre Geschichten zu erzählen.

In dem Moment regte sich ein Anflug von Nervosität in ihrem Inneren. Ob Carson es wohl als Date verstand, dass sie seine Einladung angenommen hatte? Sie hoffte es jedenfalls nicht, denn sie hatte nicht vor, in nächster Zeit mit irgendjemandem auszugehen. Auch wenn er ein einnehmendes Lächeln hatte, war er nicht draufgängerisch oder überfreundlich, sondern kam ihr sogar ein bisschen schüchtern vor. Nicht wie Kevin, der sehr selbstbewusst, ja fast schon großspurig gewesen war.

Aber es hatte nur einen Kevin gegeben, und der war nicht mehr da. Es mochte zwar nicht alles perfekt gewesen sein zwischen ihm und ihr, aber er ist ihr Mann und Emmas Vater gewesen. Eine Träne lief ihr über die Wange, als sich im Schmerz über den Verlust und die Einsamkeit ihr Herz heftig zusammenzog.

Plötzlich brach sich eine hohe Welle am Ufer, und zwar so heftig und hoch, dass Abby wie in einem Sprühregen saß. Sie sprang von ihrem Platz auf dem Felsen auf, ging ein paar Schritte nach hinten und kehrte mit ihrer Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurück.

Sie stemmte ihre Hände in die Hüften, schaute in den Himmel und sagte: „Okay, Gott. Ich hab’s kapiert. Es wird Zeit, mit diesen Selbstmitleidsanfällen Schluss zu machen.“

Sie wischte sich den Schmutz von den Händen und schaute auf ihre Uhr. Es wurde Zeit, sich auf den Rückweg zu machen. Und vielleicht wurde es auch Zeit, aufzuhören davonzulaufen und stattdessen zu etwas hin zu laufen, aber sie hatte keine Ahnung, wohin. Vielleicht würde ihr ein Ausflug zur Insel in dieser Frage weiterhelfen.

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Carson fuhr zum Bootsanleger und schaute dabei zu Abby auf dem Beifahrersitz hinüber. Die Hände angespannt zwischen ihre Beine geklemmt, schaute sie geradeaus.

„Gott sei Dank ist heute so ein schöner Tag.“ Ist das wirklich alles, was ich draufhabe, um ein Gespräch in Gang zu bringen?

Sie nickte. „Ja, es ist wunderschön.“

Das war tatsächlich eine treffendere Beschreibung für den sonnigen, klaren Tag. Und wo sie schon bei wunderschön waren, konnte seine Beifahrerin durchaus mit dem Wetter mithalten. Konzentrier dich, Carson. Nicht ablenken lassen von dem Grund, weshalb du hier bist.

„Ich hoffe, ich weiß noch, wie man ein Boot fährt.“ Okay, damit hatte er jetzt ihre volle Aufmerksamkeit und mit vor Staunen offenem Mund und weit aufgerissenen Augen wandte sie sich ihm zu.

„Sie wissen gar nicht, wie man mit einem Boot umgeht? Aber wie sind Sie denn dann bis jetzt zur Insel gekommen?“

Carson lachte und täuschte Wagemut vor. „Ein paar einheimische Jungs haben mich immer auf ihren Hummerbooten hin und her kutschiert. Aber ich bin zu dem Schluss gelangt, dass ich ein eigenes Boot brauche, und deshalb habe mir eines gekauft.“

„Sie haben ein Hummerboot gekauft?“

Carson warf einen Blick zu ihr hinüber, um zu sehen, ob ihre Hand zur Türklinke ging, und hoffte, dass sie sie nicht gleich öffnen und Reißaus nehmen würde.

„Nein, einen Boston Whaler